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Ein junger Krieger und eine Entscheidung: Der Kampf um die Freiheit gegen das römische Reich oder für seine große Liebe? Beinahe die gesamte bekannte Welt ist von den Römern unterjocht. Durch Bestechung, Überredung und rohe Gewalt wurden die freien Stämme Germaniens an das römische Reich gebunden. Junge Männer werden als Geiseln nach Rom gebracht, um dort die Errungenschaften der modernen Welt kennenzulernen und später den Segen der Zivilisation zurück in ihre Dörfer zu tragen. Der junge Cherusker Siegfried ist einer von ihnen. Zurück am Rhein steht er den Römern mit Rat und Tat beiseite, um zu verhindern, dass Chaos und Gewalt sich in den germanischen Wäldern ausbreitet. Doch schon bald kommen ihm die ersten Zweifel - ist das Imperium tatsächlich der Schlüssel zur Ordnung oder die größte Bedrohung für seine Heimat? Gemeinsam mit Freunden und Familie arbeitet er an einem selbstmörderischen Plan, die Freiheit zu erkämpfen. Sein Gegner: Niemand Geringeres als die stärkste Armee der Welt. Doch wie viel bedeutet der Sieg, wenn die Liebe seines Lebens unerreichbar bleibt? Ein episches Abenteuer voller Magie, Verrat und großer Gefühle - im historischen Setting der Varusschlacht.
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Viele Leute glauben, man sei ohne Augenlicht in seiner Wahrnehmung eingeschränkt. Vielleicht stimmt das auch. Wie war es, mit den Augen zu sehen? Die Bilder meiner Kindheit sind verschwommen und unscharf. Was ist Grün? Welchen Stellenwert hat das Licht? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich bin nicht verbittert. Meine Sinne sind scharf und zeigen mir die Welt auf eine andere Weise, als ihr es gewohnt seid. Ich höre den Frühling, fühle das Schicksal der Menschen im Wind. Sieg und Niederlage haben einen besonderen Duft. Und glaubt ja nicht, ihr könntet einer blinden alten Frau einen Bären aufbinden!
Auch die Erinnerung ist von besonderer Qualität, wenn man sie nicht sehen kann. Die schönen Stunden wie leise Musik, und bitter die schwarzen Momente. Ich vermisse das Licht nicht. Ich bereue nichts. Und wenn manchmal verschwommene Bilder aus meinem Unterbewusstsein auftauchen, dann nehme ich sie ruhig wahr und lasse sie wieder in den Tiefen versinken. Bis auf das eine Bild, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat – eine blasse Figur im Türrahmen. Ein kleiner Junge vor dem grauen Frühlingshimmel sieht seinem Vater nach, der seiner Kapitulation entgegen reitet…
19 Sommer später
Einige Sommer später
Ein kalter Wind pfiff durch die Baumwipfel, an denen sich zaghaft das erste Grün des Jahres zeigte. Die dürren Äste beugten sich der Wucht des Ansturms. Sie knarzten und ächzten. Die Geräusche vermischten sich mit dem Brausen in der Luft. Es klang, als fege die wilde Jagd ein letztes Mal über das Land. Obwohl es bereits Frühling wurde, stellten die Bauern Schalen mit Met oder Milch vor die Tür und hofften, auf diese Weise vom Schicksal verschont zu bleiben. Sie kauerten mit ihren Tieren um das Herdfeuer und warteten darauf, dass endlich die Aussaat beginnen konnte. Manch einer versenkte Wertgegenstände im Moor – Münzen, Schmuck, Waffen – um durch diese Opfer die wankelmütigen Götter wohlgesonnen zu stimmen. Als ob die Götter sich so leicht besänftigen ließen! Sie hatten ihre eigenen Pläne, und kümmerten sich nicht um Menschentand.
Der Hof lag abseits der großen Handelswege versteckt im Wald. Die Gebäude schmiegten sich an die Flanke eines Hangs, dicht beieinander kauernd wie dösende Schafe in den frühen Morgenstunden. Von der Feuerstelle drang der Geruch frisch gebackener Brotfladen bis an die Tür des langgezogenen Wohnhauses. Zwei kleine Jungen drückten sich auf dem Hof ganz in der Nähe herum, in der Hoffnung, eine kleine Nascherei zu ergattern. Gerlind brauchte nicht von ihrer Näharbeit aufzusehen – sie wusste genau, was ihre Söhne trieben. Wie alle Kinder waren sie immer hungrig, umso mehr nach diesem strengen Winter. Die Schlachten der letzten Jahre, in denen sie gegen die Eindringlinge aus dem Süden gekämpft hatten, hatten die Männer von den Feldern ferngehalten. Die Ernten waren schlecht ausgefallen, und alle hatten während der dunklen Monde hungern müssen. Es hatte mehr Bestattungen gegeben als in anderen Jahren. Sogar das Holz für die Feuerbestattungen war knapp geworden, und manche Sippen waren dazu übergegangen, ihre Toten in den Sümpfen beizusetzen. Einige unkten, dies sei der Grund dafür, dass die Götter jetzt so unbarmherzig waren.
Gerlind hatte die Geschäfte der Sippe mit eiserner Hand geführt, während ihr Mann um die Freiheit der Cherusker kämpfte. Sie war eine beeindruckende Gestalt – groß, mit breiten, starken Schultern und einem durchdringenden Blick, der sogar im Sommer Tümpel zufrieren lassen konnte. Sie wurde geachtet wegen ihres Sinnes für Gerechtigkeit und gefürchtet wegen ihres scharfen Verstandes, dem nichts verborgen blieb. Alle in der Sippe beugten sich ihrem Urteil. Der Einzige, der sich ihr regelmäßig widersetzte, war ihr Mann. Sehenden Auges, mit einem Lied auf den Lippen, tat er, was er für richtig hielt, und ertrug die Missbilligung seiner Frau mit Gleichmut. So wie jetzt.
Grimmig biss sie den Faden ab, mit dem sie einen Riss in seinem abgetragenen, aber sauberen braunkarierten Umhang geflickt hatte. Heute war es soweit. Sie hatte Siegmar nicht davon überzeugen können, die Kämpfe fortzusetzen. Die Anführer hatten ein Treffen vereinbart, um den Frieden zu besiegeln. Das bedeutete Kapitulation. Siegmars Argumente für diesen Frieden waren gut, doch Gerlind fürchtete um die Zukunft der Sippe. Die Römer waren grausame, gottlose Barbaren, die für die Lebensweise der Cherusker nur Hohn und Spott übrighatten. In was für einer Welt würden ihre Kinder aufwachsen?
Auf dem Hof erhob sich Tumult. Die Reiter waren eingetroffen. Die Hufe ihrer Pferde verursachten schmatzende Geräusche im schwarzen Morast. Der Boden war immer noch fruchtbar. Wenn sie nur einen guten Sommer hätten, bestand die Möglichkeit, Scheunen und Speicher ausreichend zu füllen. Wenn die Waffen endlich ruhten … Gerlind wusste es, und trotzdem sträubte sich alles in ihr gegen diesen Frieden. Weder Hunger noch Trauer hatten ihren Stolz brechen können. Sie hatte die Familien, die sich mit den Römern verbündeten, immer verachtet. Und jetzt sollten sie auch zu ihnen gehören!
Der Eingang des Hauses verdunkelte sich, und Siegmar stand vor ihr. Bleiches Sonnenlicht ließ sein weizenblondes Haar schimmern. Er hinkte. Die Schwertwunde an seiner Hüfte schwärte und schmerzte noch immer – trotz der fachkundigen Pflege der Heiler. Aber er hielt sich aufrecht, und er lächelte.
Das kleine, blasse Waisenmädchen, das sie letzten Winter aufgenommen hatten, sah stumm von seinem Lumpenspiel in der Ecke auf. Es redete wenig und beobachtete alles. Auf unsicheren Beinchen folgte es Siegfried und Siegbert auf Schritt und Tritt. Vor den Erwachsenen hatte es immer noch Angst und verhielt sich meistens so still, dass man es gar nicht bemerkte. Nur Siegmar gegenüber war Valbruna aufgetaut. Wie alle Kinder hatte sie grenzenloses Vertrauen in seine stattliche Figur und die großen, starken Hände. Wenn er sich ans Herdfeuer setzte, kuschelte sie sich oft an ihn und ließ sich eine Geschichte nach der anderen erzählen, von Asen und Wanen, Helden und Göttern und Schurken, bis ihr die Augen zufielen. Jetzt beobachtete sie neugierig, was sich hier abspielte.
Gerlind runzelte die Stirn, seufzte. Wahrscheinlich verstand das Mädchen viel mehr, als für sein zartes Alter gut war. Sie hatte sich zunächst geweigert, die Waise bei sich aufzunehmen, aus Angst davor, das Mädchen könne außer Krankheit auch Fluch und Schande über die Familie bringen. Aber die Priesterinnen hatten gesagt, das Mädchen sei, wenn auch verstört, so doch gesund und brauche lediglich Liebe, Zuwendung und Zeit.
»In ein paar Tagen sind wir aus der Ubiersiedlung zurück. Hast du meinen Umhang geflickt?« Siegmar lächelte. Er kannte die Meinung seiner Frau, doch er wollte nicht im Streit von ihr gehen. Egal, wie schwer ihre Differenzen wogen, sie hatten sich jedes Mal vertragen, ehe er in den Kampf zog. Auch den Frieden heute wollte er erst schließen, wenn sie einander wieder gut waren. Wer wusste schon, was die Zukunft bringen würde?
Wortlos händigte Gerlind ihm den Mantel aus. Sie standen dicht beisammen, ohne einander zu berühren. Gerlind war fast so groß wie er. Sie sah ihn an, schwieg. Was blieb? Sie hatte Angst.
Abrupt drehte sie sich um, ging zur Feuerstelle und schlug einige der frischen Brotfladen in ein Tuch ein. »Dein Proviant. Pass auf dich auf.« Sie nahm einen weiteren Fladen und drehte sich zu ihren Söhnen um, die mit großen Augen in der Tür standen. Siegbert fixierte den Mehlfladen gierig, aber Siegfried sah unverwandt seinen Vater an. Er war erst fünf Sommer alt und wusste bereits viel von Verantwortung und Leid. Kein Kind sollte so aufwachsen. Gerlind dachte an die Kinder, die sie verloren hatte, an Krankheit und Hunger und die Kälte der vergangenen Winter.
»Hier. Eure Mägen knurren ja wie hungrige Wölfe!« Sie zwang sich zu einem Lächeln und reichte dem Älteren den Fladen. Dieser brach ihn sorgfältig in zwei Hälften und drückte seinem jüngeren Bruder ein Stück in die Hand. Siegbert verschlang das warme Backwerk mit wenigen Bissen und schielte auf die Hand seines älteren Bruders, der seinen Anteil vergessen zu haben schien. Er drückte sich an den Türsturz, um seinen Vater an sich vorbei nach draußen zu lassen. Als der ihm im Vorbeigehen das weißblonde Kinderhaar zerzauste, schüttelte er unwillig den Kopf. Er fühlte sich zu alt für diese Art von Liebkosung.
Gerlind trat in die Türöffnung und beobachtete, wie ihr Mann aufsaß. Die wartenden Männer waren ernst und schweigsam. Sie hatten sich festlich herausgeputzt. Ihre frisch gewaschenen Umhänge flatterten im kalten Frühlingswind. Hosenbeine und Schuhe zeigten bereits Schlammspritzer, aber die Waffen glänzten im fahlen Licht der Märzsonne. Wolfszähne waren in die Mähnen ihrer Pferde geflochten, um eine sichere Reise zu garantieren. Fibeln und Gürtelschnallen schimmerten. Sie wirkten nicht wie geschlagene Männer, sondern wie stolze Krieger. Aber sie waren besiegt, und sie wussten es. Ungeduldig warteten sie, während ein Priester singend bei den Göttern um Unterstützung für ihre Sache warb. Siegmar goss ein wenig warmen, gewürzten Met vor den von Zeit und Wetter geglätteten Pfahlgöttern neben dem Haus auf den Boden. Sie folgten diesem Brauch mehr aus Tradition denn aus Überzeugung. Wieso sollten die Götter sich plötzlich für ihre Angelegenheiten interessieren? Schließlich wendeten sie die Pferde und ritten davon. Schon bald verhallte der dumpfe Hufschlag zwischen den kahlen Bäumen.
Gerlind wartete nicht, bis sie im Wald verschwunden waren, sondern kehrte direkt an ihre Arbeit zurück. Es gab noch viel zu tun. Sie sah ihre Söhne reglos in der Tür stehen. Siegbert kaute mit vollen Backen, und Siegfried starrte unverwandt den Reitern hinterher. Seine Hände waren leer.
Die warme Jahreszeit war beinahe unbemerkt über das Land gezogen, hatte die Feldfrüchte reifen lassen und die Wälder mit einer dichten Staubschicht bedeckt. Das Eichenlaub war matt und stumpf, eher grau als grün. Wenigstens spendeten die vereinzelt stehenden, majestätischen Bäume auch jetzt noch Schatten auf den Feldern. Die Tage waren noch warm, aber es wurde schon wieder früher dunkel, und man konnte die dunklen Monde, die vor ihnen lagen, auf der Zunge spüren. Herbstluft brachte immer einen unverwechselbaren Geruch mit sich – reif und weich, aber mit einer Spur von Süße und Fäulnis. Wie warmes Blut, wenn vor dem Winter geschlachtet wurde. Die Bäume zögerten noch, sich in ihre bunten Gewänder zu hüllen. In den frühen Morgenstunden war der Waldboden mit dichten Nebelschwaden bedeckt, die jedes Geräusch dämpften.
Noch war kein Wind aufgekommen, um die Dunstschleier zu zerreißen. Die kleine Gruppe von Reitern bewegte sich schweigend, Geistern gleich, durch die Landschaft. Sie waren bereits vor dem Morgengrauen aufgebrochen, hatten auf schmalen Wegen die Felder der tubantischen Bauern durchquert. Jetzt erreichten sie die ersten Ausläufer des germanischen Urwaldes, der sich so weit erstreckte, wie man es sich nur vorstellen konnte, nur hier und da unterbrochen von verstreut liegenden Behausungen und Feldern. Die hohen, schlanken Buchenstämme erinnerten sie an die Marmorsäulen römischer Prunktempel. Auch die Stille glich der in den Heiligtümern südlich der Alpen – nur, dass hier Vögel sangen, wo dort die Schritte vornehmer Priesterinnen in feinen Ledersandalen durch die Tempel hallten. Die Männer schwiegen. Ehrfurcht musste jeden ergreifen, der sich durch diese verzauberte Landschaft bewegte.
Die Reiter waren in bunte Wollstoffe gehüllt, deren Erwerb einigen von ihnen im sonnigen Rom noch unsinnig erschienen war. Jetzt waren sie froh über den zusätzlichen Schutz, denn nicht nur beinahe eine ganze Jahreszeit, sondern auch mehr als tausend Meilen lagen zwischen ihnen und dem Herz des römischen Imperiums, weit entfernt jenseits der Berge.
In den Mulden, die der weiche Boden formte, häufte sich das vermodernde Laub der letzten Jahre. Es verströmte einen angenehmen Duft nach fruchtbarer Erde und Verfall. Vorsichtig suchten die Pferde sich ihren Pfad zwischen herabgefallenen Ästen und weit verzweigten Kaninchenbauten. Ihre Reiter hingen schläfrig in den Sätteln und ließen die Zügel schleifen. Einen unbedarften Beobachter mochte das über ihre Profession hinwegtäuschen. Die Waffen, die sie mit sich führten, sprachen allerdings eine andere Sprache. Alle trugen Schwerter am Gürtel, die hierzulande selten waren. Die Waffen waren sorgfältig gepflegt, nicht unnötig verziert, und sie zeigten Spuren entschlossenen Gebrauchs. Seitlich an den Sätteln hingen mit Leder bespannte Schilde, denen man das Erlebte ansehen konnte. Die Männer hatten sie mit großer Sorgfalt wieder und wieder geflickt. Alle fünf waren nach römischer Sitte glattrasiert und trugen das Haar kurzgeschoren. Drei waren hellhäutig, zwei davon mit rotem Haar, einer weizenblond. Der nächste Reiter hatte olivfarbene Haut wie jemand, der sein ganzes Leben unter starker Sonne verbracht hatte, und derjenige, der den Schluss ihrer kleinen Karawane bildete, war so dunkel wie fruchtbarer, frisch gepflügter Boden nach einem Regenschauer. Je weiter sie Richtung Norden gekommen waren, desto häufiger hatte ihre kleine Truppe für Aufsehen gesorgt, und die sprichwörtliche Gastfreundschaft der Menschen auf dieser Seite des Flusses war geprägt gewesen von Furcht und Aberglauben. Immer öfter hatten sie im Freien genächtigt. Ihre Vorräte neigten sich dem Ende zu. Aber mit ein wenig Glück würden sie heute endlich ihr Ziel erreichen.
Die Männer reisten mit leichtem Gepäck und ließen ihre wenigen sperrigeren Habseligkeiten auf Wagen nachbringen, die von den heimkehrenden Hilfstruppen begleitet wurden. Ihr Anführer – der weizenblonde Krieger – wollte so schnell wie möglich in seine Heimat zurückkehren. Sie wirkten übernächtigt und verschlafen, aber ihren geschärften Sinnen entging nicht das Geringste.
Nur das gedämpfte Geräusch der Hufe hing zwischen den Bäumen, als sie sich einer im Morgenlicht dampfenden Lichtung näherten. Dichte Brombeerranken markierten den Übergang von Wald zu offenem Gelände. Zwischen den dunkelgrünen Blättern hingen schwarze, überreife Beeren, an denen sich ein paar Meisen gütlich taten. Als die Vögel die Fremden bemerkten, flogen sie laut zeternd auf und suchten in den Ästen der umstehenden Buchen Zuflucht. Von dort aus beobachteten sie argwöhnisch das Treiben am Boden und schimpften. Sie würden dieses reichhaltige Spätsommerfrühstück nicht ohne weiteres aufgeben.
Drei der Männer zügelten ihre Pferde, sprangen federnd auf den weichen Waldboden und begannen, die saftigen Früchte zu pflücken, um sich eine kleine Zwischenmahlzeit einzuverleiben. Ihre Mägen waren nach einem spärlichen Frühstück schon wieder leer. Während sie sich entlang der Dornenranken bewegten, riefen sie Witze und Schmähworte hin und her und versuchten, einander an Einfallsreichtum zu überbieten. Sie hatten gute Laune. Sie waren nicht auf dem Weg in die Schlacht. Dies hier war nicht feindliches Gebiet. Ihre Chancen, den heutigen Tag zu überleben, standen überdurchschnittlich gut.
Ihr Anführer war nicht abgesessen. Er hatte einen wohlbekannten Geruch bemerkt, der zwischen den Nebelfäden in der stillen Morgenluft hing, und lenkte seinen dunkelbraunen Wallach vorsichtig durch eine Lücke in der Brombeerhecke. Das Licht der niedrigstehenden Sonne blendete ihn für einen Moment, und er schützte seine Augen mit erhobener Hand. Ein leichter Schenkeldruck trieb sein Pferd vorwärts.
Die Lichtung war hüfthoch bewachsen und die Grashalme bereits gelblich verfärbt. Zwischen den höchsten Halmen spannten sich taubenetzte Spinnweben wie Räder aus Kristall. Sie funkelten im Sonnenlicht. Zwei Kaninchen sprangen mit riesigen Sätzen auf. Ihre Ohren waren einen Moment über dem Gras sichtbar und verschwanden dann hakenschlagend auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung. Nur die sich wiegenden Grashalme verrieten ihre Flucht. Die Szene wirkte friedlich – bis auf eine Stelle, an der das Gras niedergetrampelt war. Vorsichtig näherte der Reiter sich. Sein Pferd tänzelte und schnaubte, warf den Kopf auf – es kannte diesen Geruch ebenfalls, eine Mischung aus Latrine und Schlachthof. Damit hatten sie in den vergangenen Jahren ihren Lebensunterhalt verdient. Seine Ohren zuckten nervös, als sie die Mitte der Lichtung erreichten.
Inmitten aufgewühlter Erde lag ein gewaltiger Hirsch auf der Seite, der Leib eine klaffende Wunde. Zerfetzte Gedärme quollen hervor und ergossen sich auf den Waldboden wie in einer Karikatur eines Füllhorns. Es war noch zu früh am Tag für Fliegen. Dampf quoll aus der offenen Bauchhöhle. Die trüben Augen waren weit aufgerissen. Sie blickten staunend auf die Welt, zu der das stolze Tier nicht länger gehörte. Auch auf dem ausladenden Geweih hatten sich bereits Tautropfen gesammelt, die wie von Zauberhand genau in diesem Moment zu funkeln begannen. Majestätisch schob die herbstliche Morgensonne sich über die Baumwipfel und entfaltete einmal mehr ihre verblassende Pracht. Innerhalb weniger Augenblicke zerstoben die Nebel. Es schien kälter zu werden.
Die anderen Männer hatten bemerkt, dass ihr Anführer seinen Teil an der Brombeerausbeute nicht eingefordert hatte. Sie folgten ihm zu Fuß auf die Lichtung, die Zügel ihrer Pferde lässig um die Arme geschlungen. Das Pferd des Schwarzen folgte ihm ohne die Hilfe von Zaumzeug, mit gesenktem Kopf und halbgeschlossenen Augen. Es ließ sich weder von der Umgebung noch von den Gerüchen aus der Ruhe bringen. Die anderen Pferde tänzelten unruhig.
»Hey, Arminius! Was ist los? Kaum sind wir in deinen gottverlassenen Wäldern, schon entwickelst du gespenstische Marotten!«, rief der Mann mit der olivfarbenen Haut lachend. Seine braunen Augen funkelten. »Brombeeren?«
»Rede doch nicht immer so geschwollen, Dariush!«, antwortete einer der rothaarigen Hünen mit dröhnendem Bass. Dann wandte er sich um und warf einen Blick auf das tote Tier. Seine Augen verengten sich zu kleinen, wässrigen Schlitzen. »Das Schutztier deiner Sippe – ein schlechtes Omen.«
Der, den sie Arminius nannten, schüttelte den Kopf. Vielleicht war es ein schlechtes Omen, vielleicht auch ein Willkommensgeschenk seiner Heimat. Die Götter, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte, hatten einen seltsamen Sinn für Humor. Er sprang aus dem Sattel und griff nach der kleinen Axt, die am Sattel hing. In den vergangenen Tagen hatten sie damit Feuerholz für ihre improvisierten Lager zerkleinert. Mit einem gezielten Hieb trennte er eine junge Geweihsprosse ab. Die Schnittflächen splitterten kaum. Das Sonnenlicht brach sich in den zitternden Tautropfen. Er zog eine gegerbte Sehne aus seinem schmächtigen Proviantbündel und schlang sie mit wenigen Handgriffen geschickt um die Trophäe. Dann hängte er sie sich um den Hals und erhob sich. »Omen oder nicht, ich bin wieder zuhause.«
»Eure barbarischen Sitten wirst du wohl nie aufgeben«, spottete der Südländer. »Wozu haben wir euch die Feinheiten der taktischen Kriegsführung beigebracht, wenn ihr bei der erstbesten Gelegenheit sofort wieder in Aberglauben und Zauberei verfallt?«
Arminius sah seinen Freund an und lächelte. Dann schwang er sich in einer fließenden Bewegung wieder auf seinen Braunen. »Barbaren hin oder her, im Wettrennen habe ich dich bislang jedes Mal geschlagen!« Er gab dem Wallach die Sporen, und mit einem gewaltigen Satz stoben sie durch das sterbende Gras auf die Bäume zu. Ein Meisenschwarm stieg zwitschernd auf und suchte in höheren Ästen Schutz.
Die Männer ließen sich nicht lange bitten. Sie sprangen in die Sättel. Einer der Rotschöpfe stieß einen markerschütternden Kriegsschrei aus. Sie setzten ihrem Anführer nach. Nur der Schwarze, der aus einem Land jenseits des mittleren Meeres hinter dem Horizont stammte, schüttelte den Kopf und ließ sich Zeit dabei, in den Sattel zurückzukehren. Vorzeichen hin oder her, wenn diese Wirrköpfe nicht aufpassten, würden sie sich noch den Hals brechen, ehe sie ihr Ziel auch nur von weitem gesichtet hätten.
***
Die Nacht brach herein.
Im unwegsamen Gelände waren sie nur langsam vorangekommen. Die Pferde waren nach dieser langen Reise, die sie über den halben Erdkreis geführt hatte, genauso erschöpft wie ihre Reiter. Die endlosen Buchenwälder wurden höchsten ab und zu von einsamen Mooren abgelöst. Es war schwer zu sagen, was unheimlicher war, und unwirtlich war beides. Menschliche Behausungen waren selten. Für denjenigen, der sich nicht auskannte, barg das Land etliche Gefahren – Sümpfe, Untiefen in Flüssen, steile Klippen und Wälder, in denen der Wanderer auf Nimmerwiedersehen verschwand. Siedlungen oder gar Dörfer gab es in den Wäldern kaum, zu groß waren die Mühen des Rodens und zu gering der Nutzen. Der Ackerbau war mühsam und brachte nur geringe Ausbeute, denn der Boden war von dicken Wurzeln durchzogen und die Baumkronen stahlen den Feldfrüchten das Licht.
»Bald kannst du ausruhen«, murmelte der weizenblonde Reiter und tätschelte seinem Braunen beruhigend den Rist mit der flachsfarbenen Mähne, während das Tier sich vorsichtig einen Weg durch dichtes Unterholz suchte. Die Römer hatten dem Mann das Bürgerrecht und einen neuen Namen verliehen, aber sein Herz hörte nicht auf Arminius, sondern auf einen anderen Klang. Stumm lauschte er den vertrauten Silben nach, die durch sein Innerstes hallten. Ihm schien, als raunten die Bäume ihm zu.
Unheimliche Schatten lauerten zwischen den Büschen. Dariush, der sich den ganzen Tag über von seiner übermütigen Seite gezeigt hatte, hielt sich jetzt dicht bei seinen Kameraden und war schweigsam geworden – wie in den meisten Nächten, seit sie das zivilisierte römische Reich verlassen hatten. Er gab sich gerne als aufgeklärter Weltbürger und spottete über »die unaufgeklärten Barbaren« im Norden, aber in seinen Adern tummelten sich die Geister und Dämonen seiner persischen Heimat. Der Blonde wusste, dass sein Freund ein Amulett gegen den bösen Blick um den Hals trug, unter der Kleidung sorgfältig verborgen vor den Augen der anderen, um ihrer Häme zu entgehen.
Er selbst schwieg ebenfalls, denn er konnte die marginalen Veränderungen in der abendlichen Luft wahrnehmen. Herbstlaub, frisches, süßes Wasser aus einem murmelnden Bachlauf, eine zarte Spur von Rauch in der kühlen Luft. So roch es also, nach Hause zu kommen. Die Geweihspitze lag warm auf seiner Brust. Vier Jahre lang war er in der Fremde gewesen, hatte von den Römern gelernt und in ihrem Heer gedient, ihre Gebräuche angenommen und ihre Sprache gesprochen. Er erinnerte sich daran, wie es gewesen war, als kleiner Junge durch diesen Wald zu rennen und mit den anderen zu raufen, wenn sie nicht auf den Feldern helfen mussten. Das schien mehr als ein Leben entfernt. Er schnalzte und trieb sein Pferd vorwärts.
Urplötzlich traten die Bäume auf beiden Seiten zurück. Vor den Kriegern breitete sich eine sanfte Anhöhe aus, an deren Flanke sich mehrere Gebäude schmiegten. Rechts neben dem Wohnhaus hoben sich verzerrte, längliche Schatten schwarz gegen die Nacht ab. Siegfried lächelte. Als Kind hatte er immer Angst vor ihnen gehabt, dabei handelte es sich nur um Pfähle, in denen angeblich die Götter von Zeit zu Zeit ihren Wohnsitz nahmen. Inzwischen zweifelte er stark an ihrer Existenz.
Hinter den Gebäuden ragten majestätische Felsen grau in den Abendhimmel. Auf einer Felsnase flackerte etwas – man hatte Wachen aufgestellt. Der Wald machte einen großzügigen Bogen und umarmte die Rückseite des Gehöfts, schützte es so vor neugierigen Späherblicken. Eine fast mannshohe Mauer aus Felsbrocken, von nah und fern herangeschleppt, trennte das Gehöft von der Wildnis. Kühe und Ziegen lagerten im Halbschlaf dicht an ihren Verschlag gedrängt, der im Sommer gegen das Wetter schützte. Im Winter wurden die Herden ausgedünnt und die überlebenden Tiere mit in die Häuser genommen, um Wärme zu spenden. In einiger Entfernung konnte man die Schweine grunzen hören. Offenbar waren die ersten Herden bereits von ihrer sommerlichen Wanderung durch die Wälder zurückgekehrt. Der junge Mann erinnerte sich daran, dass er lange Zeit die Hirten jedes Frühjahr ein Stück auf ihrer Wanderung begleitet hatte, zusammen mit seinem jüngeren Bruder und der kleinen Wilden … wie hieß sie noch gleich? Er hatte sich immer gewünscht, ebenfalls ein Schweinehirte zu sein – frei und ungebunden durch die Wälder zu ziehen, niemandem Gehorsam schuldig. Tagelang im Schatten der Bäume liegen und auf der Flöte spielen, ab und zu ein Bad in einem kühlen See … Nun, es war anders gekommen.
Furchteinflößendes Gebell ertönte, als die Hunde ihr Kommen bemerkten. Die Tür des Haupthauses öffnete sich. Eine imposante Figur erschien auf der Schwelle, von Feuerschein eingerahmt. Auf einmal fühlte er sich wieder in seine Kindheit zurückversetzt. Als hätte er etwas ausgefressen und sei dann zu lange fortgeblieben. Manche Dinge änderten sich eben nie.
Er zügelte sein Pferd, schwang das Bein über den Rücken seines braunen Wallachs und ging auf die Person zu. Sein Herz raste in seiner Brust. Die übrigen Männer hielten sich im Hintergrund. Als er nur noch wenige Meter vom Haus entfernt war, fing er an zu rennen.
»Mutter!« Er zögerte einen Herzschlag lang, dann schlang er die Arme um die alte Frau und hob sie mühelos ein paar Handbreit vom Boden. Ihr Haar roch immer noch nach Rauch und Brot und Zuhause, auch wenn es inzwischen von grauen Strähnen durchzogen war.
Gerlind ließ sich die stürmische Begrüßung einen Moment lang gefallen. Dann straffte ihr Körper sich, und sie befahl: »Siegfried! Lass mich gefälligst wieder runter und stell mir deine Begleiter vor, wie es sich gehört!« Sie bemühte sich, ein entsprechend strenges Gesicht zu machen, aber in ihren Augen schimmerte es verdächtig.
Die Männer kamen langsam näher und begrüßten die Hausherrin mit der ihr zustehenden Ehrerbietung. Eine der Mägde brachte unaufgefordert ein gefülltes Methorn. Gerlind trank einen Schluck, reichte es dann nacheinander den Männern. Zwei Knechte kamen, um die Pferde zu versorgen. Der dunkelhäutige Alara, der in seiner Jugend ein Gelübde abgelegt hatte, das ihm den Genuss von Alkohol verbot, benetzte nur die Lippen und hielt den Blick dabei gesenkt, als wisse er, dass Gerlind ihn verstohlen musterte.
Die alte Frau – denn alt war sie, auch wenn ihre Augen noch scharf waren und ihre Stimme laut und gebieterisch – war erschrocken. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schwarzen gesehen, und sowohl ihre Blicke als auch ihre Gedanken wanderten während der Begrüßung immer wieder zu ihm zurück. Hatten die Götter den Fremden angemalt, grübelte sie im Stillen, oder war er vielleicht verflucht? War er das Opfer einer Krankheit oder gab es am Ende vielleicht sogar mehrere wie ihn?
Siegfried betrat sein Elternhaus. Er sah sich einen Moment lang um, ließ seine Umgebung auf sich wirken. Alles war fremd und vertraut zugleich. Der Lehmboden war eben und festgestampft und sauber gefegt. Das Herdfeuer in der Mitte des Gebäudes, das nur aus einem einzigen Raum bestand, loderte hell und freundlich, und in den Halterungen an den Wänden brannten Öllichter. Auf einem Gitter über den Flammen garten mehrere große Fleischstücke, und der Saft tropfte zischend ins Feuer. Ein Wohlgeruch schwängerte die Luft, und Siegfrieds Magen begann zu knurren. Das war doch kein gewöhnliches Abendessen. Wieso dieser Aufwand? Störten sie? Waren sie in eine Feier geplatzt?
Die Mägde kauerten sich wieder in eine Ecke, nahmen ihre Wollbündel und Handspindeln auf und unterhielten sich leise. Hin und wieder sahen sie verstohlen zu ihren stattlichen Gästen herüber und kicherten.
An der Stelle, an der die Familie sich früher immer versammelt hatte, war ein flaches Lager aus Fellen und Decken hergerichtet worden. Dort lag ein alter Mann mit ehemals blondem Haar und Bart, jetzt von weißen Strähnen durchzogen, als hätte der Winter ihn geküsst. Von der hünenhaften Gestalt seiner kriegerischen Jugend schien nicht mehr viel übrig. Der junge Mann kniete neben ihm nieder und streckte zögernd die Hand aus. »Vater? Vater, ich bin wieder daheim.«
Der Alte schlug die Augen auf, und ein Lächeln erhellte seine von Wind und Wetter gegerbten Gesichtszüge.
»Mein Junge! Es ist gut, dass du zurück bist.«
»Bist du krank?«
Der Alte schüttelte den Kopf und richtete sich mühsam auf. »Du wirst mich auslachen. Jahrelang haben wir Krieg geführt, und immer bin ich heil geblieben – oder doch relativ unverletzt – und vor ein paar Wochen hat mich beim Viehtrieb ein Ochse auf die Hörner genommen. Auf meine alten Tage bin ich wohl unvorsichtig geworden. Zum Glück hat Valbruna mich wieder zusammengeflickt.«
»Valbruna – sie lebt also immer noch bei euch?« Jetzt erinnerte er sich – die Gefährtin seiner wilden Kinderspiele, nach dem Unglück, mit verbrannter Haut und einem in Kräutersud getränkten Lappen über dem rohen Fleisch, in dem einst ihre wilden Augen gefunkelt hatten.
Siegmar nickte. »Sie ist eine begabte Heilerin. Aus großer Entfernung kommen die Leute, um ihren Rat zu hören. Obwohl es einige zu enttäuschen scheint, dass sie noch so jung ist.«
»Und wo ist sie?« Siegfried sah sich suchend um.
»Sie ist in aller Frühe aus dem Haus gegangen, um Kräuter zu suchen, und müsste bald wieder hier sein. Sie würde das gemeinsame Mahl nicht verpassen wollen.«
Unterdessen hatte Gerlind den Anwesenden Nachtlager zugewiesen, damit sie ihre Habseligkeiten ablegen konnten. Sie gesellte sich zu ihrer kleinen Familie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast uns keine Nachricht geschickt.«
Siegfried lächelte und lehnte sich zurück. »War es keine schöne Überraschung?«
Die alte Frau sah ihn unverwandt an. »Valbruna hat heute Morgen gesagt, dass ihr kommen würdet. Wie hätte es ausgesehen, wenn wir euch keinen angemessenen Empfang hätten bereiten können?«, schalt sie. »Du hast dich in all der Zeit kein bisschen verändert. Immer noch derselbe unverantwortliche Lausbube.«
Das Gesicht des jungen Kriegers wurde ernst. Er wusste, dass es nicht stimmte – er HATTE sich verändert. Mehr, als ihm lieb war.
Alle Köpfe wandten sich um, als die Tür sich mit einem leisen Knarren erneut öffnete. Eine kleine, bucklige Gestalt stand draußen. Das lange braune Haar fiel über ihren Rücken und rahmte ein Gesicht ein, dessen obere Hälfte nur aus Narben und Kratern zu bestehen schien. Sie hielt einen gewaltigen Wanderstab in der linken Hand und stand stockstill, als könne sie wahrnehmen, was sich in ihrer Abwesenheit verändert hatte.
»Es sind mehr Menschen hier als sonst – haben wir Besuch?« Die Stimme war weich und melodisch, und die fremden Männer, die über ihren gerade erst in Besitz genommenen Nachtlagern knieten, sahen sie erstaunt an. Es erschien ihnen als kleines Wunder, dass so ein hässliches Wesen eine solch angenehme Stimme haben konnte.
»Siegfried ist heimgekehrt, wie du gesagt hast«, erklärte Gerlind. »Du brauchst nicht zu tun, als seist du überrascht, ich hab ihnen von deiner Vision erzählt.«
Valbrunas Gesicht verzog sich zu etwas, was vielleicht ein Lächeln war. »Dann ist es ja umso besser, dass ich rechtzeitig zuhause bin. Wie peinlich, wenn ich das gemeinsame Abendessen verpasst hätte.« Sie bewegte sich ins Haus, ohne inne zu halten und ohne sich zu stoßen. In einigem Abstand zum Feuer blieb sie stehen und legte den grauen Wollumhang ab. Darunter kam eine leere Weidenkiepe zum Vorschein, die sie auf den Boden stellte. Jetzt konnte man erkennen, dass sie keineswegs verwachsen war. Im Gegenteil, ihr Körper schien trotz der geringen Größe überraschend wohlgeformt und kräftig. Ein schlichtes braunes Kleid schmiegte sich an ihren Körper. Sie wandte sich dahin, wo Siegfried saß, und es schien, als sehe sie ihn aus leeren, vernarbten Augenhöhlen an. »Schön, dass du wieder hier bist, Bruder. Willst du mir nicht deine Freunde vorstellen?«
***
»Und wenn ich es euch doch sage, sie ist eine Hexe!«, beharrte Dariush. Sie hatten den ganzen Abend gezecht, doch er lallte nur ein kleines bisschen. Vor ihm stand eine Holzschale mit abgenagten Schafsknochen, auf deren Rand das Fett im Feuerschein glänzte.
Siegfried wehrte lachend ab. Im Feuerschein schienen sein Gesicht und Haar zu glühen. »So ein Unsinn. Ich kenne sie mein ganzes Leben, und sie hat nicht das geringste bisschen Hexenblut in ihren Adern. Ihre Sinne sind eben geschärft seit – seit ihrem Unfall. Außerdem: Behauptest du nicht immer, eine Hexe müsse rote Haare haben? Valbrunas Haare sind braun, wenn ich mich nicht irre.« Er drehte sich zu Baldwin und Rodgar um. Einen Augenblick lang hatte er Schwierigkeiten, sie direkt anzusehen. Er war den Met seiner Mutter nicht mehr gewohnt. »Im Gegensatz zu euren!«
Die Zwillinge grinsten. »Wir haben ja bislang auch nur die Haare auf ihrem Kopf gesehen.« Ihr dröhnendes Gelächter ließ die Balken des Hauses erzittern.
Siegfried schüttelte unwillig den Kopf. »Leise! Es gibt Leute, die schlafen bereits!« Die Zwillinge waren seit dem Tag, an dem er ihnen in der römischen Armee begegnet war, seine besten Freunde. Sie waren in ihrer Kindheit als Unterpfand von ihrer Sippe nach Rom geschickt worden und hatten sich dort entschieden, ins Heer einzutreten, anstatt eine höhere Ausbildung über sich ergehen zu lassen. Offenbar schienen sie einander als Blutsverwandtschaft vollkommen zu genügen, denn man hörte sie nie über ihre Sippe reden. Als Siegfried angekündigt hatte, er wolle zurück in seine Heimat, hatten sie sich unverzüglich bereit erklärt, ihn zu begleiten. Während der gesamten Reise hatten sie nicht ein einziges Mal verlautbaren lassen, dass sie ihre eigenen Leute besuchen oder sich in ihrer ursprünglichen Heimat niederlassen wollten. Siegfried wurde das Gefühl nicht los, es sei unangemessen, sie nach Einzelheiten zu fragen. Offenbar hatten sie alle Verbindungen mit ihrer Kindheit in den germanischen Wäldern gekappt. Ihren Akzent, soviel stand fest, hatte er sonst noch nirgends gehört.
Das Mahl war vorzüglich gewesen, man hatte viel getrunken und gelacht. Valbruna hatte an einem kleinen Schrein in der Hausecke einen Teil des Festmahls für die Götter geopfert – offenbar hatte sie einen Großteil der weltabgewandten Aufgaben von Gerlind übernommen, die sich noch nie wirklich für die Götter und ihre verschlungenen Wege interessiert hatte. Wenn es nicht half, Essen auf den Tisch zu bringen, hatte sie keine Geduld dafür. Während ihre Ziehtochter vor dem Schrein kniete, teilte sie großzügige Portionen Gerstenbrei aus, mit dicken Fleischbrocken und kräftiger Brühe, auf der Fettaugen trieben. Die Bewohner des Hauses hatten mit offenen Mündern den Erzählungen des heimgekehrten Sohnes gelauscht. Vieles konnten sie sich gar nicht recht vorstellen – fließendes Wasser in den Häusern? Geheizte Fußböden? Siegfried schwärmte davon, wie weit entwickelt die römische Gesellschaft sei, wie zivilisiert. »Wenn wir doch nur unsere Leute ebenfalls soweit bringen könnten!«, sagte er. Die jungen Männer waren sich sehr welterfahren vorgekommen.
Inzwischen war es still geworden. Wer am nächsten Tag arbeiten musste, und das waren die meisten von ihnen, lag bereits auf seinem Lager. Siegmar und Gerlind schliefen friedlich nebeneinander. Nur Valbruna hatte sich direkt nach der Mahlzeit entschuldigt, um noch ein wenig in dem Schuppen zu arbeiten, der ihr als Kräuterkammer diente. Das hatte Dariush natürlich in seiner Überzeugung bestärkt. Missgestaltete, sozusagen »gezeichnete« Menschen galten in seiner Kultur als böse oder von Dämonen besessen, und die junge Frau mit dem verwüsteten Gesicht jagte ihm offenbar Angst ein. Wer wusste, was sie in der Abgeschiedenheit Ungeheuerliches plante?
Ein wenig unsicher auf den Beinen erhob Siegfried sich und steuerte auf die Tür zu. »Ich will einmal sehen, was sie noch treibt«, sagte er, während er über die Beine seiner Kameraden hinwegstieg. »Sie sollte nicht mitten in der Nacht alleine da draußen sein. Das könnte gefährlich sein.«
Seine Kumpane johlten. »Du Retter und Beschützer der jungen Frauen!«, grölte Rodgar. »Bleibt nur abzuwarten, wer sie vor dir beschützt!« In der hintersten Ecke zog eine der Mägde sich im Halbschlaf unwillig die Decke über den Kopf und drehte sich zur Wand. Die Männer prosteten einander zu und leerten ihre Becher.
Der junge Mann winkte ab und trat durch die niedrige Tür in den Hof. Er blieb einen Moment stehen, um die lebendige Stille in sich aufzunehmen. Die kalte Luft vertrieb den Alkohol aus seinem Kopf. Die römischen Nächte mochten wärmer sein, aber diesen kristallklaren Himmel hatte er noch nirgends sonst gesehen. Das Sternentuch wölbte sich über dem spärlich besiedelten Land. Ihm schien, als gebe es mehr Sterne als Menschen. Die Luft bewegte sich kaum. Es war kühl. Herbstliche Wohlgerüche trieben durch die Nacht. Vom Waldrand her stieg ein leichter Nebelhauch auf und schlängelte sich durch das Kraut, das an manchen Stellen mehr als kniehoch wucherte. Hier brauchte es mehr kräftige Hände, um alles in Ordnung zu halten.
Man meint immer, die Nacht in der Wildnis sei lautlos, aber wie Siegfried dastand, konnte er unzählige nächtliche Geräusche wahrnehmen. Die Tiere in den Pferchen bewegten sich im Halbschlaf und seufzten leise. Trockenes Laub raschelte. Zweige knarzten. Insekten zirpten – vielleicht eines der letzten Konzerte, ehe der Frost sie dahinraffte. Ein Kauz schrie, und etwas Finsteres rauschte auf kräftigen Schwingen durch die Nacht. Bewegung im Unterholz. Ein schrilles Quieken, das rasch verstummte.
Siegfried atmete durch. Genau das hatte er in der großen Stadt und auf den Feldzügen vermisst. Auf dem Schlachtfeld herrschten andere Geräusche – der Gesang der betrunkenen Sieger, das Stöhnen und Schreien der Verwundeten, die Klagen der Besiegten. Auch die Stille vor dem Kampf war eine andere, metallisch und angespannt, voller Unsicherheit und Aggression. So friedlich hatte er es nur hier erlebt – obwohl er wusste, dass der Frieden täuschen konnte. Im dunklen Wald lauerten Gefahren, sowohl natürlichen als auch menschlichen Ursprungs. Schon manch einer war auf Nimmerwiedersehen verschwunden oder erst nach tagelanger Suche tot aufgefunden worden, ausgeraubt und erschlagen. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Auf der Felsklippe brannte noch immer das Wachfeuer.
Der kleine Verschlag, in dem Valbruna arbeitete, stand einige hundert Schritte entfernt auf einer Lichtung, auf der im Sommer die Pferde grasten. Siegfried erinnerte sich an die schäbige Hütte – früher hatten die Knechte dort die Hacken und Schaufeln aufbewahrt. Dafür gab es inzwischen einen Verschlag dichter am Wohnhaus, neben der Schmiede, damit nichts abhandenkam. Werkzeug war schwer zu beschaffen und teuer. Den Schuppen hatte man offenbar nicht leer stehen lassen wollen. Und Valbruna hatte schon immer die Ruhe genossen, die sich abseits des täglichen Lebens über die Wildnis ergoss.
Tastend einen Fuß vor den anderen setzend, fand er den schmalen Pfad, der sich zwischen den Bäumen hindurch schlängelte. Das Laub flüsterte unter seinen Füßen, der herbe Geruch verwester Pflanzenteile stieg ihm in die Nase. Dann mischte etwas anderes sich hinein – würziger Rauch. Er hielt inne, schnupperte. Offenbar verbrannte sie heute Abend nicht nur Holz.
Da er die Hand vor Augen nicht sehen konnte unter den dichten Baumkronen, verließ er sich auf seinen Geruchsinn. Fast blind bewegte er sich dennoch sicher und lautlos über den Waldboden. Es raschelte, als ein kleines Tier – eine Maus? – die Flucht ergriff. Ein niedrig hängender Ast streifte sein Gesicht.
Die schiefe Schuppentür war nur angelehnt. Durch den Schein glühte es dämonisch. Lautlos trat Siegfried näher und spähte ins Innere.
Valbruna stand konzentriert über ein Gefäß gebeugt. Was ihre fleißigen Hände taten, blieb hinter ihrer sehr aufrechten Gestalt verborgen. Außerhalb seines Gesichtsfeldes hörte er etwas blubbern. Die Luft in der Hütte war viel wärmer als die Nachtluft. Sie bewegte sich und waberte, gaukelte Gestalten vor, wo es keine gab. Valbruna ließ sich nicht stören. Wahrscheinlich könnte die Hütte über ihr zusammenbrechen, ehe sie etwas merkt, dachte Siegfried und lächelte. Er hatte sie vermisst.
Genau in dem Moment richtete Valbruna sich auf und stützte das Kreuz mit den Händen. Sie stöhnte. Dann sagte sie: »Was für eine elende Plackerei. Willst du wirklich draußen bleiben und frieren? Komm rein, du kannst mir helfen.«
Überrascht machte Siegfried einen Schritt vor, überschritt die morsche Schwelle und schloss die Tür hinter sich. Sie knarrte in den ledernen Angeln und ließ sich nur mühsam zudrücken. Woher hatte sie gewusst …?
Valbruna stand an einem hohen Tisch und mischte mit schnellen, sicheren Bewegungen getrocknete Kräuter in einer Holzschale. Das lange braune Haar fiel ihr nachlässig zusammengebunden über den Rücken. Sie hatte sich nicht zu ihm umgedreht, sondern griff zielsicher nach einem hölzernen Stampfer und begann damit, die Kräuter zu zerstoßen. Ein bitterer Geruch breitete sich in der kleinen Hütte aus. Siegfried musste an Gift denken.
»Setz dich ruhig einen Moment, aber bring bitte nichts durcheinander.«
In einer Ecke stand ein kleiner verstaubter Schemel, auf dem ließ Siegfried sich nieder. »Du hast hier wohl nicht so oft Besuch«, mutmaßte er.
Valbruna reagierte nicht und bearbeitete weiter ihre Kräutermischung. Bis auf den Arbeitstisch waren alle ebenen Flächen vollgestellt mit Krügen, Töpfen und Tiegeln in den unterschiedlichsten Größen und Formen. In einem konkaven Stein auf einem separaten Regalbrett brannte ein Wachslicht und verströmte einen aromatischen Duft vor einer schlichten Holzfigur, deren Züge von regelmäßigen Berührungen geglättet waren. Einzelheiten konnte er nicht erkennen. Kräuterbündel hingen in dichten Reihen von den unbehauenen Deckenbalken, Ein Regal über dem Arbeitstisch enthielt alle möglichen Utensilien zur Herstellung von Pulvern, Tränken und Salben. Unter dem Tisch standen zwei abgedeckte Holzkübel, aus denen ranziger Geruch aufstieg. In einer winzigen Feuerstelle zu seiner Linken hing ein Kessel über einem lodernden Feuer und brodelte leise vor sich hin. Der Kräuterduft ließ ihm schwindlig werden.
»Was machst du so spät noch alleine hier?« Siegfried sparte sich die Frage, wie sie ihn erkannt hatte.
Valbruna schüttete zu feinem Staub zermahlene Kräuter in eine tönerne Schale. Dann griff sie nach einem schmierigen Lappen, der auf der Tischkante hing, und hob mit vorsichtigen Bewegungen den Kessel aus der Feuerstelle. »Kannst du mir eben helfen? Halt die Schale fest, damit ich sie nicht umwerfe.«
Siegfried ging um die junge Frau herum und griff nach dem Gefäß. Es war sorgfältig gearbeitet, schlicht und stabil, schimmerte matt. Der Widerschein des Feuers tanzte auch über die Narbenkrater in Valbrunas Gesicht. Es sah aus, als runzele sie konzentriert die Stirn, aber genau ließ sich das nicht sagen. Siegfried erinnerte sich noch gut daran, wie es zu den furchtbaren Verletzungen gekommen war – die Schreie, die Panik auf dem Hof, das Quieken der eingeschlossenen Schweine, der Gestank. Er war gerade zwölf geworden, da hatte es ein Feuer gegeben im Schweinestall, und die elfjährige Waise war in das Inferno gelaufen, um ihr Lieblingsferkel zu retten. Das Tier hatte überlebt, aber ein herabfallender Balken hatte sie ins Gesicht getroffen und schwer versengt. Siegmar wich in der Zeit nach dem Unglück kaum von ihrer Seite. Niemand hätte gedacht, dass sie überleben würde, geschweige denn sich von dem tragischen Unfall erholen. Aber mit der Zeit begann Valbruna, kleinere Handarbeiten auszuführen, und an diesen nützlichen Tätigkeiten hatte sie sich entschlossen ins Leben zurückgehangelt. Als Siegfried und sein jüngerer Bruder nach Rom aufbrachen, war sie bereits über die Grenzen der Sippe hinaus bekannt für ihr Wissen um die Heilkraft der Pflanzen. Das gerettete Schwein lebte bei seiner Abreise noch immer, inzwischen viel zu alt und zu zäh, um gegessen zu werden. Es genoss sein Leben in den Wäldern rund um das Haus in vollen Zügen.
In einem ekelerregend riechenden Schwall ergoss sich flüssiges Schweinefett über das Kräuterpulver. Siegfried konnte die Hitze fühlen, die von der Mischung ausging. Valbrunas Handbewegungen waren sparsam und sicher, und nicht ein Tropfen des heißen Fettes ging daneben. Sie hängte den Kessel zurück an einen Haken in der Wand und griff nach einem hölzernen Löffel. Vorsichtig hob sie die Schüssel in eine flache Schale mit kaltem Wasser und vermischte die Zutaten rührend zu einer glatten, bitterwürzig riechenden Paste, die schnell abkühlte und an Festigkeit gewann. Aus dem Regal holte sie einen sorgfältig gearbeiteten steinernen Tiegel. Siegfried bewunderte die Handarbeit. Das hatte keiner hier vor Ort gefertigt. Römisches Kunsthandwerk. Abgegriffen, aber immer noch ein Meisterwerk.
»Ein sehr schönes Stück. Sag – du hast wirklich gewusst, dass ich kommen würde?«
»Das hat Gerlind dir doch schon erzählt.« Valbruna zuckte mit den Schultern. »Mit dem Herbstwind reisen manche Nachrichten schneller als andere. Der Tiegel stammt von einem Händler in der Ubiersiedlung, wenn du es genau wissen willst.«
»Was – ach, egal. Seid ihr oft dort auf dem Markt?«
»Ich habe ihn extra mitbringen lassen für Siegmars Salbe. Wenn die kalten Herbstabende kommen, spürt er das Wetter stärker in den Knochen. An den Schnitzereien erkenne ich immer, dass es das richtige Gefäß ist – er lässt seine Sachen nie an der gleichen Stelle stehen.« Valbruna seufzte und wischte sich die Hände an dem Lappen ab. Offenbar hatte der Lumpen schon bessere Tage gesehen. Angeekelt verzog sie das Gesicht und warf ihn ins Feuer.
»Mutter hat gesagt, dass die Priester angeboten haben, dich in die Lehre zu nehmen.«
»Und?«
»Sie sagte auch, dass du abgelehnt hättest – warum? Du könntest eine Menge lernen. Und du hast eindeutig eine Gabe, die Dinge – nun ja, zu erkennen.«
Valbruna lächelte, und die Bewegung verzerrte die Ruine ihres Gesichts. Wenn die Götter ihre Hand auf mich legen wollen, können sie das hier so gut wie dort. Aber sag, warum bist du zurückgekehrt? Man erzählt sich, du hättest es weit bringen können in der großen Stadt im Süden. Unsere Eltern sind sehr stolz auf dich.« Mit knappen Bewegungen verstaute sie ihre Arbeitsutensilien. »Gerlind braucht Hilfe hier auf dem Hof. Ich bin vielleicht ein Krüppel, aber ich kann eine Menge Dinge erledigen, um die sie sich dann nicht kümmern muss.
Er zögerte. »Weißt du … Zuhause, das ist kein Ort, den man sich aussuchen kann. Ich gehöre hierher, im Guten und im Schlechten. Das haben die Nornen so bestimmt.«
»Die Nornen? Du bist wohl nie um eine Ausrede verlegen!« Valbruna lachte. »Ich wusste gar nicht, dass du dich in ein abergläubisches altes Weib verwandelt hast!«
Es sah ihr ähnlich, sich über die Schicksalsgöttinnen lustig zu machen. Als sei Wyrd etwas, was man auf die leichte Schulter nehmen könnte.
Geschickt säuberte die junge Frau die benutzten Utensilien und legte sie an ihren Platz zurück. »Lass mich raten – wenn die Nornen dir auch noch deine geliebte Thusnelda zu Füßen legen würden, wäre dein Leben endlich perfekt.«
»Du warst schon immer eine kleine Ketzerin.« Siegfried lächelte. »Und jetzt komm, ich bringe dich zum Haupthaus zurück. Du solltest nachts nicht alleine durch den Wald streifen. Was, wenn dir etwas passiert?«
»Was soll mir hier denn schon passieren? Ich kenne diesen Wald wie niemand sonst.«
»Du könntest umknicken. Dich verletzen. Und dann?«
»Pah, Blödsinn! Wetten, ich bin eher in der warmen Stube als du?« Mit einem Satz war Valbruna an der Tür, stieß sie mit der Schulter auf und verschwand in der Dunkelheit.
»Hey!« Siegfried folgte ihr. Aber er holte sie nicht ein – bei Nacht und nachdem er jahrelang fort gewesen war. Einen Moment konnte er ihre schlanke Gestalt noch zwischen den Bäumen sehen, dann tat die Schwärze sich auf und verschluckte sie. Beim Haupthaus meckerten ein paar Ziegen im Halbschlaf. Hier hatte sich viel verändert, während er in der zivilisierten Welt das Kriegshandwerk gelernt hatte.
Dass Siegfried und Thusnelda ineinander verliebt waren, war bereits in ihrer Jugend kein großes Geheimnis. Thusneldas Sippe lebte nur ungefähr einen Tagesmarsch entfernt, so dass beide Familien einander häufig begegneten – beim Thing, auf dem Markt oder wenn man einander helfend zur Hand ging. Thusneldas Vater Segestes war ein Römerfreund und wollte den jungen, zerbrechlichen Frieden mit der Macht aus dem Süden um jeden Preis weiter zementieren. Er hatte damals zusammen mit Siegmar den Friedensvertrag unterzeichnet, und inzwischen diente sein einziger Sohn Segismund als Priester am Augustusaltar, dem wichtigsten Heiligtum der Ubiersiedlung. Segestes war ein gerngesehener Gast in der Statthalter-Residenz in der Kolonie und überlegte, sich mit einer römischen Witwe zu vermählen.
Bevor er nach Rom aufbrach, hatte Siegfried unzählige Nachmittage an meiner Seite verbracht und mir von seiner Angebeteten vorgeschwärmt: Von der Art, wie ihr das lange goldene Haar über die Schultern floss, von ihren sanften grauen Augen und den Sommersprossen, die über ihre schmale Nase gesprenkelt lagen. Schließlich konnte sogar ich mir fast ein Bild von ihr machen, obwohl ich damals schon so blind war wie ein Maulwurf. Aber ich erinnerte mich noch daran, dass Thusnelda ein bezauberndes Kind gewesen war. Und ich wusste noch etwas: Siegfried war hoffnungslos verliebt.
Einige Leute behaupten, ich sei eifersüchtig gewesen, aber das stimmt nicht. Wir waren wie Geschwister aufgewachsen. Uns verband ein unzerstörbares Gewebe aus zahllosen Geheimnissen, elterlichen Strafen und gemeinsamen Missetaten. Als sich herausstellte, dass Thusnelda für meinen Ziehbruder dasselbe empfand wie er für sie, freute ich mich für die beiden.
Danach fungierte ich etliche Male als Anstandsdame, wenn die beiden einander in den Wäldern trafen und ganze Nachmittage schweigend nebeneinander am Ufer eines leise dahinplätschernden Baches in der Nähe des Hauses saßen. Manchmal verdrückte ich mich nach einer Weile und sammelte stattdessen Kräuter für die Arzneien, die ich unter der Aufsicht einer alten Kräuterfrau zuzubereiten lernte. So hatten die beiden ein wenig Zeit für traute Zweisamkeit.
Als bekannt wurde, dass Siegfried nach Rom gehen würde, um eine Soldatenausbildung zu erhalten, erklärten beide Sippen sich damit einverstanden, dass die Hochzeit aufgeschoben wurde bis zu seiner Rückkehr. Dass sie stattfinden sollte, galt als abgemacht. Sie wurden einander nicht offiziell versprochen, aber jeder wusste, dass sie füreinander bestimmt waren. Und als wenige Wochen nach seiner Abreise die gerade siebzehn Sommer zählende Thusnelda verzweifelt zu mir kam, mischte ich ihr schweren Herzens ein Mittel, das sie vom Fleisch gewordenen Beweis ihrer beider Liebe befreien würde, ehe jemand etwas erfuhr …
Einige Wochen, nachdem Siegfried wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, fand der große Herbst-Thing statt. Die Felder waren abgeerntet, alle Früchte verarbeitet und eingelagert. Wir bereiteten uns auf den Winter vor. Die schwerste Arbeit war erledigt, jetzt konnte man nur noch abwarten und das Beste hoffen. Aber endlich war Zeit für andere Dinge – Dinge, die den Alltag nicht direkt betrafen, aber trotzdem wichtig sein mochten für die Geschicke aller. Also machte sich wenige Tage vor Vollmond fast der gesamte Haushalt geschlossen auf den Weg zu der großen Lichtung im heiligen Hain – sogar Siegmar und Valbruna saßen im Sattel, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht der eine und die andere blass und nervös, die schwieligen Finger fest um die Zügel ihres kleinen Ponys gekrampft. Nur einige Knechte und Mägde blieben zurück, um Tiere und Herdfeuer zu hüten.
Bei einem Thing sprachen die Priester und Sippenoberhäupter gemeinsam Recht und trafen wichtige Entscheidungen. Aber genauso wurde getanzt, erzählt und gesungen, und am Rand auch gehandelt, gespielt und gefeilscht. Die jungen Männer maßen ihre Fähigkeiten im Schwertkampf, beim Speerwurf und als Ringer. Man tauschte Klatsch aus und erneuerte alte Freundschaften. Es glich weniger einer ernsten Senatssitzung, wie die Römer sie abhielten, als vielmehr einem großen Jahrmarkt. Für die Dauer des Things galt ein universeller Frieden, der unter keinen Umständen gebrochen werden durfte. Aus allen Ecken der Wälder reisten entfernt miteinander verwandte Sippen, Stämme und Gesandte an, um zuzuhören und gehört zu werden, um zu berichten und neues zu erfahren. Es war ein Augenschmaus.
Für Siegfrieds Sippe gestaltete die Anreise sich nicht allzu schwierig, weil sie es nicht weit hatten. Zwei Tagesreisen waren es, langsam und gemütlich und mit Rücksicht auf die weniger ans Reisen Gewohnten unter ihnen. Valbruna erduldete die Strapazen schweigend. Als Siegfried sich ihrer erbarmte und sie nach Hause schicken wollte, bemerkte sie nur mit spitzer Zunge: »Wenn ihr schon Siegmars Gesundheit ruinieren müsst, will ich wenigstens dabei sein. Er scheint vergessen zu haben, dass er die letzten Monate überwiegend fiebernd auf dem Rücken verbracht hat.«
Gerlind beobachtete die Vorbereitungen mit zusammengepressten Lippen. In den letzten Jahren hatte sie die Geschäfte der Sippe ganz alleine vertreten, und alle vertrauten auf ihr Urteil. Jetzt musste sie wieder in den Hintergrund treten und zusehen, wie ihr Sohn das Heft in die Hand nahm. Sein Wort hatte viel Gewicht bei den Stämmen, schließlich war er weit gereist und hatte die Welt gesehen. Das wog wohl mehr als das, was eine alternde Frau und Mutter zu sagen hatte. Folglich begleitete sie die Männer und würde auch in der Versammlung sitzen, sich aber dieses Mal im Hintergrund halten. Ihr Metier waren dieses Jahr nur die Essensvorräte und der Met. Es war wichtig, Einigkeit zu zeigen. Die Hilfstruppen der römischen Armee, die Siegfried in den Norden gefolgt waren, um auf dieser Seite der Grenze ihr Lager zu errichten, machten viele nervös. Gerlinds größte Bedenken in genau diesem Moment betrafen jedoch die Tatsache, dass sie das Gehöft so lange allein lassen musste. Was, wenn Räuber einfielen? Man konnte von den zurückgebliebenen Knechten und Mägden nicht erwarten, dass sie ihr Leben für den Besitz eines anderen riskierten. Dann war da noch Siegmars Verletzung und die Vorbereitungen für das Schlachten… Ach was. Sie mussten einfach vertrauen und das Beste hoffen.
Siegfried war die meiste Zeit über damit beschäftigt, den Tross zu organisieren und mit den Leuten zu sprechen, die sich ihnen unterwegs anschlossen. Auf seinem kräftigen Wallach ritt er die Kolonne entlang, die stetig wuchs, und wechselte mit jedem Neuankömmling ein paar freundliche Worte. Mit jeder Gruppe, die sich ihnen anschloss, wurden sie noch langsamer, und bald wälzte der Zug sich wie ein gigantisches Lebewesen über die Wege. Viele waren gekommen, um Siegmar zu sehen, der in den letzten Jahren sehr zurückgezogen gelebt hatte. Auch wenn er krank und sicher nicht mehr der Jüngste war, genoss er noch immer einen hervorragenden Ruf. Besonders die jungen Krieger empfanden es als eine Ehre, sich ihnen anschließen zu dürfen, und hofften auf eine dauerhafte Stelle in Siegmars Gefolge. Männer, die besondere Fähigkeiten hatten, zum Beispiel Schmiede, wurden immer gesucht. Wer sich unentbehrlich machen konnte und sein Geschick in der Schlacht zu beweisen wusste, konnte im Dunstkreis eines berühmten Häuptlings sein Glück machen und den Grundstein legen für die eigene Legende.
Der gerade erst heimgekehrte, verloren geglaubte Sohn wurde von vielen überschwänglich begrüßt. Andere beäugten ihn misstrauisch, als versuchten sie zu ergründen, was seine Rückkehr für das empfindliche soziale Geflecht der Sippen zu bedeuten habe. War er ein Spion? Ein Römerfreund? Brachte er gute Neuigkeiten? Was wusste er zu erzählen? Sie drängten sich um ihn und versuchten, aus seinen spärlichen Wortmeldungen einen zusammenhängenden Geschichtenteppich der letzten Jahre zu knüpfen. Seine kriegerischen Errungenschaften wurden zur Legende, als hätte er persönlich die Eisriesen bezwungen und den Drachen gezähmt, der das Feldzeichen seiner Familie darstellte.
Insgesamt war es eine fröhlicher Gruppe, die durch den goldbraunen Wald zog, mit Liedern auf den Lippen und Geschichten, die es zu erzählen galt. So wurde ihnen die Reise nicht zu beschwerlich, und ehe sie es sich versahen, waren sie auch schon am Ziel.
Der Thing war bereits in vollem Gange. Die eigentliche Ratsversammlung würde erst am Abend des Vollmondes mit einem gemeinsamen Opfer für die Götter beginnen, aber rundum wurden Freundschaften besiegelt, Abkommen getroffen und Waren angepriesen, und die jungen Männer stachelten einander zu immer neuen Schandtaten an. Die Versammlung würde mehrere Tage dauern, und der Met floss in Strömen. Die einzigen, die noch nüchtern waren, waren die Würfelspieler, die sich mit überkreuzten Fingern und vor Konzentration zerfurchten Gesichtern in kleinen Grüppchen vor ihren Zelten zusammengefunden hatten.
Die Sippe schlug ihr Lager unter Gerlinds strengem Regiment in erstaunlich kurzer Zeit ein wenig abseits des allgemeinen Trubels auf. Ein gutes Dutzend improvisierter Zelte aus Fellen, Decken und Leinen standen in einem Halbkreis um eine sorgfältig angelegte Feuerstelle, und die Abgehärtetsten breiteten ihre Decken unter freiem Himmel aus. Die Leute zerstreuten sich, um ihren eigenen Angelegenheiten nachzugehen und sich ein wenig zu amüsieren. Es war noch früh am Abend, die Sonne hatte die Baumwipfel gerade erst berührt, und es gab viel zu sehen.
Auch Siegfried entschuldigte sich bei seinen Freunden und schlenderte zu Valbruna hinüber, die mit verschränkten Armen etwas von den anderen entfernt saß und brütete. Ihr Pony stand hinter ihr, lose an einen jungen Baum gebunden, und rupfte selbstvergessen das vertrocknende Gras. Sie war schlechter Stimmung und gab sich keine Mühe, das zu überspielen. Ein kleines hölzernes Idol war neben ihrem Zelt in den Boden gerammt worden. Sie war die Hüterin des Familienschreins.
Siegfried trat neben sie, die Augen auf die Menschen um sie herum gerichtet, und ließ sich auf den Boden plumpsen. »Ziemlich viel los, nicht wahr?«
»Was willst du?«, versetzte sie in gereiztem Tonfall. All die fremden Geräusche und Gerüche rundum machten sie nervös. Sie fühlte sich hilflos, wollte es aber nicht zugeben.
Er legte sich zurück. »Ich wollte vorschlagen, dass wir zusammen einmal über das Gelände gehen, dann kennst du dich aus und kannst dich in den kommenden Tagen auch allein bewegen. Außerdem brauchst du bestimmt noch das eine oder andere von den Händlern. Hat Gerlind dir ein wenig Geld für Kräuter und Arzneien gegeben?«
Valbruna erhob sich mühsam – der ungewohnte lange Ritt hatte sie merklich erschöpft, ihre Beine und ihr Rücken waren ganz steif – und griff nach einem grauen Tuch, das sie mit wenigen Handgriffen geschickt um den Kopf drapierte, so dass ihr Haar und ein Großteil ihres Gesichts verdeckt waren. »Ich verdiene mein eigenes Geld. Gut, lass uns gehen.«