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Bergsteigen klingt anstrengend, dachte Julia als kleines Mädchen: »Sollen sich andere die Füße platt laufen und in ihren durchgeschwitzten Cord-Bundhosen doof aussehen!« Doch aus dem blonden pausbäckigen Wandermuffel wird eine Extremsportlerin. 2017 meistert Julia Schultz als erste deutsche Person die Bergsteiger-Challenge »Explorers Grand Slam«. Auf eigene Faust bezwingt sie die höchsten Gipfel aller Kontinente und erreicht zu Fuß den Nord- und Südpol. Ungeschminkt und mit viel Humor erzählt die lebenslustige Allgäuerin von ihren Erlebnissen, von ihren Höhen und Tiefen und davon, wie melodiös das Abziehen von Klopapier klingen kann …
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Seitenzahl: 466
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JULIA E. SCHULTZ
In Ringelsocken aufs Dach der Welt
AUF DIE HÖCHSTEN GIPFEL ALLER KONTINENTE
Julia E. Schultz ist Deutschlands erste Explorers Grand Slammerin. Nun öffnet sie ihre Tagebücher und entführt dabei auf ihre abenteuerliche Reise. Sie zeigt, wie aus einem Bergmuffel ein leidenschaftlicher Bergfloh wird. Wie sie immer weiter, höher und sich selbst näherkommt.
Als Julia erstmals von der Bergsteiger-Challenge »Explorers Grand Slam« hört, hat sie bereits fünf der neun Ziele erreicht. Die Abenteuerlust ist sofort geweckt.
Innerhalb von 14 Jahren lernt sie alle Kontinente kennen, erklimmt deren höchste Gipfel und läuft auf Skiern den letzten Breitengrad zum Süd- und Nordpol. In Chile entkommt sie nur knapp einer Lawine, am Aconcagua frieren ihr die Zehen an. Im Himalaya erlebt sie das Jahrhundertbeben, in der Antarktis verliert sie beinah das Zelt durch einen brennenden Kocher und im Dschungel Papuas kämpft sie mit einer Riesenmaus.
Ungeschminkt und mit viel Humor erzählt die lebenslustige Allgäuerin von ihren Erlebnissen, von ihren Höhen und Tiefen und davon, wie melodiös das Abziehen von Klopapier klingen kann …
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Redaktion / Lektorat: Christine Braun
Layout/Satz: Susanne Lutz
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Susanne Lutz unter Verwendung von Fotos
© Julia E. Schultz, © Georg Bayerle, ©camihesse – stock.adobe.com und © Bruno Hufschmid
Druck: bookwise medienproduktion gmbh, München
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6328-0
Die Autorin
Impressum
Inhalt
Erste Schritte in Peru, Chile und Nepal
Peru
Chile
Nepal
Afrika: Kenia & Tansania
Summit 1: Kibo
Europa: Russland
Summit 2a: Elbrus
Von Höhenflügen und Talfahrten
Ararat, Damavand, Jakobsweg, Straße der Vulkane
Ararat (Türkei, 5.165 Meter)
Damavand (Iran, 5.671 Meter)
Jakobsweg (Spanien, 1.000 Kilometer)
Straße der Vulkane (Ecuador)
Europa: Frankreich & Italien
Summit 2b: Mont Blanc (& Gran Paradiso)
Höhentraining in (fast) heimischen Gefilden
Schweiz & Italien: Spaghetti-Tour im Monte-Rosa-Massiv
Südamerika: Argentinien
Summit 3: Aconcagua (& Llulliallaco)
Zum Scheitern verurteilt? – 7.000er in Asien
Everest North Col, Kun, Himlung Himal
Everest North Col (Tibet, 7.020 Meter)
Kun ( Indien, 7.077 Meter)
Himlung Himal (Nepal, 7.126 Meter)
Antarktis
Summit 4: Mount Vinson & Südpol
Arktis
Nordpol
Nordamerika: Alaska
Summit 5: Denali
Australien & Ozeanien: New South Wales & Westneuguinea
Summit 6a & 6b: Mount Kosciuszko & Carstensz-Pyramide
Asien: Tibet & Nepal
Summit 7: Mount Everest
Nachwort
Ein herzliches Dankeschön
Bildnachweise
Einfach mal raus und weiter weg. Nicht nur die Allgäuer Berge und Täler durchforsten. Wie wär’s mit einer Trekkingtour in Südamerika?
So fing alles an. Mir stand der Sinn überhaupt nicht nach hohen Bergen. Ich wanderte mit Freude, doch ging es mir nicht um die Höhe. Im Gegenteil: Ich schnupperte zwar gerne Bergluft, aber das Erklimmen eines Berges war eher lästige Begleiterscheinung. Den heimischen Hirschberg hochzuschnaufen, ließ mich oft fluchen; oben zu sein, war allerdings wunderschön.
Bei meinen ersten Trekkingtouren in Peru, Chile und Nepal ging es mir deshalb auch nicht ums Bergsteigen, sondern darum, Schritt für Schritt andere Landschaften zu erkunden – das fand ich extrem spannend. Und diese Touren weckten wider Erwarten die Neugier auf Höhe. Auf dem Surya Peak in Nepal, 5.000 Meter über dem Meeresspiegel, merkte ich erstmals: Das ist meins! Davon will ich mehr!
Würde ich es schaffen, weitere große Herausforderungen zu meistern?
In Peru, Chile und Nepal machte ich, ohne es zu ahnen, meine ersten Schritte auf dem Weg zum Explorers Grand Slam, einer Extrembergsteiger-Challenge, bei der es darum geht, die sieben höchsten Gipfel aller Kontinente – die Seven Summits – sowie den jeweils letzten Breitengrad zum Süd- und Nordpol zu Fuß zu erreichen.
28. März bis 19. April 2003
Es ist so weit. Das erste Mal.
Bin ich wirklich bereit? Was könnte alles passieren! Man hört so viel Spannendes, aber auch Abschreckendes. Ganz zu schweigen von dem Ungeziefer … Was ich mir alles einfangen kann! Magenverstimmung wird noch das Angenehmste sein. Was ist, wenn ich mich ernsthaft verletze? K. o. durch Zeltstange, die aus der Öse rutscht und zur Peitsche wird … Soll es alles schon gegeben haben.
Aber entschieden ist entschieden: Es geht auf große Fahrt! Trekkingtouren bringen den Wandernden Land und Leute auf einfachste Art und Weise näher. Ich bin gespannt …
Bereits das Packen zu Hause bedeutet totales Chaos in der Komfortzone und nimmt Wochen in Anspruch! Weiß ja nicht, was ich wirklich brauche und was völliger Unsinn ist – Lockenstab und Co lassen grüßen. Ich werfe alles kunterbunt ins Zimmer, von dem ich glaube, es unbedingt dabeihaben zu müssen. Auf jeden Fall ein extra Nackenkissen, meinen ein Meter großen Schnuffelteddy Bob, drei 1.000-Seiten-Romane, diverse Brettspiele für schlechtes Wetter, zu der geplanten Anzahl von Blusen noch meine zwei Lieblingsblusen, dazu eine Reservebluse und zur Reservebluse noch eine Reservebluse. Puh, ist das viel, was mach ich denn jetzt? Ach, ich nehm einfach noch meinen Trolley mit! Dank seiner Rollen lässt der sich bestimmt prima hinterherziehen …
Nein, auch nicht gut, so funktioniert das nicht!
Resigniert stopfe ich nach und nach fast alle Sachen wieder zurück in den Schrank. Was brauche ich da draußen wirklich? Haben die im peruanischen Hinterland Zahnpasta, wenn meine alle ist? Oder nehm ich doch besser zwei Tuben mit? Durchlaufe Phasen der Euphorie und Verwunderung bis hin zur Verzweiflung und Wut – vor allem auf den Verkäufer meines extra angeschafften Backpacker-Rucksackes. Er pries diesen als echtes Raumwunder! Ich will nicht akzeptieren, dass er bereits ab der Hälfte meines sowieso schon mageren Haufens streikt! Man kann doch unterwegs bestimmt nicht waschen. Also besser noch einen Schwung Ersatzschlüppis einpacken.
Irgendwann gebe ich auf und stelle ernüchtert fest: Für alles kann ich nicht gewappnet sein. Ich sehe sogar davon ab, auf dem Hinflug alles Restliche, was nicht mehr reinpasst, in Schichten übereinander anzuziehen. Soviel zum Materiellen.
Das immaterielle Gepäck ist hingegen nicht begrenzt. Gedanken kann ich einpacken, so viel ich will. Und das Karussell in meinem Kopf rotiert und produziert eine Menge. Was wird mir begegnen? Wie wird es sein, in die Fremde zu starten? Klar, ich werde unterwegs nicht allein sein, ein Kumpel von mir begleitet mich auf der Reise und bestimmt treffe ich auch den ein oder anderen Weltenbummler. Kannst einem Menschen aber auch nur bis vor die Stirn gucken. »Vertraue allein deinem Hintern, denn nur der steht wirklich hinter dir«, lese ich in der Woche vor Abflug in einer Zeitschrift. Grüble kurz. Ach, papperlapapp. Ich lass mich jetzt auf das kommende Abenteuer ein. Wird schon schiefgehen.
Von Frankfurt geht es über Caracas und Lima nach Cusco, im Süden von Peru. Ich könnte heulen vor Glück, als nach gut 30 Stunden Unterwegssein in der Morgendämmerung die Anden vor uns aus den Wolken auftauchen. Endlich!
Die Reise war bisher chaotisch verlaufen. Die riesigen Flughäfen, auf denen wir, mein Kumpel und ich, Stunden mühsam absitzen mussten, waren für uns Neu-Abenteurer ne echte Herausforderung. Auch die Sprache ist ein Riesenhindernis, und dummerweise ließen wir prompt das Spanisch-Wörterbuch im ersten Flieger liegen.
Dann der Zwischenstopp in Caracas im Norden Venezuelas: der reine Nervenkitzel. Vor der Reise hatten mir Bekannte meiner Eltern erzählt, dass es dort eingespielte Räuberbanden gebe. Unter dem Vorwand, weiterhelfen zu wollen, sprechen sie Touristen an. Während man gutgläubig ins Gespräch kommt, werden einem hinter dem Rücken die Taschen ausgeräumt. Freuten uns deshalb über die Security-Begleitung auf der Fahrt zwischen Hotel und Flughafen, mit dem Hinweis, so wenig wie möglich draußen zu erkunden. Caracas sei eine sehr gefährliche Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt, bezogen auf die Einwohnerzahl. Nach den ganzen Geschichten und Informationen war uns eh nicht mehr danach, rauszugehen, vor allem, als wir sahen, in welcher Seitengasse das im Netz so nett anmutende Hotel tatsächlich lag. Sollten wir hier einen Fuß vor die Tür setzen, würden wir vermutlich direkt im nächsten abgedunkelten Lieferwagen auf Nimmerwiedersehen verschwinden! Bis zum nächsten Morgen verbarrikadierten wir uns mit ner Tüte Chips und Dosenbier im Zimmer. Erst bei Tageslicht konnten wir über den mit der Lehne unter die Türklinke geklemmten Stuhl breit grinsen.
Das 30-Stunden-Anreise-Chaos liegt nun hinter uns, meinen wir, als wir endlich in Cusco landen. Kaum selig dem Flieger entstiegen, überfordert uns jedoch der ohrenbetäubende Lärm in der Ankunftshalle. An- wie Abreisende tauschen sich lauthals mit ihren Lieben aus. Hier fehlt jemandem das Gepäck, dort kreischen und rennen Kinder durcheinander. Hunde jagen nach Beute durch die Reisenden, und mitten im größten Tumult steht seelenruhig eine alte Frau mit ihrer Ziege am Strick und scheint auf jemanden zu warten.
Wir sind von diesen ersten Eindrücken noch völlig verdattert, als uns ein junger Taxifahrer überrumpelt. Gerade mal 1,60 Meter hoch, schnappt er sich unsere zentnerschweren Riesenrucksäcke und winkt uns wild gestikulierend, zudem für uns Unverständliches rufend, hinter sich her. Staunen uns an, nehmen die Füße in die Hand – das Kerlchen ist mitsamt unserem Gepäck schon fast am Ausgang! –, lassen uns auf die Mentalität ein und sitzen kurz drauf erleichtert in seinem Taxi. Das ist hier wohl deren Art, sich die Fahrgäste zu sichern. Man schnappe sich energisch das Gepäck der geschafften und irritierten Neuankömmlinge, lächle freundlich und locke sie so zum eigenen Gefährt.
Auf der 20-minütigen Fahrt durch das Getümmel werden wir ordentlich durchgeschaukelt. Zum einen erinnern die Straßen an besonders löchrigen Allgäuer Emmentaler und unser Gustavo muss immer wieder Autos oder Eselskarren auf der Hauptstraße ausweichen. Zum anderen ist sein Taxi ein echtes Wunder. Alles ziemlich durchgesessen, die Türgriffe sind, wenn noch nicht ganz ab, mit Paketband festgeklebt. Die Scheiben gleichen Milchglas und da, wo sie vermutlich zu trübe waren, wurden sie entfernt. Herrschaft! Würde uns Gustavo nicht immer wieder über seinen windschiefen Rückspiegel aufmunternd zunicken – ich würd mich direkt auf den nächsten Esel schwingen, komme, was wolle. Als wir in unserem Hostal an der Plaza del Armas direkt im Zentrum ankommen, entspannt sich alles schlagartig – die erste Etappe ist geschafft!
Nach einer kurzen, aber nötigen Schlummerpause starten wir in die verwinkelten Gassen der Stadt und lassen uns von der Stimmung zwischen den Häusern auffangen. Immer wieder passieren wir kleine versteckte Kirchen, aber auch große Plätze mit kathedralähnlichen Bauten. Museen aller Art versprechen ein interessantes Programm für die nächsten drei Tage. Der Plan ist, uns hier in Ruhe auf die Höhe einzustellen. Cusco, historische Hauptstadt des Inkareiches und UNESCO-Welterbestätte, liegt auf fast 3.500 Metern im Andenhochland, da wird vor allem in den ersten Tagen selbst ein Spaziergang zum Hochleistungssport.
Der Nase nach schnabulieren wir uns hier durch gerösteten Mais, kosten da ein paar lecker gewürzte und saftige Albondigas (kleine Fleischbällchen) – aber alles gut durch, bitte! Nach dem Motto »Schäl es, koch es oder vergiss es!« versuchen wir, unseren Magen in den ersten Stunden nicht zu sehr zu strapazieren.
In den nächsten Tagen locken die farbenfrohen Obst-, Gemüse- sowie Viehmärkte zwischen Cusco, Chinchero bis hoch nach Ollantaytambo. Mit einem Mietauto besuchen wir einige davon. Auf den Märkten geht es ähnlich lebendig zu wie am Flughafen, nur dass noch viel mehr Kinder und Tiere umhertollen. Die Marketender feilschen lauthals mit ihren Kunden um die Wette und wir Touristen werden selbst zur Attraktion – was Blondes wirkt hier wohl exotisch, auch wenn die Region Anziehungspunkt für viele ausländische Gäste ist. Ein paar eigene Landsleute sind ebenfalls unterwegs, wir beobachten sie schmunzelnd. Wie sie mit Kniestrümpfen in Sandalen und der Kamera vor dem Bauch baumelnd die Märkte erkunden und dabei versuchen, sich mehr oder weniger enthusiastisch auf das fremde Land einzulassen. Natürlich geht man selbst stets davon aus, ein weitaus weltoffeneres Bild abzugeben …
Ich kann mich außerdem überhaupt nicht an den eindrucksvollen Einheimischen in ihrer Landestracht (vereinzelt mit Bowler-Hut) sattsehen. Kräftige Farben ergänzen die typischen Muster und jedes Teil sieht anders aus. Die herrlich bunt gestreiften Decken, mit welchen sie ihre Kinder auf den Rücken binden, lassen mein Deko-Herz höher schlagen und gleich zu Beginn der Reise meine Taschen dicker werden.
An den Fleischständen bin ich allerdings schnell vorbei. Offen liegt und modert eine halbe Kuh ungekühlt in der prallen Sonne. Eine dicke, klebrig-glänzende Brummsummsel steuert auf mich zu. Meine Fantasie schlägt Kapriolen – wo saß die heut schon überall drauf? – und löst einen Fluchtreflex in meinen Beinen aus, direkt zurück in die Obstabteilung. Da darf und will ich gerne probieren! Wie herrlich ist es, die Zähne in die saftig-süßen Mangos, Papayas oder Guaven zu graben. Das hier ist ein Schlaraffenland! Kein Vergleich zu dem Supermarkt-Obst zu Hause, unsere lecker-saftigen Bodensee-Äpfel ausgenommen!
Satt und souvenirträchtig kehren wir zurück in die Stadt. Lachkrampf inklusive, als mein Kumpel in unserem zerknautschten stickigen Mietauto kurz die Lüftung auf Vollgas stellt und gleich darauf in einem Regen aus Kakerlaken und sonstigem Getier sitzt.
Cusco haben wir als Mittelpunkt der Peru-Reise und Ausgangsort für unsere Touren ins Umland auserkoren. Bis auf die Flüge und die Unterkunft in Cusco hatten wir nichts vom heimatlichen Allgäu aus geplant. Da erleichtert es ungemein, dass sich an den Hauptstraßen Dutzende kleine Einzimmer-Reiseagenturen reihen. Mit dem Titicacasee wollen wir beginnen, und zwar übermorgen. Und schon stehen wir vor der nächsten Herausforderung: Wie sollen wir bei diesem Überangebot an Reiseagenturen die für uns richtige finden? Statt langwierig die Aushänge zu studieren und die Preise miteinander zu vergleichen, entscheiden wir uns für eine schnellere Variante: Beim Wein bestimmt das schönste Etikett über meinen Kauf, und so wird nun die schönste Markise zum Auswahlkriterium für unser Reisebüro.
Bei Fernando buchen wir die Titicacaseetour, die eine gute Akklimatisation an die Höhe verspricht. Für den im Anschluss geplanten Trip nach Machu Picchu kann das nur von Vorteil sein. Und da uns Fernando auf Anhieb sympathisch, sein gebrochenes Englisch zudem um Welten besser als unser nicht vorhandenes Spanisch ist, entschließen wir uns, in seinem Reisebüro das komplette Inka-Paket zu buchen. Neben dem Zweitages-Trip zum See, dem viertägigen Inka-Trail, diversen Museumseintritten und Ruinenbesuchen springt sogar noch ein Cusco-Knirps inklusive Aufkleber raus – das freut das Schwabenherz. Außerdem empfiehlt er uns wärmstens einen Dschungel-Trip im Nationalpark Tambopata bei Puerto Maldonado, den wir bitte bei seinem Neffen drei Straßen weiter buchen sollen. Dieser kenne sich besser aus und man helfe sich gerne gegenseitig. La familia müsse schließlich zusammenhalten. Gesagt, getan.
Mit der Bustour nach Puno am Titicacasee wartet die nächste Herausforderung. Schon im strömenden Dauerregen unterwegs zum Busbahnhof stelle ich fest, dass meine neuen Trekkingschuhe, anders als angepriesen, nicht wasserdicht sind. Genauso wenig wie der ausgebuchte Bus. Das Wasser rinnt innen am Fenster runter und sammelt sich, scheinbar schon seit gestern, in meinem reservierten Sitz. Dolle Wurst. Doch was soll’s, bin ja eh schon nass. Also suhle ich mich im aufgeweichten Plüsch der immerhin verstellbaren Sessel. Blöd nur, dass mir die Klimaanlage dauernd in den Nacken bläst, der Busfahrer mein genervtes »Perdón! Mui frio!« aber einfach nicht hören oder verstehen will! Resigniert stöpsel ich mir die Dudelkiste an, roll mich auf dem schmatzenden Sitz zusammen und wünsch mich zusammen mit »Sting« ins Wunderland.
Die ersten fünf Stunden verbringe ich halbwegs dösend. Als wir eine Passhöhe mit knapp 4.500 Metern überwinden, machen wir endlich Halt. Mein Schädel kollabiert fast, lässt mich dafür aber den nassen Hintern vergessen. Die feuchtkalten, nebeligen sieben Grad heben die Stimmung auch nicht. Aber hurra, die Hälfte ist geschafft! Bleiben nur … noch mal fünf Stunden bis zum Ziel. Der Blick zu den nahe liegenden verschneiten Anden-Gipfeln ist allerdings einmalig!
Die Weiterfahrt versüßt uns eine zugestiegene, dank ausgiebigen Biergenusses fröhlich lärmende Truppe Engländer. Anfänglich sind sie, inklusive diverser schräger Parodien über ihre Queen, noch witzig. Als ich aber irgendwann nicht mehr unterscheiden kann, ob mein »Big Ben« im Kopf von der Höhe oder ihrem Gejohle herrührt, helfen mir »Die drei ???«. Während Peter, Bob und Justus ihre Kriminalfälle in meinen Kopfhörern lösen, entschlummere ich langsam. Der Sitz ist inzwischen auch fast trocken.
Als wir abends in Puno direkt am Titicacasee ankommen, bin ich zwar ziemlich geschafft, aber schwer beeindruckt. Der Titicacasee liegt auf über 3.800 Metern und soll 13-mal so groß wie der Bodensee sein. Unvorstellbar für mich, gilt dieser doch schon als »Meer«, als »Schwäbisches Meer«!
Puno ist bekannt für sein relativ kaltes Klima, die Durchschnittstemperaturen betragen hier zwischen 14 und 3 Grad. Mit Anfang April haben wir uns aber die beste Reisezeit für Peru ausgesucht: Der südamerikanische Winter und damit die Trockenzeit haben gerade erst begonnen. Wenn alles gut läuft, stehen uns wenig Niederschlag und viele Sonnenstunden bevor. Schlechtes Wetter wäre zwar ärgerlich, im Hotel aber ganz gut auszuhalten. Anders beim Viertagesmarsch auf dem Inka-Trail. Da kann es bitte trocken bleiben, denn unser Nachtquartier werden Zelte sein.
Der erste Morgen in Puno: Ich strecke meine Nase aus dem Fenster und atme die kühle, klare und sehr geschmackvolle Luft tief in meine Lungen. Herrlich! In der Nacht hat es geregnet und nun wirkt alles wie frisch gewaschen. Saftig grün wogt das Schilfgras und schimmernd liegt der See in der Morgensonne.Mit gepacktem Rucksack genießen wir das für Peru typische Frühstück – labbriges Maisbrot, Butter, Marmelade, Koka-Tee oder Café con leche (Milchkaffee) – und ziehen los zu den Floating Islands.
Ein kleines Motorboot bringt uns vom Festland zu den schwimmenden, teilweise miteinander verbundenen Inseln. Die Einwohner, das Volk der Uros, fertigen diese als riesige Flöße aus Schilfgras und Rohr, ähnlich wie ihre Häuser. Mit einem mulmigen Gefühl gehen wir über die weichen Grasmatten, die alle zwei Jahre erneuert werden müssen, da sie durch die Feuchtigkeit faulen. Der Gedanke an das tiefe Wasser unter unseren Füßen wird zum Glück bald vom Treiben auf dem »Dorfplatz« der Hauptinsel verscheucht. Eine Frau mahlt per Steinwalze Maiskörner zu Mehl, um daraus ihr Brot zu backen. Ein kleiner Junge steht daneben und nagt an einem Schilfstengel, was laut unserem Reiseführer der Zahnhygiene dienen soll. Scheint wirklich multifunktionell einsetzbar zu sein!
Mit dem Motorboot fahren wir weiter zur Isla de Taquile, einer größeren, natürlich entstandenen Insel mitten im Titicacasee. Muss grinsen, als wir zum Dorfplatz kommen. Sitzen hier doch tatsächlich die Männer und stricken ihre Mützen selber. Denke an Stine, meine beste Freundin aus dem Allgäu, die das auch famos gut kann. Die Jungs zu Hause finden das allerdings wenig sexy, wenn die Freundin neben ihnen sitzt und strickt.
Die Sonne kommt allmählich hinter den Wolken hervor und wir genießen eine kleine Wanderung auf der Insel. Nur an dieses äquatornahe Klima und die Kraft der Sonne sind wir Europäer nicht gewöhnt. Die Höhe hingegen scheint mir inzwischen nichts mehr auszumachen, der Kopf gibt endlich Ruhe.
Nach der kommoden Fahrt mit der Andenbahn und wieder zurück in Cusco frönen wir der traditionellen Küche. Das hier typische Meerschweinchen vom Grill lass ich aber aus Prinzip aus – erinnert mich zu sehr an Bazi, den ersten Hamster aus Kindertagen. Bisher waren wir sowieso vorsichtig, was undefinierbare Speisen angeht. Alles andere, beispielsweise die Gemüse-Reisgerichte oder die peruanisch angehauchte Pizza, riecht und schmeckt dafür ausgezeichnet, auch wenn mein Magen anderer Meinung ist und mit unschöner Langzeitwirkung zurückgrüßt. Den Besuch am See und die Zugfahrt habe ich noch gut überstanden, dafür erwischt es mich jetzt in der Stadt. Super. Dabei wollten wir uns doch für den bevorstehenden anstrengenden Viertagesmarsch auf dem Inka-Trail stärken! Hätte heute Nachmittag die Finger von den frischen Smoothies lassen sollen.
Dennoch, wir wollen unbedingt die heilige Stätte Machu Picchu sehen! Ich nehme trotz meines lautstark rebellierenden Verdauungstraktes in Kauf, dass die Etappen, angefangen bei Kilometer 82 in der Nähe von Ollantaytambo, zäh sind und wir nachts ziemlich frieren werden – ist halt Hochland! Los, Prinzesschen, auf geht’s!
Verschlafen fast am Abmarschtag und schließen uns gerade noch rechtzeitig der kleinen internationalen Gruppe mit einheimischen Guides an. Dass wir zwar inzwischen ein bisschen Spanisch verstehen, aber immer noch so gut wie keines sprechen, ist kein großes Hindernis.
Der Inka-Trail wurde einst von den Inka, den Ureinwohnern Südamerikas, angelegt. Die verschiedenen heiligen Stätten der Inka sind durch Wege und Pfade, teils im Verborgenen, teils gut sichtbar, miteinander verbunden. »Qhapac ñan« wird dieses Straßennetz genannt, das insgesamt 30.000 Kilometer lang ist und sich durch Ecuador, Peru, Bolivien, Chile und Argentinien zieht. Der viertägige Inka-Trail in Peru ist ein Streckenabschnitt des »Qhapac ñan«. Der im Laufe der Zeit von vielen Pilgerfüßen ausgetretene Pfad führt entlang der Anden durch Wälder und über Pässe bis Machu Picchu, der gut erhaltenen, im 15. Jahrhundert erbauten terrassenförmigen Ruinenstadt der Inka auf 2.430 Metern. Die Stadt liegt auf einem Bergrücken und ist bis heute über Pfade mit der damaligen Inka-Hauptstadt Cusco verbunden.
Die erste Etappe bringt uns von Kilometer 82 (der Start heißt tatsächlich so) 13 Kilometer nach Wayllabamba. Hier haben die Mitarbeiter von Fernandos Agentur die Zelte bereits aufgebaut, den obligatorischen Kokablättertee und das Abendessen zubereitet.
Und da ist der Moment: Wir haben den Trip mit Trägern gebucht. War das richtig? Ich habe bereits zu Hause kritische Stimmen zum Umgang mit Trägern auf Trekkingtouren gehört. Aber erst hier wird mir bewusst, welchen Wahnsinnsjob die Menschen leisten. Sie tragen ein enormes Gewicht, haben die Logistik perfektioniert und sind dabei selten gut ausgerüstet. Und das alles, damit wir Gäste größtmöglichen Komfort haben. Irgendwie paradox: Sie sind die Nachkommen des Volkes, deren uralte Pfade und Bauten touristisch vermarktet werden, aber nicht von ihnen. Sie machen den Knochenjob – das große Geld verdienen andere. Und auch ich nehme ihre Hilfe in Anspruch …
Die zweite Etappe zum gefürchteten »Dead Woman’s Pass« hat’s in sich. Der Pass ist mit 4.215 Metern der höchste Punkt auf dem Inka-Trail.
Ein felsiger und spärlich bewachsener, dadurch anspruchsvoller Abschnitt führt uns nach oben. Wetterumschwünge von kalt und windig über regnerisch bis hin zu glühend heiß um die Mittagszeit machen uns ordentlich zu schaffen. Lunge und Hirn gehen gefühlt nacheinander flöten und ich kann kaum mehr meinen Rucksack schleppen. Ist Nomen hier Omen? Es heißt, der Name des Passes rühre daher, dass sein Grat wie der Körper einer begrabenen Frau aussieht. Doch wer weiß … Vielleicht ließ hier wirklich schon die eine oder andere Frau ihr Leben … Will auf der Stelle nach Hause!! Wünsch mir meine Allgäuer Alpen herbei! Die heiße trockene Luft atmet sich schwer wie Sirup und kratzt gleichzeitig im Hals. Mist, hab wieder nicht genug zu trinken dabei. Egal, weiter geht’s, einfach stramm drauflos, du kannst es doch, wie oft bist du schon auf den Hirschberg hoch! Aber mein Hausberg im Allgäu ist höhentechnisch etwas ganz anderes als die Anden. Unerfahren, wie wir sind, erklimmen wir viel zu schnell die Passhöhe auf 4.215 Metern. Ergebnis? Oben am Mittagspausenplatz angekommen, begrüßen mich starke Kopfschmerzen. Da das prophylaktische stundenlange Kauen auf Koka-Blättern (worauf die Einheimischen bei Höhenanpassungsproblemen schwören) weder den Kopfschmerz vertreibt noch mich vor Hochgenuss aus der Hose hüpfen lässt, spucke ich den Brei herzhaft aus. Bin doch kein Koala … Das war das letzte Mal! Der Tee ist schon streng genug. Schmollend werfe ich einen Blick zurück ins Tal – und bin augenblicklich jeglichen Frust los!
Auf der kleinen Felsterrasse der Passhöhe fühle ich mich wie eine Opernbesucherin. In der Ferne höre ich den Fluss Urubamba rauschen, dazwischen das Plaudern und Lachen unserer Gruppe, und diese Aussicht – unbeschreiblich, man muss es selbst erleben! Mei, wie schön ist es, hier zu sein, den Pass geschafft zu haben! Stehe da und blicke hinab auf das farbenprächtige Bühnenbild der peruanischen Anden. Ein großartiger Moment!
Ob es an diesem Highlight liegt oder an der Akklimatisation, kann ich nicht sagen, doch ich fühle mich viel besser und gewöhne mich an die Gehstrecken untertags. Auch die Übernachtung im Zelt ist für mich schon gerne weich Liegende beim dritten Mal kein großes Problem mehr. In der ersten Nacht hingegen sehnte ich mich nach der Federkernmatratze von Cusco und war ständig damit beschäftigt, zwischen den kleinen Steinchen eine möglichst bequeme Mulde für meine vier Buchstaben zu finden. Einer kleinen Mutprobe gleich kommt aber noch immer, nachts raus zu müssen. Mit gefühlt 1.000 Augenpaaren gruseliger Inka-Geister im Nacken versuche ich ein geeignetes stilles Örtchen zu finden. Vermutlich liegt die überschäumende Fantasie auch nur an dem abends genossenen Chicha, dem typisch peruanischen Bier aus vergorenen Maiskörnern.
Der vierte und letzte Tag steht an und damit der Höhepunkt des Trails: Machu Picchu. Noch vor Sonnenaufgang ziehen wir um 4 Uhr los. Im morgendlichen Erwachen erreichen wir Inti Punku, das sogenannte Sonnentor. Das Steintor steht auf einer kleinen Anhöhe, die wir voller Vorfreude auf den Ausblick erklimmen. Als wir oben ankommen und durch die alte Pforte steigen, liegt sie vor uns: die heilige Stätte der Inka.Von hier aus müssen die bekannten Fotos von Machu Picchu entstanden sein, genau diese Perspektive kenne ich aus den Reiseprospekten. Den Anblick mit eigenen Augen zu genießen, ist einfach grandios! Die aufgehende Sonne taucht die blassrosa Landschaft allmählich in ein kräftiges Gelbgold und verleiht der Stätte einen magischen Glanz.
Ganz ergriffen machen wir uns an den Abstieg zu den Ruinen. Ich habe es geschafft! Alle Mühe ist vergessen und ein Kribbeln macht sich breit. Wir sind die Ersten an diesem Tag und können völlig ungestört noch vor allen anderen Ausflüglern durch die Ruinen streifen, die mich unwillkürlich in ihren Bann ziehen. Ich würde vieles dafür geben, dass uns diese alten Steine in ihre Geschichten und Geheimnisse einweihen! Fast fühle ich mich wie eine Zeitreisende, wären da nicht die feinen Markierungen der Archäologen. Man nimmt an, dass der Hang eines Tages abrutschen wird. Die Nummerierungen sollen dann helfen, die Stätte wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen.
Ehe es über Hunderte von Treppenstufen an den Abstieg ins Tal nach Aguas Calientes geht, besteigen wir noch den etwas ausgesetzten Huayna Picchu. Der Gipfel ragt auf den bekannten Fotos von Machu Picchu im Hintergrund auf. Wehmütig nehmen wir dort oben mit herrlichem Rückblick zum Inti Punku und hinunter auf Machu Picchu von diesem Abenteuer Abschied.
Der Zug schaukelt uns durchs Urubamba-Tal zurück nach Cusco.
Wir genießen die Pause in der Stadt. Auf der Plaza del Armas (diesen Platz gibt es nahezu in jeder südamerikanischen Ortschaft) zu sitzen, das Licht und die Menschen um dich herum zu genießen, entschleunigt total. Doch mit der Ruhe ist es schlagartig vorbei, als wir uns plötzlich mitten in einer Prozession für den Patrón Jurado Señor de los Temblores befinden. Weiß nicht, was er genau fabrizierte, jedenfalls wird er sehr eindrucksvoll als »Lord der Erdbeben«, eine Art Schutzpatron, verehrt. Umringt von Tausenden folkloristisch gekleideten Einheimischen sowie ein paar verirrten Touristen wie uns, wandern wir der Statue bedächtig hinterher. Auf dem Weg zur Kirche lassen wir uns von dieser besonderen Stimmung in der Stadt verzaubern. Die verzückten, teilweise entrückten Gesichter um mich herum zeigen, wie gläubig die Menschen sind.
Am Ende der Zeremonie kommt jedoch auf einmal Panik auf und die Ausgangsgassen sind zu eng für diese Menschenmassen. Wir zwei recht großen Europäer schauen ziemlich hilflos über die Köpfe hinweg nach einem Ausweg, werden aber einfach mitgeschoben und geschubst. Vor mir wird eine zierliche peruanische Omi einfach umgeworfen – und dann ist das Chaos kurzzeitig perfekt. Wir wollen helfen, können uns aber nur schwer verständigen, befinden uns unvermittelt selbst im größten Gewühl und fühlen uns verloren. Menschen fallen, auch übereinander, schreien, weinen, wollen weg und können nicht. Heule mit, bin so machtlos! Will das gar nicht glauben, aber ich hab null Chance, in der pulsierenden Menge eine selbstbestimmte Regung zu machen.
Irgendwie beruhigt es sich nach einiger Zeit aber doch, wir schaffen es, an den Rand der Menge zu gelangen, und retten uns in die nächste Spelunke. Das alkoholische Nationalgetränk Pisco fand ich bisher gar nicht so lecker, aber nach diesem Erlebnis greif ich dankbar zu, den Traubenmost kann ich jetzt gebrauchen!
Der letzte Trip steht an – die Dschungeltour. Inlandsflug nach Puerto Maldonado, ein Bus bringt uns zum Nationalpark Tambopata und im Einbaumboot erreichen wir nach zwei Stunden unsere Lodge flussaufwärts mitten im Wald. Tiere sehen wir noch keine, hören sie aber umso lauter. Es ist drückend warm, sehr feucht und die Moskitos haben ihren Spaß mit uns frisch eingetroffenen Warmblütern. Die Lodge ist dafür der Hammer. Superschöne Gästehäuser auf Stelzen mit eigener Outdoor-Dusche (das Dschungeldickicht schützt vor Nachbars Blicken) und einer Hängematte auf der Veranda. Der wildromantische Urlaubsausklang hat begonnen.
Sehe zum ersten Mal in meinem Leben eine echte Tarantel. Sie hat ihr Nest direkt unter unserer Terrasse gebaut. Kein sehr gutes Gefühl. Wir sollen die Schuhe vor dem Anziehen ausschütteln und nachts das Moskitonetz ums Bett sorgfältig zuziehen, dann würde schon nix passieren …
Als wäre das nicht genug Gruselstoff für die erste Nacht, entwickelt der Urwald zu später Stunde ein ohrenbetäubendes Eigenleben. Àla »Wer hat die Kokosnuss geklaut« toben die Affen durch den Wald, es raschelt, knackt, rüttelt, schreit, knurrt, ächzt … Und ich hab doch so Schiss im Dunkeln! Im Vergleich zu dieser Urwaldgeräuschkulisse sind die Allgäuer Kuhglocken Balsam für die Ohren! Zu Hause haben wir immer wieder Gejammer von kuhglockenlärmgeplagten Touristen … Pfff … Die sollen hier mal Urlaub machen!
Die nächsten zwei Tage gewöhnen wir uns an das Gefauche im Gebüsch, finden’s sogar spannend. Beim ersten Schmetterling geh ich allerdings aus Reflex in Deckung, denn der hat eine Spannweite von 30 Zentimetern und brummt wie ein kleiner Hubschrauber. Wir streifen in Gummistiefeln durchs Unterholz, waten durch kleine Bachläufe, die größeren überqueren wir im Einbaum und halten im trüb-braunen Wasser nach kleinen Kaimanen Ausschau. Als mir ein Salzcracker versehentlich ins Wasser fällt, brodelt die Oberfläche kurzzeitig wie in einem Whirlpool und ich finde mich in Joe Dantes Film »Piranhas« wieder! Hier wimmelt’s nur so von diesen gruseligen Viechern! Als sechs dicke Otter genüsslich auf dem Rücken paddelnd unsern Weg kreuzen, staune ich nicht schlecht über ihre Gelassenheit, wo doch im undurchsichtigen Wasser einiges geboten ist …
Im nahe gelegenen kleinen Dorf besuchen wir abschließend die riesigen Bananen- und Papaya-Plantagen. Jetzt bin ich nicht mehr zu halten. Jede mir angebotene Naschprobe ist in Nullkommanix verschlungen. Leute! Das ist wirklich Obst vom Feinsten! Das knubbelige Hausschweinchen Mercedes hat anschließend mich zum Fressen gern, denn ich klebe nur so vom süßen Saft der Früchte. Es weicht mir gar nicht mehr von der Seite, am liebsten würde ich es mitnehmen. Ich belasse es aber bei ein paar süßen Früchtchen. Die passen wesentlich besser in den Rucksack und geben weniger Diskussion mit meinem Kumpel …
Viel zu schnell, dafür mit unzähligen Erlebnissen im Sinn, kommt der letzte Abend. In unserer Lodge leuchten überall Kerzen und gemütliche Kissen laden zum Verweilen ein. Ich erwische mich beim wehmütigen Gedanken, einfach hierzubleiben.
Aber: Nach dem Abenteuer heißt vor dem Abenteuer! Meine Reiseleidenschaft ist geweckt und so tollpatschig, wie zunächst gedacht, habe ich mich gar nicht angestellt. Während der Vollmond durchs hohe Blätterdach linst, hänge ich bereits meinen Träumen und Ideen für neue Ziele nach. Hab vor Kurzem gehört, Feuerland soll ganz schön sein …
Orte
Lima, Cusco, Titicacasee, Machu Picchu, Puerto Maldonado
Highlights
Floating Islands; »Dead Woman’s Pass«; Blick vom Inti Punku auf Machu Picchu; Riesenschmetterling und Piranhas im Dschungel des Nationalparks Tambopata
Zahlen
23 Tage – 2.000 Aufwärts-Höhenmeter, 75 Kilometer zu Fuß, 1.100 Kilometer per Bus & Bahn
Herausforderungen
das erste Mal Urlaub in der Ferne, fast alleine; fremde Sprache, Küche, Sitten und Gebräuche; draußen schlafen; Zelt-Eskapaden; Krabbelviecher; Massenpanik auf Peruanisch
Doping
2 Großpackungen Kopfschmerztabletten, 23 Blasenpflaster, 1 Kilogramm Kokablätter als Tee oder zum Kauen (soll die Höhenanpassung positiv beeinflussen – half nix, schmeckte mies), ab der zweiten Woche täglich mehrere Schoko-Erdnuss-Riegel (soll den Dauerdurchfall stopfen – stopfte nix, schmeckte dafür richtig gut)
10. bis 28. September 2004
Wie die Zeit vergeht … Peru liegt bereits 1,5 Jahre zurück. Beruflich habe ich in der Zwischenzeit Vollgas gegeben und schaffe in einem Hotel am Tegernsee den Sprung von der Rezeptionistin zur Eventmanagerin. Immer öfter denke ich in letzter Zeit an die vergangene Tour, merke, wie mir die Ausflüge in die Allgäuer Alpen nicht mehr ausreichen und mich das Fernweh und Reisefieber packt. Als mir beim Ausmisten der große Trekkingrucksack in die Hände fällt, werte ich das als Zeichen des Universums. Die Abenteuerhummeln in meinem Hintern brummen zustimmend und so ist’s rasch entschieden: Schultzi, Siebensachen packen!
Kurz darauf sitze ich im Flieger über Buenos Aires und Santiago de Chile nach Punta Arenas am Südzipfel Chiles. Wieder mit dabei: mein Peru-Kumpel. Ich grinse ihn an, während Freunde und Familie in meinen Ohren nachklingen: »Ihr spinnts doch, das ist doch kein Urlaub! Da brauchst ja Erholungsurlaub nach dem Urlaub! Könnts nicht mal was Normales machen, wie jeder andere auch?!« Nein, können wir nicht. Und viel entscheidender: Wollen wir auch gar nicht. Unser Vorhaben: eine sechstägige Trekkingtour durch den berühmtesten Nationalpark Chiles, Torres del Paine, ein Ausflug in den Nationalpark Los Glaciares zum Gletscher Perito Moreno und eine kurze Feuerlandexpedition per Mietauto.
Nach Ankunft im abendlichen Punta Arenas bleibt nicht viel Zeit, denn bereits morgen früh wollen wir weiter. Allerdings haben wir für diese bunte südpatagonische Stadt am windigen Ufer der Magellanstraße ein paar Tage am Ende dieser Reise aufgehoben.
Es geht los. Nach dem ausgezeichneten Frühstück in unserem kleinen Hostal schultern wir unser Gepäck und wandern durch das noch verschlafene, dafür taufrische Städtchen zum Busterminal. Peru hat uns gelehrt, nicht zu viel mitzunehmen, insofern sind die Rucksäcke diesmal bequemer zu tragen. Per Bus fahren wir 250 Kilometer ins nördlichere Puerto Natales, dem Tor zum Nationalpark Torres del Paine und Startpunkt für unser Trekking.
Die Busse hier sind super! Kein Vergleich zu dem Vintage-Ding in Peru. Chile scheint generell fortschrittlicher zu sein, was für unsere Reise zwar von Vorteil, für die Erfahrung aber schade ist. Das bunte wuselige Treiben und der Eindruck einer anderen Kultur fehlen. Hier habe ich das Gefühl, gar nicht so weit weg von zu Hause zu sein. Alles läuft auf den ersten Blick geregelt. Bis jetzt auch keine landestypischen Trachten oder Gebräuche, die Speisen wie in Amerika, also sehr fastfoodlastig. Aber hey, sind ja erst angekommen.
Während der vier Stunden Fahrt verliert sich die Sonne in einem dicken Wolkenband und taucht die Umgebung in ein unfreundliches Licht. Davon haben wir gehört. In Chile könne das Wetter binnen Minuten umschlagen, es sei generell sehr windig und das Licht sehr speziell. Ich mag diese fast schon gespenstische Stimmung in Natales.Unsere behaglich erleuchtete Unterkunft mit ihrer Hausherrin steht in einem krassen Kontrast zu dem Blassgrau der Umgebung. Cecilia erweckt mit ihren gemütlichen Rundungen, den strahlend roten Wangen und ihrem herzlichen Wesen die Assoziation einer Vollblut-Omi, die nach unserer Ankunft das Strick- oder Häkelwerk wieder aufnehmen wird. Tatsächlich ist das ganze Haus dekoriert mit kleinen bunten Häkel- sowie Webdeckchen und der Clou: Auf unseren Betten liegen gestrickte Ringelsocken aus Alpaka-Wolle für die Nacht bereit, die wir sogar behalten dürfen! Packen kurz aus und starten zum Proviantkauf in die Stadt. Die nächsten sechs Tage werden wir unter freiem Himmel verbringen, nahezu auf uns selbst gestellt. Da wäre es fatal, wenn die Motivations-Schoki für eine schwierige Etappe fehlt! Pffff … Noch ahne ich nicht, dass mir die Schoki bald reichlich egal sein wird … Und ich Depp mach mich noch über die solarbetriebene Heizdecke lustig!
Ob wir einen verhungerten Eindruck auf Cecilia machen? Gut möglich, bei dem Frühstück, das sie für uns auffährt. Von ihrem krossen selbst gebackenen Brot werde ich die nächsten Tage noch träumen.
Ein Bus bringt uns und ein paar andere Vorsaisonler zum 130 Kilometer entfernten Eingang des 2.420 Quadratkilometer großen Nationalparks Torres del Paine. Wir sind schon sehr gespannt auf die Gletscher, auf die blau leuchtenden Eisberge, vor allem aber auf die bizarren Felstürme. Die Fahrt durch die wilde, raue »Pampa«, die Grassteppe Südamerikas, macht mich ganz hibbelig. Bin heiß aufs Loslaufen! Endlich bewegen und vor allem: endlich raus und die Gegend rund um die Berge, Gletscher, Fjorde und Seen erkunden! Und natürlich Guanakos sehen, die hier wild lebende Kamelart.
Ein Schild markiert den Beginn des Nationalparks.Kaum dem Bus entstiegen, werden wir schon von einem Guanako begrüßt, das zufällig unseren Weg kreuzt. Ich fröstle, was nicht nur an der Aufregung, sondern auch an der kühlen Temperatur liegt. Von den zwei großen Wanderwegen im Park – dem »O-Trek«, der mit 130 Kilometern den Park einmal komplett umrundet, und dem »W-Trek«, der sich 100 Kilometer durch den unteren Teil und in die Täler zieht – haben wir uns für Letzteren entschieden. Nach der Anmeldung beim Ranger machen wir uns startklar. Der Blick in den Himmel zeigt dicke Wolken, drum Regenjacke überstülpen, Rucksack positionieren, »high five« mit meinem Kumpel und los geht’s.
Erstes Ziel: Lago Pehóe. Diese etwa zweistündige Etappe durch eine tolle Landschaft auf ebenem Weg ist zum Einstimmen perfekt!Fühle mich wie in einem Steinzeit-Roman (natürlich besser gekleidet!) und erwarte beinahe, dass uns durch die Steppe ein Mammut entgegenkommt. Die Luft ist herrlich klar, die Konturen der Umgebung, vor allem der nadelförmigen Granitgipfel, sind stechend scharf. Mit diesem Anblick beziehen wir euphorisch den leeren Campingplatz. Zeltaufbau und anschließendes Kochen werden allerdings zur Herausforderung des Tages. Welches Gestänge kommt noch mal wo rein? Mist, das hat doch zu Hause im Wohnzimmer super geklappt! Und wie, zum Kuckuck, funktioniert dieser Camping-Kocher? Den haben wir in Natales erworben, weil Gaskocher nicht mit in den Flieger dürfen. Und prompt liegt die Gebrauchsanweisung nur auf Spanisch bei! Irgendwann gelingt uns doch noch eine ganz passable Pasta mit Tomatensauce. Nachdem uns zu guter Letzt auch der Zeltaufbau glückt, fühlen wir uns wie große Helden.
Kalte Nacht, trotzdem ganz gut geschlafen. Zum Sonnenaufgang raus und mit nem Müsliriegel im Bauch Start zum drei Stunden entfernten Grey-Gletscher. Herrschaft, der erste Tag sitzt uns gehörig in den Knochen. Das heroische Gefühl vom Vorabend ist der Realität gewichen: Das Knie meines Kumpels schmerzt, und mir beziehungsweise meiner Hüfte geht der Rucksack gehörig auf den Keks.
Ich gebe zu: Daheim im Allgäu fühl ich mich mit meinem kleinen Hüft-Getränkehalter auf dem Weg zum Hirschberg jedes Mal wie eine durchtrainierte Outdoor-Heldin. Hier draußen, mit dem Klotz am Rücken, sinkt dieses Gefühl tief unter die Marke »abenteuerlustiges Bergmädel«, weit entfernt vom Extrembergsteigen! Auf dem Boden der Tatsachen liegt nun mal nicht viel Glitter, aber was soll’s – allein der Anblick der fantastischen Berge, die hier bis knapp 3.000 Meter hoch sind, lässt mein Herz wieder höher schlagen. Los, Prinzesschen, beiß die Zähne zusammen und setz einen Fuß vor den anderen.
Wege durch die freie Steppe wechseln sich mit Pfaden durch verwunschene Wälder ab. Knorrige Äste zupfen immer wieder an mir und das Blätterdickicht macht’s spannend, ob wir noch auf der richtigen Spur sind. Hören immer wieder Spechte klopfen. Ein zutraulicher Meister Reineke begleitet uns ein Stück. Grund dafür ist vermutlich die am Rucksack meines Kumpels baumelnde Salami.Am Nachmittag erreichen wir geschafft unseren nächsten Zeltplatz und spazieren noch zum Grey-Gletscher hoch.
Dauerregen weckt uns heute Morgen. Bauen alles schnell ab und machen uns auf den Weg Richtung Valle del Francés. Bald sind wir völlig durchnässt. Klamotten samt Rucksack kleben wie eine zweite Haut an uns und der Untergrund weicht immer mehr auf. Klar, das Wetter hier ist unberechenbar, aber, liebe Leut, so haben wir nicht gewettet!Als mein Kumpel seinen Schuh fast nicht mehr aus einem Matschloch herausbekommt und ich mir das Grinsen leider nicht verkneifen kann, ist zumindest seine gute Laune für heute passé. Jeder zweite seiner Schritte gibt ein fröhlich gurgelndes Schmatzen von sich. Klingt, als würde man eine reife Orange auspressen … Boah, das wär’s jetzt: eine Orange! Ich fange an zu halluzinieren … Und das bereits an Tag drei! Was würde ich für reifes Obst geben! Oder für ne Tasse heißen Punsch! Kann ich wenigstens einen Tee haben? Nein? Liebes Universum, was ist denn los mit dir? Schließlich hast du mir das hier eingebrockt!
Bevor wir uns völlig in die Haare bekommen, lassen wir ausreichend Abstand zwischen uns, stapfen stur geradeaus, das Campo Italiano kann nicht mehr weit sein. Nass und duster taucht es dann mitten im Wald auf.Wenigstens sind wir nicht allein, ein Zelt steht bereits. Doch die Hoffnung auf nette Konversation und damit einen kurzweiligen Abend schwindet, als ein ziemlich abenteuerlicher, zugewucherter Typ aus dem Zelt krabbelt und flugs nach seinen nassen Unterhosen an der Leine greift. Er hat wohl genauso wenig mit Gesellschaft gerechnet wie wir.
Dennoch, die Natur ist einmalig. Ans raue und windige Klima angepasst, sind die Büsche und Bäume viel geduckter und mit kleineren Blättern versehen als zu Hause. Es riecht würzig, vermutlich nach den überall wachsenden Wildkräutern, und das ein oder andere Strauchwerk trägt sogar kleine Blüten.
Nach einer bitterkalten Nacht machen wir uns mit immer noch nasser Kleidung wieder auf den Weg. Der Waldschrat ist indes spurlos verschwunden. Wandern an einem Fluss das kleine Tal Richtung Campo Britanico entlang, links und rechts die Berge zum Greifen nahe. Aus Regen wird Schnee, aber hey, bei schönem Wetter kann’s ja jeder!
Wir wollen zum Aussichtspunkt hoch und die drei nadelartigen Granitberge Torres del Paine, nach denen der Park benannt ist, aus der Ferne bewundern. Der immer dichter fallende Pappschnee erschwert jeden Schritt, die Sicht ist bald gleich null. Trotz großer Entschlossenheit, dem zu trotzen, beschließen wir, den Aussichtspunkt auszulassen und gleich weiter zur nächsten Schlafstelle zu wandern. Moment, werfe ich ein, warum nicht erst mal rasten? Dem Einwurf folgt eine kurze Diskussion, doch dann sitzen wir in einer kleinen Felsspalte, vor Schnee gut geschützt. Knabbern an ein paar trockenen Keksen, als am gegenüberliegenden Hang ein Getöse losbricht. Es rumort und donnert gewaltig über unseren Köpfen … Jedoch komischerweise auch unter unseren Füßen … Zu neugierig für diese Welt, kann ich’s nicht lassen. Will nur kurz schauen, was da draußen los ist. Kauend spaziere ich um den Fels herum – und ende in einem außerordentlichen Kekskrümel-Hustenanfall. Eine gigantische, sich immer weiter aufbäumende Lawine steuert rasend schnell auf uns zu!
Es dauert alles nur Sekunden, fühlt sich aber an wie eine halbe Ewigkeit! Ich schrei: »Jessas, was kommt denn da!« Jetzt loszurennen wäre idiotisch. Selbst wenn uns die Lawine nicht direkt erwischt – die Druckwelle würde uns definitiv umhauen. Meine Reaktionszeit reicht noch für ein Foto und ich hechte zurück in den Felsspalt. Pressen uns mit dem Rücken tief hinein, ziehen unsere Rucksäcke als Schutz vor den Körper und schon fegt eine weiße Wand wie ein D-Zug an uns vorbei! Ein starker Sog zieht an unseren Sachen und macht das Atmen für kurze Zeit schwer! Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf: Kommen wir hier wieder raus? War’s das jetzt? Wann wird es vorüber sein? Wird’s schnell gehen? Mensch, ich hab für November den Yoga-Kurs bereits bezahlt!
Und wupp – ist es auch schon vorbei. Es folgt eine gespenstische Stille. Nach ein paar Augenblicken wagen wir uns vor den Fels und staunen über die dicke Schneedecke auf dem kompletten Geröllfeld. Was für ein irre schräges Erlebnis! Als wir realisieren, was für ein verdammtes Riesenglück wir hatten, schüttelt mich ein herrlich befreiender Lachkrampf, der die Panik in mir vertreibt. Dem Gesicht meines Kumpels nach zu urteilen, ist er auch erleichtert, offensichtlich aber hin und her gerissen, ob er mit mir lachen oder mir doch lieber eine reinhauen soll. Auf die Pause hier oben hab nämlich ich bestanden …
Mit butterweichen Knien machen wir uns jetzt entschieden an den Abstieg. Das nach den zwei wie Hörner aussehenden Bergen benannte Refugio Los Cuernos ist nicht mehr weit. Als wir am Zeltplatz ankommen, hebt sich die Laune. Er ist einigermaßen trocken und freundlich. Müssen grinsen. Der Waldschrat von vorgestern hat es auch bis hierher geschafft und siehe da, beim gemeinsamen Kochen entpuppt sich Pablo als ganz geselliger Zeitgenosse.
In der Nacht beginnt es wieder zu regnen und der permanente Wind legt auf einmal Sturmgeschwindigkeiten hin! Das Zelt gibt sein Bestes, dennoch ist bei dem ohrenbetäubenden Lärm kaum mehr an Schlaf zu denken. Sind nach dem Frühstück unschlüssig, ob wir aufbrechen sollen. Tun es dann doch und landen kurz darauf im wilden Schneetreiben, durch das wir uns die nächsten Stunden tapfer kämpfen. Erreichen durchgefroren und unter der angegebenen Zeit das Refugio El Chileno. Mein Kumpel hat inzwischen ausgewachsene Knieprobleme, und den Spaß an der Tour müssen wir beide suchen. Mal wieder ist der Zeltplatz nass und bereits tagsüber bitterkalt. Spontan behaupten wir, den Ehrgeiz, alle Nächte im Zelt zuzubringen, nie gehabt zu haben und beziehen zur Feier der letzten Nacht auf dem »W-Trek« Matratzen im Massenlager. Im gewohnt durchweichten, inzwischen auch leicht muffigen Schlafsack träume ich von Cecilias flauschiger Bettwäsche und freue mich über ihre herrlich warmen Ringelsocken an meinen Füßen.
Der Wintereinbruch ist in vollem Gange und so kommen wir am nächsten Tag in der eigentlich schönen Schneelandschaft nur noch eine Stunde in Richtung der Torres hoch. Danach ist die Sicht nicht mehr vorhanden, der Weg dick verschneit und unpassierbar. Okay, das war’s. Heute keine Torres, unser »W-Trek« hiermit beendet. Wir machen uns an den Abstieg. Kaum am Refugio vorbei, wird das Wetter immer besser, der Himmel klart stellenweise auf und die Sonne blinzelt sogar durch.Vor uns muss hier schon jemand gewandert sein, denn die Spur ist gut. Wir kommen rasch voran, überqueren bald die Brücke »zurück in die Zivilisation« und unsere Namen werden im Buch der Rangerstation grün abgestempelt.
Als Cecilia uns am Abend freudig willkommen heißt, merke ich, dass sich für mich das flauschige Bett samt eigenem Badezimmer nach einer gewissen Zeit in freier Natur anfühlt wie der Himmel auf Erden. Mehr braucht’s nicht, um sich geborgen und wie zu Hause zu fühlen.
Nach der erholsamen Nacht bei Cecilia geht es von Natales in Chile 280 Kilometer per Bus nach El Calafate im argentinischen Teil Patagoniens. Der irre große Perito-Moreno-Gletscher im Nationalpark Los Glaciares, Weltnaturerbe seit 1981, zieht wie so viele Touristen auch uns magnetisch an. Direkt an der Bushaltestelle laufen wir Pablo zum dritten Mal in die Arme. Begrüßen uns wie alte Freunde, er hat die gleiche Tour vor und inzwischen sogar eine nette Schweizerin im Schlepptau. Grinsend kommen mir kurz seine sehr ausgefallenen Schlüpfer in den Sinn.
Bin von der langen Fahrt noch ein wenig steif. Die leicht rutschigen und ziemlich ausgetretenen Holzstufen der Treppe zum Ufer des Lago Argentino sind deshalb eine Wohltat. Die Luft ist klar, feucht, kalt, frisch und rein. Ich rieche das Eis bereits! Leider gibt das trübe Grau am Horizont die Sicht zum Hauptgipfel des Fitz Roy nicht frei, der zweiten großen Attraktion im Nationalpark. Umso prächtiger schimmert die türkisblaue Gletscherzunge im Lago Argentino zu unseren Füßen.Der Perito Moreno gehört zum größten Gletschergebiet der Anden und ist etwas ganz Besonderes, denn anders als die meisten seiner Eisbrüder zieht er sich nicht zurück, sondern scheint dem Klimawandel stur zu trotzen! Doch still und starr ruht das Eis hier nicht, im Gegenteil: Brausend und tosend kalben teilweise ganze Seitenwände ins Wasser. Steht man zu dicht, belohnt eine seeehr frische Gischtwolke.
Während ich mit offenem Mund dem Spektakel folge, klappt mein Kumpel meine Kinnlade wieder hoch und erinnert mich an die Abfahrt. Bildgeladen tapse ich hinter ihm her.
Mit Café del Mar im Ohr und einem Haufen Empanadas auf dem Schoß geht’s zurück nach Punta Arenas. Die superleckeren gefüllten Teigtaschen gleichen einer Schachtel salziger Pralinen. Ohne Vorahnung hat man entweder Huhn, Rind, Gemüse, Thunfisch oder Schinken und Käse auf der Zunge.
Die letzte Etappe unserer Reise steht an: die Feuerlandtour. Mit unserem roten Mietflitzer fahren wir nach Porvenir, der größten chilenischen Siedlung auf Feuerland mit knapp 5.000 Einwohnern. Bis zum Fähranleger ist kaum jemand auf den Straßen unterwegs, abgesehen von ein paar Gauchos, die Nachkommen ehemaliger Einwanderer und nun hiesige Viehzüchter.
Auf der Fahrt mit der Fähre über die wild-wellige Magellanstraße – die Meerenge zwischen Festland und der Inselgruppe Feuerland – schaukelt der Lkw neben uns abenteuerlich hin und her und ich muss meinen Mageninhalt festhalten. Die Empanadas von gestern wollen heute unbedingt fliegen lernen.
Wir passieren kleine Geisterstädte. Es scheint, als hätten die Leute auf einen Schlag alles stehen und liegen gelassen. Die alte Wollfabrik ist gruselig und spannend zugleich und meine Fantasie malt sich die wildesten Geschichten aus. Wäre jedenfalls eine perfekte Filmkulisse für Lucky Luke.
Der Blick über die Weiten dieses Landes entspannt nicht nur das Auge – ich spüre eine tiefe Ruhe und Zufriedenheit in mir. Als abends auf dem Weg zur Herberge der Himmel über uns auf einmal wie in Flammen steht, ist uns klar, wie die Inselgruppe zu ihrem Namen kam. Die Farben des Sonnenuntergangs sind einfach einzigartig.
Am nächsten Tag jagen wir unser Flitzerle die Calle Esmeralda ins Hinterland hinein. Vorher haben wir ordentlich Wasserkanister und Proviant zugeladen, denn laut unserem Gastgeber in der Herberge können bei einer Panne mehrere Tage vergehen, bis jemand zu Hilfe kommt. Zunächst geht’s einige Zeit am Strand entlang, ehe wir ins Landesinnere abbiegen. Mitten im Nirgendwo steht immer wieder ein Hof und wirkt wie eine grüne Insel im ewig weiten Sandmeer. Nicht weit davon entfernt kleine Gräber. Unterwegs selten was Lebendiges, dafür oftmals stille Andenken.
Zwei Tage später nehmen wir Abschied von Punta Arenas und Südamerika. Für immer, davon bin ich überzeugt.
Im Flugzeug staune ich über den prächtigen Aconcagua in meinem Fenster. Mein Kumpel erzählt von zwei Arbeitskollegen, die eine Besteigung des höchsten Berges auf dem amerikanischen Doppelkontinent versucht haben, aber leider gescheitert sind. Drücke meine Nase wieder zurück ans Fenster, fixiere den scharfen Grat über der steilen Südwand des Berges und denke mir: Irre! Das sind sicher Ausnahmebergsteiger! Ein Normalo wie ich schafft das nie im Leben!
Hätte mir zu diesem Zeitpunkt jemand gesagt, dass ich neun Jahre später mit exakt diesem Vorhaben auf dem Weg nach Argentinien sein werde und elf Jahre später Punta Arenas Ausgangsort für meine Expedition in die Antarktis sein wird … ich hätte ihn für komplett verrückt erklärt!
Orte
Patagonien und Feuerland – Punta Arenas, Puerto Natales, Nationalpark Torres del Paine, El Calafate (Argentinien), Porvenir
Highlights
Herberge in Puerto Natales; Grey-Gletscher; Perito-Moreno-Gletscher; Abendhimmel auf Feuerland
Zahlen
18 Tage – 1.500 Aufwärts-Höhenmeter, 80 Kilometer zu Fuß, knapp 1.500 Kilometer per Bus, Auto und Fähre
Herausforderungen
gefühlt 20.000 Frostbeulen; Lawinen-Erlebnis; mich eigenständig im Land zurechtzufinden; die Abgeschiedenheit, in der man sich zwischendurch gehörig auf den Keks geht
Doping
Allgäuer Enzian im mitgebrachten Flachmann vertreibt die Kälte im Schlafsack.
4. bis 20. Oktober 2006
Mein Vater bekommt 2005 von Freunden einen Gutschein für eine Trekkingtour mit einem renommierten Allgäuer Bergschulbüro zum Geburtstag geschenkt. Das aktuelle Programmheft liegt bei. Die Idee findet er bärig, meint jedoch: »Juli, das mit der Zeltübernachtung … Ich glaub, aus dem Alter bin ich inzwischen raus, das ist nix mehr für mich. Aber schau du doch mal, die bieten tolle Sachen an!« Das finde ich dann bärig, vor allem das Nepaltrekking – aber mein Chef leider nicht. Pack ich das Ding eben vorerst in die Schublade. Das Nepaltrekking will ich mir die Tage trotzdem noch genauer anschauen …
Aus den Tagen werden Monate, genauer: ein Dreivierteljahr. Im Job gibt mein superg’scheiter Kollege seit Wochen verbales Vollgas! Zu nem verkorksten Techtelmechtel könnte ich außerdem auch Abstand gebrauchen … Boah, was mach ich nur? … Ach ja … Wo hab ich den Prospekt nur hingepackt? Ein Griff in meine Das-möchte-ich-unbedingt-mal-machen-Schublade, Programmheft beim Eselsohr aufgeschlagen, einen Blick auf die Bilder des Nepaltrekkings geworfen – und schon beginne ich zu packen.
Kurz darauf sitze ich morgens um halb sechs mit Udo, dem Gründer der Bergschule, im Zug nach Frankfurt, von wo aus wir mit den restlichen neun Teilnehmern nach Kathmandu starten werden. Udo zieht sich kurz nach Abfahrt bereits die erste Prise Schnupftabak rein und ich denk nur: Das kann ja heiter werden! Echte Bergsteiger sind scheinbar besondere Typen. Hoffe, ich bin hier richtig. Sitze mit einem nahezu Fremden im Zug, um noch mehr Fremde abzuholen und mit ihnen in gänzlich fremdes Gebiet zu reisen … Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Werde ich mit denen klarkommen? Werden die mich mögen? Hoffentlich gehe ich nicht verloren! Jessas, was mach ich eigentlich hier? Hätten die Jungs meinem Dad nicht einfach nen Tischkicker schenken können?
Aber Udo ist ein Klassetyp! Fangen direkt an zu quatschen und nach und nach fasse ich Zutrauen. Ich freu mich mega auf die Tour! Still und heimlich bin ich sogar ein klein wenig stolz, dass ich das tatsächlich und vor allem alleine durchziehe, und schlafe über meiner kleinen Selbstbeweihräucherung selig ein.
In Frankfurt warten die anderen bereits am verabredeten Treffpunkt. Nach dem Einchecken bleibt noch etwas Zeit für ein erstes Kennenlernen in der nächsten Cafeteria.
Das Ehepaar Rudi und Gisela reist mit Giselas Schwester Tilde, sie alle sind knappe 70, kommen aus dem Erzgebirge und machen jedes Jahr eine Tour zusammen.
Günther aus Frankfurt und sein Sohn Mathias (etwa in meinem Alter) freuen sich riesig auf ihren Männerausflug.
Bernd, ruhig und Mitte 60, ebenfalls aus Hessen, reist am liebsten alleine.
Heinz, 78-jähriger Witwer aus Norddeutschland, wohnt in England und ist ansonsten Weltenbummler.
Isa, Mittfünfzigerin aus Niederbayern, hat eine kaum übersehbare Yoga- und Nepalleidenschaft. Ihre bunten Pluderhosen werden sich während der Reise an Musterkombinationen noch selbst überbieten.
Fritz, Ende 40, aus dem Stuttgarter Raum, sucht gerne das Abenteuer.
Und dann wir zwei Allgäuer: Udo, der die Tour leitet, und ich, Mitte 20. Ich … Ja, warum bin ich eigentlich dabei?
»Auf jeden Fall, weil mich Nepal wahnsinnig reizt und ich das Land kennenlernen will«, strahlt es mir aus den Augen. Aber tief im Inneren weiß ich, dass ich mir auch selbst etwas beweisen will. Und dass mich kleine Zweifel quälen, ob mich die Gruppe mögen wird, ob ich die Tour körperlich schaffen werde. Davon sag ich aber lieber nix …
Die Grübelei findet ein schnelles Ende, denn wir müssen los.
Kurz darauf hebt der Flieger Richtung Bahrain ab. Dort überfordert mich wieder einmal der Flughafen! Er ist riesig und vollgestopft mit Menschen aus allen Nationen. Eine echte Herausforderung für mich Landei. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, gleichzeitig habe ich alle Mühe, in dem Gedränge meiner Gruppe zum Weiterflug nach Kathmandu hinterherzukommen. »Heiiii! Wartet auf mich!« Bin ich froh, dass sie da sind. Obwohl ich sie noch gar nicht wirklich kenne, fühlt sich ihre Anwesenheit tröstlich an in dieser für mich völlig fremden Welt.
Und dann sehen wir sie! Im Landeanflug auf Kathmandu. Die Bergkette des Himalaya mit ihren 7- und 8.000ern. Ich hab Gänsehaut … Ist das irre! Als dann allerdings die Aussicht auf die Stadt frei wird, ziehe ich spontan die Füße ein. Wir kacheln so knapp über die Häuser hinweg, dass ich die Leute auf ihren Dachterrassen sitzen sehen kann!
Am kleinen Flughafen gibt mir das ähnlich kunterbunt-lautstarke Durcheinander wie damals in Peru fast ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens, und als uns Lhakpa, Udos Mitarbeiter vor Ort, die intensiv duftende und leuchtend orange Blumenkette zur Begrüßung umhängt, bin ich selig. Wir sind da und es geht los! Der Bus ist schnell mit Mensch und Gepäck beladen, wir starten nach Downtown und – bekommen einen Kulturschock.Überall liegt Müll. Dazwischen Kinder, Hunde oder die heiligen Kühe, die nach etwas Fressbarem suchen. Unvorstellbar in dem aufgeräumten, ordnungsliebenden Deutschland. Auch der Verkehr – ein einziges Chaos für mich.Fahrräder tänzeln um Fußgänger. Rikschas um Fahrräder und Autos oder Busse. Diese wiederum um Lkw, Rikschas und Fußgänger … Leute, mir wird schwindlig, das erinnert an einen gewaltigen Walzer! Aber es scheint zu funktionieren. Während der 40-minütigen Fahrt zum Hotel sehen wir keinen einzigen Unfall.
Beziehen unser Quartier im Herzen der Stadt und tauschen die langen Hosen gegen kurze. Vom Fenster blicke ich direkt auf die Skyline und den Nachbarn in ihre Dachgärten.
Die nächsten zwei Tage widmen wir einer UNESCO-Weltkulturerbe-Erkundungstour in und um Kathmandu.
Erste Station: der Stupa, ein Bau zur Verehrung Buddhas, in Bodnath, einem Vorort im Nordosten von Kathmandu und seit Jahrhunderten eines der bedeutendsten Ziele buddhistischer Pilger aus den umliegenden Himalaya-Regionen. Schon von Weitem erspähen uns die aufgemalten Augen durch die Häuserreihen, und mit Hunderten von Menschen umrunden wir den Stupa auf tibetisch-buddhistische Art im Uhrzeigersinn.