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Sollte dieses Leben kein ernsthafter Kampf sein, der, so man ihn gewinnt, in alle Ewigkeit eine Bereicherung für das gesamte Universum darstellt, wäre es nichts als eine Schmierenkomödie, die ein jeder nach Belieben verlassen kann. Aber mir kommt es vor wie ein ernsthafter Kampf.
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Veröffentlichungsjahr: 2013
Kinder der Nacht
Carol schlug die Beine übereinander und ließ den Stiel ihres Weinglases bedächtig zwischen dem Daumen und den übrigen Fingern ihrer rechten Hand hin und her gleiten. So langsam spürte sie, dass dies ihr dritter trockener Weißwein seit dem Abendessen war. Übertreib es bloß nicht, ermahnte sie sich, nahm dann aber doch noch einen Schluck und seufzte. Besser, sie trank jetzt keinen Alkohol mehr. Die Öllampen waren ebenso malerisch wie das Café, in dem sie saß. In dem schwachen Schein, den sie verbreiteten, wandte sie sich wieder dem Philadelphia Inquirer zu, vermochte jedoch kaum ein Wort zu entziffern. Nicht, dass es eine Rolle spielte; die Zeitung war mehrere Wochen alt, und sie hatte sie bereits gelesen, gleich nachdem sie ins Flugzeug nach Paris gestiegen war, und dann noch einmal auf dem Flug nach Bordeaux.
Aber immerhin erinnerte sie Carol an zu Hause. Doch mit der Erinnerung kehrte auch der Schmerz zurück; die Zeitung vermochte sie nicht länger zu fesseln. Sie trank mehr Wein, versuchte, die Enttäuschung hinunterzuspülen, die mit ihr über den Ozean geschwappt war. Das kleine Straßencafé auf den Allées de Tourny, einer der Hauptgeschäftsadern Bordeaux’, lag direkt gegenüber dem Grand Théâtre. Eingehend betrachtete sie die klassizistische Fassade. Ihrem Stadtführer zufolge war dieses Theater das Vorbild für die Alte Oper von Paris. Im Licht der Scheinwerfer, die ihn gegen die undurchdringliche Schwärze des Nachthimmels anstrahlten, bot der gewaltige Säulenvorbau einen atemberaubenden Anblick. Oben trug er die zwölf Statuen der Musen und Grazien, von denen eine jede für einen Monat des Jahres stand. Wenigstens hat die Welt ihre Schönheit und ihren Zauber noch nicht ganz verloren, dachte Carol. Na ja, für mich schon! Sie fragte sich, ob wohl eine Oper auf dem Spielplan stand, und beschloss, morgen nachzufragen. Vielleicht La Traviata? Das würde passen!, dachte sie. Eine Oper, in der eine Frau zurückgewiesen wird und schließlich an Schwindsucht stirbt! Sie stürzte den Rest ihres Weines hinunter.
»Pardon, Mademoiselle. Vous permettez?« Sie blickte auf. Ein modisch gekleideter Mann stand vor ihrem Tisch. »Je ne parle pas français«, radebrechte sie den einzigen französischen Satz, den sie vollständig zustande brachte. »Ich fragte, ob ich mich zu Ihnen setzen darf.« Er sprach ein fehler- freies Englisch, gab sich selbstbewusst und trug eine beinahe aufreizend arrogante Miene zur Schau.
Carol ärgerte sich. Nur aus einem einzigen Grund hatte sie sich einen Ort so abseits aller Touristenpfade wie Bordeaux ausgesucht – um Begegnungen wie dieser aus dem Weg zu gehen. »Tut mir Leid! Ich möchte lieber allein sein.« »Verständlich«, sagte er, blieb jedoch stehen und musterte sie. Sie begann, sich unbehaglich zu fühlen, und wandte sich wieder ihrer Zeitung zu. »Das Café ist voll. Es ist sonst kein Platz mehr frei.« Sie schaute sich über ihren Inquirer hinweg um. Alle Stühle waren besetzt – bis auf den einen an ihrem Tisch. Sie blickte abermals zu ihm auf. Er sah gut aus. »Er riecht nach Geld«, hätte Rob wohl gesagt. Abgesehen von ein paar grauen Strähnen an den Schläfen schien seine Schickimicki-Lederkleidung exakt auf die Haarfarbe abgestimmt – mitternachtsschwarz. Seine Haut war bleich.
Für eine Sekunde, wahrscheinlich weil er sich von der ihn umgebenden Dunkelheit abhob, hatte sie den eigenartigen Eindruck, etwas Flächiges, Zweidimensionales gewinne mit einem Mal Gestalt, ungefähr wie bei den Pappfiguren, durch die Touristen Gesicht und Hände steckten, um sich fotografieren zu lassen. Am auffallendsten waren seine rauchgrauen Augen, eine beunruhigende Farbe, so intensiv, selbst in diesem schwachen Licht. Noch vor einem Jahr hätte sie seine Züge wohl als interessante Mischung bezeichnet. Sie zuckte die Achseln. »Setzen Sie sich!« »Merci. Sie sind zu freundlich!« Sie versuchte weiterzulesen, doch nun, da jemand anderes bei ihr saß, fühlte sie sich gestört. Sie hatte allerdings auch keine Lust, ein Gespräch zu beginnen, darum wandte sie sich ab, faltete die Zeitung auf ihrem Schoß zusammen und betrachtete die typisch französische Szenerie vor ihren Augen.
Wie im Geschäftsviertel einer Großstadt üblich, schien jeder jeden irgendwie zu kennen. Mopeds und Motorräder schlängelten sich zwischen Sprit sparenden Kleinwagen hindurch. Das Gros der Fahrer war noch jung, trug Jeans oder Leder und rief irgendwelchen Freunden etwas zu. Auf dem Bürgersteig herrschte reger Betrieb. Menschen mit braunen Papiertüten, aus denen Baguettes oder Gemüse ragten, drängten sich zwischen Männern und Frauen, die schwere Aktentaschen mit sich schleppten oder Plastikboxen für ihre Lunchpakete trugen, und zum Ausgehen zurechtgemachten Paaren.
Carol fand alles interessant, wenn auch nur, weil alles rings um sie herum neu war. Doch sie hatte bereits mitbekommen, wie andere Touristen sich darüber beklagten, dass hier nichts los sei, Bordeaux sei geradezu gleichbedeutend mit Langeweile. Und sie war schon gelangweilt angekommen. Wie es aussah, würde sie wohl nicht sehr lange bleiben. »Kommen Sie aus den USA? Man hört es an Ihrem Akzent.« Sie wandte sich zu ihrem ungebetenen Gesellschafter um. Seine Miene wirkte gleichgültig, aber er sah sie unverwandt an. »Ja, ich bin Amerikanerin.« »Mittelwesten, Ostküste oder beides?« »In letzter Zeit Philadelphia.« »Aber Sie sind nicht dort geboren?«
Der Kellner brachte ein großes Glas Rotwein und stellte es vor ihrem Tischgenossen ab. Dieser gab dem Mann einen Zehn-Franc- Schein, nahm das Glas, schnüffelte am Inhalt und setzte es wieder ab. »Ein interessantes Land«, fuhr er fort, während er das Wechselgeld einsteckte. »Ich kenne es recht gut und seine Sprache ebenfalls. Natürlich kann es nicht auf eine Geschichte wie Frankreich zurückblicken und hat auch nicht eine solche Tradition, aber was euch Amerikanern an Tiefe abgeht, macht ihr durch eure Innovationskraft wieder wett.« »Schon möglich«, sagte Carol, indem sie sich abwandte. »Ich heiße André. Und Sie?« Erneut drehte sie sich zu ihm um. Er hielt sein Glas geneigt und ließ den Inhalt hin und her schwappen. Der Wein kletterte an der Wand des Glases empor und überzog sie mit einem leichten Film, ehe er wieder hinabglitt. In seinem Gesicht spiegelte sich eine erlesene Mischung aus gelangweiltem Gleichmut, gepaart mit der Neugier des Müßiggängers und einem Hauch Herablassung. »Hören Sie, ich bin nicht in der Stimmung, Konversation zu betreiben. Ich möchte einfach meine Ruhe haben.« »Wie Sie wünschen!« Er war beleidigt, aber das war sein Problem.
Carol machte Anstalten, sich abermals abzuwenden, doch er kam ihr zuvor. »Es gibt nicht viele Frauen, die um diese Jahreszeit allein nach Bordeaux reisen, zumal noch wenn sie so hübsch sind. Ich liebe es, sie mir anzusehen – ihre schlanken Hüften, die großen Brüste und griffigen Hintern, das kastanienbraune Haar, Augen so blau wie der Himmel an einem Frühlingstag ...« Mit einem angewiderten Seufzen langte Carol nach ihrer Handtasche, kehrte ihm den Rücken und machte, dass sie wegkam. Es war zwar erst April, aber schon warm genug, dass man nachts mit einer leichten Jacke auskam. Carol beschloss, vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang am Fluss entlang zu machen. Sie war noch nicht müde, außerdem hatte sie über einiges nachzudenken. Das Wasser der Garonne war trüb. Das kam daher, hatte sie bei einer Stadtführung erfahren, dass sich Schnee und Schlamm den Winter über ansammelten und sich nun von Nordwesten her die Berge hinab zum Atlantik wälzten. Sie schlenderte die breite gepflasterte Straße am linken Ufer entlang. Tagsüber herrschte hier reger Verkehr, die Gespräche der Fußgänger mischten sich mit dem Lärm von Fahrzeugen aller Art. Doch in der Nacht waren die Hafenanlagen still und verlassen. Sie lauschte dem beruhigenden Geräusch der Taue, die an den Pollern scheuerten.
Der Neumond stand als dünne Sichel am dunklen Himmel. Es war ruhig hier, friedlich, und niemand störte sie in ihren Gedanken. Die ganze Geschichte erschien ihr nun reichlich melodramatisch. Im Rückblick wurde ihr klar, dass sie von Anfang an hätte erkennen müssen, dass Rob sie nach Strich und Faden betrog. All die verräterischen Anzeichen waren einem doch geradezu ins Gesicht gesprungen. Jeder hatte es kommen sehen, nur sie nicht. Wie hieß es so schön? Die Frau erfährt es immer als Letzte! Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie verbittert sie eigentlich war. Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. Der Weg lag leer vor ihr. Grossartig, dachte sie. So geht es einem also, wenn man es gewohnt ist, alles gemeinsam mit seinem Partner zu machen – man fürchtet sich vor dem Alleinsein. Aber sie wusste, dass es sich anders verhielt.