In der Kampfzone - Christian Schüle - E-Book

In der Kampfzone E-Book

Christian Schüle

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Beschreibung

Wider die emotionale Mobilmachung in Politik und Gesellschaft

Im Jahr 2019: Statt 70 Jahre Frieden, Wohlstand und Sicherheit zu feiern, befindet sich die Bundesrepublik in einer Art Ausnahmezustand. Spätestens seit der Ankunft massenweise geflüchteter Migranten wird die Zerrissenheit unserer Gesellschaft deutlich sichtbar. Gültige Übereinkünfte stehen plötzlich infrage, es regieren Instinkte, Stimmungen und Emotionen. Mit dem Blick des politischen Philosophen durchdringt Christian Schüle die typisch deutschen Muster, die der neuen Erregungsspirale zugrunde liegen. »In der Kampfzone« ist ein provozierend-anregender Aufruf zu Vernunft, Einigkeit und Recht und Freiheit.

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Seitenzahl: 342

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Christian Schüle

In der

Kampf-zone

Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung

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Copyright © 2019 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenLektorat: Nadine LippUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenUmschlagabbildung: © Martin Barraud/Getty ImagesSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-23730-1V002
www.penguin-verlag.de

Dr. Thomas Stockmann: »Was uns zugrunde gehen lässt, das sind Verdummung, Armut und Hässlichkeit.«Ehefrau Stockmann: »Was nützt dir das Recht, wenn du keine Macht hast?«– IBSEN, EINVOLKSFEIND –

Inhalt

Prolog

I In der Kampfzone

II In der Egokapsel

Aufstieg. Das erste Narrativ

III In der Gefahrenzone

Angst. Das zweite Narrativ

IV In der Echokammer

Schuld. Das dritte Narrativ

V In der Unterwelt

Opfer. Das vierte Narrativ

VI In die Freiheit

Prolog

Dieses Buch ist das Ergebnis einer Verstörung. Und zugleich ein Versuch über Versöhnung. Über Einigkeit und Recht und Freiheit in einer Zeit, da auch in Deutschland Niedertracht, Beleidigung und Ehrabschneiderei zur handelsüblichen Währung der Auseinandersetzung geworden sind.

Ich wende mich im Folgenden auf manchmal schamlos zugespitzte, manchmal arglos übertriebene, immer aber unbestechliche Weise gegen Hyper- und Doppelmoral, Hysterie und Hybris, Panik und Panikmache und die Widersprüche eines reaktionären Widerstands von allen Seiten auf allen Seiten. In respektvoller Rage rechne ich offen oder implizit mit Parteien, Politikern, Intellektuellen, Ideologen, Rechten, Linken und all jenen ab, die es sich im Schoß der geerbten Demokratie allzu leicht machen; die das Kapital des sozialen Friedens verspielen und von der Freiheit profitieren, deren Verletzung sie ungerührt hinnehmen; die in einer Ära atemloser Gehetztheit schnappatmend gegen alles hetzen, was ihren Selbstwert infrage stellen könnte; die keine Lösung wollen, sondern Erlösung; die Respekt einfordern, ihn aber selbst nicht gewähren.

Im siebzigsten Jahr ihres Bestehens ist die Bundesrepublik zur Kampfzone geworden – politisch, kulturell und sozial. Auf die Entfremdung zwischen Politik und Bürger, auf die rücksichtslose Polemik durch Hassprediger und Gesinnungsapostel jeglicher Dogmatik und die rhetorische Dammbruchtechnik bürgerlicher Radikalität war niemand vorbereitet – weder die gerne diffamierten Eliten noch die sogenannten Etablierten, weder der öffentliche Geist noch Medien aller Arten. Zweifelsohne fällt der Beginn der Kampfzone mit Aufstieg und Selbstartikulation der AfD zusammen, wenngleich sie nicht die alleinige Ursache der Kampfzone ist, die als solche erstens jenseits dieser Partei zu denken ist und deren Entstehungsgeschichte zweitens weit länger zurückreicht.

Im Reiz-Reaktions-Schema von Parteien und Politikern auf Stil, Statements, Parolen und Programmatik der Alternative für Deutschland, den Kameradschaftsbrüdern und Gesinnungsgenossen mit nationalistischen Kalibern, wird die Kampfzone nun deutlich sicht- und spürbar. Die AfD ist Ausdruck wie Profiteurin eines Paradigmenwechsels und Symptom einer Dysfunktionalität, die alle anderen – Politiker und zivilgesellschaftliche Akteure – dazu zwingt, sich zwischen Unter- und Überschätzung der prozentual beliebtesten Oppositionspartei und ihrer Repräsentanten verhalten zu müssen. Dies in nur vier Jahren geschafft zu haben, kann man wirkmächtig nennen; die Trophäe des durchmarschierenden Aufsteigers im Clubheim der Republik ist der AfD nicht streitig zu machen.

Die Kampfzone ist bestimmt von einem horizontalen Kampf (links gegen rechts), einem vertikalen Kampf (unten gegen oben) und einem metaphysischen Kampf (liberal gegen ideologisch). In diesem Buch geht es um Wesen und Variationen dieser Kämpfe. In den Blick genommen werden die vergangenen vier Jahre, seit Angela Merkel am 4. September 2015 in Erwartung einer Masse geflüchteter Menschen im Wimpernschlag eines welthistorischen Moments beschloss, die deutschen Grenzen nicht zu schließen und damit einer bereits abgeschlagenen AfD nolens volens das politische Feld aufs Neue zu öffnen. Dieses Datum markiert symbolisch den Beginn der Kampfzonenzeit, und seither geht es um die Codes der zivilgesellschaftlichen Selbstverständigung.

Obwohl Widerstand und Protest bekanntlich eine weit länger zurückliegende Geschichte haben – von 1968 bis zu den Ostermärschen gegen Atomkraft und für den Frieden seit Ende der 1970er- bis in die 1980er-Jahre – wurden die Umrisse der Kampfzone D zum ersten Mal 2010 deutlich, als mit dem Verdruss des Normalbürgers über Fremdbestimmung, Missachtung und Arroganz die öffentliche Erregung einsetzte und der Wutbürger geboren war. Er, der wütende Bürger in Stuttgart, der ohne ideologischen Spin gegen den gigantischen Verkehrs- und Städtebauplan eines neuen Hauptbahnhofs auf die Straße ging, war eine Vorhut der politisierten Erregungsgesellschaft. Darauf folgte – in Sache, Stil und Intention völlig verschieden – die im Namen welchen Volkes auch immer ausgedrückte Wutbürgerei in Dresden, Leipzig, Bautzen oder Cottbus, als vornehmlich Ostdeutsche sich zur Protestgruppe Pegida (und ihren Ablegern) formierten und im Rekurs auf die friedliche Revolution in der DDR mit dem Anspruch auftraten, das Volk zu sein. Es ging auf den ostdeutschen Straßen und Plätzen vor allem um emotionalisierte Empörung als politisches Statement und vielleicht als Kampf für das, was man als bessere Demokratie verstand.

Wenn Bürger sich nicht mehr gehört, gesehen, verstanden und vertreten fühlen, können selbst Demokratien dysfunktionale Dynamiken entfalten. Dann artikuliert sich – auf angenehmere oder unangenehme Weise – der Wille des Souveräns, den zu respektieren von allen Regierenden ja stets sofort beschworen wird – kein gerade gewählter Ministerpräsident, der, durchaus ein bisschen demütig, das für ihn gute Wahlergebnis nicht sofort als Auftrag des Wählers begriffe. Der Souverän ist das Volk, ja, aber wer genau ist dieses Volk? Entspricht das Volk der deutschen Bevölkerung? Und in wessen Namen spricht eigentlich wer für wen?

Von den meisten nicht bemerkt, schlug irgendwann bei mehr Mitbürgern als vermutet Wut in Hass um. Beides lässt sich als Resultat erlittener Ohnmacht und gekränkter Selbstwirksamkeit interpretieren, und entscheidend ist – so wird dieser Essay über die Lage der Nation zu zeigen versuchen –, dass der Vorrang des Logos, die politisch verhandelte Vernunft, durch den Thymos, die vitalisierende wie auch zerstörerische Lebenskraft, infrage gestellt wird (und womöglich schon ist). Das altgriechische Thymos ist neben Logos und Eros eine der drei Grundmotivationen des Menschen, wie sie vom Philosophen Platon im vierten Buch seines Werks »Politeia« (über Gerechtigkeit und den idealen Staat) im 4. Jahrhundert vor Christus als seelisches Prinzip eingeführt wurden. Thymos, klärt das moderne Handbuch der Psychologie auf, ist das emotionale Bedürfnis jedes Menschen nach Anerkennung durch andere. Man darf das Thymotische also als Gesamtheit des strebenden Gemüts verstehen, als energetische Triebkraft des Individuums, seines kämpferisch getönten Ehrgeizes und der manchmal zorngelenkten Motivation zur Steigerung des Selbstwerts. Antagonist des Thymos wäre die Erschöpfung, dieser Tage ebenso keine Unbekannte, und in jedem Fall fatal ist die Neigung beider Kräfte, Thymos wie Erschöpfung (Lebenskraft wie Lebensentkräftung), durch geschickt gesetzte Trigger gesteigert und politisch instrumentalisiert zu werden.

In der Kampfzone Deutschland ist der Thymos-Faktor eine neue, bisher unreflektierte Größe in der politischen Auseinandersetzung. Wut, Zorn und Hass sind thymotische, Intellekt und Vernunft überformende Extreme. Katalysiert von einem sowohl selbst erhitzten als auch andere erhitzenden und überraschend häufig a-sozialen sozialen Mediensystem, dessen Geschäftsmodell vornehmlich auf die Auswüchse des Spektakulären setzt, entfaltete sich in den vergangenen vier Jahren ein gigantisches Spektakel: die Mobilmachung der Instinkte in einer von Kämpfen und Krämpfen erschütterten Republik, in der die Emotionalisierung des Politischen die politische Rationalität abtötet.

In der Kampfzone vereinen sich multiple Antagonismen, und im Konglomerat aller Kämpfe werden Risse, Spalten und Klüfte so sicht- wie Polarisierung zum ersten Mal seit langem spürbar. Experten, Blogger und Influencer beschwören den Untergang wahlweise der Demokratie, des Abendlandes oder gleich der Welt, andere laben sich an Analogien zur Apokalypse, der Endzeit der Weimarer Republik oder der erneuten Heraufkunft des Faschismus. Die Sprache in der Arena des Circus Maximus ist polemisch, im Sinne des altgriechischen »Polemos«: Schlacht-Kampf-Krieg. Immer heftiger ist, in den neuen Zeiten von Raserei und Tumult, allseitiges Attacken-Vibrato zu spüren. Neuerdings wird umfassend gekämpft: Soziale Gruppen bekämpfen einander, während der Einzelne gegen den Verdacht auf seine Austauschbarkeit im Kampf aller gegen alle kämpft. Politiker bekämpfen Polarisierung mit Polarisierung. Parteien kämpfen um Positionierung und Positionen. Die Republik ist mitten im Deutungskampf um Erbe und Zukunftsverheißung, Selbstverständnis und Selbstverhältnis, Vogelschissvergangenheit und Zukunftsrevolution, als lägen zwischen 1949 und 2019 nicht siebzig Jahre andere, mühsam errungene, höchst erfolgreiche Geschichte: Sozialstaatsgeschichte, Bildungsexpansionsgeschichte, Friedens- und Wohlstandsgeschichte.

Fremdenfeindschaft, Schwulenfeindschaft, kurzum: Minderheitenfeindschaft sind Zeichen einer Aufkündigung der sozialen, auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung basierenden Interaktion. Auf nicht vorstellbare Weise wird gemobbt, gedisst, gehasst; gehetzt, beleidigt, verachtet, gekränkt und gedemütigt. Von Verkommenheit, Verrohung und Amoral ist nahezu täglich zu lesen und zu hören, allseits wird betrogen, gelogen und hintergangen. Jugendliche vergewaltigen Jugendliche, Erwachsene schlagen Erwachsene, Politiker werden niedergeschlagen, beleidigt, bepöbelt, beschimpft; Lehrer werden angegriffen, Journalisten bespuckt, Polizisten attackiert.

Konflikte, sagen uns Polizei und Psychologie, werden vermehrt durch körperliche Gewalt gelöst. Die Hemmschwelle sinkt, Gewalt verselbständigt sich zur üblichen Problemlösungsstrategie. Der in der Bundesrepublik für undenkbar gehaltene Urzustand der menschlichen Existenz ist auf einmal wieder denkbar geworden: der Kampf des Bürgers gegen den anderen. Umfassendes, immer mehr Menschen erfassendes Misstrauen ist bekanntlich der Keim totalitärer Sehnsucht nach Bereinigung und Reinheit, die sich in Homogenität und Gleichheit erfüllt (je homogener eine Gruppe, desto leichter ist sie zu steuern).

Es geht in meiner Analyse der Kampfzone um Interpretation von Wörtern und Begriffen, um Umwertungen und Spiralen, wenn Sie so wollen: um die Bundesrepublik hinter der Bundesrepublik. Weit mehr als nur um den existentiellen Kampf des Menschen gegen Krankheit und Tod oder den Kampf der Menschheit um gesunde Umwelt und würdiges Existenzminimum, dreht es sich in der deutschen Kampfzone um Variationen eines Kulturkonflikts über das allgemeingültige Menschen- und Weltbild und die Frage: Welches Deutschland soll es bitteschön sein? Mit angewandter Primitivität wird diese komplexe Frage noch immer (oder schon wieder) reflexhaft mittels der Kampfbegriffe »links« und »rechts« beantwortet. Als ob es so leicht wäre, als ob es sich so antithetisch aussagen ließe, als ob die konfrontative Navigation zu irgendetwas anderem führte als zu selbstgefälliger Identitätspolitik: Wir gegen Die.

Linke kämpfen gegen Rechte, gegen Neoliberale, Kapitalisten und Merkel. Rechte kämpfen gegen Linke, gegen Liberale, Migranten und Merkel. Konfrontativ ist der Kampf des »WIR-sind-das-Volk« gegen das »WIR-sind-mehr-als-ihr«, beides im Namen desselben Volkes. Hier wird der Kampf meist linker Kulturschaffender gegen Rechtsextreme ausgerufen, dort tobt der Kampf der Rechtsnationalen gegen vermeintlich linke Kultureinrichtungen. Auf den Theatern wird zum Angriff gegen rechts, das Böse, den Nazi und die AfD geblasen, im Kampf um die Identität der Weltoffenheit, während rechte Gruppierungen Kampagnen gegen Theater, Tanzfestivals und Museen starten, im Kampf um nationale Identität. Die junge weiße Frau kämpft gegen den alten weißen Mann, der alte weiße Mann kämpft um sein Erbe. Nichtweiße kämpfen gegen Abwertung durch Weiße, Homosexuelle nach wie vor gegen den scheinbaren Willen irgendwelcher Götter, die gleichgeschlechtliche Liebe als Sünde verstehen. Dem Kampf um Vielfalt steht der Kampf gegen Öffnung entgegen. Den Kampf um die Hoheit über den Begriff Kultur und seine Auslegung fechten alle gleichermaßen aus. Der Kampf um nationale Leitkultur ist ein Kampf gegen globalisierte Diversität, der Kampf um leitkulturelle Wert-Vorstellungen einer stillen Mehrheit der Kampf gegen die Denunziation der Leitkultur als nationalistische Reaktion einer lauten Minderheit. Dem Kampf der einen für die Erinnerung an die düstere Vergangenheit begegnen die anderen mit dem Kampf für Verklärung der Geschichte (flankiert vom Kampf der Hooligans gegen die Polizei und damit den Staat). Dem Kampf der Links-Autonomen gegen Kapital und Polizei (und damit den Staat) steht der Kampf der Reichsbürger gegen die Republik und die Polizei (und damit den Staat) gegenüber. Die Straßen der Republik sind an manchen Tagen gefüllt mit Demonstranten im Kampf gegen Hass und Intoleranz, die wiederum jenen gegenüber Hass und Intoleranz walten lassen, die sie bekämpfen. Pegida stellt Galgen für Politiker auf, die AfD animiert per Onlineportal zur namentlichen Denunziation von Lehrerinnen und Lehrern. Das »Zentrum für Politische Schönheit« wiederum richtet zwei Monate nach dem Fanal von Chemnitz im Sommer 2018 ein Denunziationsportal gegen jene Demonstranten ein, die die Organisatoren des Zentrums für »Nazis« halten, und ruft gesinnungsgesund dazu auf, »Gesinnungskranke« an den digitalen Schandpfahl zu tackern und die Verdächtigen bei ihren Arbeitgebern anzuschwärzen. Einen Tag später freilich heißt es: April, April, Pranger weg, Seite zu, man habe nur »Nazis« aus der Deckung locken wollen. Das »Honigpott-Prinzip«. Satire? Kunst? Kritik? Der gesunde Menschenverstand ahnt: zu viel ironisierte Ironie.

Die Kampfzone ist geradezu allumfassend. In der Kampfzone zerbrechen Freundschaften, soziale Beziehungen und Arbeitsverhältnisse. Die Phänomenologie der Kampfzone ließe sich ausweiten auf den Kampf des Individuums um Geltung, Anerkennung, Einkommen und Zukunftsfähigkeit, um bezahlbaren Wohnraum, Kita-Platz und Jobsicherheit im aufreibenden Getriebe alltäglicher Konkurrenz. Sie ließe sich ausweiten auf den Kampf der Einzelnen und Vereinsamten um Würde und Selbstwirksamkeit, der Alleinerziehenden um das schiere Dasein, der Rentner gegen Verarmung, des Mittelstands gegen den Abstieg. Die Wirtschaft kämpft um Wachstum und Anschluss, gegen Vorschriften, staatliche Auflagen und einen drohenden globalen Handelskrieg; die klassischen Medien kämpfen gegen den Bedeutungsverlust und um Anteile auf einem schrumpfenden Markt.

Das Betriebssystem dieser Kampfzone ist die Erregokratie: eine nervlich überspannte, nervöse, manchmal hyperventilierende, von Medien aller Art stimulierte Dauererregung, die zum geradezu totalen Spektakel einer Emotionalisierung um ihrer selbst willen geführt hat.

Dieses Buch kämpft auf andere Weise. Es ringt um Aufrichtigkeit in Zeiten der Manipulation. Es wendet sich dabei dem verunsicherten, verstörten, in undurchsichtige Geflechte verstrickten Individuum zu, geht vom ihm, dem Individuum, aus und kehrt wieder zu ihm zurück. Es analysiert, in welchem Verhängniszusammenhang der Einzelne steckt und wie er in ihn hineingeraten ist. Weder hat es seligmachende Weisheit gepachtet noch buhlt es um Zustimmung. Eine abschließende Deutung liefert es gerade nicht. Manche Positionen mögen streitbar sein, am Ende aber wartet ein leidenschaftliches Bekenntnis zur Freiheit des aufgeklärten Geistes, der die Republik zu jenem Hort der Zivilität gemacht hat, der sie bis vor Kurzem noch war: »Jeder nach seiner Fasson« – solange die Fasson des anderen geachtet wird. Die Gretchenfrage lautet also: Wie hält es die liberale Demokratie mit Haltungen, die ihrem offiziellen Wertesystem zuwiderlaufen?

Ich bin mir bewusst, dass diese Frage – ehrlich verhandelt – auch zu einer manchmal heiklen Selbstbefragung führt. Ich exerziere sie im Folgenden stellvertretend für diejenigen, die an Auswegen interessiert sind. Im Spiel der Ideologien habe ich keinerlei Aktien; dogmatische Hasardeure langweilen, Propaganda-Aktivisten nerven mich. Ich vertrete zugleich Positionen, die man als »links« und »rechts« bezeichnen würde. Ob sie progressiv oder konservativ sind, interessiert mich nicht, ob sie in ein Parteiprogramm passen, ist mir völlig egal, obwohl in der deutschen Demokratie freilich nichts geht, wenn nicht Parteien sich der Themen annehmen, um sie programmatisch über Prozesse in Politik zu überführen.

Meines Erachtens ist das größte Vergehen unserer Tage die Verachtung des liberalen Prinzips durch Ignoranten, Ideologen, Dogmatiker, Verblendete, Verirrte und Gehörnte. Sie sind allerorten und auf allen Seiten zu finden, im Bundesplenum und in Landtagssälen, auf den Straßen und Plätzen deutscher Ortschaften, Dörfer und Städte, im Netz und seinen virtuellen Stammtischen, in der Dunkelheit des Untergrunds wie im Fackelschein diverser Aufmärsche. Und dies noch, bevor es in die Kampfzone geht, eine Art Vermächtnis gleich zu Beginn: Freiheit ist niemals selbstverständlich. Sie ist verwundbar und muss täglich gegen ihre Verächter verteidigt werden. Im Geiste dieser Selbstverpflichtung ist dieses Buch verfasst.

I In der Kampfzone

1 Bekenntnis zur Verstörung

Ich bekenne, verstört zu sein. Vom Irrsinn irritiert. Von der Verrohung entsetzt. Von der Verflachung angewidert. Bestürzt über Tobsucht, Trivialität und Leere einer sich am Verstehen hindernden Verständigung. Angeekelt von Hass, Häme, Gewalt und von Gegenhass, Gegenhäme, Gegengewalt. Verblüfft über Hemmungslosigkeit, Schlachtbereitschaft und Mobilmachung der Instinkte in einer Gesellschaft des schamfreien Spektakels.

Die Verwilderung der Umgangsformen, Anstandslosigkeit und Flachsinn in Rede und Gegenrede auf allen Seiten stellen meine jahrelange Hochachtung vor Vernunft und intellektueller Rechtschaffenheit der Deutschen infrage. Der Grat zwischen Meinungsäußerung und Verleumdung ist äußerst schmal geworden, die Membran zwischen Rationalität und Irrsinn hauchzart. Was sich mir (und Ihnen oder manchen von Ihnen, in jedem Fall dann aber UNS) seit kurzer Zeit darbietet, hat die Güteklasse einer drittrangigen Theatralität, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Schlagwörter erschlagen, Affekte rasen, Phrasen lullen ein. Man zeigt mit Fingern auf- und richtet sie gegeneinander. Die einen posaunen, die anderen trompeten, dritte röhren und raunen; unterlegt ist die Kakophonie mit Trommelwirbeln der Panik und Polemik. Reaktionen folgen auf Reize derart reflexhaft, als wären Teile der deutschen Gesellschaft einer Pawlow’schen Konditionierung zum Opfer gefallen. Der schreihälsige Zeitgeist findet seine Form in Tweets und Kolumnen, sehr viel tiefer reicht der Geist unserer Zeit nicht mehr.

Worum es vornehmlich geht? Um unmittelbar umgesetzte Projekte und den Rausch des Moments, als lebte man anno 2019 in einem Drogen- und Entzugs-Delirium. Um Eruption und Eskalation und den Adrenalin-Kick der emotionalen Entäußerung, die ihre Flüchtigkeit bereits in sich trägt. Je größer der (globalisierte) Weltraum wird, desto provinzieller wird die Reaktion. Was folgt? Depression und Revolte.

Ich wähnte mein Land erwachsen, seriös, klug, reflektiert, gereift, souverän und im Alter von siebzig Jahren durchaus ein wenig von der Weisheit der Integrität umflort. Dass hierzulande Minister wegen privat genutzter Dienstflugmeilen oder infolge vor langer Zeit plagiierter Dissertations-Passagen von ihren Ämtern zurücktreten, dass die Mehrheit der deutschen Politiker beim Begriff Verantwortung mit verbliebener Ehrfurcht noch nickt, empfand und empfinde ich als Zeichen einer liebenswerten Hochanständigkeit, die beim Blick auf sehr viele andere liebenswerte Länder des Erdballs einerseits den Schauder eines leicht überheblichen Wohlgefühls bewirkt – Wir Deutschen sind ehrlich, Wir betrügen nicht, Wir sind in Ordnung! – , zugleich aber auch die Ahnung zulässt, wir Deutschen machten uns mit jener spezifischen Art der Selbstherrlichkeit, die allen anderen zeigen soll, wie ernst es diese Deutschen mit Demokratie und Demut halten, ein wenig lächerlich.

In einer Zeit massenhaft diagnostizierter psychischer Störungen von ADS, ADHS, Bulimie, Anorexie, Panikattacken und Angstzuständen, angesichts allseitiger Diffamierungen, Diskriminierungen und Denunziationen scheint die Wahrnehmung der Republik, ihrer Bürger und Geschehnisse von nervöser Überspanntheit bestimmt. Das Wort »neutral« scheint eine Unbekannte geworden zu sein, Gentlemänner haben ausgedient, Zusammenhänge werden nicht mehr erarbeitet, Kontexte interessieren so wenig wie Konsequenzen. Als Beweis für politischen Aktivismus reicht bereits herausgeblökte Wut, zu erstaunlich vielen Äußerungen werden – obwohl gar nicht bestellt – Wertung und Urteil gratis mitgeliefert. Was zur Verständigung dienen sollte, ist schnell ehrenrührig.

Bezogen auf das, was ich in den sechs Kapiteln dieses Buchs zu beschreiben versuche, glaube ich schon zu Beginn klar behaupten zu können: Es geht nicht mehr um die Sache als solche, sondern um die Rede über die Sache. Nicht mehr das Argument als Argument ist entscheidend, sondern die argumentfreie Interpretation eines Anlasses. In einer weiteren Spiraldrehung geht es dann nicht einmal mehr um Interpretation, sondern gleich um das Urteil über die Rede über die Sache, die kaum einer hinreichend kennt, von der man höchstens ansatz- oder auszugsweise weiß: vom Hörensagen und Weiterposten, was dieser Tage auszureichen scheint, um ein finales Urteil zu rechtfertigen (wenn Rechtfertigung überhaupt noch eine Kategorie ist). Das ständig zappelnde Netz birgt für Rüpel den enormen Vorteil, dass kollektive Instant-Erregung mit geringem Aufwand sofort heiß schäumt und postwendend Amnesie eintritt. Sagen wir’s mit altdeutscher Noblesse: Man kotzt sich aus, ohne sich um weitere Hygiene zu kümmern. Empörungsaffekt erzeugt Beleidigungsprosa, die wiederum neue Empörung ermöglicht.

Bash!

Hate!!

Shitstorm!!!

Ist wirklich alles so schlimm? Wahrscheinlich ja.

Ich bekenne zweitens, verwirrt zu sein. Was ist eigentlich »rechts«? Was »links«? Wann ist heute jemand rechts? Wenn ich es richtig verstehe, müsste ich rechts sein, ohne zu wissen, warum ich das bin oder was genau ich dann wäre und ob rechts nun noch wertkonservativ ist oder bereits nationalistisch. Oder warum jemand »rechts« sein soll, nur weil er nicht explizit »links«, sondern gar nichts ist und gar nichts dergleichen sein will? Ohne zu ahnen, wann jemand schon oder noch rechts ist, bevor er ohne Angabe nachvollziehbarer Gründe recht schnell rechtspopulistisch oder rechtsnationalistisch sein soll, vertrete ich womöglich Positionen, die bis vor Kurzem noch als konservativ galten. Gewiss haben sich in der Kampfzone auch die Reize und Reflexe radikalisiert, und je öfter von rechts und links gesprochen wird, desto schaler wird es, desto wichtiger wäre Differenzierungsarbeit.

Um es konkret zu sagen: Ich verspüre mehr als mir recht ist das befremdliche Unbehagen einer inneren Spreizung, manchen Aussagen, die den Hautgout des Rechten haben, zustimmen zu können, es aber nicht zu wollen. Es sind Haltungen zu einzelnen Fragen bezüglich der Rechte, Pflichten und Aufgaben eines Staates, die mir völlig richtig erscheinen (und bis zum Beweis des Gegenteils auch richtig sind) – und die mich selbst zugleich aber auch verunsichern, weil ich damit in einen ideologischen Zusammenhang gerate, in den zu geraten ich in keiner Weise möchte. Nur weil man selbst eine Position vertritt, die auch die AfD vertreten könnte, heißt das ja in keiner Weise, AfD-Positionen zu vertreten. Konservative Haltungen sind stante pede unter Verdacht, in Sippenhaft mit dem »Rechten« zu geraten, wobei zwischen »rechts« und »rechtsextrem« ein veritabler Unterschied zu machen ist.

Ich halte beispielsweise ungesteuerte Zuwanderung für falsch und löchrige Staatsgrenzen für fahrlässig (wie im Übrigen, so vermute ich, in allen anderen Staaten der Welt löchrige Grenzen ebenso für fahrlässig gehalten werden). Also sehe ich in der Kontrolle der nationalen Grenzen eine prioritäre Aufgabe des Rechtsstaats. Die Forderung absoluter Grenzfreiheit halte ich für charmant aber naiv, und die Überzeugung, jeder Mensch auf der Welt müsse sich an jedem Ort der Welt bedingungslos niederlassen dürfen, für liebenswert aber unausgegoren. Kein Mensch ist illegal, richtig, aber der Aufenthaltsstatus eines Menschen kann illegal sein. In allen anderen Fragen des alltäglichen Lebens werden Mensch und Markt Regelkonformität, Regulierung und Differenzierung abverlangt, jede Fuge ist Objekt von Recht und Rechtsprechung, also muss die Achtung vor Recht und Rechtsverbindlichkeit auch in Fragen von Migration, Integration und Aufenthaltsstatus gelten.

Im Traum würde mir nicht einfallen, jemanden aufgrund seiner Hautfarbe oder Augenform als minderwertig oder niedriger oder weniger klug einzustufen, und zugleich finde ich es aus Gründen rechtsstaatlicher Glaubwürdigkeit problematisch, auf legalem Wege abgelehnte Asylbewerber nicht sofort abzuschieben. Die amtliche Ablehnung eines individuell geprüften Asylantrags ist die zivilmoralische Grundlage, auf die alle anderen Bürger vertrauen.

Man könnte sogar so weit gehen und behaupten, das Asylrecht im Verfassungsrang sei grundgesetzlich und grundsätzlich gewährte Vorschuss-Solidarität der deutschen Bevölkerung gegenüber allen Verfolgten dieser Welt, die beglaubigte Bereitschaft des steuerzahlenden Bürgers zum Teilen, die selbstverständlich jeder in Anspruch nehmen kann, dessen Fall die für alle gleichermaßen geltenden Kriterien erfüllt. Nicht jeder Fall entspricht aber den formulierten Kategorien, weswegen nicht alle Menschen dieser Welt die Solidarität durch Asyl beanspruchen können, auch wenn jeder Einzelfall eines wirtschaftlich und sozial perspektivlosen Lebens traurig und die Hoffnung auf ein besseres Leben in anderen Ländern vollkommen nachvollziehbar ist. Ist das jetzt »rechts«?

Wenn ich es ebenso richtig verstehe, müsste ich links sein, weil ich den Mindestlohn für richtig halte, höhere Reallöhne jenseits der Inflationsbereinigung für sinnvoll erachte und Kinder- wie Altersarmut schändlich finde; weil ich für alternative Energiekreisläufe eintrete, die ökologische Katastrophe des Klimawandels für das größte Problem der Menschheit halte, Waffenexporte so sehr verachte wie Kriege und darüber hinaus in der Weltbürgergesellschaft, in der alle Individuen gleiche Rechte und Menschenrechte hätten, eine wunderbare Utopie erkenne.

Was nun?

Die Einteilung des Lebens und der Wirklichkeit, des Geistes und der Menschen in »links« und »rechts« bringt nichts, ist grob, gestrig und wird der Komplexität der Probleme nicht mehr gerecht. Darf man angesichts der Irrungen und Wirrungen einer aus den Fugen geratenen Welt nicht etwas mehr Mühe, etwas mehr Feinsinn erwarten?

Was lange Zeit im Rückraum der Republik waberte und vielleicht unerkannt in den Kellergeschossen privaten Widerstands oder als geistiges Unkraut an den lieblosen Rändern weitgehend marginalisiert wucherte (also die stille Feindlichkeit gegenüber dem Fremden an sich, der heimliche Widerstand gegen Einwanderung, das halböffentliche Unbehagen an muslimischer Sitte in der christlich geprägten Lebenswelt), wurde im Aufflackern eines weltgeschichtlichen Moments leibhaftig und existentiell. Das Negativ belichtete sich zum Positiv, dessen Prints seither ein erschreckendes Abbild der Wirklichkeit sichtbar machen.

Ich behaupte, dass alles, was mit dem Epochendatum 2015 assoziiert werden kann, das mindestens indirekte Resultat der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 ist. Damals wurden jene Zentrifugalkräfte freigesetzt, die dann gut vierzehn Jahre lang – weitgehend unbemerkt – die Grundlagen der »Welt von gestern« zersetzt haben. Auf die Attacke folgte die Entscheidung der amerikanischen Regierung unter George W. Bush, den privaten Hausbau zu fördern, um dem einfachen Amerikaner im Bewusstsein der Verwundbarkeit das Gefühl von Eigenheim und Sicherheit zu ermöglichen. Auf einem allzu freien Markt errichtete sich über die Jahre ein System aus faulen Krediten, Verschuldungshypotheken und toxischen Papieren, das im September 2008 mit dem Sturz des lange Zeit sensationell erfolgreichen Hochrisikobankhauses Lehman-Brothers in sich zusammenbrach. Die Folgen sind bekannt: Das Fundament des internationalen Finanzmarkts wurde erschüttert, das Wirtschaftswachstum brach ein, die einsetzende Niedrigzinspolitik machte viele Menschen zu Verlierern, die Furcht vor Kontrollverlust durch Migration wuchs, die Länder der Europäischen Union dividierten sich auseinander (Polen, Ungarn und Slowakei gegen Deutschland, Frankreich, Niederlande). Ost ging in Konflikt mit West, Nordeuropa errichtete eine Flanke gegen Südeuropa. Die »westliche Welt« verriet ihre Grundsätze und wurde Jahr für Jahr fragiler und labiler, heute demontiert sich der »Westen« selbst, unterliegen seine Ideen des Universalismus, der Vertragstreue und einer von Moral und Religiosität bereinigten Humanität den Kräften zentrifugaler Zerstörung. Rückblickend betrachtet ist das Teufelswerk der dschihadistischen al-Qaida-Attentäter also aufgegangen.

Ich bekenne des weiteren, dass ich im Herbst 2015, als hunderttausende geflüchtete Menschen auf deutschen Bahnhöfen ankamen, den Heiligenschein des Humanitarismus so eitel fand, wie ich das einsetzende Geschwafel vom Untergang des Abendlandes durch Überfremdung bis heute dummdreist finde. Die Beglückung der Entkräfteten mit Applaus, Blumen und Stofftieren für die Leistung eines bewältigten Exodus hielt ich für zynisch, die plötzlich erwachte Liebe zum »Refugee« – in Szene gesetzt mit kostenfreiem Altruismus – schien mir ein Beispiel für die Sehnsucht nach moralisch einwandfreier Selbstgerechtigkeit. Wenngleich die Friedsamkeit des kurzen Willkommensfestivals berührend war und in der Selbstüberwältigung ohne Gespür für die staatspolitische Dimension des Geschehens ein sympathischer Zug Weltfremdheit steckte.

Und andererseits halte ich das fehlende Interesse am Fremden, die nicht nur oberflächliche, sondern profunde Neugier auf andere Kulturen für einen Verstoß gegen die Tradition der Zivilisierung, da alle Völker der Erde seit jeher von Wissens- und Kulturtransfers profitierten, mehr noch: da Wissen und Kultur nicht der Besitzstand einer Nation oder eines Volkes sind, sondern im Eigentlichen die Gesamtleistung der gesamten Menschheit. Im Abendland steckt ja unerhört viel Morgenland.

Jenseits konfessioneller Selbstverortung innerhalb des christlichen Abendlandes ist Europa in Auflösung: Teile des anglikanisch-protestantischen Nordens (Dänemark, Norwegen, England), fast der gesamte katholische Osten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) verweigern sich jeder Art Willkommenskultur komplett. Der katholische Süden trägt die Last der Ankunft und Aufnahme der Zuwandernden, der Westen (Spanien und Portugal) ist weitgehend unbeteiligt, und in der Mitte dreht das konfessionell gemischte Deutschland hohl. Hinsichtlich der Motivforschung zwischen Nächstenliebe und Geld dürfte bei vielen Regierungen letzteres ausschlaggebend sein. Gerechtigkeit reduziert sich auf das, was sie praktisch immer schon war und bleiben wird: ein monetäres Kosten-Nutzen-Kalkül.

Womöglich wurde 2015 zum ersten Mal sichtbar, dass man angesichts von Hass, Hetze und Häme einen Konsens an Sittlichkeit nicht mehr voraussetzen kann; dass das jahrzehntelang für zweifelsfrei genommene Selbstverständnis von Recht und Ordnung gar nicht so selbstverständlich gesetzt ist; dass auch in der Bundesrepublik der Schwur auf Einigkeit eine Illusion zu werden droht und die Erziehung der Deutschen zu sensiblen, die Gnade der späten Geburt verantwortungsvoll nutzenden Bürgern eine wohlfeile Täuschung gewesen sein könnte.

Ich bekenne schließlich viertens: Ich mag und schätze diese in ihrer Schizophrenie stets mit sich ringende Bundesrepublik. Weder will ich deutschlandmäkeln noch deutschlandverklären, weder brauche ich BRD-Bashing noch BRD-Elogen für ein gutes Selbstwertgefühl. Der manchen Landsleuten eingeborene Pessimismus liegt mir nicht, epigenetischen Defätismus als Welthaltung finde ich lächerlich, die Berechenbarkeit von Unkenruf und Kassandra-Alarm ödet mich an. In dem Maße aber, in dem sich dieses Land und das Wesen seiner Gesellschaft ändert (wenn es denn so etwas wie ein Wesen überhaupt gibt), in dem sich Sittlichkeit, Intellektualität und Qualität der Verständigung wandeln, insofern ändert sich auch mein Verhältnis zu Republik und Gesellschaft. An ihrem siebzigsten Geburtstag bin ich ein in Sippenhaft mit dem Schicksal verfangener, irritierter, von Exzessen abgestoßener Deutschlandbürger in wachsender Sorge um die Gesundheit seines Landes. Zur Entscheidung steht augenscheinlich die Schlacht zwischen dem bisher gültigen, aus Wissen, Wissenschaft, Vermittlung, Vernunft und Vertrag gewonnenen Weltbild und einem in seiner Selbstbezüglichkeit romantischen, in seiner Romantisierung nationaltümelnden und in seiner Kampflüsternheit aggressiven Entwurf einer Andersweltlichkeit, in der nicht mehr vieles dessen Geltung und Gültigkeit hat, was bisher quasi heilig war. Das Romantische war eine jugendliche Bewegung, die antrat, das Alte zu attackieren. Es formuliert das Bedürfnis nach einem überindividuellen und zugleich kollektiven Schutzreservat, das durch sich selbst ermöglicht, was sonst kaum noch vermittelbar ist: Transzendenz. Einen spirituellen Gesamtzusammenhang also, der, wie in der Romantik, Vergangenheitsverklärung und Gegenwartsverachtung zugleich ist. Die Vergangenheit erscheint als bessere Grundlage als die Gegenwart, gemäß dem Diktum des Novalis: »Wir leben noch von der Frucht besserer Zeiten«.

Im vergangenen Jahrfünft hat eine soziale und kulturelle Transformation begonnen, nein, eigentlich wurde diese seit Längerem sich vollziehende Transformation in den letzten fünf Jahren erst erkennbar. Es soll ein Identitätsraum geschaffen werden – materiell als begrenztes Terrain, virtuell als Zugehörigkeitsgarantie –, der sich durch sich selbst bewährt. Er wird nicht mehr hinterfragt, er muss nicht gerechtfertigt werden. In einer Zeit, in der so gut wie alles disponibel geworden ist, steht dieser doppelte Raum nicht zur Disposition. Diese Gegenwelt verortet sich im Dagegen. Der neue Raum ist kein paralleler, er ist der umfassend andere. Er will das Ganze, nicht das Partielle, und so scheint mir das, was man zur Zeit unter dem Wort »Kulturkampf« zu subsumieren pflegt, der Gründungsmythos einer Widerwelt zu sein, die gerade zu entstehen im Begriff ist. Es geht dabei um neue Formen der Legitimität, um das große Wider, um die existentielle Erwiderung auf das Bestehende als Legitimations-Referenz: der romantische Widerstand gegen das »Alte«, das Elite genannt wird, gegen das Establishment und »seinen« Staat, gegen das Prinzip der Repräsentation und liberalen Offenheit, gegen die »alte Welt« des Rationalismus mit ihren (durchaus ja vorhandenen) Defekten. Es ging dem Individualismus der Romantik einst um die Erhebung eines rebellischen Geistes gegen die überlieferten Formen und die bestehenden (sozialen) Zustände der Zeit. Die Romantik als politisch-revolutionäre Bewegung wurde von vielen als »völkische Wiedergeburt« betrachtet, was sie für ihre Kritiker als reaktionär auswies. Sind die Parallelen nicht frappierend?

Kulturgeschichtlich betrachtet gibt es an Bruchstellen – immer dann also, wenn Paradigmen wechseln und Krisen den Wechsel einleiten – eine starke Konjunktur des Mystischen und Mythischen. Lässt sich im Fall der entstehenden Widerwelt tatsächlich von einem neuen Mythos sprechen? Ja, und zwar im Sinne eines Bedeutungs- und Mitteilungssystems, einer mit mythisierender Wucht vorgetragenen Botschaft, die ihre Weltanschauung und ihr Gesellschaftsbild durch sich selbst transportiert. In gewisser Weise haben wir es mit folgenden Gegensätzen zu tun: Religion gegen Rationalität sowie Ideologie gegen Logik. Ideologie ist immer Para-Logik, der säkular-fanatische Glaube nicht an Götter, sondern an das jeweils herstellbare Heil. Darin liegt erstens Willkür, zweitens Manipulationseifer und drittens die Verabsolutierung des Relativen: Jede Beschreibung von Wirklichkeit ist allenfalls ein Ausschnitt, der in der ideologischen Betrachtung der Realität aber zur »Wahrheit« erhoben wird.

Ich bin hier nicht an den freien Radikalen interessiert, diesem in jedem Land anzutreffenden Prozentsatz an Libertären, Anarchisten und Terroristen an den ausfransenden Rändern der Gesellschaft, die sich weder durch den Appell an Recht noch an Ethik domestizieren lassen. Exzesse und Extreme sind per definitionem insofern beschränkt, als im Leben nichts ohne sein Gegenteil wahr ist und jede Reflexion über die Sache auch die gegenteilige Sicht anerkennen muss, um überhaupt Reflexion sein zu können.

Nein, es geht mir im Folgenden um Existentielleres: um den zunehmend pulverisierten Raum zwischen den Extremen, den man einmal »Mitte« nannte.

Mitte war eine Chiffre für Maß, Moderation und die »gemeine Menschenvernunft« (Immanuel Kant). Für den gesunden Menschenverstand der vorgestellten Mehrheit, deren Sittenmoral in siebzig Jahren Bundesrepublik – mit wenigen Ausnahmen – letztlich ein hohes Maß an sozialer Friedfertigkeit erzeugt hat. Meiner Ansicht nach droht in der Kampfzone etwas weit Dramatischeres und Bedrohlicheres als bisher angenommen: der Verlust von Freiheit.

2 In der Erregungsspirale

Deutschland wird seit vier Jahren von der Alternative für Deutschland regiert, weil alle anderen auf sie reagieren, als sei sie tatsächlich eine Alternative. Die AfD ist die deutsche Variante der Widerwelt, weshalb sie – so weit ist es schon gekommen – am Anfang jeder Kampfzonen-Betrachtung stehen muss (um immer wiederzukehren). Als Symbol und Ausdruck einer Verwerfung lassen sich an ihr und durch sie auf fabelhafte Weise Eigenschaften, Haltungen, Entwicklungen zeigen und erklären, die zu dem geführt haben, was ich Erregokratie nenne.

Vieles dessen, was im diffusen Raum zwischen wert- und strukturkonservativ, rechts, rechtsnational, rechtssozialistisch, rechtspopulistisch und rechtsextrem angesiedelt ist, wird von der AfD abgedeckt. Mal aggressiver, mal staatstragender, mal clever, mal langweilig, mal instinktlos, mal geschichtsklitternd. In der Sache durchaus geschickt, im offiziellen Programmduktus weitgehend unverdächtig, in der Rhetorik bewusst plump, im Geiste getragen von Ressentiments und oft genug im Stil des Aufmucker-Triumphalismus früher einmal gemobbter Halbstarker. Mit direkter Ansprache des Bürgers (»Hol dir dein Land zurück!«) entwirft sie eine pathetische Zusammenhangsfiktion gegen die große Unübersichtlichkeit und den existentiellen Verlustzusammenhang – als ob es darum ginge, ein verlorenes (oder das verlorene) Land zurückzuholen. Erstens ist das Land, also Deutschland, keineswegs verloren, und zweitens gehört das Land sowieso niemandem persönlich, weswegen es nicht einmal die AfD zurückfordern könnte (von der Welt?, von den Arabern?, von Erdgöttern?).

Ohne Zweifel ist die AfD das Resultat eines großen Missverständnisses, besser noch: eines großen Unverständnisses, gesellschaftliche Wandlungen und Veränderungen in ihrer Komplexität und ungewohnt rasanten Beschleunigung wahrzunehmen. Diese Partei ist womöglich Profiteurin eines Protests, sicher aber eines Paradigmenwechsels; dass sie seit Anfang 2019 vom Verfassungsschutz als »Prüffall« eingestuft wird, macht die Sache noch brisanter. Es hat ja keinen Sinn, eifernd und geifernd auf sie einzudreschen. Klüger wäre gewiss, die Umstände zu dreschen, die die Partei möglich gemacht, und jene Strukturen zu dekonstruieren, die sie hervorgebracht haben, und sozialverträgliche Wege zu finden, mit einer demokratisch legitimierten Ungewollten so umzugehen, dass Wähler, die sich nur noch durch die Alternative für Deutschland repräsentiert fühlen, nicht dämonisiert werden.

Auch wenn ihre Vertreter abwesend sind, ist die AfD stets präsent. Sie ist der weiße Elefant im Raum der Republik. Als sicht- und hörbares Gespenst geistert sie durch alle politischen und gesellschaftlichen Gassen des Landes: geht es um Flüchtlingspolitik, Gerechtigkeit, Europa, Medien, Sozialstaat. Die deutsche Politik des vergangenen Jahrfünfts – in Gestalt ihrer öffentlich wahrnehmbaren Auseinandersetzung – war geprägt von angestrengten und auf alberne Weise durchschaubaren Strategien der Ansteckungsvermeidung: Panik vor dem eigenen Rechtsruckverdacht. Auf keinen Fall wie dieser Aussatz! Gescannt wurde und wird alles und jedes auf Schnittmengenmöglichkeit mit der AfD, um entweder den politischen Gegner zu diskreditieren oder sich selbst durch Distanzierung mit dem heiligen Wässerchen des Aufrechten reinzuwaschen. Jede vermeintliche oder ahnbare oder irgendwie herstellbare Ähnlichkeit mit einer AfD-Position versetzt Politiker und Publizisten in eine Erregung, als hätten wir es mit dem Ausbruch der Beulenpest zu tun. Gesprochen wird aber direkt oder indirekt immer in Bezug auf die AfD. Anstatt eigene und überzeugende Antworten auf jene Fragen anzubieten, die die Alternativen entweder nicht beantworten wollen oder können, lautet die einzig ungefragte Antwort auf alle Fragen: Bloß die AfD nicht stark machen!

Wodurch genau sie stark geworden ist. Die ungeheure Aufwertung der Alternative für Deutschland durch ihre demonstrative Verdammung ist auf absurde Weise ironisch, die Salonfähigkeitsbeförderung dieser Partei durch den ständigen Bezug der anderen auf sie dagegen ein dramatischer Widerspruch in sich. Es tritt ein, was unbedingt vermieden werden wollte: Die AfD ist zu einer Marke geworden, mit unverwechselbarem Image und eindeutiger Positionierung, wie es sie sonst kaum gibt. Eine Klartext- und Erlöser-Partei, die den infantilen Satz »Man wird ja wohl noch sagen dürfen« zum politischen Programm erhoben hat und mit der Ansage »Wir erzählen von nun an, was wirklich Sache ist« paraphrasiert.

Im Endeffekt ist die AfD im babylonischen Gezwitscher von Soundbites, Meinungsfetzen und Tweet-Kaskaden unerhört hörbar geworden, so dass alle Versuche, sie als lästiges Exkrement aus der politischen Peristaltik auszuscheiden, nahezu scheitern und in Darmkrämpfen enden müssen, weil die Dynamik der Aufmerksamkeits-Ökonomie nicht mitbedacht wurde: Jede Bestätigung ihrer scheinbaren Minderwertigkeit stärkt die AfD in ihrem Selbstverständnis als außerparlamentarische Guerilla im sonst so gesitteten Parlament. Sie ist, um Alternative sein zu können, geradezu angewiesen auf ihre Verachtung durch alle anderen, wofür sie tut, was nötig ist: hier eine rhetorische Grenzüberschreitung, dort ein berechneter Bruch mit dem Comment, hier ein erfundener Zusammenhang, dort ein bewusst zweideutiger Satz, gelegentlich zutreffende Analysen, sogar sinnvolle Vorschläge, fast immer mit der Strategie kalkulierter direkter wie indirekter Angriffe auf das Juste-Milieu der von ihr so genannten »Altparteien«.

Und alle reagieren. Sie wüten und zetern, hyperventilieren und schäumen, wie man es in der bisher eher biederen, auf Formelkompromisse ausgelegten deutschen Parteien-Parlaments-Demokratie gar nicht für möglich gehalten hätte. Sollte ein PR-Berater oder Spindoctor eine Marketing-Kampagne für die AfD entwerfen, er bräuchte – neben gelegentlich gut getimten Provokationen – nur zur Gelassenheit raten: zurücklehnen, nichts tun, Tee trinken. Für AfD-PR sorgen alle anderen Parteien und Teile der ersten Öffentlichkeit von Zeitungen, Magazinen und des Rundfunks wie der zweiten in den sozialen Netzwerken. Leser und Hörerkommentare bezüglich der AfD überschreiten bei Weitem das übliche Maß an Kritik und Engagement. Dr. Gauland, der Jäger der Etablierten, muss nur mit dem präfaschistischen Schwänzchen wedeln und das rechtsextreme Stöckchen hinhalten, dann springt und ficht die Meute.

Natürlich fällt, geht es um existentielle Politik, in einem von historischer Analogiewut befallenen Land handelsüblich der Name Weimar, als stünden wir wieder kurz vor Hitlers Machtergreifung. Wissen die, die so leichthin die Weimarer Republik als Menetekel bemühen, was in den 1920er- und 30er-Jahren geschah, als die erste deutsche Demokratie an den Fronten des sich selbst bekämpfenden Volkswillens zerschellte und Revisionisten gegen den Versailler Vertrag aufbegehrten? Von der Wucht der Weimar-Beschwörung wird der verstörte Zeitgenosse geradezu gedrängt, sich den Tagesschau-Film auszumalen, da Frank Walter Hindenburg den hageren Björn Adolf Höcke zum Bundesreichskanzler kürt und, wie üblich in historisch heiklen Zeiten, die heldenhafte Linke – Hoch die internationale Solidarität! schmetternd – sich selbst zerstört, zerstreitet, schwächt, zerfasert.

Und während sich die einen am ideologischen Kaminfeuer wärmen, die anderen ihre dogmatischen Donquichotterien aufführen und gegen die Windmühlen der globalisierten Entgrenzung kämpfen, geht in der restlichen Welt eine ganz andere Post ab: China, dem jede Woche zwei neue Milliardäre entwachsen, ist längst auf dem Weg, sich mittels Masterplan, Seidenstraßenprojekt, Perlenkettenmodell, Überwachungs-Totalität und mandarinem Massentourismus auf clevere Weise nach und nach den Globus untertan zu machen. Und Big Data wird bald jeden persönlichen Gencode identifizieren, die Server der Sammler werden eines Tages so groß wie Kleinstädte sein, auf Deep Blue und Watson wird die die natürliche Intelligenz des Menschen dauerhaft überragende künstliche folgen. Und eines nahen fernen Tages werden Roboter die Achselhöhlen vereinsamter Senioren waschen und zwischenmenschliche Zuwendung perfekt simulieren …

Für die große Rückeroberungsvision der Widerwelt werden eindeutige Ursache-Wirkungs-Verhältnisse benannt (wobei Verhältnisse welcher Art auch immer gar nicht eindeutig sein können). Vor allem aber wird die kulturelle Komplexität der späten Moderne auf die Behauptung reduziert, die 68er seien als Sündenfall der BRD für all das verantwortlich, worunter »das Volk« heute zu leiden habe. Nun gibt es »das Volk« so wenig wie »den Wähler« – beides sind Großfiktionen von kleinen Geistern, die entweder nicht oder eben allzu bewusst nachdenken, was gleichermaßen problematisch ist.

Als Interessenvertreter eines territorialen Ressentiments betreibt und vollzieht die Alternative für Deutschland einen Wandel zum Terrestrischen. Im Denken und Sprechen ihrer Vertreter tauchen immer wieder Landmetaphern auf, etwa die »kulturelle Landnahme« durch den Islam. Die erdverbundene Partei handelt mit einer eigenen Raumtheorie: Sie denkt topo- und geografisch, materialistisch und essentialistisch. Sie löst den bisher gültigen Primat der universellen Vernunft auf und setzt an seine Stelle des virtuell arbeitenden Verstands den Primat des realen Körpers. Der Körper der Nation wird dabei gleichgesetzt mit der Kultur der An- und Abstammung. Man könnte sagen: Stammeskultur.

Mit ihrer Revierpolitik inszeniert sie das Fanal einer Erweckungswende, und vieles scheint deshalb für sie zu sprechen, weil ihr die Weltläufe und der Zerfall der herkömmlichen Ordnung in die Hände spielt. Sie profitiert vom Drama des Weltgeschehens, dessen Dramatik sie auf geschickte Art auf dem Spielplan zu halten weiß: die Ex- und Implosion der Globalisierung und deren unkontrollierbare Verkehrsströme von Waren und Menschen. Letztlich repräsentiert die vom günstigen Zufall beleckte Partei das Verdrängte, Verscheuchte und krampfhaft Unterdrückte, das jetzt – aus Gründen, die in diesem Buch erörtert werden – aus dem Schattenwurf der deutschen Geschichte ins Scheinwerferlicht der Gegenwart tritt. Notorisch skandalisierende AfD-Vertreter belichten das aus der gut sortierten Verwahrung herausgekramte Negativ mit besonders engagiertem Trotz.

Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass!

Ja was denn um Himmels willen?

Dass es um alles geht. Um Abendland, Antichrist und Apokalypse. Kleiner macht es die AfD nicht. Sie inszeniert sich als letzte Hoffnung der Büßer im Christengewande, das vom Glauben abfallende Abendland gegen den Muselmanen zu retten. Dass Doktor Gauland noch nicht den Heroismus des Templerordens anno 1200 für sich in Anspruch nahm oder das Epochendatum 1683, als das Christenland die Türken vor Wien im Schlamm erstickte, ist eines der großen Rätsel unserer Tage. Die Partei trägt ein Stück unausgesprochene Christologie in sich: den Wink mit dem Zaunpfahl des tausendjährigen Reichs. Die Ver- oder Gebildeten ihrer Vertreter spielen durchaus geschickt mit Leitmotiven, Basslinien und Kontrapunkten des judäo-christlichen Schicksals. Also setzt Bundessprecher Gauland – man darf vermuten: nicht gerade im Dämmerschlaf eines verregneten Sonntagabends – den unerhörten Satz in die allzeit aufscheuchbare Welt, in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte seien Hitler und die NS-Zeit nur ein »Vogelschiss« gewesen, und sofort zittern sich die professionell Entrüsteten in die Kampfzonen-Ekstase. Dass Gauland neben der Exkrement-Metapher die eschatologische Moritat der tausend Jahre ins Spiel bringt (das Zweite Kommen Christi, das Tausendjährige Reich des himmlischen Jerusalems), bleibt weithin unbemerkt. Vielleicht auch von ihm selbst.