In die globale Wirtschaft gezwungen - Julia Seibert - E-Book

In die globale Wirtschaft gezwungen E-Book

Julia Seibert

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Beschreibung

Die Kolonisierung des Kongos gehört zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Kolonialgeschichte. An keinem anderen Ort wendeten Europäer so viel Gewalt an, um die Zurückhaltung der Bevölkerung zu überwinden, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen. In ihrer Studie analysiert die Autorin die Kontexte, die zu Gewalt und Zwang in Arbeitsverhältnissen im kolonialen Kongo führten. Damit leistet das Buch nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis der Vergangenheit der früheren belgischen Kolonie im Herzen Afrikas, sondern auch einen Beitrag zur Globalgeschichte der Arbeit nach der Abolition: Sie trägt zu einem besseren Verständnis des komplexen Übergangs zur Lohnarbeit bei, die eine der vielleicht wichtigsten welthistorischen Veränderungen der vergangenen 200 Jahre war.

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Julia Seibert

In die globale Wirtschaft gezwungen

Arbeit und kolonialer Kapitalismus im Kongo (1885–1960)

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die Kolonisierung des Kongos gehört zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Kolonialgeschichte. An keinem anderen Ort wendeten Europäer so viel Gewalt an, um die Zurückhaltung der Bevölkerung zu überwinden, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen. In ihrer Studie analysiert die Autorin die Kontexte, die zu Gewalt und Zwang in Arbeitsverhältnissen im kolonialen Kongo führten. Damit leistet das Buch nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis der Vergangenheit der früheren belgischen Kolonie im Herzen Afrikas, sondern auch einen Beitrag zur Globalgeschichte der Arbeit nach der Abolition: Sie trägt zu einem besseren Verständnis des komplexen Übergangs zur Lohnarbeit bei, die eine der vielleicht wichtigsten welthistorischen Veränderungen der vergangenen 200 Jahre war.

Vita

Julia Seibert, Dr. phil., lehrte von 2012 bis 2015 als Assistenzprofessorin für afrikanische Geschichte an der American University in Kairo.

Inhalt

Einleitung

I. Übergänge

1. Aufbrechen

2. Kolonisieren

3. Wiederaufbauen

4. Herrschen

II. Krisen

Einleitung

5. Straßen und Schienen

6. Minen

7. Plantagen

8. Felder

III. Korrekturen

9. Internationale Arbeiterorganisation: 1930

10. Minenarbeiter: 1941

11. Patrice Lumumba: 1960

Danksagung

Abkürzungen

Bibliografie

Archive

Belgien

Demokratische Republik Kongo

USA

Interviews (Datum des ersten Interviews)

Belgien

Demokratische Republik Kongo

Periodika, publizierte Quellen und Quelleneditionen

Sekundärliteratur

Einleitung

Dies ist die die Geschichte der langsamen Durchsetzung von Lohnarbeit im belgischen Kongo.1 Sie zeigt, wie aus kongolesischen Bauern und Bäuerinnen, Fischern und Handwerkern Lohnarbeiter wurden. Das Überraschende an dieser Geschichte ist, dass die Durchsetzung der »freien« Lohnarbeit auf Zwang und Gewalt beruhte.

Dies ist auch die Geschichte der Integration Zentralafrikas in die Weltwirtschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist die Geschichte über die Bedeutung von afrikanischen Arbeiterinnen und Arbeitern für den europäischen Kapitalismus – eine Geschichte, die dramatische Auswirkungen auf die Lebens- und Arbeitswelten von Kongolesen dreier Generationen haben sollte.

Wie der Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz überzeugend zeigen konnte, waren afrikanische Sklaven von zentraler Bedeutung für die Entstehung der »Great Divergence« im 18. und 19. Jahrhundert.2 Die hier rekonstruierte Geschichte zeigt, dass afrikanische Arbeiterinnen und Arbeiter auch im 20. Jahrhundert einen entscheidenden Beitrag für die wirtschaftliche Vormachtstellung Europas in der Welt leisteten.

Es ist ferner eine Geschichte nicht beabsichtigter Konsequenzen: Sie zeigt, wie der Versuch belgischer Politiker, Bürokraten, Unternehmer und Missionare, Zwang in kolonialen Arbeitsverhältnissen zu überwinden, zu mehr Gewalt gegen die lokale Bevölkerung im Kongo führte. Sie zeigt, dass eine soziale und wirtschaftliche Folge dieser Entwicklung die langsame Durchsetzung der Lohnarbeit war. Sie zeigt auch, wie Lohnarbeit und Lohnarbeiter auf komplizierte Weise den Weg der Kongolesen in die Unabhängigkeit beeinflussten.3

Die langsame und komplizierte Durchsetzung von Lohnarbeit ist eine historische Entwicklung, die im engen Zusammenhang mit der Ausbreitung des Kapitalismus steht – jener Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, für die die Bereitschaft von Arbeitern und Arbeiterinnen, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen, eine zentrale Voraussetzung war. Die globale Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte hat jedoch gezeigt, dass sich präkapitalistische wirtschaftliche und soziale Ordnungen resilient gegenüber dem Arbeitsmodell des industriellen Kapitalismus zeigten.4 Die Durchsetzung der Lohnarbeit war auch in Europa und Nordamerika keine »natürliche« Entwicklung, wie sowohl E. P. Thompson als auch Herbert Gutman bereits in den 1960er Jahren gezeigt haben.5 Obwohl es sich hier offensichtlich um ein globales Phänomen handelt, ist das Beispiel der langsamen Durchsetzung der Lohnarbeit im kolonialen Kongo in den Jahren von 1885 bis 1960 für das Verständnis des Zusammenhangs von Kapitalismus und Lohnarbeit zentral – denn an keinem anderen Ort wurde so viel Gewalt angewendet, um die Zurückhaltung der Bevölkerung, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen, zu überwinden. Die Geschichte des Kongos zeigt, dass Zwangsarbeit nicht im Widerspruch zum Kapitalismus an sich steht, sondern dass sie ein wesentlicher Teil von dessen Geschichte ist.6

Die vorliegende Studie analysiert die lokalen und globalen Kontexte, die zu Gewalt und Zwang in Arbeitsverhältnissen im kolonialen Kongo führten, und sie untersucht, wie sich diese Entwicklung auf die sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen der im Kongo lebenden Menschen ausgewirkt hat.7

Dass sich die Durchsetzung von Lohnarbeit im kolonialen Kongo so schwierig gestaltete, dürfte nicht nur die Unterstützer der Abolitionsbewegung – die die im 19. Jahrhundert beginnende europäische Expansion in Afrika mit der Notwendigkeit begründete, existierende Formen lokaler Sklaverei abzuschaffen – überrascht haben: Wie liberale Ökonomen heute, waren auch die Anhänger des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert von der freiheitsfördernden Wirkung des Kapitalismus überzeugt: Sie glaubten, dass je mehr Menschen durch die Expansion der Märkte und des Handels miteinander verbunden würden, umso mehr Möglichkeiten würde es geben, sich von ökonomischen Abhängigkeiten und sozialen Zwänge zu befreien. »Freie« Lohnarbeit – so die Annahme der liberalen Ökonomie – löse Formen unfreier Arbeit in präkapitalistischen Wirtschaftssystemen ab. Die Möglichkeit eines Individuums, seine Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, würde zur Durchsetzung von mehr individueller Freiheit und vielleicht auch zu Wohlstand für alle führen.

Dies mag eine schlüssige und nachvollziehbare Theorie sein, die vielleicht sogar zu überzeugen vermag. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sie sich jedoch als Märchen. Tatsächlich zeigt die Geschichte von Kapitalismus und Arbeit im kolonialen Kongo, dass durch die Integration kongoleischer Arbeitskräfte und Ressourcen in europäische Märkte eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitsregimen und sozialen Beziehungen entstand, die weder als eine Rückkehr zur Sklaverei noch als ein System der freien Lohnarbeit beschrieben werden können.8 Damit ist die vorliegende Studie nicht nur ein Beitrag zur Geschichte der Arbeit im Kongo, sondern auch ein Beitrag zur Globalgeschichte der Arbeit nach der Abolition, denn sie trägt zu einem besseren Verständnis des komplexen Übergangs zur Lohnarbeit bei – eine der vielleicht wichtigsten welthistorischen Veränderungen der vergangenen 200 Jahre.

Freilich ist die Geschichte von Arbeit und Gewalt im kolonialen Kongo auch ein Beitrag zur Geschichte des belgischen Kolonialismus. Denn die im Kongo produzierten landwirtschaftlichen Güter und Rohstoffe spielten nicht nur eine entscheidende Rolle in der globalen Wirtschaft des 20. Jahrhunderts, sondern ließen einen noch jungen und – im europäischen Vergleich – wirtschaftlich unbedeutenden Staat zu einem wichtigen Akteur der globalen Wirtschaft und der internationalen Politik aufsteigen.

Diese Integration des Kongos in die Weltwirtschaft und der damit verbundene Aufstieg Belgiens zur Kolonialmacht waren unmittelbar von der Fähigkeit des belgischen Kolonialstaates und belgischer Unternehmer abhängig, genügend Arbeitskräfte zu mobilisieren. Die Geschichte dieser Mobilisierung, die 1960 am Vorabend der Unabhängigkeit dazu geführt hatte, dass 1.182.871 Männer als Lohnarbeiter und 874.000 kongolesische Haushalte als Produzenten von Baumwolle und anderen cash crops in die koloniale Wirtschaft integriert waren, ist der Kern dieser Studie und damit ihr wichtigster Beitrag: Die Analyse der durch den Kolonialismus ausgelösten Transformierung kongolesischer Arbeitswelten ist ein »Fenster«, um den sozialen Wandel, der durch die Eroberung und die Kolonisierung ausgelöst wurde, zu verstehen. Damit leistet die Studie nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit des Kongos, sondern ermöglicht auch aktuelle Entwicklungen, wie zum Beispiel die sogenannte »Neokolonisierung« Katangas durch China, Indien und Kanada und die dadurch entstehenden neuen sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, differenzierter zu betrachten.9

***

Die vorliegende Studie versteht sich als sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Analyse der Geschichte der Arbeit im kolonialen Kongo, die den Wandel von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsordnungen vor dem Hintergrund einer sich seit 1885 neu entwickelnden wirtschaftlichen und politischen Ordnung erforscht. Anders als in der Historiographie des Kongos und der belgischen Kolonialgeschichte üblich, beschränkt sich die hier präsentierte Analyse weder auf eine einzelne Region oder einen spezifischen Sektor der kolonialen oder lokalen Wirtschaft noch auf eine bestimmte zeitliche Periode der kolonialen Herrschaft.10 Dies bedeutet jedoch nicht, dass lokale Kontexte und Spezifika einzelner Regionen oder Industrien vernachlässigt werden – im Gegenteil: Die im Verlauf der Kolonisierung des Kongos entstandenen Orte der Arbeit werden hier sorgfältig analysiert und kontextualisiert, ohne dabei die makrohistorischen Entwicklungen in Belgien, Europa und Afrika aus dem Blickwinkel zu verlieren. Es ist diese Verbindung zwischen Makro- und Mikrogeschichte, die es ermöglicht, Kontinuitäten und Brüche in der kolonialen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Kongos neu zu interpretieren und noch unentdeckte Verflechtungen zwischen lokalen und kolonialen sozialen und wirtschaftlichen Praktiken aufzuzeigen.

Die Studie bricht jedoch nicht nur mit der von Historikern und Historikerinnen des Kongos bevorzugten Fragmentierung der kongolesischen Geschichte, die eine Fokussierung auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder eine Region als die einzige legitime Form der historischen Forschung akzeptiert, sondern sie bricht auch mit der Deutungshoheit der post-colonial studies, indem sie wirtschaftliche und materielle Aspekte der Geschichte des Kolonialismus im Kongo zwischen 1885 und 1960 in das Zentrum ihrer Analyse stellt. Diese material history ist seit den 1990er Jahren in der Kolonial- und Afrikahistoriographie stark in den Hintergrund getreten. Historiker und Historikerinnen wendeten sich dagegen verstärkt der Untersuchung von kulturellen Praktiken des Kolonialismus und deren langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaften in den Kolonien und europäischen Metropolen zu.11 Diese Studien haben freilich einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der Geschichte des kolonialen und postkolonialen Afrikas geleistet, indem sie sich zum Beispiel mit Aneignungsprozessen von Kolonisierten in der kolonialen Situation, mit Formen von Hybridität, Wissensproduktion oder der Konstruktion von Identität von Kolonisierten und Kolonisierenden beschäftigten und damit die Gestaltungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume der kolonisierten Bevölkerung während des Kolonialismus betonten.12 Ansätze, Theorien und methodische Diskussionen innerhalb der »Post-Colonial Studies« haben zu einem sehr viel differenzierteren Blick auf koloniale Herrschaft in Afrika geführt, nicht zuletzt deshalb, weil sie zeigen konnten, wie stark auch Europa von den Erfahrungen der Kolonisierung beeinflusst war.13 Allerdings hat diese sehr starke Fokussierung auf kulturelle Aspekte des Kolonialismus auch dazu geführt, dass die Bedeutung materieller Interessen, die im Zusammenhang mit dem europäischen Kapitalismus standen, sowie deren Auswirkungen auf die lokalen Ökonomien in Afrika nicht nur zunehmend aus Narrativen der Kolonialgeschichte verschwanden, sondern auch als Erklärungsversuche für Kolonialismus an Legitimität verloren.14

Die Dimension der materiellen Geschichte und ihrer enormen Bedeutung wird jedoch sofort deutlich, wenn man sich die tatsächlichen Zahlen der belgischen Kolonialwirtschaft anschaut: In keiner anderen Region im kolonialen Afrika wurden so viele Menschen für Lohnarbeit mobilisiert, nirgendwo anders wurden in so kurzer Zeit zwanzig Kupferminen errichtet, nirgendwo anders machte ein einzelner Minenkonzern selbst in der Weltwirtschaftskrise noch Gewinne und nirgendwo anders wurden circa zwei Millionen Bauern und ihre Familien kontrolliert, um die Produktion von Baumwolle zu gewährleisten.15 Um die koloniale Geschichte des Kongos zu verstehen, ist eine Analyse der materiellen Faktoren dieser Geschichte tatsächlich zentral.

Aber nicht nur die Wirtschaftsgeschichte hat seit den 1990er Jahren an Bedeutung verloren, auch die Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte gehörte schon lange nicht mehr zu den Trendthemen in der Geschichtsschreibung Afrikas. Während die Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte im kolonialen Afrika in den 1970er und frühen 1980er Jahren einen regelrechten Boom erlebt hatte, haben sich seit den 1990er Jahren nur noch wenige Historiker und Historikerinnen Afrikas explizit mit Arbeit und Kolonialismus beschäftigt.16 Dies ist überraschend, nicht zuletzt weil wichtige Beiträge über die Konzeptualisierung des Kolonialismus aus der Feder eines Experten der kolonialen Arbeitergeschichte in Afrika stammen: Frederick Cooper. Obwohl Coopers Konzepte und Narrative, die stark aus seiner empirischen Forschung zur Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte im britischen und französischen Kolonialismus abgeleitet sind, Pflichtlektüre für alle Studierenden der afrikanischen Geschichte sind, hat es in den letzten Jahren nur wenige Analysen zu afrikanischer Arbeitergeschichte gegeben.

Während das Interesse von Historikern und Historikerinnen an labor studies in Europa und den USA erst langsam wieder wächst, hat das Forschungsfeld in einigen Ländern des globalen Südens kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Insbesondere in Indien, Südafrika und Brasilien ist die Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichte ein dynamisches Forschungsfeld, das zu einer Vielzahl von innovativen Studien, die Ansätze aus Kultur-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte vereinen, geführt hat. Durch die Internationalisierung der Geschichtswissenschaft hat sich außerdem in den letzten Jahren ein weltweit operierendes Netzwerk von Historikern und Historikerinnen, die zur Geschichte der Arbeit und Arbeitergeschichten in unterschiedlichen Regionen arbeiten, etabliert, das versucht, das Thema Arbeit in globaleren Zusammenhängen zu analysieren.17

Diese Institutionalisierung der Globalgeschichte trägt auch dazu bei, eurozentristische Perspektiven zu überwinden. Auch hier möchte die vorliegende Dissertation einen Beitrag leisten, indem sie Zentralität von europäischen und nordamerikanischen Kontexten für die Geschichte des Kapitalismus relativiert und dafür die globalen Zusammenhänge dieser Geschichte betont. Die globale Dimension des Kapitalismus konnte vor allem durch einige hervorragende Studien zur Geschichte von commodities wie Zucker, Reis und Baumwolle gezeigt werden.18 Die hier vorliegende Studie ist von dieser globalen Geschichte des Kapitalismus inspiriert, folgt aber einem anderen Weg: Statt den Schwerpunkt auf die im Kongo produzierten Waren wie Kautschuk, Palmöl, Baumwolle, Gold und Kupfer zu legen, konzentriert sie sich auf die Mobilisierung der Arbeiter, die diese Waren produzierten. Damit ist die vorliegende Arbeit nicht ausschließlich ein Beitrag zu der Diskussion über den Zusammenhang von Kapitalismus und Zwangsarbeit, sondern auch ein Beitrag zum Verständnis des globalen Kapitalismus, zu dessen Geschichte die erzwungene Integration von kongolesischen Arbeitern und Ressourcen seit Ende des 19. Jahrhunderts genauso gehört wie die Entwicklung neuartiger Produktionstechniken an der Ruhr, die Entstehung einer Arbeiterklasse in Detroit oder das Aufkommen einer neuen Gruppe von Angestellten in London, New York und Paris.

***

Die Geschichte der langsamen Durchsetzung der Lohnarbeit im belgischen Kongo ist demnach nur durch ihre Einbettung in eine Vielzahl von lokalen und globalen Kontexten zu verstehen. Das bedeutet vor allem, dass Motive, Strategien und Handlungsspielräume von ganz unterschiedlichen Akteuren in dieser Geschichte analysiert und miteinander in Verbindung gebracht werden. Die Studie versteht sich deshalb auch als eine Interaktionsgeschichte, die die Auswirkungen des Zusammentreffens unterschiedlicher politischer und sozialer Ordnungen, Ideen und Werte im Spannungsfeld einer Situation, in der Macht ungleich verteilt ist, analysiert. So trafen zum Beispiel lokale Vorstellungen von Arbeit und Arbeitsorganisation der Baluba – einer Bevölkerungsgruppe in Katanga im Süden des Kongos – auf das europäische Modell der industriellen Lohnarbeit. Die Spannungsfelder, die sich aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Vorstellungen verschiedener Akteure an den jeweiligen Orten der Arbeit entwickeln, werden hier anhand von Mikrostudien untersucht – Mikrostudien, die das Handeln der Akteure jedoch in ihre regionalen, kontinentalen und globalen Zusammenhänge einordnen.

Dieser Ansatz erfordert die Berücksichtigung ganz unterschiedlicher Quellen, die von den Archiven der kolonialen Verwaltung über private Nachlässe ehemaliger Manager bis hin zu lebensgeschichtlichen Interviews mit Zeitzeugen reichen. Daher stammt das der Arbeit zugrunde liegende Quellenmaterial aus öffentlichen und privaten Archiven, Bibliotheken und Gesprächen mit Zeitzeugen im Kongo, in Belgien und den USA. In Brüssel konnte ich die in den Archiven des Außenministeriums archivierte, dichte Überlieferung der kolonialen Verwaltung auswerten; in Tervuren (Belgien) habe ich in den Archiven des Museums für zentralafrikanische Geschichte private Nachlässe von ehemaligen Kolonialbeamten und Unternehmern gesichtet. Darüber hinaus beherbergt das dort ansässige Archiv des Musée Royale de l’Afrique Centrale eine umfangreiche Fotosammlung, die Fotos aus nahezu allen im Kongo während der Kolonialzeit entstandenen Industrien aufweist. Auch die Archive des Comité Spécial du Katanga – die wichtigste Verwaltungsbehörde in Katanga – konnte ich in Tervuren einsehen. Diese Studie basiert zudem auf Zugang zu den umfangreichen Beständen verschiedener belgischer Missionsgesellschaften oder einzelner Missionare, die in Leuven im Archiv der katholischen Universität »Documentatie- en Onderzoekscentrum voor Religie, Cultuur en Samenleving« (KADOC) aufbewahrt werden. In ganz Belgien wurden außerdem zahlreiche kitchen archives von einzelnen Missionaren, Kolonialbeamten und Unternehmern durchgesehen.

Auch die Bibliothek und Archive der University-Wisconsin Madison, in der sowohl eine Sammlung von zeitgenössischen Reiseberichten und Literatur zum belgischen Kongo als auch zahlreiche Periodika sowie Interviewsammlungen verschiedenster Historiker zur Verfügung stehen, ist ein wichtiger Bestandteil der hier präsentierten Forschung. Insbesondere Reiseberichte können Aufschluss über materielle und soziale Zustände geben, sind also durchaus wichtige Quellen, obwohl sie bei Historiker(inne)n oftmals unter dem Generalverdacht stehen, reine Imaginationen unterdrückter Sehnsüchte des europäischen Bürgertums zu sein.19

Die wichtigsten Dokumente, auf denen diese Arbeit basiert, konnten jedoch in der Demokratischen Republik Kongo selbst analysiert werden. Zahlreiche Archive in der kongolesischen Provinz Katanga gaben differenzierte Einblicke in die Geschichte der Arbeit im kolonialen Kongo. Ein wichtiger Bestand war hier eine umfangreiche Sammlung von Personalakten ehemaliger Minenarbeiter, die bis in die 1930er Jahre zurückreichen und vielerlei Informationen über die Rekrutierung und Kontrolle von Arbeitern enthalten – ein Bestand, zu dem die Forschung bis jetzt keinen Zugang hatte. Auch die Aktenbestände einzelner Missionsgesellschaften, insbesondere die der Salesianer, konnten in Lubumbashi eingesehen werden.

Die vielleicht faszinierendste Quellenbasis dieser Arbeit stellen jedoch lebensgeschichtliche Interviews dar. Einige dieser Interviews wurden mir von dem Observatoire du Changement Urbain (OCU) der Université de Lubumbashi zur Verfügung gestellt. Andere Interviews, in denen es vor allem um die Bedingungen und Deutungsmuster von kolonialer Arbeit geht, habe ich selbst in 2008 und 2009 in Lubumbashi, Likasi und Kolwezi geführt. Diese Zeugnisse der oral history sind freilich schwierige Quellen, die im Spannungsfeld zwischen Erinnerung und Geschichte stehen, doch sie erlauben einen Zugang, um Stimmungen, Deutungsmuster, aber auch Sachbeschreibungen einzufangen.20 Die geführten Interviews mit Kongolesen und Kongolesinnen sowie mit Kolonialfunktionären, Missionaren und Agronomen wurden nur in seltenen Fällen als Faktenquelle genutzt. Sehr viel interessanter im Kontext dieser Arbeit ist es, über diese Quellen einen Zugang zu Deutungsmustern der kolonialen Vergangenheit, zu kollektiven Erinnerungsmustern sowie zu Wahrnehmungen über Zäsuren und Kontinuitäten zu bekommen. Trotz einer gewissen Distanz gegenüber der oral history ist es wichtig anzumerken, dass ohne die Bereitschaft von Kongolesinnen und Kongolesen, ihre Lebensgeschichten mit mir zu teilen, diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Die Interviews haben mir nicht nur Einblicke in sehr private Bereiche ihrer Lebensläufe gegeben und damit alltägliche Erfahrungen mit Arbeit und Kolonialismus sehr viel nachvollziehbarer werden lassen, sondern mich auch auf Spuren gebracht, die in den kolonialen Verwaltungsarchiven längst verwischt sind.

Diese lebensgeschichtliche Perspektive auf Lebens- uns Arbeitswelten konnte ich ergänzen durch die intensive Besichtigung von Minen und ehemaligen Arbeiterlagern, die mir einen allgemeinen Eindruck von Arbeits- und Lebensbedingungen im kolonialen Raum vermitteln konnten. Lange Fußmärsche und Autofahrten durch Minengebiete oder Arbeitercamps, bewegende Gespräche bei einem gemeinsamen Bier oder Kirchenbesuche mit ehemaligen kongolesischen Arbeitern, ihren Frauen, Kindern und Enkeln haben es mir erlaubt, die Zusammenhänge und Konsequenzen der hier beschriebenen Geschichte besser verstehen zu können. Ohne die geduldigen Erklärungen, Führungen, Besuche, Bus- und Autofahrten und Mahlzeiten mit Kongolesinnen und Kongolesen in Katanga hätte diese Arbeit nicht entstehen können.

***

Die Studie ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil »Übergänge« werden die spezifischen Kontexte der belgischen Expansion und ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf Belgien, Europa und den Kongo analysiert. Im ersten Kapitel kann gezeigt werden, wie es einer relativ kleinen Gruppe von europäischen Unternehmern, Beamten und Investoren unter der Flagge des Kongo-Freistaates gelang, Arbeiter für die Ernte und Produktion von Agrarprodukten zu mobilisieren. Diese Integration kongolesischer Arbeitskräfte und Güter fußte auf einem rücksichtslosen und brutalen System der Ausbeutung von Arbeitern und natürlichen Ressourcen. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Einwohner des Kongos bereits eine lange Geschichte der Ausbeutung von Arbeitskräften erlebt – während des atlantischen Sklavenhandels waren Hunderttausende Menschen aus dem Kongo von Europäern zu Zuckerplantagen in die Karibik und nach Brasilien deportiert worden. Wie hier gezeigt werden kann, änderte Zwangsarbeit dann im 19. Jahrhundert ihre Form: Anstatt Menschen aus dem Kongo in Süd- und Mittelamerika zum Arbeiten zu zwingen, konzentrierten sich die europäischen Kolonialisten nun darauf, Kongolesen und Kongolesinnen zur Ernte, Verarbeitung und zum Transport von Agrarprodukten im Kongo zu mobilisieren. Durch eine detailreiche empirische Analyse kann das Kapitel »Aufbrechen«die zentrale Rolle von Zwangsarbeit in der frühen Phase des belgischen Kolonialismus zeigen, dessen primärer Fokus auf der kurzfristigen Mobilisierung und Kontrolle billiger Arbeitskraft lag.

Im Kapitel »Wiederaufbauen« wird beschrieben, wie die kontinuierliche Erfahrung der lokalen Bevölkerung mit körperlicher Gewalt und politischer Unsicherheit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem Kollaps der lokalen politischen Kultur führte, auf die vielerorts ein Zusammenbruch der sozialen und wirtschaftlichen Ordnungen folgte. 1905 nach dem Ende des Kautschukbooms lässt sich dann ein Moment des »Wiederaufbaus« in den Dörfern und Familien ausmachen, der ein Versuch war, lokale Arbeits- und Lebenswelten, die durch die Eroberung kollabiert waren, wiederherzustellen. Parallel zu dem Moment des Wiederaufbaus lokaler Ordnungssysteme im Kongo entwarfen belgische Politiker, Bürokraten und Unternehmer neue Konzepte für die Kolonisierung der nun staatlich verfassten Kolonie. Wie in den Kapiteln »Kolonisieren« und »Herrschen« gezeigt werden kann, wurde das absolutistische System des Kongo-Freistaates schließlich durch einen »modernen« bürokratischen Verwaltungsstaat ersetzt – den belgischen Kongo. Der Hauptgrund für den Übergang von Kongo-Freistaat zu Belgisch-Kongo war jedoch nicht, wie in der Forschung in der Regel behauptet, eine globale Protestwelle gegen die Ausbeutung der kongolesischen Bevölkerung im Kongo-Freistaat, sondern das Interesse des belgischen Staates und belgischer Unternehmer an einer effizienteren und langfristigen Inwertsetzung der Kolonie, die durch den Aufbau staatlicher Institutionen gewährleistet werden sollte.

Im zweiten Teil der Studie »Krisen« wird gezeigt, dass Gewalt bei der Mobilisierung von Arbeitskräften für die Arbeit in Minen, auf Plantagen, in Dörfern und beim Aufbau einer Infrastruktur auch nach der 1908 erfolgten Auflösung des Kongo-Freistaates eine zentrale Rolle spielte. Obwohl Gewalt in Arbeitsverhältnissen im belgischen Kongo nicht mehr vorkommen sollte, ging der belgische Kolonialstaat überraschend schnell dazu über, erneut auf Zwangsarbeit bei der Inwertsetzung der Kolonie zurückzugreifen. Grund dafür war eine sich seit Beginn des Ersten Weltkrieges ausgebreitete »Krise der Lohnarbeit«, die sich in Form eines chronischen Mangels an Arbeitskräften bei gleichzeitiger Expansion der kolonialen Wirtschaft zeigte. In insgesamt vier Kapiteln wird hier gezeigt, welche spezifischen Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbedingungen in den einzelnen Regionen und Sektoren der Kolonie bis in die Zwischenkriegszeit entstanden und welche lokalen und globalen Kontexte zu Zwangsrekrutierung und Zwangsarbeit führten.

Im dritten Teil der Studie »Korrekturen« wird argumentiert, dass sich seit den späten 1920er Jahren in bestimmten Sektoren der kolonialen Wirtschaft ein Wandel hin zu stabileren und weniger erzwungenen Arbeitsverhältnissen abzeichnete. Welche politischen und sozialen Faktoren diese »Korrektur« eines Systems von Arbeitszwang beeinflussten, wird in Kapitel »Internationale Arbeitsorganisation: 1930« gezeigt. Die nächste Zäsur im Wandel von Arbeitsverhältnissen wird im Kapitel »Minenarbeiter: 1941« beschrieben. In diesem Jahr demonstrierten circa 2.000 kongolesische Arbeiter, unterstützt von ihren Familien, gegen die Lohnpolitik und die Arbeitsbedingungen des größten Minenkonzerns der Kolonie in Katanga. Dieser Streik wird als Symbol für die Entstehung einer sozialen und wirtschaftlichen Macht von kongolesischen Arbeitern gedeutet. Die Rekonstruktion dieses besonderen Konflikts kann zeigen, wie es Arbeitern und ihren Familien gelungen war, soziale Netzwerke in einer für sie fremden Umgebung aufzubauen, indem sie ihre schon vorhandenen sozialen Bindungen zu Familienmitgliedern stärkten und neue soziale Bindungen während der Arbeit und in ihrer Freizeit aufgebaut hatten. Die Arbeit endet mit einem kurzen Ausblick auf 1960, dem Moment des formalen Endes der kolonialen Herrschaft der Belgier im Kongo. Das Kapitel »Patrice Lumumba: 1960« skizziert die Zukunftsvisionen kongolesischer politischer Führer wie Lumumba, die zum ersten Mal umfassende Rechte für die arbeitende Bevölkerung im Kongo bedeutet hätten. Die Möglichkeit, die Früchte ihrer Arbeit zu ernten, Zugang zu den Ressourcen ihres Landes zu haben und die Freiheit zu haben, ihren Arbeitsplatz selbst zu wählen, schien zum Greifen nah. Das Kapitel »Patrice Lumumba: 1960« ist auch deshalb das Ende der hier dargestellten Geschichte, weil zum ersten Mal seit Beginn der Kolonisierung des Kongos und der damit verbundenen Einführung von Lohnarbeit die politischen Rahmenbedingungen für die Durchsetzung von freieren Lohnarbeitsverhältnissen gegeben waren.

I. Übergänge

1. Aufbrechen

Am 15. Oktober 1885 lief das britische Transportschiff Dunrobin Castle aus dem belgischen Hafen Antwerpen aus. Sein Ziel war der Ort Banana, der an der Westküste des afrikanischen Kontinents an der Mündung des Flusses Kongo lag.21 Für den Kapitän und seine Besatzung war die Fahrt von Antwerpen nach Banana keine große Herausforderung: Zwar hatte die Dunrobin Castle – ein knapp über 100 Meter langes und 2.800 Tonnen fassendes Dampfschiff – Banana noch nie zuvor angefahren, aber der Kapitän war mit der Route, die von der Westküste Portugals über die Kanarischen Inseln und dann weiter an der Küste Westafrikas entlang bis an die Mündung des Kongos führte, vertraut. Seit den 1870er Jahren hatte der Frachter im Auftrag der britischen Krone regelmäßig Waren, Post und Passagiere von Southampton in die britische Kolonie nach Cape Town transportiert.22 Für die in Antwerpen an Bord gegangenen Passagiere bedeutete die Fahrt nach Banana hingegen ein Aufbruch in eine unbekannte Welt, und bevor sie begannen, sich auf dem Dampfer einzurichten, standen sie an Deck, um einen letzten Blick auf das vertraute Hafenbecken und die dort versammelten Menschen zu richten, die langsam am Horizont verschwanden.23

Die Passagiere der Dunrobin Castle unterschieden sich kaum von anderen Reisenden, die in englischen, französischen oder portugiesischen Häfen an Bord von Kolonialschiffen gingen: In der ersten Klasse reisten hochrangige belgische Beamte und Militärs, kirchliche Würdenträger, erfolgreiche belgische Geschäftsleute, Ingenieure, sowie reiche Touristen, die teilweise von ihren Ehefrauen begleitet wurden. Die Kabinen der zweiten Klasse teilten sich Beamte und Soldaten der niedrigeren Dienstgrade, einfache Kaufleute, Angestellte von Handelshäusern sowie Missionare.24 So unterschiedlich Alter, Herkunft und Rang der Passagiere auf der Dunrobin-Castle auch waren, so hatten sie doch eines gemeinsam: Sie waren aufgebrochen, um sich einen Teil des afrikanischen Kontinents, der jetzt unter der Verwaltung des belgischen Königs stand, anzueignen.25 Sie verließen Belgien und Europa, um Verwaltungsposten und Missionsstationen im Innern des afrikanischen Kontinents zu errichten, Soldaten anzuwerben oder Handel zu treiben – alles mit dem Ziel, die europäische Vorherrschaft über Afrika langfristig zu sichern, die kulturellen und religiösen Normen Europas durchzusetzen, Rohstoffe zu erbeuten und abzutransportieren, neue Märkte zu schaffen und zu beherrschen und Menschen als billige Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Nach 30 Tagen auf dem offenen Meer, an denen die Passagiere die Schönheit der bereits kolonisierten westafrikanischen Städte Dakar, Freetown, Accra und Lagos aus der Ferne bewundern konnten, kündigte sich das Ziel der Reise an – Banana. An der Mündung des Kongos vermischte sich das azurblaue Wasser des Atlantiks mit dem schlammigen Wasser des Flusses, und zum Erstaunen der Europäer erschien ein dichtbewachsenes Ufer voller Urwaldpflanzen.26Canarium-Bäume ragten mit ihren breiten Kronen bis zu 50 Meter in den Himmel, und der Boden war von Hunderttausenden von Ficci bedeckt, die sich wie ein Teppich zwischen den Bäumen ausbreiteten.27 Der Dampfer verlangsamte seine Fahrt, und ohne den gewohnten Fahrtwind waren die Reisenden plötzlich von der für die Regenzeit typischen, feuchten Hitze umgeben. Kurz darauf ankerte der Frachter vor einer Sandbank in der Flusmündung, und der Kapitän verkündete das vorläufige Ende der Reise.28

Was sich vor den Augen der an Deck stehenden Passagiere nun abzeichnete, entsprach nicht der Erwartung, die die Kolonialliteratur in ihnen geweckt haben mochte. Statt einer malerischen Umgebung mit prachtvollen Gebäuden und blühenden tropischen Gärten ließen sich nur vereinzelte Häuser und Lagergebäude ausmachen, die ohne erkennbare Ordnung ans Ufer gestellt worden waren.29 Die Vegetation war dürftig, nur wenige Palmen säumten das Ufer. An einem schmucklosen Gebäude wehte eine blaue Fahne mit gelbem Stern – die Flagge des Kongo-Freistaates. Sie symbolisierte die Verbindung der Europäer auf der Dunrobin Castle mit der Erde, die sie gleich betreten sollten. Die Flagge war einige Jahre zuvor von Henry Morton Stanley entworfen und an verschiedenen Stellen des Kongo-Ufers als Zeichen der europäischen Eroberung aufgestellt worden. Sie verkörperte den imperialen Traum einer noch jungen europäischen Nation – ein Traum, der 1885 mehr Phantasie als Realität war.30 Auch wenn die Reisenden sich Banana und den Kongo anders vorgestellt hatten, ermutigte sie der Anblick der Flagge: Nach 45 Tagen auf dem Meer waren sie in gewisser Weise noch immer in der Heimat. Und wenn sie ihren Blick nach Osten schweifen ließen, konnten sie den Kongo-Fluss sehen, dessen über 4.000 Kilometer lange Reise durch den afrikanischen Kontinent hier endete und auf dem sie ihre Reise bald fortsetzen würden, um zu all der Schönheit und all dem Reichtum zu gelangen, die zu suchen sie gekommen waren.31

Der imperiale Traum schien zum Greifen nahe – und doch war er unerreichbar. Das imperiale Fieber wurde jedoch zum Alptraum der Afrikaner.32 In einigen Orten am Ufer des Kongo-Flusses war der Alptraum bereits durch die Expedition Henry Morton Stanleys Realität geworden;33 die meisten Regionen waren von dem hektischen Eroberungszug jedoch bisher verschont geblieben.34

Die Dunrobin Castle war 1885 das erste Schiff, das aus einem belgischen Hafen auslief, um Waren und Passagiere an die Küste Zentralafrikas und von dort weiter in das Innere des Kontinents zu transportieren. Der belgische König Léopold II. hatte die Verwaltung großer Teile Zentralafrikas erst kurz vor der feierlichen Eröffnung der Anvers–Congo-Verbindung übernommen und war oberster Verwalter einer internationalen Kolonie mit dem Namen Kongo-Freistaat geworden.35 Nach Ansicht von Léopold II. erforderte diese Entwicklung eine direkte Verbindung zwischen Belgien und dem Kongo-Becken, um die Zirkulation von Waren, Materialien und Menschen zwischen Kolonie und Metropole zu beschleunigen. Die Zeiten, als belgische Unternehmer, Missionare und Forscher zunächst nach Liverpool oder Lissabon reisen mussten, um sich in den Häfen der bereits etablierten Kolonialmächte Richtung Afrika einzuschiffen, schienen nun endlich der Vergangenheit anzugehören. Mit der Gründung des Kongo-Freistaates war das kleine Belgien zu einer ernstzunehmenden imperialen Macht aufgestiegen: Frachter und Boote mit belgischen Fahnen lagen nun nicht nur in Antwerpen, sondern auch am Ufer des gewaltigen Kongo-Flusses. Zwar war die belgische Expansion immer noch viel geringer als die englische, französische und russische, aber der Kongo war ein gigantisches Territorium von großer materieller und politischer Bedeutung. Die Expansion verschaffte dem kleinen Königreich nicht nur mehr Prestige und Respekt bei seinen imperialen Rivalen, sondern ermöglichte der kleinen Gruppe von belgischen Unternehmern, die bereit waren, in den Handel mit Produkten in der weit entfernten Kolonie zu investieren, auch neue Handlungsspielräume.

Kurz nach der Ankunft in Banana wurden die Passagiere der Dunrobin Castle mit Ruderbooten an Land gebracht. Dort warteten bereits einige portugiesische, britische, holländische, französische und belgische Kaufleute sowie luso-afrikanische36 und lokale Händler auf das aus Antwerpen kommenden Schiff und seine 2.800 Tonnen Waren.37 Während die Reisenden von dem Verwaltungsbeamten des Ortes – einem Mann mit gelblichem Gesicht und weißer Uniform – willkommen geheißen wurden,38 verluden Arbeiter, die aus den umliegenden Dörfern rekrutiert worden waren, die Fracht auf kleinere Dampfschiffe, die den Kongo aufwärts in das 100 Kilometer entfernte Boma und von dort weitere 60 Kilometer nach Matadi fahren sollten.39 Dort mussten sie erneut umgeladen werden, diesmal auf die Rücken und Köpfe hunderter Träger, die die Waren und Materialien in das Innere der Kolonie trugen.40 Während die Besatzung der Dunrobin Castle das Leichtern des Frachters beobachte, sah sie am Kai schon Berge von Elfenbein und Kopal sowie Gefäße mit Palmöl und tropischen Nüssen, die auf ihren Abtransport nach Europa warteten. Es war jedoch vor allem ein Produkt, das die Laderäume des Frachters schließlich füllte – Kautschuk.

Kautschuk, der zunächst aus Brasilien importiert worden war, hatte sich im 19. Jahrhundert zu einem nachgefragten Rohstoff entwickelt.41 Durch ein chemisch-technisches Verfahren konnte der aus dem Kautschukbaum (Hevea)42 gewonnene Rohstoff in elastisches Gummi umgewandelt werden, aus dem in europäischen und nordamerikanischen Fabriken Schuhe, Regenmäntel und Schläuche gefertigt wurden. Der eigentliche Kautschukboom setzte jedoch erst in den 1890er Jahren ein, als John Dunlop erstmals Autoreifen aus Gummi fertigen ließ und Kautschuk so zu einem unverzichtbaren Werkstoff für eine ganze Industrie machte.43 Um die erhöhte Nachfrage nach Kautschuk zu befriedigen, begannen Industrielle und Unternehmer, sich nach weiteren Rohstofflieferanten umzusehen, und wurden schnell in Afrika fündig.

Aus Sicht europäischer Unternehmer war der am Beginn seiner Kolonisierung stehende Kontinent ein idealer Lieferant für den begehrten Rohstoff: In Afrika wuchsen nicht nur unzählige Kautschukbäume (Landolphia)44, Afrika schien auch über ein großes Reservoir an anspruchslosen und billigen Arbeitskräften zu verfügen, die mithilfe der kolonialen Verwaltung für die Kautschukernte mobilisiert werden konnten. Seit dem 16. Jahrhundert hatten Europäer Arbeitskräfte aus Afrika nach Nord- und Südamerika verschleppt, wo sie auf Zucker und Baumwollplantagen arbeiteten mussten. Jetzt sollten europäische Staatsmacht und europäisches Kapital in das Innere Afrikas eindringen, und die Kautschukproduktion schien dafür ideal. Denn anders als beim Handel mit Sklaven und Elfenbein erforderte das Ernten und Transportieren von Kautschuk weder Spezialwissen noch kapitalintensive Investitionen für Arbeitsgeräte und Arbeitsorganisation. Kautschuk konnte von der lokalen Bevölkerung geerntet und transportiert werden: Alles, was benötigt wurde, waren Kautschukbäume und Arbeitskräfte.

Und tatsächlich gelang es den europäischen Kolonialmächten innerhalb weniger Jahre, Afrika zu einem der weltweit wichtigsten Lieferanten von Kautschuk zu machen. Um 1900 stammten schon 30 Prozent des weltweit gehandelten Kautschuks aus Zentralafrika. Die am Kautschukhandel beteiligten Unternehmen und Staaten erzielten riesige Gewinne – eine Entwicklung, die wenige Jahre zuvor selbst der kühnste Unternehmer nicht vorausgesehen hätte.45 So legte der in den 1890er Jahren beginnende Kautschukboom den Grundstein für den Export von Rohstoffen aus Afrika, nicht zuletzt deshalb, weil es den Europäern erstmals seit der Abschaffung des Sklavenhandels gelang, eine große Zahl von Afrikanern zu Produzenten für den von Europa und Nordamerika dominierten Weltmarkt zu machen.

Der weitaus größte Teil des in Afrika gewonnen Kautschuks kam aus den Wäldern im Norden und Westen des Kongo-Freistaates.46 Das feucht tropische Klima des Kongo-Beckens und die starken Regenfälle boten ideale Bedingungen für einen Regenwald, der sich Ende des 19. Jahrhunderts noch über eine Fläche von mehr als einer Million Quadratkilometer erstreckte.47 Dieser Urwald, dessen Flora und Fauna trotz des einheitlichen Makroklimas von Region zu Region stark variierte, beherbergte auch die Kletterpflanze Landolphia, die an den Stämmen riesiger Urwaldbäume wuchs und bis zu 50 Meter hoch werden konnte.

Die in den Regenwäldern Äquatorialafrikas lebende Bevölkerung reagierte zunächst positiv auf die gestiegene Nachfrage nach Kautschuk. Der Kautschukhandel war in einigen Regionen bereits vor dem Kautschukboom ein wichtiger Wirtschaftsfaktor gewesen. Legendär war die Qualität des im Königreich Kuba in Mittelkasai produzierten Kautschuks. Dort hatten portugiesische und luso-afrikanische Händler schon seit den 1880er Jahren Kautschuk gegen Stoffe, Waffen und Metalle getauscht.48 Von der lokalen Bevölkerung wurde Kautschuk zur Ausbesserung von undichten Stellen an Hütten verwendet, und die Portugiesen stellten aus Kautschuk Planen her, die als Regenschutz über Schlafstätten und Betten gespannt wurden.49

Die Kautschukgewinnung hatte von jeher unzählige Arbeitsschritte beinhaltet und war mit vielerlei Gefahren verbunden gewesen. Während sich die Kletterpflanzen in einigen Gebieten stark ausgebreitet hatten, wuchs in anderen Regionen nicht mehr als eine Pflanze pro Hektar. Nicht immer wussten die Männer aus den umliegenden Dörfern, wo die Kletterpflanzen waren, und mussten häufig tagelang nach den begehrten Pflanzen suchen. Die Ernte erforderte das Klettern auf hohe Bäume und galt in afrikanischen Gesellschaften als Männerarbeit.50 Doch nicht nur das Klettern auf Bäume war gefährlich, zusätzlich waren die Männer wilden Tieren wie Gorillas und Leoparden ausgesetzt, die in den Tiefen des Urwaldes lebten.51

Die Gewinnung von Kautschuk war ein komplexes Verfahren: Nachdem die Männer Kautschukpflanzen gefunden hatten, ritzten sie deren Rinde an, anschließend wurde der aus dem Stamm tropfende Saft in Tongefäßen aufgefangen. Für die Konsolidierung des Rohstoffes gab es mehre Verfahren, die von Region zu Region variierten. Nördlich des Kongo-Flusses schmierte man sich den noch flüssigen Saft auf die Brust, ließ die Kautschukschicht antrocknen, rollte sie dann mit der Hand ab und formte kleine Bälle daraus. Bei einem anderen Verfahren füllte man Wasser in die Tongefäße, erhitzte sie, worauf sich an der Oberfläche eine dünne Schicht Kautschuk bildete, die nach dem Festwerden problemlos aus dem Tongefäß gefischt werden konnte.52 Der so gewonnene Kautschuk wurde in den umliegenden Dörfern gesammelt. Frauen brachten die Kautschukbälle dann in großen Körben zu Märkten oder Sammelstellen, verhandelten über den Preis und verkauften das Produkt. Während die Produktion des Kautschuks also reine Männersache war, lag das Vermarkten fest in weiblicher Hand.53

Die Gefahren und der Zeitaufwand bei der Kautschukernte führten dazu, dass die Kautschukproduktion eine Nebentätigkeit blieb, die nicht das ganze Jahr über praktiziert wurde. Sie nahm aber einen bestimmten und genau definierten Raum im Ablauf des Jahres ein.

Abb. 1: Kautschukernte

(Quelle: AP.0.0.303, collection RMCA Tervuren, Foto F.L. Michel, 1897)

Das veränderte sich mit dem 1890 beginnenden globalen Kautschukboom und der Ausweitung europäischer Herrschaft in das Innere des afrikanischen Kontinents. Durch das befahrbare Flusssystem des Kongos und die direkte Verbindung zum Atlantik waren die Regenwälder des Kongo-Freistaates näher an die europäischen und nordamerikanischen Konsumenten gerückt. Sie lagen sehr viel näher als die Häfen der bisherigen Kautschukproduzenten in Südostasien.54 Die geographischen Bedingungen schienen tatsächlich so günstig, dass Handelsunternehmen aus ganz Europa Niederlassungen im Kongo aufbauten.

Durch diese Entwicklung wurde der oberste Verwalter des Kongo-Freistaates – König Léopold II. von Belgien zu einer wichtigen Figur in der globalen Kautschukökonomie. Und der Kautschukboom rettete Léopold vor dem Bankrott eines kolonialen Wagnisses, das von ihm finanziert worden war, denn der Boom bot ihm die Möglichkeit, den finanzschwachen Kongo-Freistaat in ein profitables Unternehmen zu verwandeln.55 Bis 1900 hatten sich im Kongo-Freistaat bereits 65 Handelsunternehmen niedergelassen.56 Zunächst kauften diese Handelsunternehmen den Kautschuk von Zwischenhändlern, die ihn gegen Waffen, Stoffe, Gewürze und anderes mit lokalen Kautschukproduzenten tauschten. Diese Praxis änderte sich kurze Zeit später, als die Unternehmen vom Kongo-Freistaat Konzessionen erhielten, die ihnen die komplette Kontrolle über die Kautschukproduktion einräumten. Ein Bericht über die Société Anversoise du Commerce au Congo, die sich nördlich des oberen Kongo-Flusses ausbreitete, zeigt beispielhaft, wie eng die staatliche Verwaltungsstruktur und die Struktur der Handelsniederlassung der Société Anversoise miteinander verknüpft waren. Edgar Canisius, der seit 1899 eine Fakotorei in der Konzession der Société Anversoise leitete, berichtete, dass die Société das Gebiet von der zweifachen Größe Belgiens in fünf Verwaltungszonen aufgeteilt hatte, in denen es in der Regel jeweils sechs Handelsniederlassungen gab. Die Zusammenarbeit zwischen den sogenannten chef de zone – Verwaltungsbeamte des Kongo-Freistaates – und den post-managers – Angestellte der Handelsfirmen – war darauf ausgerichtet, den Alltag der lokalen Bevölkerung zu kontrollieren, um genug Arbeitskräfte für die Kautschukproduktion zu gewinnen.57 Als Dank für die großzügige Unterstützung durch den Freistaat hatten sich die Unternehmen im Gegenzug verpflichtet, Léopold II. beim Ausbau der Kolonie zu helfen. Zum einen zahlten sie Steuern, zum anderen investierten sie in infrastrukturelle Projekte wie die Eisenbahnlinie von Matadi nach Léopoldville, die tatsächlich 1898 fertiggestellt wurde.58 Die größten Konzessionsunternehmen waren die Société Anversoise du Commerce au Congo (SACC), deren Erntegebiet sich am rechten Ufer des Kongo-Flusses erstreckte, und die Anglo-Belgian Indian Rubber and Exploration Compagnie (ABIR), deren Gebiet sich links des Kongo Ufers befand.59 Für sie war der Export von Kautschuk ebenso wie für einige kleinere Unternehmen äußerst profitabel: Nach einer zeitgenössischen Berechnung lagen die Produktionskosten für ein Kilo Kautschuk im Jahre 1897 inklusive Transportkosten, Steuern und Lagerung bei 1,35 belgischen Franc. Verkauft wurde die Ware in Antwerpen dann für 6,30 bis 7,80 belgische Francs.60 Die Gewinnspanne erhöhte sich noch, denn der Preis von Kautschuk auf dem Weltmarkt verdoppelte sich zwischen 1894 und 1905, während die Herstellungskosten nahezu unverändert blieben. Gleichzeitig stiegen die Umsätze: ABIR verkaufte zum Beispiel 1892 Kautschuk im Wert von 131.000 belgischen Francs, acht Jahre später erwirtschaftete das Unternehmen fast sechs Millionen belgische Francs.61

Abb. 2: Kautschuksammelstelle einer Niederländischen Handelskompagnie

(Quelle: HP.1948.1099.1, collection RMCA Tervuren, Fotograf unbekannt, 1897)

Die großen Gewinnspannen lassen sich jedoch nicht alleine aus der Tatsache erklären, dass die weltweite Nachfrage nach Kautschuk von Jahr zu Jahr stieg. Sie resultierten auch aus der Struktur der Produkt- und Arbeitsmärkte, wie sie von Léopolds Bürokraten fest- und durchgesetzt wurden. Diese Märkte waren von Anfang an so konstruiert, dass die afrikanischen Kautschukproduzenten von der gestiegenen Nachfrage nicht profitieren konnten, denn ihnen wurde nur die Produktion zugestanden. Darüber hinaus schuf der Kongo-Freistaat Märkte, die durch ein System der direkten Zwangsarbeit strukturiert waren. Nachdem 1892 per Dekret zunächst sichergestellt worden war, dass Afrikaner das von ihnen gesammelte Kautschuk nur an Beamte des Kongo-Freistaates oder an eines der vom Staat eingesetzten Handelshäuser verkaufen durften, wurde im gleichen Jahr die Zwangsarbeit in Form einer Arbeitssteuer für Ernte und Transport von Kautschuk eingeführt.62 Der Vorteil für die Unternehmen lag auf der Hand: Zum einen mussten sie keine Löhne an die Arbeiter abführen, und zum anderen konnten Arbeitsleistungen mit Gewalt erzwungen werden, was bei einem chronischen Mangel an Arbeitskräften von unermesslichem Wert war. Diese Kombination transformierte das Land rechts und links des Kongo-Flusses in eine riesige Plantage, auf der die lokale Bevölkerung durch Besteuerung legal dazu gezwungen werden konnte, Kautschuk zu ernten und diesen zu Preisen weit unter dem Weltmarktniveau abzugeben.

Eine Schlüsselrolle in dem System übernahmen die in den Kautschukgebieten angesiedelten Faktoreien, die sich schnell zu Institutionen nichtstaatlicher Beherrschung entwickelten.63 Seit den 1880er Jahren waren links und rechts des Kongos neben den staatlichen Ankaufsstationen Faktoreien entstanden, die den produzierten Kautschuk sammelten. Diese Sammelstationen konnten auf einen militärischen Apparat von bewaffneten Afrikanern zurückgreifen (den sogenannten sentinelles, gardes forestières oder capita), die in der Regel aus weiter entfernten Gegenden von Beamten oder Militärs des Kongo-Freistaates rekrutiert wurden. In Abstimmung mit den lokalen Autoritäten – die bei Kollaboration militärisch und materiell unterstützt wurden – wurden die capita in den Dörfern stationiert, um die Kautschukproduktion zu überwachen.64 Mit diesem minimalen institutionellen Rahmen organisierten europäische Beamte65 und Mitarbeiter der Handelskompagnien unter der Flagge des Kongo-Freistaates die Ausbeutung der Arbeit, die Gewinnung des begehrten Rohstoffs Kautschuk und die Versorgung mit Nahrungsmitteln.66 Privat organisierte Gewalt verhinderte, dass ein offener Markt für Kautschuk entstehen konnte, und stellte gleichzeitig sicher, dass die Kautschukproduktion schnell expandierte.

Ohne jegliche staatliche Kontrolle übten die von den Handelshäusern eingesetzten Agenten sowie Beamte des Kongo-Freistaates einen enormen Druck auf die lokale Bevölkerung aus, immer mehr Kautschuk zu produzieren. Der 1904 erschienene Bericht des Ethnologen Leo Frobenius über die Kautschukernte in Kasai zeigt, mit welcher Brutalität die Agenten der Compagnie du Kasai dabei vorgingen.67 In Kabeja, einem Dorf in Mittelkasai, wurde Frobenius Augenzeuge, wie ein ihm bekannter capita namens Uatobelle ausgepeitscht wurde, weil das ihm unterstellte Dorf nicht genug Kautschuk geliefert hatte. Zwei capita drückten Uatobelle zu Boden, während ihn ein weiterer capita zusammen mit einem Agenten der Compagnie du Kasai abwechselnd auspeitschte. Frobenius zählte 106 Schläge. Die Wunden Uatobelles durften nach der Auspeitschung nicht versorgt werden, weshalb er am nächsten Tag seinen Verletzungen erlag.68 Diese Art von Strafe bei Nichterfüllung der Quote war keine Seltenheit und wurde auch in anderen Kautschukgebieten praktiziert.69 So entstanden in manchen Gebieten regelrechte Terrorherrschaften, die ganze Dörfer traumatisierten.70

Die Anwendung brutaler Gewalt bei der Mobilisierung von Arbeitskräften überraschte nicht nur den Leiter der Deutschen Inner-Afrikanischen Forschungsexpedition Leo Frobenius, der sich als Vertreter einer zivilisatorischen Mission verstand. Folgt man den Diskussionen der europäischen Eliten im späten 19. Jahrhundert, sollte die Kolonisierung Afrikas – anders als die Eroberung der neuen Welt durch die Spanier – »diszipliniert«, »zurückhaltend« und »vorausschauend« gestaltet werden. Die europäischen Mächte nahmen dies trotz all ihrer Rivalitäten untereinander so wichtig, dass sie sich zwischen 1884 und 1890 auf zwei internationalen Konferenzen darauf einigten, bei der Kolonialisierung Afrikas gewisse Regeln einzuhalten.71 Die auf den Konferenzen in Berlin und Brüssel tagenden europäischen Staatsmänner, Forscher und Unternehmer unterstützten die Abolitionsbewegung und begründeten die Aufteilung Afrikas mit der Notwendigkeit, existierende Formen indigener Sklaverei abzuschaffen. Auf diese Weise legitimierten sie die Ausbreitung der »europäischen Zivilisation« auf dem afrikanischen Kontinent. Die Vertreter von 14 Nationen, unter ihnen auch Repräsentanten der Vereinigten Staaten und des Osmanischen Reiches, setzten einen Vertrag auf, der die Schifffahrts- und Handelsrechte im Kongo-Becken regelte und einen Artikel enthielt, der sie verpflichtete, »die Erhaltung der eingeborenen Bevölkerung und die Verbesserung ihrer sittlichen und materiellen Lebenslage zu überwachen und an der Unterdrückung der Sklaverei und insbesondere des Negerhandels mitzuwirken.«72

Mit diesem Diskurs hatten die Europäer ein mächtiges Instrument entwickelt, dass die stets durch Gewalt charakterisierte imperiale Eroberung verschleierte, indem sie den Schutz der Bevölkerung zum zentralen Projekt der Kolonisierung Afrikas erklärte.73 Dieser Argumente hatte sich auch Léopold II. 1885 auf der Berliner Konferenz bedient, wo es ihm schließlich gelungen war, die Verwaltung eines zentralafrikanischen Gebietes zu übernehmen, das 80 Mal so groß wie Belgien war.74 Überzeugt hatte Léopold II. die anderen europäischen Mächte jedoch weniger mit den Ideen eines humanitären Kolonialismus, sondern mit dem Versprechen, in seinem Territorium eine Freihandelszone einzurichten. Die Schaffung einer »Free Trade Zone«75 im Herzen Afrikas, finanziert durch Léopold II., war für Großbritannien, Frankreich und Portugal, die bereits riesige Summen ausgaben, um andere Teile Afrikas zu kolonisieren, äußerst attraktiv. Es überrascht daher nicht, dass die bereits in den 1890er Jahren durch protestantische Missionare dokumentierten Schrecken in dem von Léopold II. verwalteten Kongo-Freistaat bei den anderen Kolonialmächten trotz der Pläne für eine »sanftere« Kolonialisierung wenig Beachtung fanden.76 Die Vorstellung, Zentralafrika wirtschaftlich auszubeuten, ohne die Kosten für die Durchdringung und Beherrschung des Territoriums tragen zu müssen, war zu verlockend.77

Erst 1904 – 20 Jahre nachdem Léopold II. den Kongo unter seine Kontrolle gebracht hatte – nahm eine breitere europäische und nordamerikanische Öffentlichkeit erstmals die unglaubliche Gewalt wahr, die sich im Kongo entfaltete. In diesem Jahr veröffentlichte das britische Außenministerium einen Bericht des im Kongo stationierten britischen Konsuls Roger Casement, der umfassend über die dort stattfindenden Misshandlungen berichtete.78 Kurze Zeit später folgten die Zeugnisse von Edmund Dean Morel, die noch größere Aufmerksamkeit fanden. Durch diese Berichte wurde der rhetorisch begabte Morel bald zur führenden Stimme einer europaweiten Pressekampagne gegen den Kongo-Freistaat.79 Morels Beschreibungen der »Kongo-Gräuel« und seine Analyse des »System Léopold« sind bis heute für die Deutung der Geschichte des Kongo-Freistaates wichtig.80

Morel hatte vor seiner journalistischen Laufbahn für jene britische Reederei gearbeitet, die einen Exklusivvertrag für die Verschiffung der kongolesischen Waren hatte. Er wusste nicht nur, welche Mengen an Kautschuk und anderen Naturprodukten von Banana und Boma in das belgische Antwerpen transportiert wurden, sondern hatte auch miterlebt, wie sich der Hafen Antwerpen innerhalb weniger Jahren von einem mittelgroßen europäischen Hafen zu einem globalen Umschlagsplatz für Kautschuk und andere Produkte entwickelt hatte und wie die Importeure immer reicher wurden. Auch andere Zeitgenossen kannten die Mechanismen der Vermehrung des großstädtischen Reichtums durch den neuen kolonialen Markt. So berichtete der Verwalter einer der größten Handelskompagnien Antwerpens, John Vander Taelen, dass die Stadt Antwerpen und die dort ansässigen Unternehmen die Ersten seien, die von der belgischen Expansion profitierten und zwar dank des Kautschukhandels, dessen Export sich von 4.700 Kilogramm im Jahre 1889 auf 5.689.000 Kilogramm im Jahre 1900 erhöht habe.81

Abb. 3: Statistik der exportierten Naturprodukte aus dem Kongo nach Belgien 1887–1911

(Quelle: Ministère de l’Intérieur: Annuaire Statistique de la Belgique et du Congo Belge, Brüssel 1912, S. 455)

Der Hochstimmung einiger europäischer Unternehmer zum Trotz, die die Politik Léopolds II. immer wieder verteidigten82, gelang es Morel zusammen mit Roger Casement, eine Kampagne gegen den Kongo-Freistaat zu lancieren, die schließlich zur Gründung der Congo Reform Association führte. Die Publikationen und Aktionen der Congo Reform Association, die bald auch politische Unterstützer fand – unter anderem den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt – sorgten schließlich dafür, dass das in der europäischen und nordamerikanischen Öffentlichkeit als philanthropisches Projekt propagierte und auch häufig als solches wahrgenommene Kongo-Unternehmen Léopolds II. Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend als humanitärer Skandal wahrgenommen wurde und weltweite Empörung auslöste.83 So berichteten die Zeitungen in New York, Delhi, Paris und London seit Oktober 1904 auf ihren Titelseiten über den »Congo Scandal«, und die »Congo Cruelties«.84 Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Affäre 1905, als eine von Léopold II. entsandte Untersuchungskommission nach fast sechsmonatiger Reise durch den Kongo zurückkehrte.85 Anders als erwartet bestätigte die Kommission die Vorwürfe der vorangegangenen Berichte. Darüber hinaus ließ der milde Ton des 1905 erstmals erschienen Berichts die Misshandlungen in einem noch schaurigeren Licht erscheinen, und Léopolds Freistaat verlor nun auch in Belgien jede Legitimation. Für den Leiter der Kommission, Félicien Cattier, der Léopold viele Jahre lang in Kolonialfragen juristisch beraten hatte, war der Grund des Scheiterns, dass der Kongo nicht an den belgischen Staat angebunden war. Im Vorwort seines Berichts gab der deshalb der Hoffnung Ausdruck, »dass die Arbeit der Untersuchungskommission dazu führen werde, das koloniale Werk belgisch werden zu lassen, denn der größte Fehler sei, dass es nicht belgisch genug sei.«86

2. Kolonisieren