(IN)STABIL - Jennifer Hauff - E-Book

(IN)STABIL E-Book

Jennifer Hauff

0,0

Beschreibung

TRAUST DU DEINEM VERSTAND? Pfleger Philipp glaubt nicht, dass die neue Patientin Sophia eine Straftäterin ist. Ihre Akten sind unvollständig. Womöglich sitzt sie zu Unrecht in der forensischen Psychiatrie. Bevor sie verurteilt und jahrelang eingesperrt werden kann, versucht Philipp, hinter den Grund für Sophias Einlieferung zu kommen. Doch mit seiner Recherche bringt er nicht nur sich selbst in Lebensgefahr. Nach und nach geraten alle Menschen, die ihm wichtig sind, ins Visier einer skrupellosen Unternehmung, die mit Menschenleben und dem medizinischen Fortschritt spielt. In Jennifer Hauffs neuem Thriller "(IN)STABIL" ist nichts so, wie es scheint. Ein perfides Spiel um Ängste und Wahnsinn sorgt für Gänsehaut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 433

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Handlung und die Figuren in diesem Roman sind fiktiv.

eISBN 978-3-948987-26-8

Copyright © 2021 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Mascha Vassena

Bildrechte: © STYLEPICS/ depositphotos.com + Gladkov/ depositphotos.com

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Bücher: www.mainbook.de

Jennifer Hauff

(IN)STABIL

Zwischen Angst und Wahn

Thriller

Inhalt

Die Autorin

Das Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Jennifer Hauff wurde 1984 in Frankfurt am Main geboren und lebt heute noch in der Stadt. Die gelernte Hotelkauffrau arbeitet als Front Desk Manager bei einer Fluggesellschaft und studiert Germanistik an der Goethe-Universität.

Nach ihren beiden Jugendbüchern „Herzverwandt“ und „Traumstimmen“ (beide Schwarzkopf & Schwarzkopf) ist 2020 bei mainbook der LGBTQI-Thriller „Verschnitt“ erschienen.

Das Buch

„Sie hat mich gefragt, ob das hier ein richtiges Gefängnis sei, sodass keiner von drinnen raus und auch keiner von draußen reinkäme.“

Sophia Konrad hat Angst, aber sie ist keine unzurechnungsfähige Straftäterin. Davon ist Pfleger Philipp überzeugt. Ihre unvollständige Akte und der fehlende Einlieferungsgrund zeigen, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Philipp recherchiert, stößt aber nur auf verwischte Spuren in ihrer Vergangenheit. Sogar ihre ehemaligen Nachbarn behaupten, die junge Frau gar nicht zu kennen. Er tappt im Dunkeln und die Wahrheit ist gefährlich. Nicht nur Philipps eigenes Leben gerät in Gefahr. Jeder, der ihm nahesteht, wird Schritt für Schritt zur Zielscheibe einer skrupellosen Unternehmung, die unzählige Schicksale beeinflusst.

Die Zeit drängt! Wenn Sophia wirklich zu Unrecht in der forensischen Psychiatrie eingesperrt ist, muss das bewiesen werden, und zwar vor ihrer Gerichtsverhandlung.

Prolog

Ich habe keine Kraft mehr. Meine Schreie werden von seiner großen Hand erstickt. Seine Fingerspitzen graben sich tief in meine Wange. Meine Nasenflügel blähen sich auf. Durstig sauge ich die alkoholgeschwängerte Atemluft an.

Jede Faser meines Körpers vibriert unter seinem Gewicht und doch kann ich kaum etwas spüren.

Habe ich aufgehört, mich unter ihm zu winden? Hat etwas in mir aufgehört, zu kämpfen?

Noch ein Atemzug. Eine beißende Flüssigkeit fliegt in meine Luftröhre und sie beginnt zu krampfen. Der Versuch zu husten, drückt den letzten Sauerstoff in meinen Mund. Eine rote Sprühwolke schießt aus der Nase. Gleich darauf sauge ich die halbflüssige Luft wieder ein. Ich schmecke Blut. Der Geschmack erinnert mich an das Nasenbluten meiner Kindheit.

In Gedanken sehe ich meine Mutter, die mir ein kaltes Tuch in den Nacken legt. Ich hatte das Tuch weggestoßen. Das Blut hochgezogen und ausgespuckt. Ich war kein Opfer.

Mein Körper bäumt sich unter seinem Gewicht auf. Mein freier Arm schlägt erneut zu. Ich höre ein Quietschen, das nicht mehr klingt wie ein Hilferuf.

Hinter dem Rauschen in meinen Ohren befiehlt mir eine basslastige Stimme, ich solle aufhören. Er brüllt immer wieder: „Hör endlich auf!“

Mein Hinterkopf schlägt noch einmal auf den Boden. Mehr Blut zum Atmen. Ein letzter Zug. Seine Hand greift um, er hält jetzt auch meine Nase zu. Ich werde ersticken! Oder habe ich eine Wahl? Muss ich nicht sterben, wenn ich mich nicht mehr wehre?

Sie öffnete die Augen und blickte auf ihre zitternden Hände, die gefaltet in ihrem Schoß lagen. Unzählige Male hatte sie diese Erinnerung durchlebt. Doch jetzt hatte sie sich erstmals freiwillig, ja sogar absichtlich erinnert. Sie sah auf die filigrane Silberuhr an ihrem Handgelenk. Seit mindestens zehn Minuten saß sie auf der Holzbank im Flur des Gerichtsgebäudes und war immer noch nicht sicher, wie sie alles Erlebte auf den Punkt bringen konnte. Vielleicht würde auch an diesem Verhandlungstag nicht viel aufgedeckt werden. Die Essenz des Ganzen bliebe womöglich verschleiert. Geheim. So, wie diese Psychopathen es von Anfang an geplant hatten. Heute hing es von ihrer Aussage ab. Langsam kam sie auf die Beine, streckte den Rücken durch und ging bis zum Ende des langen Korridors. Hinter der scharfen Rechtskurve lag der menschenleere Vorraum. Vor Saal 17 blieb sie stehen und strich die dunkelblaue Bluse glatt. Ihre Hand wanderte zu dem silbernen Rosenanhänger an ihrer Halskette. Sie versuchte, ruhig zu atmen. Sie sollte längst auf ihrem Platz sitzen, doch etwas in ihr weigerte sich, den Türgriff zu berühren. Sie hob das Kinn und ihr Blick streifte das Messingschild neben der Holztür. Die Beschriftung Prozessbeteiligte schlug ihr förmlich ins Gesicht. Für alle Beteiligten, die diesem Prozess nicht mehr beiwohnen konnten, öffnete sie schließlich die schwere Holztür.

„Bitte nehmen Sie Platz!“, hörte sie die feste Stimme des vorsitzenden Richters sagen. Sie spurtete quer durch den Gerichtssaal zum freien Platz neben ihrer Anwältin. Mit einem Kopfnicken begrüßte sie die streng dreinschauende Frau im Hosenanzug, die konzentriert in ihren Akten blätterte. Sie kam sich vor, wie ein gerügtes Schulmädchen, als sie sich setzte. Dass ihre Klientin unpünktlich zu der Verhandlung erschien, machte die Juristin nicht glücklich. Das war ihr anzusehen.

„Zunächst wird festgestellt, dass zum heutigen Hauptverhandlungstag alle notwendigen Beteiligten erschienen sind. Mit einer offensichtlichen Ausnahme“, begann der Richter.

Sein grauer Haarkranz wippte, als er mit einer Armbewegung auf einen leeren Stuhl, ihr gegenüber, zeigte.

„Heute Morgen haben wir von der Justizvollzugsanstalt Frankfurt 1 die Nachricht erhalten, dass sich der Hauptangeklagte in seiner Zelle erhängt hat und nunmehr verstorben ist.“

Ihr Mund öffnete sich und ihre Augen drückten Erstaunen aus. Im Gerichtssaal herrschte absolute Stille.

„Eine Sterbeurkunde liegt uns noch nicht vor, allerdings ein vom Hauptangeklagten zuvor selbst verfasster Brief. Dieser Brief dient im Hinblick auf die hier noch Mitangeklagten der weiteren Sachverhaltsaufklärung und soll deshalb gemäß Paragraph 249 Absatz 1 StPO verlesen werden.“

Wie zu einer Salzsäule erstarrt, saß sie kerzengerade auf ihrem Stuhl und nahm nur hintergründig das Knistern des Papiers wahr. Dann begann der Richter zu lesen:

Ich muss klar sehen und Klarheit bedarf einer gewissen Ruhe. Darum schreibe ich. Fragen, Zweifel und Erinnerungsbilder rauschen durch meinen Kopf. Auch in den letzten Stunden denke ich an Evelyn, wie ich scheinbar immer an sie gedacht habe. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich nur ihr aschfahles Gesicht. Ich erinnere mich an die Blutstropfen auf der Teakholztreppe unseres Hauses. In Gedanken stoße ich erneut die Badezimmertür auf und sinke auf den Boden, wie ich es schon unzählige Male getan habe. Ich sehe den blutgetränkten Slip unter dem rechten Knie meiner Frau, den See aus Blut zwischen ihren Beinen, die bläuliche Schnur, die zu dem dunkelroten Klumpen in ihrem linken Arm führt. Auch wenn Evelyns Gesicht zu dem Bündel in ihrem Arm geneigt ist, kann ich die blutverschmierten, gräulichen Züge deutlich sehen. Ihr Mund steht offen und die Augen – das leuchtende Grün jetzt stumpf und milchig – sind in einem schmerzverzerrten Blick aus ihren Höhlen getreten. Der rechte Arm meiner Frau liegt bewegungslos neben ihr. Unter der Hand eine noch größere Blutlache. In der Pfütze liegt die Klinge meines Rasierers. Eine Anklage, viel aussagekräftiger als jede, die ein Gericht gegen mich erheben könnte. Schon in diesem Moment war die Schuldfrage geklärt. Ich bin schuldig und war es immer. Schon damals wollte ich tot sein. Merkwürdig, dass ich erst heute den Mut aufbringe, endlich zu sterben. Meine Taten nehme ich mit, doch den Zweifel überlasse ich anderen. Dem hohen Gericht gebe ich zu bedenken, dass Ihr Handeln nun über das Glück vieler intakter Familien bestimmen wird. Deren Glück zu schützen, war meine Pflicht, wie es die Pflicht eines jeden Schöpfers ist, sein Werk zu schützen.

Ich wünsche allen Beteiligten viel Glück mit dieser Verantwortung.

Tränen liefen über ihre Wangen. Sie hob den Kopf, drehte sich zu ihrer Anwältin und flüsterte: „Können wir jetzt überhaupt noch gegen das vorgehen, was mit Philipp passiert ist?“

Kapitel 1

Philipp nahm mehrere Stufen gleichzeitig. So schnell er konnte hechtete er über das Treppenhaus in den zweiten Stock der Klinik. Den Notfall-Piepser, der eben noch laut Alarm geschlagen hatte, hielt er immer noch in der Hand. Ein Notfall war nie etwas Gutes, doch wenn alle Pfleger wegen eines Zwischenfalls im Maßregelvollzug alarmiert wurden, zog sich jedem der Magen zusammen. Um in den Vorraum der forensischen Station zu gelangen, musste er zwei Chipkarten-gesicherte Schleusen passieren. Als die zweite Scheibe aus Sicherheitsglas mit einem Summen beiseite fuhr, sah er Professor Albrecht. Umringt von vier Pflegern stand der hochgewachsene ärztliche Direktor im hellen Wartebereich. Seine Statur und die Furchen auf seiner Stirn strahlten Kompetenz aus, wobei ihm der graumelierte Vollbart zusätzlich etwas Mysteriöses verlieh. Mit ernster Miene sah er Philipp kurz an, bevor er zu sprechen begann. „So, meine Herren, wir werden den Unruhestifter notfalls fixieren müssen. Herr Melius, Herr Koch, Herr Lenz und Herr Lehmann? Ich denke, Sie wissen, was zu tun ist!“

Philipp nickte entschlossen. Die anderen Pfleger taten es ihm gleich und die Gruppe bewegte sich geschlossen auf die dritte und letzte Schleuse vor der Station zu. Philipps Puls beschleunigte sich mit jedem Schritt. Das Adrenalin kribbelte bis in seine Haarspitzen. Keiner von ihnen wusste, um welche Art von Notfall es sich handelte. Bei dem Maß an Psychosen auf so engem Raum konnte trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen alles passieren.

Als sich die Schleuse hinter ihnen schloss, hörten sie wildes Geschrei. Es kam aus dem Speiseraum. Philipp fühlte sich wie ein unbewaffnetes Mitglied des Sturmtrupps eines Sondereinsatzkommandos. In geübter Formation und auf alles gefasst, betraten die vier ausgewählten Pfleger angeführt vom Stationsarzt den Raum. Aufgebrachte Stimmen hallten von den hohen Wänden des Raumes wider. Die des Mannes mit dem Messer in der Hand stach deutlich hervor. Mit starrem Blick fixierte der große Kerl mit Glatze einen Mann am Boden. Der bedrohte Patient hatte seine Brille verloren und kauerte mit zusammengekniffenen Augen unter einem vergitterten Fenster. Seine graue Jogginghose hatte zwischen den Beinen einen dunklen Rand, der sich bis zu den Knien ausbreitete. Er fiepte wie ein bedrohtes Tier, während der Glatzkopf mit dem Ziegenbart das Buttermesser direkt unter sein rechtes Auge hielt.

„Ich hol‘s dir raus! Ich schlitz dich auf und hol’s raus! Brauchst nicht denken, dass ich sowas zum ersten Mal mache!“, schrie der riesige Kerl.

In Aushilfsschichten auf dieser Station hatte sich Philipp mit den meisten Patientenakten vertraut gemacht. Der Name des Angreifers war Karl Brauer. Die letzte akute Krankheitsphase seiner Schizophrenie war Monate her. Brauer wurde seit drei Jahren im Maßregelvollzug therapiert. Im Jahr vor seiner Verurteilung hatte er, auf Geheiß diverser Stimmen in seinem Kopf, drei Mädchen im Alter von fünf bis sieben Jahren getötet. Alle drei waren in verlassenen Waldstücken gefunden worden. Ihre Körper mit reißfestem Klebeband an Bäumen fixiert. Allen fehlten die Augäpfel. Später stellte sich heraus, dass Karls Stimmen ihm glaubhaft gemacht hatten, hinter den Augen der Kinder sei eine Art Code verborgen. Des Rätsels Lösung. Brauer war überzeugt gewesen, dass die Regierung mit Hilfe dieses Codes nicht nur alle Kriege auf einen Schlag beenden, sondern auch die Armut stoppen und alle Krankheiten kurieren könne.

Während die Männer mit gleichmäßigen Schritten auf die beiden Patienten zugingen, versuchte Professor Albrecht, Brauers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Doch der Hüne war konzentriert. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er hatte eine Mission. Der Wahn in seinem Blick war nicht zu übersehen. Der Arzt näherte sich ihm von der Seite. Dicht gefolgt von den Pflegern.

„Wo ist es? Hinter dem Auge? Ich schäl das Ding raus! Gib’s mir endlich!“

Brauer war außer sich. Dieser Mann würde nicht mit sich reden lassen. Noch zwei Schritte und sie waren bei ihm. Nur beiläufig nahm Philipp wahr, dass jemand eine Rollbahre bereitstellte.

Seine Position in der V-Formation, bestehend aus dem Professor an der Spitze, gefolgt von den vier Pflegern, war für den rechten Arm des Patienten vorgesehen. Albrecht gab das Zeichen und alles ging schnell. Die Pfleger packten gleichzeitig zu. Mit festem Griff umschloss Philipp das Handgelenk und den Oberarm des Mannes, die anderen kümmerten sich um die restlichen Gliedmaßen des großen Kerls. Alle schienen das Geschrei des Patienten professionell auszublenden. Erst als der Arzt die Injektion setzte, öffnete sich Brauers Hand, deren Gelenk Philipp umklammert hielt, und das Messer fiel klirrend zu Boden. Der Patient wurde auf die Bahre gehoben und Philipp schnallte seinen Arm mit den gepolsterten Lederbändern fest. Die Kollegen fixierten derweil die Beine und den anderen Arm und schoben ihn daraufhin aus dem Raum. Alle anwesenden Patienten sahen ihm schockiert, besorgt, und zum Teil auch mitleidig hinterher. Bestimmt hatten sie sich vor seinem Ausbruch gefürchtet, aber vor dem Ort, an den er nun gebracht werden würde, fürchteten sich die meisten noch mehr. Der besonders gesicherte Haftraum, auch B-Zelle genannt, war kein angenehmer Ort für einen längeren Aufenthalt. Die wahllos durcheinandersprechenden Stimmen wurden immer leiser und die Aufregung im Speiseraum legte sich. Nach und nach nahmen die Patienten wieder ihre Plätze an den weiß lackierten Holztischen ein und beendeten das Mittagessen, das von dem Zwischenfall unterbrochen worden war.

Philipps Blick fiel auf eine dünne, am Boden kauernde Gestalt im hinteren Teil des Raumes. Die Beine dicht an den Oberkörper herangezogen, lehnte sie mit gesenktem Kopf an der sandfarbenen Wand. Vielleicht brauchte sie Hilfe. Philipp sah sich nach anderen Pflegern um. Erst jetzt erblickte er seine beste Freundin Joey, die sich gerade um den zweifachen Mörder kümmerte, der, von Brauer angegriffen, zum weinenden Opfer am Boden geworden war. Da scheinbar kein anderer Pfleger der Station greifbar war, nahm sich Philipp der Sache an. Auch als er etwas näher kam, erkannte er die Patientin nicht. Bei seiner letzten Aushilfsschicht hatte es nur eine Frau auf dieser Station gegeben und die Person vor ihm war garantiert nicht Andrea Mahler. Philipp schätzte das Alter der verängstigten Frau auf Mitte zwanzig. Sie verdeckte mit einer Hand die rechte Hälfte ihres bleichen Gesichts, nur das linke, vor Schreck geweitete Auge war zu sehen. Als er direkt vor ihr in die Hocke ging, hob sie leicht den Kopf.

„Hallo, ich bin Philipp Lehmann. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Philipp hielt übliche Fragen wie ‚Alles in Ordnung mit Ihnen?‘ oder ‚Sind Sie okay?‘, für überflüssig.

Während sie sich mit beiden Händen am Boden abstützte und näher an die Wand rutschte, um gerader zu sitzen, beäugte sie ihn skeptisch. Nickte jedoch zögerlich. Als sie die Hand von ihrem Gesicht nahm, musste Philipp schlucken. Eine wulstige Narbe zog sich von ihrer Stirn über die Augenbraue bis hin zur Wange. Das magere Gesicht hätte sie in Verbindung mit der Narbe und den Schatten unter den Augen entstellen müssen, doch dem war nicht so. Die glatte Haut und die schulterlangen, hellblonden Haare gaben ihr etwas Zartes. Ihre grünen Augen wirkten klar und geheimnisvoll. Philipp räusperte sich. Unsicher, ob er sie zu lange angestarrt hatte, ließ er sich auf den Boden neben sie fallen und lehnte nun ebenfalls mit dem Rücken an der Wand. So nahe am Boden nahm er den klinischen Geruch des Putzmittels wahr, den er in seiner täglichen Arbeit nicht mehr bemerkte.

„So etwas kann einen schon ganz schön erschrecken. Aber Ihnen passiert hier nichts“, sagte er mit ruhiger Stimme.

Nach einem Moment des Schweigens schaute sie ihn an. „Es war wohl ziemlich dumm, zu glauben, dass man hier drinnen vor Verrückten sicher ist“, murmelte sie.

Doch als Philipp etwas entgegnen wollte, fiel sie ihm ins Wort. „Ich bin Sophia Konrad! Freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Lehmann.“

Sie blickte ihm direkt in die Augen, streckte ihm die rechte Hand entgegen, und Philipp nahm sie in seine. Er holte Luft und wollte zu einer Frage ansetzen, als Sophia plötzlich vom Boden aufstand.

„Vielen Dank, dass Sie zu mir gekommen sind. Es geht schon wieder. Ich werde dann mal mein Besteck abgeben und in mein Zimmer gehen. Bevor sich auch noch jemand mein Buttermesser klaut, um irgendetwas damit anzustellen.“

Offenbar wollte Sophia ihre Angst überspielen, doch sie wirkte müde und unsicher. Trotzdem war ihr Verhalten anders, als man es von Patienten in derartigen Kliniken erwartete. Als Philipp auf die Füße kam, stand sie mit ihrem Besteck bereits an der Ausgabestelle, wo eine Krankenschwester jedes Teil zurücknahm und auf einer Liste akribisch gegenzeichnete. In ihrer dunklen Jeans und dem hochgeschlossenen Strickpullover wirkte sie nicht ansatzweise wie eine Patientin. Wieder sah er Sophia einen Moment zu lange an. Die Frage, was sie hierher gebracht hatte, war ein Funke in seinem Hinterkopf, der sich zu einer Flamme entwickeln, und den Weg in den Vordergrund seiner Gedanken finden würde.

An manchen Tischen stapelten Patienten benutzte Teller, von anderen war das Klappern aneinanderschlagender Besteckteile zu hören. Es fanden kaum Gespräche statt. Die wenigen Worte, die gesprochen wurden, waren mehr ein Flüstern. Philipp glaubte, nicht mehr gebraucht zu werden und verließ den Speiseraum. Auf dem Weg zur ersten Schleuse schlurfte er den kahlen Gang hinunter, von dem zu beiden Seiten Patientenzimmer abgingen. Am Aufenthaltsraum vorbei hatte er die Schleuse fast erreicht, als ihn Joey einholte.

„Es ist gleich zwölf. Wollen wir zusammen Mittag machen?“

Philipp sah auf seine Armbanduhr und war erleichtert. Es war tatsächlich schon Zeit für die Mittagspause und er musste nicht sofort auf seine Station zurück.

Kurz darauf spazierten sie nebeneinander den schmalen Sandweg entlang, der sich durch die liebevoll gestaltete Parkanlage der Lohrklinik zog. Philipps Blick blieb an den hohen, mit Stacheldraht gesicherten Mauern in einiger Entfernung hängen. Hinter den Mauern konnte man die Frankfurter Skyline erahnen. Bevor die Klinik gebaut wurde, war der Lohrberg mit seinem Park, dem kleinen Weinberg, dem Main-Äppelhaus und der Lohrberg-Schänke ein beliebteres Ausflugsziel gewesen. Seit der Klinikgründung hatten einige Stammgäste Abstand genommen, was nicht zuletzt mit der Forensik im zweiten Stock zusammenhing. Das Gelände um eine Psychiatrische Klinik war aber auch ohne Schwerverbrecher nicht die beste Idee für einen sonntäglichen Familienausflug.

Mit großem Appetit biss Joey neben ihm in einen Apfel. Es kam oft vor, dass sie zusammen ihre Mittagspause verbrachten und schwiegen. Mit ihr war das gemeinsame Schweigen immer leicht gewesen. ‚Bei dem Trübsinn hier muss man eben manchmal seinen Gedanken nachhängen‘, war Joeys Erklärung dafür.

Doch heute schien ihr Trübsinn überhandzunehmen.

„Na? Du scheinst aber heute sehr in Gedanken zu sein. Alles okay?“

Ihr Lächeln kam Philipp etwas gezwungen vor.

„Ach, heute ist ein stressiger Tag und mit Mala läuft’s auch nicht rund. Ich müsste mich total auf den Abend freuen. Heute ist unser Jahrestag. Wir wechseln uns doch jedes Jahr mit der Abendplanung für diesen Tag ab, und dieses Jahr ist Mala an der Reihe. Sie macht immer so tolle Sachen für mich, aber heute würde ich am liebsten gar nicht nach Hause fahren. Warum soll man eine Beziehung feiern, die ohnehin nicht mehr funktioniert? Wir schauen einfach nicht mehr in die gleiche Richtung.“

Joey war stehen geblieben und sah Philipp durchdringend an. Er kniff die Augen zusammen. Nur ein kleines Bisschen, doch sie bemerkte es sofort.

„Du verstehst nicht, was ich meine.“

Sie drehte ihm den Rücken zu und lief zu der überdachten Parkbank am Rand der langgezogenen Rasenfläche. Philipp blieb noch einen Augenblick auf dem Weg stehen. Fröstelnd zog er den Reißverschluss des olivgrünen Parkas bis zum Hals zu. Der Herbst kündigte sich in diesem Jahr früh an und der raue Wind hatte es in sich. Er fragte sich, ob dieses Gespräch positiv ausgehen konnte. Joey war kein komplizierter Mensch, aber bei diesem Thema war sie sehr empfindlich. Er nahm sich vor, seine Worte mit Bedacht zu wählen. Er folgte ihr über den Rasen, der sich bis zum Obstgarten am anderen Ende der Klinik erstreckte. Hinter dem letzten Kirschbaum konnte Philipp einen Teil des Sportplatzes erkennen. Auf einem Sandweg daneben spazierte ein älteres Paar zusammen mit einer dritten Person im Jogginganzug, sicherlich ein Patient, der den zusätzlichen Ausgang genoss.

Philipp setzte sich neben seine beste Freundin.

„Ich glaube, du siehst das zu verbissen“, sagte er nach einem Moment der Überlegung.

„Im Grunde habt ihr dasselbe Ziel. Ihr wollt beide ein Kind. Und welcher Weg euch zum Ziel führt, wird sich schon zeigen.“ Philipp warf ihr einen ernsten Blick zu. Ihre braunen Rehaugen sahen traurig aus.

„Eigentlich hast du recht. Aber so einfach ist das leider nicht. Ewig wollen wir beide nicht mehr warten. Wir werden uns über den beschissenen Weg zu unserm Ziel einfach nicht einig. Sie argumentiert ständig damit, dass die Chancen auf eine Adoption für homosexuelle Paare endlich besser stehen, weil es in Deutschland jetzt erlaubt ist. Und dann kommt sie immer wieder mit diesen Regenbogenfamilienzentren. Ich finde es ja auch gut, dass es die gibt, aber ich kann einfach nicht akzeptieren, dass man uns bei den anderen Kinderwunschzentren ablehnt. Ich meine, es ist doch schlimm genug, dass immer noch ausschließlich Mutter und Vater als Eltern vorgesehen sind. Ganz ehrlich, wo sind wir denn? Wenn ich jetzt schwanger werde, muss meine Ehefrau unser Kind adoptieren. Nur, weil sie kein Mann ist. Ich will einfach durchsetzen, dass wir dort geholfen bekommen, wo auch Hetero-Paare geholfen bekommen. Ich will nicht mehr diskriminiert werden.“

Philipp hatte bei ihrem ersten Gespräch über das Thema eine Weile gebraucht, um den Grund hinter der ganzen Problematik zu durchschauen. Auch wenn die medizinisch unterstützte Fortpflanzung für gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland nicht verboten war, wurde die Sache unnötig verkompliziert, und viele Ärzte nahmen immer noch davon Abstand.

„Eigentlich will ich mir auch keine weitere Abfuhr von einer Klinik holen, in der man uns für kein ‚normales‘ Paar in dieser furchtbaren heteronormativen Welt hält.“ Sie hatte sich so in Rage gesprochen, dass sie kaum noch Luft holte. „Aber mir geht es ums Prinzip.“

Jetzt sah Joey aus wie das trotzige Mädchen, das er früher gekannt hatte. Er legte einen Arm um sie und zog sie an sich.

„Ich finde es ja gut, dass du dich für die Community einsetzen möchtest. Aber vielleicht solltest du Mala in dieser Hinsicht ein bisschen entgegenkommen.“

Phillip spürte, dass sich ihr Körper anspannte. „Hey, und außerdem: Adoptierte Kinder kann man genauso liebhaben.“ Philipp grinste.

Er hatte sofort das Bild seiner eigenen Geburtsurkunde im Kopf. Das Gesicht seiner Mutter, als sie ihm versuchte zu erklären, dass sie in Wirklichkeit seine Tante war. Er dachte an die Verachtung im Gesicht seines Adoptivvaters, als er das erste und letzte Mal über das „drogenabhängige Stück Dreck“ gesprochen hatte, das Philipp froh sein sollte, niemals kennengelernt zu haben.

Joey stieß ihm leicht den Ellenbogen in den Bauch. „Du weißt genau, dass es damit nichts zu tun hat. Blödmann!“

„Aber mal im Ernst. Es könnte schlimmer sein. Schließlich hast du noch eine Beziehung.“

Ihr Kopf wirkte an seiner Schulter wie der eines Kindes. Etwas schuldbewusst blickte sie zu ihm auf und wischte sich noch einmal die Wange trocken.

„Melanie war ein hinterhältiges Miststück und du hast was viel Besseres verdient. Ihr solltest du keine Träne nachweinen.“

Auch wenn Joey recht hatte, verletzte es Philipp, wenn sie so über Melli sprach. Er zwang sich, mit dem Kopf zu nicken.

Scheinbar spürte Joey, wie düster seine Stimmung wurde. „Themawechsel! Wie kommst du im Entzug klar?“ Sie hatte sich aus seiner Umarmung gelöst und wirkte ehrlich interessiert.

„Die Hildenberg kann mich halt nicht leiden, und das wird sich sicher nicht mehr ändern.“ Philipp verzog den Mund.

„Ach was. Die braucht nur immer ein bisschen länger. Sie muss halt erst mal ihre Flügel ausbreiten und zeigen, was für ein großer, mächtiger Drache sie ist.“

Joey breitete die Arme aus und imitierte einen Flügelschlag, bevor sie weitersprach. „Wenn sie glaubt, dass du das begriffen hast, wird es besser.“ Sie lächelte, als habe sie damit das Problem gelöst. Als Philipp nichts erwiderte, atmete sie scharf ein. „Bist du sehr unglücklich hier, Phil?“

Er schüttelte den Kopf, wusste aber, dass sie in seinem Blick die Wahrheit erkannte. Dann hob er die Schultern.

„Naja, manchmal wünsche ich mir schon, dass mein NC nach dem Abi für das Medizinstudium gereicht hätte. Aber generell bin ich ganz zufrieden mit der Berufswahl, die ich mir bei meiner besten Freundin abgeschaut habe.“ Spielerisch schubste er sie an der Schulter. „Im Ernst, ich muss jetzt erst mal froh sein, dass ich diesen Job so kurzfristig bekommen habe. Es muss ja nicht für immer sein.“

Joey nickte stumm. Auf diese Weise hellte sich die Stimmung nicht auf. Das Thema musste schnellstens wieder gewechselt werden.

„Sag mal, ich habe eben eure neue Patientin kennengelernt. Wie lange ist Sophia Konrad schon hier?“

Schulterzuckend warf Joey ihr Apfelgehäuse in den Mülleimer neben der Bank. „Ein paar Tage. Wieso fragst du?“

Ihr Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. Gleichzeitig fand Philipp, dass sie irgendwie zweifelnd aussah. Diese zögerliche Art passte nicht zu ihr.

„Nur so ein Gefühl. Sie ist … anders.“

„Ehrlich gesagt, kam mir die Sache auch merkwürdig vor und ganz ignorieren kann ich es nicht.“

Joey hatte es also auch bemerkt? Philipp legte die Stirn in Falten. „Was meinst du?“

„Naja, so eine Einlieferung läuft normalerweise ganz anders ab. Erst recht bei einer einstweiligen Unterbringung.“

„Moment, was sagst du da? Sie wurde einstweilig untergebracht?“, fuhr ihr Philipp ins Wort.

Er machte große Augen. Aus irgendeinem Grund war es für ihn unvorstellbar, dass diese zarte Person die öffentliche Sicherheit gefährdete.

„Ja. Sie wurde von einem Krankenwagen gebracht, in Begleitung eines Polizisten. Aber ihr Zustand war vollkommen ungewöhnlich. Sie wirkte nicht verwirrt, katatonisch oder panisch. Es war beinahe, als wollte sie eingeliefert werden. Und trotzdem irgendwie so, als sei sie vollkommen gesund.“

Joey sah ihn eindringlich an. Er wusste, dass sie ihm seine Neugierde ansah. Vermutlich überlegte sie, ob es gut war, ihm mehr von dieser Patientin zu erzählen. Tatsächlich spürte Philipp ein Kribbeln in der Magengegend. Das gemeinschaftliche Gefühl der Verschwörung und die Vermutung, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, reizte ihn wie zu Kindertagen, als es galt, das Rätsel seiner Herkunft zu lösen. Zusammen mit seiner besten Freundin.

„Jetzt erzähl schon weiter!“

Joey wich seinem bohrenden Blick aus. „Naja, dieser Unterbringungsbefehl kam mir merkwürdig vor.“

„Inwiefern?“

„Er war zwar vom Amtsgericht Frankfurt unterzeichnet, nur gab es irgendwie keinen Grund. Juristisches Blabla, das kennst du ja, nur dieses Mal viel mehr davon. Natürlich gibt es noch kein Gutachten, aber da war kein Delikt, keine Diagnose, einfach gar nichts.“

Philipp rutschte auf der Bank ein Stück nach vorne und zog die Augenbrauen nach oben. Als sein Blick den von Joey traf, nickte sie und wich ihm schnell aus.

„Und du sagst, sie wirkte schon bei ihrer Einlieferung vollkommen normal?“ Philipp kniff die Augen zusammen. Niemand wurde ohne Grund zwischen unzurechnungsfähigen Vergewaltigern und Mördern eingesperrt. In einer solchen Klinik, insbesondere im Maßregelvollzug, stand eine ordnungsgemäße Dokumentation an erster Stelle.

„Ja, sie war ruhig und schien einverstanden. Erst als ich alles ausgefüllt hatte und ihr das Zimmer zeigte, wurde sie ein wenig nervös. Sie hat mich gefragt, ob das hier ein richtiges Gefängnis sei, sodass keiner von drinnen raus und auch keiner von draußen reinkäme.“

Kapitel 2

Die Gänge der Klinik waren wie ausgestorben. Das war oft der Fall. Obwohl die beiden Personenaufzüge, die von der Klinikmitte aus alle Etagen bedienten, äußerst langsam waren, nahm sich Philipp die Zeit zu warten. Natürlich hätte er zu Fuß gehen können, doch so eilig hatte er es nicht. Mit einem Pling öffnete sich die Schiebetür, fuhr hinter ihm zu und spuckte ihn kurz darauf mit demselben Geräusch ein Stockwerk höher wieder aus. Der Aufzugsvorraum glich auch in dieser Etage eher einer verlassenen Bahnhofshalle. Neben zwei großzügigen Sitzecken und einem Wasserspender gab es einen Kaffee- und einen Snackautomaten. Antriebslos steuerte Philipp auf die automatische Tür zum Ostflügel zu, die sich stöhnend vor ihm öffnete und hinter ihm schloss. Auf der Milchglasscheibe am Ende des Korridors stand in großen Lettern ‚Abhängigkeitserkrankungen und Konsiliarpsychiatrie‘ geschrieben. Er hielt seinen Ausweis an das Lesegerät und wie zuvor im Maßregelvollzug fuhr auch diese Schleusentür mit einem Summen zur Seite.

Auf seinem Weg zum Schwesternzimmer der Station warf er einen Blick in die Wohnküche. Alle Tische waren gewischt und auch die Küchenzeile war anstandslos sauber. Philipp staunte, dass selbst die zum Küchendienst eingeteilten Patienten nicht mehr zu sehen waren. Offenbar gingen alle bereits anderen Aufgaben nach oder waren mit ihren Therapien beschäftigt. Auch ohne seine Unterstützung hatte Schwester Hildenberg dafür gesorgt, dass alles reibungslos verlief. Natürlich.

Die Tür des Schwesternzimmers stand offen und Philipp klopfte vorsichtig an den Türrahmen. Hildenberg sah kurz von den Akten auf. Die herabhängenden Mundwinkel hatten über die Jahre tiefe Furchen in ihr Gesicht gezogen. Philipp glaubte nicht, dass diese Frau überhaupt lächeln konnte.

„Gut, dann ist da oben ja wieder alles geregelt. Hat auch lange genug gedauert.“ Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem kastanienbraunen Topfschnitt gelöst und klebte auf ihrer Stirn. Sie schnickte die störenden Haare aus dem Mondgesicht.

„Und ich nehme an, Sie haben auch schon Ihre Mittagspause gemacht?“

Philipp nickte und die Stationsschwester wendete sich wieder ihren Akten zu, während sie den hellblauen Kasack über ihrem üppigen Busen zurecht zupfte. Die blauen Dinger wurden von allen Pflegern der Klinik getragen. Es gab sie in allen erdenklichen Größen. Trotzdem saß das Kleidungsstück bei ihr oben herum genauso stramm wie über der Bauchfettrolle.

Da ihn seine Vorgesetzte längst nicht mehr beachtete, folgte er dem üblichen Prozedere. Nach einem Gang durch die Patientenzimmer kontrollierte er ebenfalls die Toiletten und Waschräume. Er dokumentierte seine Arbeit ordnungsgemäß und legte seiner Vorgesetzten die Kontrolllisten auf den Schreibtisch. Diese wurden lediglich mit einem Kopfnicken und einem Fingerzeig auf den Kochplan an der Pinnwand neben ihr quittiert. Er verschaffte sich einen Überblick, ob die Vorräte in der Küche noch dem Sollbestand entsprachen und notierte einige Dinge auf der Einkaufsliste. Dann machte er sich auf den Weg, einzelne Patienten von ihren Therapiesitzungen abzuholen.

Philipp hatte sich gerade auf einen Stuhl in dem kleinen Wartebereich gesetzt, als Doktor John die Tür zum Behandlungszimmer öffnete.

„Ah, Herr Lehmann.“ Mit einer Handbewegung forderte er Philipp auf, zu ihm zu kommen.

Philipp sprang auf und hob die Augenbrauen.

„Frau Dottner war heute ungewöhnlich nervös. Ich bin nicht wirklich hinter den Grund dafür gekommen. Vielleicht richten Sie Frau Hildenberg von mir aus, dass ich zu einem zusätzlichen Beruhigungsmittel rate. Einmalgabe. Nur heute.“

Philipp nickte und sah über die Schulter des Arztes hinweg die Patientin an. „Gehen wir?“

Tatjana Dottner war noch blasser als sonst. Mit den Schatten unter den Augen und den langen dunklen Haaren ähnelte die junge Frau ein wenig Samara Morgan aus dem Film The Ring. Tatjana war erst 18 Jahre alt, hatte bereits einen zweijährigen Sohn, der bei Pflegeeltern lebte, und war seit einem Jahr immer wieder Stammgast im geschlossenen Entzug.

Jetzt ging die junge Frau an ihrem Arzt vorbei und trat zu Philipp auf den Flur. Sie sagte kein Wort. Auf dem Weg zu den Aufzügen fiel Philipp auf, dass sie unentwegt an ihrem Handgelenk kratzte. Als sich die Aufzugstür hinter ihnen schloss, fragte er vorsichtig: „Was ist denn los?“

Zögernd hob die Patientin den Blick. „Ich vermisse meine Familie.“

Philipp konnte nicht sagen, ob an dieser Behauptung etwas dran war, und schon gar nicht, ob sie ihre echte Familie oder die falschen Freunde ihrer ‚Drogenfamilie‘ meinte. Zum zweiten Mal an diesem Tag dachte er an seine leibliche Mutter. Sie war noch jünger gewesen als Tatjana, als sie Philipp zur Welt gebracht hatte. Ihre ältere Schwester war zu dem Zeitpunkt 26, verheiratet und schon damals mit einem übergroßen Fürsorgesinn ausgestattet gewesen. Dass Philipp bei seinen Pflegeeltern aufwachsen würde, war schon vor seiner Geburt sicher gewesen. Erst als er fast erwachsen war, hatte ihm seine Mutter davon erzählt, dass ihrer kleinen Schwester die ‚Drogenfamilie‘ wichtiger gewesen war. Außer Philipp als ihr eigenes Kind anzunehmen, hatte sie nicht viel für ihre kleine Schwester tun können. Bis zu ihrem Tod.

Auf der Station angekommen, hörten sie das Telefon im Schwesternzimmer klingeln. Tatjana verlangsamte ihre Schritte.

„Wenn ich ihren Akzent ansatzweise richtig verstehe, steht ein Besucher für Frau Dottner bei Ihnen“, blaffte die Stationsschwester ins Telefon.

Es hatte auf Philipp keine beruhigende Wirkung, dass die Stationsschwester Hildenberg genauso unfreundlich mit dem Wachmann umsprang wie mit ihm selbst.

„Dieser Besuchstermin ist nicht angemeldet. Sie können ihn wegschicken. Wenn Sie unbedingt wollen, geben Sie ihm unsere Nummer, dann können wir über einen Termin sprechen. Allerdings sind Besuche auf unserer Station bei einem vierzehntägigen Aufenthalt nicht unbedingt angebracht.“

Tatjana sah flehend aus. „Bitte, das ist bestimmt mein Cousin“, fügte sie mit feuchten Augen hinzu.

Jetzt ging Philipp ein Licht auf. „Kommen Sie!“

Er ging am Schwesternzimmer vorbei, in dem gerade der Hörer aufgeknallt wurde. Tatjanas Protest wurde mit jedem Schritt lauter, den sie ihrem Zimmer näherkamen. „Aber warum? Komm schon! Was soll das?“

Im Zimmer angekommen drehte sich Philipp zu ihr herum. „Sie vermissen nicht Ihre Familie, Sie vermissen den Stoff. Woher wollen Sie wissen, dass der Besucher Ihr Cousin ist, wenn dieser Besuch gar nicht ausgemacht war? Ich wette, dass der ‚Cousin‘ ein ‚Geschenk‘ mitgebracht hat.“ Bei den Worten Cousin und Geschenk malte er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. Tatjana schnappte nach Luft. Philipp verspürte jetzt eine Wut, die ganz und gar persönlich und völlig unprofessionell war. Diese Wut durfte auf keinen Fall nach außen dringen, wenn er seinen Job behalten wollte. Doch alles, was er sagen wollte, war: Deinen Sohn solltest du vermissen. Nichts und niemanden sonst. Du solltest dich schämen. Er schaute die junge Frau an, die fast noch ein Mädchen war und in der er glaubte, seine leibliche Mutter zu sehen. Kopfschüttelnd atmete er tief ein und zog die Zimmertür zu.

Wenige Stunden später schloss Philipp die Tür zu seiner Wohnung auf. Er warf seine Jacke auf einen Turm aus Umzugskisten in der Nische neben der Eingangstür. Seinen Schlüsselbund legte er auf die Kartons daneben und schob sich an ihnen vorbei ins Wohnzimmer seiner Behausung. Auf dem quadratischen Couchtisch, der ihm als einzige Ablagemöglichkeit diente, legte er die weiße Plastiktüte vom Dönerladen ab. Mit einem Seufzen warf er sich auf das ausgeblichene Gästesofa, das aus seinem alten Kinderzimmer stammte, und schloss die Augen. Für einen Moment wünschte er sich in die geräumige Münchner Wohnung zurück. Dort hatte er sich heimisch gefühlt.

Vor seinem geistigen Auge blitzte Mellis Gesicht auf. Der Moment, in dem sie ihm mit schuldbewusster Miene den ersten Kuss zwischen ihr und ihrem Chef gestanden hatte. Rückblickend war alles etwas übereilt geschehen. Den Job zu kündigen, hatte sich zuerst nach Freiheit angefühlt. In seinem geliebten Bulli, geparkt im Hinterhof seines Elternhauses, zu wohnen, war kurzzeitig ein Abenteuer gewesen. Doch in dieser Singlewohnung im Westen Frankfurts konnte er die Augen nicht mehr davor verschließen, dass sein neues Leben in der alten Heimat nicht gerade fortschrittlich war.

Er öffnete die Augen und nahm sich abermals vor, diese Gedanken zu unterdrücken. Lustlos stand er auf und trottete zur Küchenzeile hinüber. Gleich zwei Flaschen Bier holte er aus dem halbhohen Kühlschrank, der eigentlich ein Einbaugerät war, aber genauso verloren wie der Herd auf dem Boden neben dem Spültisch stand. Aus dem Alubecken angelte er eine Gabel, deren Ende er in Ermangelung eines Flaschenöffners benutzte. Zusammen mit dem Teller, den er am Vorabend benutzt hatte, steckte er die Gabel in den Tischgeschirrspüler. Die kleine Spülmaschine hatte er direkt nach seinem Einzug in einem Elektrofachmarkt gekauft. Sie hatte ihren Platz behelfsmäßig auf dem Kühlschrank und war der einzige Grund für ein wenig Ordnung und Sauberkeit in seiner Küche. Zurück im Wohnzimmer stellte er die Flaschen neben seinem Abendessen ab und lachte unvermittelt in sich hinein. Bei dem Maß an Alkohol, das er seit der Trennung allabendlich in sich hineinschüttete, würde er früher oder später selbst einen Aufenthalt im Entzug nötig haben. Blieb nur zu hoffen, dass die Hildenberg bis dahin in Rente war. Er setzte sich, schaltete den Fernseher ein und hatte die erste Bierflasche geleert, bevor er zu essen begann.

Wahllos schaltete er zwischen einfältigen Seifenopern, dem Sportkanal und einer Dokumentation zum Polizeialltag hin und her. Unkonzentriert schaute er zwei verschiedene Nachrichtensendungen an und stellte fest, dass seine Gedanken immer wieder auf die mysteriöse Patientin im Maßregelvollzug zurückkamen.

Joey hatte sich jedes Wort aus der Nase ziehen lassen. Sie hatte gesagt, sie wolle seinem ‚TKKG-Gen‘ kein weiteres Futter bieten. Wie es sich für eine beste Freundin gehörte, wusste Joey von seinen teilweise zweifelhaften, aber durchaus bewährten Vorgehensweisen. In München hatte er es durch die intensive Arbeit mit rätselhaften Patienten zum Stationsleiter der Psychiatrie gebracht. Obwohl er aufgrund des übereilten Neuanfangs in Frankfurt vorerst kleinere Brötchen backen musste, stand seine Qualifikation außer Frage. Auch wenn Joey selbst glaubte, dass sich die Patientin vor irgendetwas fürchtete und obendrein, dass sie nicht auf diese Station gehörte, wollte sie nicht unnötig Staub aufwirbeln. Philipp konnte es ihr nicht verdenken, dass sie den Professor nicht auf die Diagnose und das fehlende Delikt angesprochen hatte. Er wusste, dass sich der ärztliche Direktor vor ein paar Jahren einen nicht nur unprofessionellen, sondern auch völlig erfolglosen Annäherungsversuch bei Joey geleistet hatte. Seither ging sie ihrem Chef aus dem Weg, so gut es möglich war. Ausgerechnet Joey, die in ihrem Beruf immer routiniert war, hatte in Bezug auf die neue Patientin hilflos gewirkt.

Den letzten Bissen des viel zu fettigen Döners spülte er mit dem Rest der zweiten Flasche Bier herunter, schaltete das Fernsehgerät aus und zog seinen Laptop unter dem Tisch hervor. Er loggte sich in die Benutzerkonten verschiedener Netzwerke ein. Unter dem Namen Sophia Konrad wurde er schnell fündig. In der Umgebung gab es diesen Namen glücklicherweise nicht oft. Mit dem nächsten Klick öffnete er eines ihrer hinterlegten Profilbilder und starrte es wie gebannt an. Auf dem Bild hatte sie keine Ränder unter den leuchtend grünen Augen und auch keine Narbe im Gesicht. Ihr blondes Haar fiel leicht gewellt über ihre Schultern. Damals hatte sie es noch länger getragen und sie strahlte mit einem ehrlichen, fast kindlich naiven Lachen in die Kamera.

Philipp holte sich eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank und erinnerte sich an die Packung Erdnüsse, die er im Snackautomaten der Klinik gezogen hatte. Kauend setzte er sich wieder an seinen Computer.

Bis vor einem Jahr hatte Sophia mit einem Marvin Koslowski zusammengelebt. Philipp stieß auf Fotografien, die den Einzug in die gemeinsame Wohnung dokumentierten. Viele andere Bilder zeigten sie zusammen mit einer Freundin namens Marlene, deren Profil auf den Fotografien verlinkt war und zu einer Seite mit dem Künstlernamen „Sparkling Moe“ führte. Marlene Sparks war offenbar eine ambitionierte Soulsängerin mit US-amerikanischen Wurzeln. Außerdem fand er heraus, dass Sophia nach ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau als Sachbearbeiterin in einer Firma für Personaldienstleistungen gearbeitet hatte. Die zahlreichen Einträge, in denen sie das Wochenende herbeiwünschte, zeigten, dass sie ihren Job nicht sonderlich mochte. Doch es gab wohl eine Arbeitskollegin, mit der Sophia viel ihrer privaten Zeit verbrachte. Auf Fotos von Shoppingtrips, gemeinsamen Kinobesuchen und Joggingrunden war eine Tanja Ivanov verlinkt, die in ihrem Profil ebenfalls die Eulenberger & Friedrich Personaldienstleistung angegeben hatte. Auch von Sophias Haustier, dem schwarzweißen Kater Puck, fand er einige Fotografien. Sophia war auf dieser Seite täglich aktiv gewesen. Sie hatte, wie viele Menschen ihres Alters, neben Rezepten, lustigen Weisheiten und ihrer aktuellen Lektüre, jede Cocktailrunde mit Freunden öffentlich geteilt. Doch ihre Einträge endeten abrupt am vierten Mai des vergangenen Jahres mit einem ‚Thank God it‘s Friday‘. Auf keinem der Bilder war Sophias Verletzung im Gesicht zu sehen, was Philipp vermuten ließ, ihr könne am folgenden Wochenende etwas zugestoßen sein. Auch auf dem Profil ihres Freundes Marvin, der auf den Fotografien verlinkt war, fanden sich ab diesem Zeitpunkt keine Bilder oder Einträge, die etwas über die Beziehung zu Sophia ausgesagt hätten. Dort waren nur noch wenig aussagekräftige Witzbilder geteilt worden.

In Sachen Personenrecherche war Philipp ein regelrechter Fachmann. Bei seinen Münchner Patienten hatte ihm diese unorthodoxe Methode, etwas über fremde Menschen zu erfahren, die Arbeit erleichtert. Mit jeder Suche im Internet optimierte er sein Geschick. Doch alles, was er über Sophia Konrad finden konnte, waren die Spuren eines gewöhnlichen Lebens einer jungen Frau. Obwohl die Vermutung nahe lag, machte sich Philipp bewusst, dass der Ursprung von Sophias Narbe nicht zwangsläufig mit ihrer einstweiligen Unterbringung zu tun haben musste. Wenn sie eine Straftat begangen hatte, eine Gefahr für sich und andere darstellte und weitere Taten zu erwarten waren, wären die Bedingungen für eine Einweisung erfüllt gewesen.

Philipp stopfte sich die letzten Erdnüsse in den Mund und klickte gedankenverloren durch die Freundesliste von Sophias Profil, als ihm ein Einfall in den Kopf schoss. Je nach Art und Schwere der Straftat, die man ihr zur Last legte, wäre über den Vorfall möglicherweise in den lokalen Medien berichtet worden. Bevor Philipp jedoch begann, alle Tageszeitungen der Umgebung zu durchkämmen, musste er in Erfahrung bringen, wo genau Sophia in den letzten Monaten gewohnt hatte. Aufgewachsen war sie, ihrer Schuleinträge nach, wie Philipp selbst, im Westen der Stadt. Sie war in Zeilsheim zur Grundschule gegangen und hatte in Höchst ihr Abitur gemacht. Er konnte ihren Wohnort auf das nähere Einzugsgebiet Frankfurts begrenzen. Eine Adresse fand er jedoch nicht.

Er zögerte einen Moment, bevor er zum Telefon griff und die vertraute Nummer wählte. Schon beim zweiten Freizeichen überlegte er aufzulegen, ließ es aber doch weitere vier Mal läuten, bis jemand abnahm.

„Hallo?“

Die Stimme am anderen Ende klang bedrückt. Vielleicht auch müde oder verschlafen, was die Situation noch unangenehmer machte.

„Hallo, ich bin‘s. Sorry, ich weiß, ihr habt heute euren Kuschelabend. Ich brauch nur ne kurze Info. Kann ich mit Joey sprechen?“

Mala seufzte.

„Hallo Phil. Mir geht’s gut, danke der Nachfrage! Ich hoffe, dir auch. Warte, ich geb sie dir.“

Philipp wollte den Abend der beiden nicht länger als unbedingt notwendig stören.

„Danke Mala. Ach … und herzlichen Glückwunsch zum Jahrestag. Ihr seid ein tolles Paar. Aber das weißt du ja.“

Ohne zu antworten, gab sie den Hörer weiter.

„Hey Phil, was gibt’s denn so Dringendes?“

Er wusste nicht, wie unpassend seine Störung gerade war, dachte aber sofort an seine erste Freundin, die er mit sechzehn wegen einer SMS von Joey auf seinem Bett sitzen gelassen hatte. Er war immer sofort zu Joey gefahren, wenn es einen Notfall gab. Genauso war sie auch in jeder Situation für ihn da.

„Ich hab mich ein wenig im Netz umgeschaut. Hab aber nix Auffälliges zu deiner speziellen Patientin gefunden. Sophia Konrad scheint, zumindest bis vor Kurzem, eine ganz normale junge Frau gewesen zu sein.“

„Du Stalker!“ Joey lachte.

„Du weißt genau, dass ich die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen kann. Vielleicht stellt sich raus, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Dann lass ich sofort die Finger weg. Versprochen!“

Sie antwortete nicht.

„Komm schon. Wenn du ehrlich bist, willst du auch wissen, was mit ihr passiert ist.“

„Phil, ich hab echt kein gutes Gefühl bei der Sache. Aber ich weiß, dass du dich nicht abbringen lässt, wenn du dich festgebissen hast.“

Er nickte. Als könne Joey seine Bewegung sehen, sprach sie weiter. „Und ja, ich würde auch gerne wissen, was da passiert ist. Aber ich kann mich nicht einmischen im Moment.“

Wieder machte sie eine Pause. Philipp wagte nicht, etwas zu sagen, weil er glaubte, dass sie kurz davor stand, ihm einen Vorschlag zu machen. „Lutz ist gestern krank geworden und wir brauchen für die ganze Woche eine Aushilfe in der Nachtschicht. Keiner will mehr Doppelschichten schieben. Du könntest vielleicht noch ein paar übernehmen.“

„Das wäre super! Das mach ich! Auf jeden Fall! Dann kann ich mir selbst ein Bild machen.“ Philipp konnte seine Begeisterung nicht verbergen. „Aber eins noch. Ich bräuchte ihre Adresse. Du hast doch einen guten Draht zu den ganzen Pflegern und Fahrern. Heute Mittag hast du gesagt, dass sie ein Krankenwagen in Begleitung der Polizei gebracht hat. Weißt du, wer gefahren ist?“

Joey erinnerte sich scheinbar sofort.

„Dennis. Er hatte diesen jüngeren FSJler dabei, ich glaube Mark oder so.“

Joey gab ihm Dennis’ Telefonnummer und Philipp war ganz in seinem Element. Sie beendete das Telefonat mit den Worten: „Ach Süßer, du hättest echt Detektiv werden sollen.“

Sobald er aufgelegt hatte, wählte er die Nummer des Pflegers. Zuerst etwas verwundert über den Anruf, erinnerte sich Dennis kurz darauf an jenen Nachmittag.

„Stimmt, vorletzte Woche. Man wird ja auch nicht jeden Tag von der Polizei im KTW begleitet. Auch wenn ich es recht merkwürdig fand. Die Patientin ist scheinbar freiwillig mitgekommen. Als wäre sie erleichtert, dass wir sie endlich abholen.“

Obwohl er sich noch an den Tag erinnern konnte, kannte Dennis den Straßennamen nicht. Wie üblich war die Adresse in das Navigationssystem des Krankenwagens eingegeben worden. Keiner hatte diesen Daten weitere Aufmerksamkeit geschenkt.

„Aber es war in Eddersheim, da bin ich ganz sicher. Zwischen ein paar Pferdekoppeln, ganz in der Nähe vom Waldrand. Ich würde das Haus auf jeden Fall wiederfinden. Warum ist das denn so wichtig für dich?“

Längst wieder auf seinen Laptop konzentriert, flogen Philipps Augen über das Onlineportal der Frankfurter Neuen Presse, während er von seiner Schwäche für ungewöhnliche Fälle erzählte. Nur beiläufig nahm er noch Dennis’ Stimme wahr.

„Die beiden Polizisten waren wohl schon öfter bei deiner Patientin gewesen.“

Sofort hatte der Fahrer wieder Philipps ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Wie meinst du das?“

„Bevor der eine auf die Klingel drückte, meinte er zu seinem Kollegen: ‚Naja, wenigstens werden wir hierher so schnell nicht mehr gerufen‘.“

Kapitel 3

Vor der Einweisung

Die dünne rosafarbene Haut, die sich in einer wulstigen Linie auf ihrer Stirn gebildet hatte, war noch empfindlich. Vorsichtig trug Sophia mit dem Zeigefinger den Concealer vom Haaransatz bis zur Augenbraue auf.

Das Zeug hatte ihre Freundin Moe aus der Gesangsschule mitgebracht. Es wurde für Bühnen- und Fernsehauftritte genutzt und war für ihre Zwecke perfekt.

Einen Moment lang schaute sie sich selbst in die Augen. Sie betrachtete die grüne Iris, die, von grauen Sprenkeln durchzogen, klar und lebendig aussah. Sophia erkannte in diesem Augenblick keine Verletzung. Weder äußerlich noch innerlich. Ihre Augen sahen genauso aus wie noch vor einigen Monaten. Das Unterlid begann zu glänzen und Sophia blinzelte die Tränenflüssigkeit weg, um sie nicht am Ende von ihrer ebenfalls empfindlichen Wange wischen zu müssen. Nur einige Millimeter unter dem rechten Auge setzte sie mit der Schminke wieder an und deckte den restlichen Streifen ab. Geräuschvoll zog sie die Nase hoch und richtete sich vor dem Spiegel auf. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Im Grunde genommen sah sie im geschminkten Zustand wieder ganz annehmbar aus. Mit flinken Handbewegungen trug sie noch etwas Puder und Mascara auf, fuhr mit den Fingerspitzen durch die glatt gezogenen Strähnen und bestäubte das blonde Haar mit etwas Haarspray. Die kinnlange Frisur war noch ungewohnt. Sie nahm das dunkelblaue Blusenshirt vom Bügel, zog es über den Kopf, zupfte ihre Jeans zurecht und ging mit der Handtasche über der Schulter ins Wohnzimmer. Puck saß auf seinem neuen Lieblingsplatz. Auf der breiten Armlehne des hellgrünen Zweisitzer-Sofas hatte sich der Kater die braunkarierte Wolldecke ihrer Großmutter zu eigen gemacht. Das alte Teil gab ihm in der neuen Umgebung scheinbar Sicherheit und ließ ihn sogar die halbvollen Umzugskartons vergessen, die sich neben dem Fernseher stapelten. Puck war ohnehin viel gemütlicher geworden.

„Alles ändert sich, mein Kleiner“, flüsterte sie ihm zu und erinnerte sich grinsend an die ersten gemeinsamen Tage, in denen er sich seinen Namen schmerzlich verdient gemacht hatte.

Ständig war er Marvin und ihr zwischen den Füßen rumgewuselt. Mindestens einmal pro Tag hatte ihm einer der beiden versehentlich einen Tritt verpasst. Die kleine Fellkugel war regelmäßig wie ein Eishockey-Puck über das Laminat geschlittert, sodass sich der Name förmlich aufgedrängt hatte.

Sophia kraulte ihn hinter dem schwarzen Ohr und tätschelte leicht sein weißes Köpfchen. Er schnurrte.

„Na, wer sagt‘s denn? Wenigstens einer von uns fühlt sich richtig wohl hier.“

Durch die gekippte Balkontür kam ein lauer Luftzug herein. Angeblich war die Dämmung der Dachschrägen, die mit naturbelassenen Holzplanken verkleidet waren, auf dem neuesten Stand. Trotzdem würde das Klima des geräumigen Wohn- und Schlafzimmers gegen Mittag einem Brutkasten gleichen. Im Hochsommer war das direkt unter dem Dach völlig normal. Sophia schloss die Balkontür, ging zurück ins Badezimmer und füllte frisches Wasser in den kleinen Napf, den sie neben die Wanne stellte. Auf dem kühlen Fliesenboden würde es sich Puck später bequem machen.

Es war längst Zeit zu gehen. Sie blickte zur Steckdose neben dem Lichtschalter, um sich zu versichern, dass sie das Kabel des Glätteisens herausgezogen hatte. Das Eisen lag im Waschbecken und konnte dort gefahrlos abkühlen.

Sie hob den Kopf, sah zur Lampe an der schrägen Decke hoch und betätigte den Lichtschalter neben der Tür. Das Licht ging an und sie drückte noch einmal, um es auszuschalten. Durch den kurzen Flur ging sie in den nächsten Raum. Auch in der Küche war die Dachschräge mit Holz verkleidet und die Morgensonne hatte den Raum bereits aufgeheizt. Zuerst schloss sie das Fenster, prüfte dann, ob auch hier alle Steckdosen frei waren und beugte sich anschließend zur Bedienleiste des Backofens.

„Backofen, Herdplatte eins, zwei, drei und vier.“

Sie tippte mit dem Zeigefinger auf jeden einzelnen Knopf und bestätigte, dass alles ausgeschaltet war. Die Handtasche fest gegen die Seite gepresst, entfernte sie sich rückwärts vom Herd. An der Tür warf sie noch einen prüfenden Blick zum Waschbecken. Der Wasserhahn war zugedreht. Kein laufendes Wasser. Nachdem sie die Lichtschalterroutine in jedem Raum durchgeführt hatte, streifte sie sich an der Tür die grauen Sneaker über die Füße. Der Schlüssel steckte wie immer im Schloss. Zwei Umdrehungen nach rechts und sie öffnete die Tür. Das Treppenhaus war kühl und leer. Schnell drehte sie sich um und blickte noch ein letztes Mal in den Flur. Von hier aus hatte man einen guten Blick ins Wohnzimmer, man sah die geöffnete Badezimmertür und einen Teil der Küche. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und war versucht, noch einmal hinein zu gehen. Kopfschüttelnd atmete sie tief ein und zog die Wohnungstür fest zu. Den Schlüssel drehte sie zweimal im Zylinder herum und eilte dann die Treppe hinunter. Im Auto warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war schon wieder knapp. Für einen Moment glaubte sie, den Kühlschrank offengelassen zu haben, schüttelte den Gedanken aber mit verkrampftem Kiefer ab. Mit einem tiefen Atemzug richtete sie sich auf, schob die Schulterblätter zusammen und hob das Kinn an. Auf zur Arbeit.

In dem kleinen Stadtteil herrschte morgendliches Treiben. Aus allen Richtungen waren zuschlagende Autotüren und startende Motoren zu hören. Rentner mit und ohne Gehhilfen machten sich auf den Weg zur Bäckerei oder zum Lotto-Laden, um ihre Tageszeitung zu kaufen. Kinder mit Schulrucksäcken, die bis zu den Kniekehlen reichten, waren auf dem Weg zur Grundschule. Manche allein, manche in kleinen Gruppen oder angetrieben von einem Elternteil.

Die einzige Veränderung, an die sie sich seit ihrem Umzug nach Eddersheim schnell gewöhnt hatte, war der kurze Weg zur Arbeit. Das einzige Hindernis stellte hierbei die Bahnschranke dar. Wenn die erst einmal geschlossen war, nagelte sie einen oft mehr als zehn Minuten an Ort und Stelle fest. Zu Stoßzeiten passierte beinahe jeder berufstätige Bewohner diesen Ortsausgang. In die Bahnhofstraße eingebogen, konnte Sophia die rot-weiß gestreiften Sperrbalken sehen. Noch zeigten sie in den Himmel. Auf der Unterlippe kauend, sah sie zwischen Schrankanlage und Tachoanzeige hin und her. Die Nadel zitterte knapp über der 30. Gerade erst hatte sie den Bußgeldbescheid wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit an dieser Stelle bezahlt. Doch das Glück war auf ihrer Seite und das zeitfressende Monster schloss seine Barrieren erst hinter ihrem in die Jahre gekommenen Corsa.

Sophia raste parallel zur Autobahn, über die selbst im Berufsverkehr spärlich befahrene Landstraße und passierte kurz darauf den Hattersheimer Ortseingang. Von Bäumen flankiert, wirkte die Hauptstraße fast wie eine Allee. Beidseitig mit Einfamilienhäusern gesäumt und nahe an der Schule gelegen, war sie beliebt bei jungen Familien. An vielen Fenstern klebten bunte Bilder und die Bodenplatten vor den meisten Eingangstüren waren mit Kreidekunstwerken verziert. Zwischen den bepflanzten Vorgärten tat sich eine breite Lücke auf. Die weitläufige Einfahrt gehörte einem Steinmetz. Aus den Augenwinkeln sah sie Grabsteine in verschiedenen Farben und Formen, gemeißelte Schriftzüge und konnte im Vorbeifahren sogar Kreuze und Engel erkennen.