In Zeiten der Hoffnung - Elisabeth Marienhagen - E-Book

In Zeiten der Hoffnung E-Book

Elisabeth Marienhagen

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Beschreibung

Hoffnung auf Glück in Zeiten des Umbruchs: Eine verbotene Liebe, die allen Widerständen trotzt
Die fesselnde Familiensaga über Mut, und den unweigerlichen Willen niemals aufzugeben

Mosel 1940: In einer Zeit des Krieges, als Deutschland in Frankreich triumphiert, wird das Leben im beschaulichen Moseldorf Wingert von der Ankunft französischer Kriegsgefangener in Aufruhr versetzt. Einer von ihnen, der junge Jacques Legrand, wird der Familie Gronau zugeteilt und soll auf ihrem Hof arbeiten. Nach anfänglichem Misstrauen keimt eine innige Liebe zwischen ihm und Ella, der Tochter des Hauses, auf. Allerdings zieht eine Verbrüderung mit dem Feind drastische Strafen nach sich. Darum hält das junge Paar ihre verbotene Beziehung streng geheim. Während der Krieg an allen Fronten tobt, nimmt nicht nur das Schicksal der beiden Liebenden, sondern auch das der Familie Gronau eine dramatische Wendung, die alles verändern könnte …

Erste Leser:innenstimmen
„Die fesselnde Handlung und die authentischen Charaktere machen den historischen Roman zu einem echten Pageturner.“
„Eine bewegende und spannende Familiensaga um eine verbotene Liebe.“
„Die Autorin schafft es meisterhaft, die damalige Atmosphäre einzufangen und die historischen Ereignisse mit der persönlichen Tragödie einer Familie zu verflechten.“
„Eine herzzerreißende Erzählung über eine starke Frau, die sich den Herausforderungen des Krieges stellen muss.“

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Seitenzahl: 509

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Über dieses E-Book

Mosel 1940: In einer Zeit des Krieges, als Deutschland in Frankreich triumphiert, wird das Leben im beschaulichen Moseldorf Wingert von der Ankunft französischer Kriegsgefangener in Aufruhr versetzt. Einer von ihnen, der junge Jacques Legrand, wird der Familie Gronau zugeteilt und soll auf ihrem Hof arbeiten. Nach anfänglichem Misstrauen keimt eine innige Liebe zwischen ihm und Ella, der Tochter des Hauses, auf. Allerdings zieht eine Verbrüderung mit dem Feind drastische Strafen nach sich. Darum hält das junge Paar ihre verbotene Beziehung streng geheim. Während der Krieg an allen Fronten tobt, nimmt nicht nur das Schicksal der beiden Liebenden, sondern auch das der Familie Gronau eine dramatische Wendung, die alles verändern könnte …

Impressum

Erstausgabe November 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-170-4 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-637-4

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © 昊 周 shutterstock.com: © Antonio Guillem elements.envato.com: © LightFieldStudios Lektorat: Sandra Effert

E-Book-Version 16.10.2024, 16:01:35.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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In Zeiten der Hoffnung

Dieses Buch widme ich meiner Mutter Anne – die Erzählungen deiner Kindheit leben in Ellas Geschichte weiter.

Vorwort

„Unsere Sprache kann man ansehen als eine Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Umbauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“ Ludwig Wittgenstein

In diesem Buch betreten wir alte Teile dieser ‚Stadt‘ und begegnen Wörtern, die unser heutiges Sprachempfinden verletzen. Wir reden nicht mehr von Krüppeln oder Irrenanstalten, es sei denn, in einem herabsetzenden Zusammenhang. Doch die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation“ (DVfR) wurde am 14. April 1909 als ‚Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge‘ gegründet und das spätere Landeskrankenhaus Merzig hieß bei der Einweihung 1876 ‚Rheinische Provinzial-Irrenheilanstalt Merzig‘.

Wie jede Sprache ist auch die der Medizin einem stetigen Wandel unterworfen. Die Diagnose ‚seniles Irresein‘, so verletzend sie in unseren Ohren auch klingen mag, entspricht dem damaligen Stand der psychiatrischen Diagnostik und wurde in Lehrwerken benutzt (siehe Quellen). Das aufgeklärte Arzt-Patienten-Verhältnis unserer Tage existierte in der Zeit nicht, in der dieses Buch spielt.

Während des Nationalsozialismus häufig benutzte Begriffe wie ‚Volksgesundheit‘, ‚lebensunwertes Leben‘, ‚Euthanasie‘ und ‚Gnadentod‘ sollten bei der Bevölkerung für die Akzeptanz der Maßnahmen sorgen, die im Zusammenhang mit Krankenmorden im Rahmen der Aktion T4 standen. Trotzdem flammte Widerstand auf. Im August 1941 wurde die Aktion offiziell beendet, aber die Krankenmorde gingen auch ohne Transporte zu Tötungsanstalten unauffällig weiter: Durch absichtliche Vernachlässigung, fehlende Behandlung, tödliche Medikamentendosen oder Essensentzug kamen ca. 130.000 Patienten zu Tode. Während der Nazizeit fielen ungefähr 200.000 Menschen der Euthanasie zum Opfer, 400.000 Menschen wurden zwangssterilisiert.

Bischof Graf von Galen hat in seiner bekannten Rede gegen die Krankenmorde vom 3. August 1941 die Wörter ‚Krüppel‘ und ‚Invalider‘ benutzt (siehe Quellen). Die Begriffe hatten damals unterschiedliche Bedeutungen. Krüppel stand für einen Menschen mit einer angeborenen Behinderung; Invalider hingegen für Menschen mit einer durch Unfälle oder im Krieg erworbenen Behinderung. Diese Begriffe, die in von Galens Predigt dazu dienen, möglichst alle Gruppen anzusprechen und einzuschließen, habe ich darum im Text übernommen. Hier ist es meiner Meinung nach wichtig, den Zusammenhang zu beachten, in dem diese Begriffe stehen.

In meinem Roman habe ich mir zudem die künstlerische Freiheit genommen, einige historische Gegebenheiten in Leiwen anzupassen.

Teil 1

Siegreiche Zeiten?

1940-1941

Ein Gespräch im Kuhstall

18. Juni 1940

Bloß nichts verschütten! Ella Gronau kippte kuhwarme Milch aus dem Melkeimer in die große Aluminiumkanne. Beim Eingießen plätscherte es, ein paar Blasen stiegen auf und zerplatzten. Lästige Fliegen schwirrten gefährlich nah um die Kanne herum. Und jetzt: Schnell! Rasch stülpte Ella den Deckel auf die Öffnung, bevor eins der dummen Biester einen Luftangriff probte und die Milch attackierte. Nur noch den Eimer reinigen, kopfüber im Holzgestell zum Trocknen aufhängen und fertig. Die Schweine hatten sich grunzend und schmatzend über das Futter in den Trögen hergemacht, draußen in der Wiese gackerten Hühner.

Henri, der neue Knecht, ächzte, als er eine mit Mist beladene Schubkarre Richtung Tür bugsierte. Eine Fuhre, die viel zu groß und schwer für ihn aussah. Vor zwei Wochen hatten ihre Eltern ihn beim ersten Kennenlernen vom Fleck weg eingestellt. Immerhin herrschte seit fast einem Jahr Krieg und sie brauchten dringend Helfer auf dem Hof. Ein Handschlag genügte, um den Vertrag zu schließen. Der Vater des Jungen war mit einem Stück Butter, einer Hartwurst und der Aussicht auf einen Sack Lagerkartoffeln im Herbst hochzufrieden nach Trier abgezogen. Dass der neue Knecht bereits fünfzehn und über ein Jahr älter als sie war, konnte Ella anfangs kaum fassen. Mit ihren ein Meter und siebzig überragte sie zwar auch die meisten ihrer Freundinnen um ein Stück, dennoch hätte sie bei diesem Jungen bestenfalls auf einen zu mickrig geratenen Zwölfjährigen getippt. Die Frauen im Haus, allen voran ihre Köchin, hatten den schmächtigen Kerl inzwischen ein bisschen aufgepäppelt. Ella eilte zur Stalltür voraus, die sie weit öffnete. Mit der Schubkarre, die schlingerte, rumpelte der Knecht an ihr vorbei. Sie lugte auf den Hof und schloss kurz die Augen. Genüsslich sog sie den Sauerstoff in ihre Lungen; die Sonnenstrahlen kribbelten in ihrer Nase. Sie nieste.

„Gesundheit!“ Der Knecht hatte es zum Misthaufen geschafft, wo er die Ladung auskippte.

„Danke! He du, Henri, das geht schon viel besser als am Anfang.“

„Find ich auch.“ Er setzte die leere Karre ab und spannte seinen Bizeps an. „Guck mal, ich habe in den Armen richtig Muskeln gekriegt.“

Die Kühe muhten aufgeregt. Kein Wunder, sie wollten hinaus auf die Weide. Ella griff nach einem langen Stab, der am Eingang neben der Tür lehnte, und ging auf Henri zu, der die Schubkarre an ihren Platz stellte.

„Hier bitte.“ Sie reichte ihm den Stecken. „Ich lasse jetzt die Kühe von der Kette.“

„Dann schaue ich vor zur Straße, ob ein Auto kommt.“ Der Junge rannte über den Hof. „Hier ist alles gut.“

„Prima!“ Ella befreite die Tiere mit geübter Hand. „Na, dann, hinaus mit euch, meine Damen!“

Bessie, die Leitkuh, stapfte als Erste los, die anderen folgten. Nur Milly hatte Stallarrest. Sie war brünstig und sollte heute noch auf den Nachbarhof zum Stier geführt werden. Das Tier zerrte an seiner Kette und brüllte herzzerreißend, weil es der Herde folgen wollte.

„Beruhig dich!“ Ella tätschelte der Kuh den Hals. „Sonst denkt Onkel Alphons Prachtbulle noch, dass du etwas gegen das Stelldichein mit ihm einzuwenden hast. Schön brav sein. Ich gucke später noch einmal nach dir, versprochen.“

„Du, Ella, da hupt einer! Ich glaub, der kommt mit einem ziemlichen Karacho an.“

„Ich bin gleich bei dir.“ Sie rannte los.

Mit nach vorn ausgestreckten Armen und erhobenen Händen lief Henri dem Wagen auf der mit Lehmbatzen verdreckten Straße entgegen. Das Auto war schwarz, die Felgen rot.

Ella kannte den Mann hinter dem Steuer. Er bremste, aber die Reifen rutschten.

„Henri, weg da!“ Wie zu einer Salzsäule erstarrt, blieb Ella stehen. Doch der Schlag und die Schmerzensschreie, die sie erwartet hatte, blieben aus: Henri hechtete zur Seite. Wie ein Bodenturner bei der Olympiade rollte er sich ab, nutzte den Schwung und landete auf seinen Füßen. Ein paar Schritte stolperte er vor. Hatte die Motorhaube ihn touchiert?

„Henri?! Bist du verletzt?“

„Nein! Ich glaube nicht.“ Er drehte sich langsam zu ihr um; totenbleich sah er aus. „Ich hab mich nur furchtbar erschrocken. Ich dachte, die Kühe gehen durch!“

Obwohl einige Tiere den Kopf wandten, stapfte der Rest gelassen hinter Bessie her. Johann Lauterer kurbelte das Seitenfenster seines Opel Admirals herunter. „Geht’s noch langsamer? Schafft gefälligst die Viecher von der Straße, statt Maulaffen feilzuhalten.“

„Kühe … haben Vorrang vor Automobilen!“, zischte Henri.

Ellas Knie zitterten wie Lämmerschwänze. „Wenn er nicht so schnell reagiert hätte …“

„… wäre dem auch nichts passiert.“ Johann trommelte mit den Fingern gegen das Lenkrad.

„Von wegen! Du hast Henri beinahe überfahren.“

„Blödsinn! Ich habe den Wagen im Griff.“

„Und was ist mit den Kühen?“ Von Johann würde Ella sich nicht unterbuttern lassen. „Wo haben die ihre Bremsen? Wenn die in Panik geraten wären!“

„Sind sie aber nicht, also verzieht euch.“

Henri umklammerte den Stock mit beiden Händen und sah aus, als ob er Johann am liebsten eins damit überbraten würde. Ella hätte Beifall geklatscht.

„Aus dem Weg!“ Johann ließ den Motor aufheulen. „Wird’s bald!“

„Ella, komm!“ Henri packte sie am Arm und zog sie ein Stück mit.

Obwohl immer noch Nachzügler der Herde vom Hof auf die Straße stapften, fuhr Johann zwischen den Tieren durch. Nach ein paar Metern bog er rechts auf den Hof der Blauen Forelle ein, wo er den Wagen parkte. Er stieg aus. Von der Gestalt her glich er seiner molligen Mutter, lediglich die Anlage zur Stirnglatze hatte er von seinem hochgewachsenen Vater geerbt. Die Autotür knallte ins Schloss, laute Schritte, eine kurze Pause, die Haustür schepperte. Seine Eltern blieben bis spät in die Nacht wach, spülten Gläser, leerten Aschenbecher und räumten die Gastwirtschaft auf. Die schliefen um die Zeit meist noch – und diese Pestbeule machte einen solchen Radau?

„Was ist das denn für ein Idiot?“ Henri trottete neben ihr die Straße hinunter.

„Sag das nicht zu laut, der arbeitet bei der Gestapo. In der Zweigstelle Trier.“

„Ach, in der Christophstraße.“

„Tut mir leid.“ Ella zuckte mit den Schultern. „Ich kenne mich in der Stadt nicht aus.“

„Das Haus ist einfach zu finden. Wenn du dich vom Bahnhof aus auf der linken Seite der Nussbaumallee Richtung Porta Nigra hältst, kommst du am Platz mit dem Balduinsbrunnen und einem großen grauen Gebäude vorbei. Früher war da drin die Bahndirektion untergebracht, jetzt gehört’s der Gestapo.“

„Seit der Johann dort eine Abteilung leitet, hält er sich für den Allergrößten. Dabei lebt er noch bei seinen Eltern. Obwohl er gut verdient und beinahe dreißig Jahre alt ist.“

„Ein Muttersöhnchen? Kein Witz?“ Henri machte Augen groß wie Untertassen. „Also das …“

„Nicht so laut!“

Er verstummte und sah sich nach allen Seiten um. Die Herde marschierte unterdessen gemächlich weiter.

Hatte sie zu harsch reagiert? „Da darfst du zum ersten Mal das Vieh allein zur Weide bringen und hast gleich ein Abenteuer erlebt.“

„Und ich hatt vorher Muffensausen wegen der Kühe.“ Henri grinste. „Das is jetzt wie weggeblasen. Es sind die Menschen, vor denen wir uns in Acht nehmen müssen.“

Dass er seine Bedenken wegen der Tiere offen vor ihr zugab, imponierte Ella. Ein echter deutscher Bub kannte schließlich keine Angst – weder vor dem Kampf mit dem Feind noch vor dem Heldentod auf dem Feld für den Führer.

„Henri, über deinen Sprung habe ich Bauklötze gestaunt. Der war phänomenal! Ehrlich, ich bewundere dich. Mich hätte das Auto bestimmt erwischt.“

„Ich bin ein ziemlich guter Sportler. Also eher ein Läufer, nicht so der Weit- und erst recht kein Hochspringer – und ich mag längere Strecken. Letztes Jahr hab ich bei ner Landesmeisterschaft ein 5000-Meter-Rennen gewonnen.“ Er wurde rot. „Ich wollt nit prahlen - und jetzt kümmere ich mich um die Kuh, die im Hof rumtrödelt.“

In aller Seelenruhe knabberte Molly, eine eigensinnige Schwarzgescheckte, dort an ein paar Halmen.

„Hör mal, Henri, wenn sie gar nicht will, gib ihr einen kleinen Klaps auf das Hinterteil oder klatsch laut in die Hände.“

Er versuchte es mit der zweiten Variante und Molly setzte sich in Bewegung. „Ella, guck mal, es funktioniert.“

„Gut gemacht!“ Sie mochte ihn dafür, dass er nicht von vornherein auf das Tier eindrosch, gleich noch ein Stück lieber. „Jetzt musst du flott hinter den anderen her.“

„Die hab’n wir gleich eingeholt.“ Henri schwenkte den Holzstab und rannte los. „Hopp, Molly, zeig der Ella, wie schnell du laufen kannst.“

Sie sah dem ungleichen Gespann nach und schmunzelte. Dank Johanns unrühmlichem Auftritt war Henri sichtlich aufgetaut und hatte mehr geredet als in den gesamten zwei Wochen zuvor. In den ersten Tagen hatte er nur geguckt und Essen in sich hineingeschaufelt: Er stammte aus einer Trierer Familie mit sechzehn Kindern. Seinem Essverhalten nach zu schließen, war er dort mehr als einmal hungrig vom Tisch aufgestanden. Ein schmales Gesicht, mausbraune Haare und dunkle Augen mit wachem Blick zeichneten ihn aus. Kein idealer Arier, was im Übrigen für die meisten Dorfbewohner galt.

Ein durchdringendes ‚Möh‘ riss Ella aus ihren Gedanken.

„Erinnerst du mich an mein Versprechen, Milly? Ich komme ja schon.“ Sie marschierte zu der Kuh in den Stall, kraulte das Tier zwischen den Ohren und vertrieb nebenher ein paar dreiste Fliegen. „Henri ist nett, oder was sagst du?“

Milly rieb ihre breite Stirn an Ellas Hand.

„Das werte ich als Zustimmung. Tja, und wenn wir beide uns so richtig an ihn gewöhnt haben … Ach, dieser dumme Krieg!“ Ella musste unwillkürlich an die Strichliste denken, die ihre Mutter führte: In genau einem Jahr, zwanzig Wochen und einem Tag feierte ihr älterer und einziger Bruder Martin seinen achtzehnten Geburtstag und das hieß: Einrücken. Falls Hitler bis dahin den Sieg nicht längst in der Tasche hatte. Woran derzeit niemand zweifelte. Ellas Trübsal verflog wie Nebelschwaden in der Mittagssonne und in ihrem Geist erklang triumphierend die Fanfare, die im Radio Neuigkeiten von der Westfront ankündigte. Vor jeder Meldung spielten sie ein paar Takte des Lieds ‚Wacht am Rhein‘. Heute Früh hatte der Sprecher mit seiner etwas schnarrenden Stimme die Sondermeldung aus dem Führerhauptquartier gebracht, dass Frankreich gefallen war. Keine große Überraschung nach den Berichten der vorherigen Tage und Wochen. Erst hatten Hitlers Truppen neutrale Länder wie Norwegen, Dänemark, Belgien, Luxemburg und die Niederlande angegriffen. Natürlich nur in bester Absicht, um den Eroberungsplänen des Feindes zuvorzukommen. Und was Ella irgendwo sehr seltsam fand: Die Fragen nach den Reaktionen der Engländer auf Hitlers militärische Erfolge nahmen – abgesehen von den Fotos - beinahe einen genauso großen Raum ein wie die Artikel über die triumphalen Siege. Die deutschen Truppen überrannten Frankreich. Statt des monatelangen Sitzkriegs herrschte schlagartig Blitzkrieg. Im Feindesland fiel eine Festung, eine Stadt, eine Verteidigungslinie nach der anderen, einschließlich Paris. Und Ella konnte mit ganz Wingert darauf wetten, dass jeden Tag, den Gott werden ließ, irgendwo auf der Titelseite ihres Nachrichtenmagazins in großen Lettern das Wort England in einer Überschrift auftauchte. Warum zum Teufel? Ob Hitler wirklich derart wichtig vorkam, was Englands Premierminister Winston Churchill über ihn dachte? Vermutlich – und noch etwas war wie verhext. Sobald Ella an Radiomeldungen dachte, kreiselte die Melodie der Fanfare samt Refrain penetrant in ihrem Kopf herum: ‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein, fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein. Fest steht und treu …‘ Genug davon. Ihr war jedes Mittel Recht, den Ohrwurm loszuwerden, also nahm sie die Unterhaltung mit der Kuh wieder auf. „Die Deutschen haben in Frankreich gesiegt, ist dir das klar?“

Milly hatte sich beruhigt und kaute ungerührt von der Neuigkeit auf ein paar Heuhalmen herum.

„Das, meine Liebe, ist die größte Meldung des gesamten bisherigen Krieges. Wir haben natürlich gejubelt.“ Laut genug, dass kein Nachbar Beschwerde über den mangelnden Enthusiasmus der Gronaus einlegen konnte. Sogar eine Fahne hatte ihr Vater pflichtschuldig herausgehängt, sonst hagelte es anonyme Anzeigen. Im schlimmsten Fall winkte ihm das Konzentrationslager in Hinzert bei Trier. Nazis erzogen dort Häftlinge mit falscher politischer Gesinnung um. „Und was ist mit dir? Du sagst nicht einmal ‚Muh‘? Weißt du, ich …“ Erschrocken klappte Ella den Mund zu. Ihr wäre beinahe herausgerutscht, dass sie von Milly ein bisschen mehr Begeisterung für die genialen Leistungen des größten Feldherrn aller Zeiten erwartet hätte. Ob Hitler wirklich unschlagbar war? Wegen Martin hoffte Ella mit aller Kraft auf ein schnelles Ende des Krieges. Doch wie die meisten im Ort glaubten weder sie noch ihre Eltern daran, dass der Friedensvertrag mit Russland halten würde. Mehr Lebensraum für die Deutschen im Osten? So ein Unfug. Was sollte denn mit den Menschen geschehen, die dort lebten? Und welcher Deutsche wollte tausende Kilometer weit weg von der Heimat an den Ural verfrachtet werden? Niemand! Zumindest keiner, den Ella kannte. Puh, ein Glück, dass ihr nichts davon aus Versehen herausgeplatzt war: „Ich hoffe, dass das mit dem Decken heute klappt und du danach ein Kälbchen erwartest. Das wäre schön, stimmt’s?“

Aus dieser Bemerkung konnte ihr selbst ein überzeugter Nazi keinen Strick drehen. Trotzdem … Sie biss die Zähne fest aufeinander. Sie musste besser aufpassen, was sie sagte. Denn wenn im Dorf irgendwie ruchbar wurde, wie viel sie im Laufe der Zeit aus mehr oder weniger ‚zufällig‘ abgelauschten Gesprächen zwischen Vater und Bruder tatsächlich über Nutzvieh und ihre Fortpflanzung gelernt hatte, würde ihrer Familie die geballte Empörung der Dorfgemeinschaft entgegenschlagen – angeführt von Dörte Kornbach. Die linientreue Frau des Dorfwarts sah in Adolf Hitler offenbar eine Art Messias. Nein, Ella durfte sich keinen Patzer erlauben! Ihre Eltern hatten ohnehin zu kämpfen, weil sie als politisch unzuverlässige Judenfreunde galten. Wenn dann noch herauskam, wie frei sie ihre Tochter erzogen … Unterhaltungen, bei denen es um Sachen wie Brunft und Bespringen ging, wurden nicht vor Mädchen oder Frauen geführt. Die waren reine Männersache – von jeher gewesen. Und Ella musste ihr unziemliches Wissen vor allen Außenstehenden verbergen und so tun, als ob sie in der Hinsicht ein unbedarftes Gänschen war. Wieso eigentlich? Was war so schlimm daran, Ahnung von solchen Themen zu haben? Zu wissen, was die Beschaffenheit des Schleims bedeutete, den stierige Kühe absonderten? Welchen Sinn machte die Regel, dass Mädchen nichts über das Entstehen von Leben erfahren sollten? In der Rüstungsindustrie arbeiten und tödliche Waffen herstellen, durften sie hingegen. Wie ungerecht und widersinnig!

„Ach, Milly.“ Ella hielt den Blick gesenkt und musterte unwillkürlich den Boden. Henri mistete den Stall viel ordentlicher aus als ihr Bruder. „Warum muss Englands Premierminister so stur sein? Kann Winston Churchill nicht einfach einen Friedensvertrag unterschreiben? Dann wäre der Krieg vorbei. Aber nein, er spuckt lieber Gift und Galle.“

Lauschangriff?

In der Küche drückte ihre Mutter Ella den Proviant für den Vater in die Hand. „Den hat er stehen lassen!“

„Ich bin schon unterwegs.“ Ella spurtete los.

Ein Glück! Ihr Vater war noch da und hievte die letzte Milchkanne für die Sammelstelle auf die Ladefläche.

„Mit lieben Grüßen von Mama.“ Sie reichte ihm den Korb.

„Richte ihr meinen besten Dank aus."

„Ist Henri schon zurück?“

Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Machst du dir Sorgen?“

„Nein, gar nicht! Er ist sogar ruhig geblieben, als Johann ihn vorhin fast überfahren hat.“

Ihr Vater hatte die beiden belgischen Kaltblutwallache bereits eingespannt. „Wie bitte?“

Sie erzählte ihm, was passiert war, während er den Korb mit Butterbroten, Dauerwurst und Wasserflasche samt Bügelverschluss in das Staufach unter der Sitzbank stellte.

„Der kann froh sein, dass ich nicht darauf zugekommen bin.“ Die Stimme ihres Vaters wurde mit jedem Wort lauter. „Dieser verantwortungslose Id…“

Ella sah sich um. Was, wenn jemand lauschte? „Pst, sag es nicht, Papa.“

Er brach mitten im Wort ab und sie horchten. Eins der Pferde schnaubte. Eine Fliege surrte an Ellas Ohr vorbei. Ein dumpfes … Hatschi?

„Bist du das, Henri?“, rief ihr Vater.

„Nein, Matthias, ich bin es. Heil Hitler!“ Dörte Kornbach, eine Frau Anfang vierzig, trat hinter der Mauer beim Misthaufen hervor, lachte affektiert und hob den Arm zu einem vorbildlichen Führergruß. Angeblich hatte sie früher einmal als hübsch gegolten. Ella fand es schwer vorstellbar, weil alles - bis auf die schrille Stimme - an dieser Frau schlaff und fade wirkte – die Haut, die stumpfen aschblonden Haare, die wässrig blauen Augen.

Ihr Vater erwiderte den Gruß, wenn auch nicht ganz so zackig und akkurat. „Was treibt dich so früh am Morgen zu uns?“

Auch Ella hob die Hand, denn Dörte war eine, die für irgendwelche eingebildeten Verfehlungen oder Unterlassungen umgehend Meldung bei Gestapo-Johann machte.

Ihre Besucherin wedelte mit einer Liste. „Ich komme wegen Eisenspenden, Matthias. Ihr besitzt sicher noch einige alte Töpfe und Pfannen?“

Er runzelte die Stirn. „Das würde mich wundern. Wir haben letztes Jahr alles gegeben, was wir konnten.“

Dörte ließ nicht locker. „Aluminium wird auch gebraucht.“

„Bitte, geh rein.“ Er machte eine einladende Bewegung. „Ob zwischenzeitlich etwas kaputtgegangen ist, musst du meine Frau fragen.“

„Dann werde ich das tun.“ Dörte klopfte an die Haustür und wenig später bat Magdalena die Besucherin herein.

„Hat sie uns ausspioniert?“, fragte Ella ihren Vater im Flüsterton.

„Die Wände haben Ohren – das dürfen wir nicht einen Augenblick vergessen.“ Er griff nach den Leinen des Fuhrwerks. „Gut, dass du mich gewarnt hast.“

Die Pferde schnaubten, irgendwo bellte ein Hund. In der Ferne kündete ein vergnügtes Pfeifen Henri an. Es wurde rasch lauter. Kurz darauf winkte er ihnen von der Hofeinfahrt zu, flitzte näher und sah zu ihrem hochgewachsenen Vater auf. „Die Kühe sind auf der Weide, Herr Gronau. Und das Gatter habe ich zugemacht. Das hält bombenfest. Ich hab’s zweimal überprüft.“

„Stell dich nicht vor die Deichsel, Junge, das ist gefährlich. Komm her zu Ella und mir und hol dir dein Lob ab.“

„Oja, Papa, das hat er verdient. Ich bin heilfroh, dass wir jetzt einen Knecht haben, der uns unterstützt. Sonst hätte ich bald das breite Kreuz und die Arme eines Preisboxers gekriegt, so oft wie ich Martin in letzter Zeit bei den Stallarbeiten vertreten musste.“

„Das möchte ich sehen, du Flederwisch im Ring.“

„Ich auch!“ Henri hielt lieber einen halben Meter Abstand von den großen, schweren Pferden.

„Ella, deine Gegner würden es ohnehin nicht übers Herz bringen, dich zu prügeln, sondern kampflos aufgeben.“ Ihr Vater strich sich durch das kurze graue Haar, zwinkerte ihnen zu und wies zum Stall. „Die Milly bringt ihr bitte gegen elf zu Onkel Alphons. Besprochen ist es. Am besten huschst du vorher trotzdem kurz zu ihm hinüber und fragst, ob es ihm um die Zeit auch passt.“

„Oh, verkaufen Sie die dem, Herr Gronau?“

„Ich selbst besitze keine Zuchtbullen. Die Milly muss aber ein Kälbchen haben, sonst versiegt ihre Milch über kurz oder lang.“

„Ach so, und ich dachte, zum Milchgeben reicht es, wenn eine Kuh einmal im Leben ein Kälbchen gehabt hat.“

Ella musste über das Stadtkind schmunzeln. „Schön wär’s.“

„Von dem Soll an Milch, das Milly bringen müsste, ist sie leider weit entfernt.“

„Das bleibt unverändert hoch. Ganz egal, was mit den Kühen ist.“ Sie fand das ungerecht.

In dem Moment trat Dörte aus der Haustür. „Einen Aluminiumeimer könnt ihr entbehren. Also hat sich das Nachfragen gelohnt. Morgen komme ich mit dem Bollerwagen und hole die Sachen ab.“ Nach einem ‚Heil Hitler‘ stob sie in Richtung Blaue Forelle davon.

„Darf ich Sie noch etwas fragen, bevor Sie losfahren, Herr Gronau?“

„Schieß los, Junge.“

„Was passiert mit der Milly, wenn es nicht klappt mit dem Kälbchen?“

„In dem Fall bleibt mir nichts anderes übrig, als sie zum Abdecker zu bringen.“

„Papa!“, entfuhr es Ella wider besseres Wissen.

„Und wie ist das, wenn Kühe krank werden und gar keine oder nur ganz wenig Milch geben?“, bohrte Henri weiter.

„Wenn wir nicht genug Milch abliefern, muss Papa Strafe zahlen.“ Ella presste die Zähne aufeinander, damit sie nicht lauthals los schimpfte.

„Oh! Das ist ja wie zweimal Prügel für eine schlechte Note.“

„Du hast es erfasst.“ Ihr Vater lächelte flüchtig. „Die strengen Maßnahmen sollen verhindern, dass wir Bauern unter der Hand Produkte abzweigen und auf eigene Faust verkaufen. So gesehen sind sie sinnvoll und ich kann es den Behörden nicht einmal verdenken. Mich stört lediglich, dass die gesamte Bauernschaft wegen der Habsucht und Betrügereien Einzelner über einen Kamm geschoren wird.“

Hatte er jemand Bestimmten im Sinn? Nachzuhaken wagte Ella nicht. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mich deswegen aufzuregen, lohnt nicht. Ich kann es eh nicht ändern. Bis heute Abend, ihr zwei, es wird spät werden.“

„Komm gut zurück, Papa.“ Ella umarmte ihn fest.

„Auf Wiedersehen, Herr Gronau.“

Kurz darauf kutschierte ihr Vater das Gefährt vom Hof und bog auf die Straße in Richtung Trier ein.

Henri sah so aus, als ob er etwas sagen wollte. Es dauerte einen Moment, bis er sich überwand. „Du sagst Papa zu deinem Vater? Kriegst du da keinen Ärger mit ihm?“

„Nein, weshalb sollte ich?“

„Na, weil das typisch für Franzosenkinder ist und es ein schlechtes Licht auf euch wirft.“

„Pff!“ Ella faltete ihre Arme vor der Brust. „Zuhause nenne ich meinen Vater, wie ich will.“

„Wohin fährt er eigentlich?“

„Nach Thalfang in den Wald. Mit anderen Männern, die er unterwegs aufliest, muss er dort Holz schlagen. Sicher begleitest du ihn später einmal zu solchen Einsätzen. Die Arbeit ist anstrengend.“

„Wieso macht er das? Ihr habt auf dem Hof doch genug zu tun?“

„Es ist eine kriegswichtige Aufgabe, die erledigt werden muss. Mein Vater ist gesetzlich dazu verpflichtet. Jeder Deutsche übrigens! Für Laster sind die Hänge zu steil, darum rekrutieren sie Leute mit Pferdewagen.“

„Und wofür ist das viele Holz?“

„Für alles Mögliche. Was weiß ich? Vielleicht für Schanzen- oder Behelfsbrücken?“ Ella dachte nach. Der Vater einer jüngeren Klassenkameradin arbeitete als Schaffner in der Bimmelbahn nach Trier und das Mädchen hatte vor Kurzem aus dem Nähkästchen geplaudert. „Außerdem baut die Reichsbahn das Schienennetz im Osten aus und die Bohlen für neue Trassen sind aus …“

„… Holz.“

„Genau“, antwortete sie.

„Im Osten war ich noch nie!“ Henri beschirmte seine Augen mit der Hand und sah in den blauen Himmel. „Ob es dort auch so heiß wird wie heute und hier?“

Sechsundzwanzig Grad hatte der Radiosprecher angekündigt. „Angenehm warm trifft es eher. Aber du hast schon recht: Wie viele Stunden Vater bis nach Thalfang braucht oder ob er im Hochsommer unterwegs einen Sonnenstich kriegt, ist den Beamten hinter ihren Schreibtischen vollkommen egal. Dienst ist Dienst, Pflicht ist Pflicht. Hauptsache, sie können in irgendeine Liste ein Häkchen setzen, einen Stempel auf das Papier drücken und ihrem Chef das Blatt zur Unterschrift vorlegen. Zuletzt heften sie es in den Ordner, auf dem ‚Erledigt‘ steht. Punktum, das war es.“

Die Kirchenglocke läutete. Noch eine halbe Stunde bis zur Messe! Und irgendwo ungerecht, dass außer Schulkindern nur unverheiratete Frauen und Mädchen jeden Morgen hingehen mussten, weil es zu ihren unverrückbaren Pflichten gehörte.

„Ich spalte inzwischen Holz.“ In der Scheune riss Henri die Axt aus dem Hauklotz. „Davon krieg ich Muskeln. Ruft ihr mich, wenn’s Frühstück gibt.“

„Keine Angst, wir vergessen dich nicht.“ In der Wasserschüssel, die im Stall auf einem alten Hocker bereitstand, schrubbte Ella mit Kernseife und Bürste den Dreck unter den Fingernägeln weg. Die nassen Hände wischte sie an ihrer Arbeitshose ab. Heute würde sie auf gar keinen Fall zu spät zur Frühmesse kommen und indignierte Blicke frommer alter Damen oder ihrer ehemaligen Lehrerin ernten! Ella sah ihre Handknöchel an, die noch bis vor Kurzem so manchen Hieb einstecken mussten. Biestig weh tat das. Erleichtert seufzte sie auf. Schulzeit und Schläge gehörten seit Ostern der Vergangenheit an. Sie hatte ihre Jahre im Klassenzimmer ‚abgesessen‘ und das Abschlusszeugnis in Empfang genommen – gar kein so schlechtes. Auf einmal stutzte sie. Himmel, was war denn das für ein Lärm? Diese aufgebrachten Stimmen?!

Die leere Schnapsflasche

Beunruhigt flitzte Ella quer durch die Scheune zum Anbau, aus dem laute Stimmen drangen. Großvater Gustav, ihr Bruder Martin und seit Neuestem auch Henri hausten hier im ‚Männertrakt‘. In dem Moment als sie die Klinke fassen wollte, riss Ida die Tür auf und Ella griff ins Leere.

„Mir reicht’s! Die elende Sauferei von dem Alten. Wat bildet der sich ein? Irgendwann kündig ich und such mir wat anderes!“ Die Finger der Magd, die dort eigentlich die Zimmer kehren und den Pinkelpott des Großvaters nach draußen tragen und ausleeren sollte, umklammerten den Hals einer leeren Schnapsflasche. Ida hielt das Ding so, als ob sie einen damit erschlagen wollte. Mit hochrotem Gesicht und zusammengekniffenen Brauen machte sie direkt vor ihr Halt. „Wenn dat hier so weitergeht, bin ich weg!“

Die Worte trafen Ella wie ein Schlag. „Meinst du das Ernst? Willst du uns verlassen?“

Ida kannte Ella seit dem Tag ihrer Geburt. Für sie gehörte die Magd genauso zur Familie wie Traudl, die Köchin, oder Tante Lydia, die tatsächlich eine Verwandte war.

„Komm sofort zurück, du dumme Gans!“, polterte der Großvater in seinem Zimmer.

„Also dat eben …“ Ida ließ die Hand mit der Flasche sinken, pfefferte die Tür zum Anbau ins Schloss und strich ihren Rock glatt. „… ist mir im Ärger rausgerutscht. Ich mein dat nit wirklich.“

Für ihr Alter, Ida zählte ein gutes Stück über dreißig, sah sie noch sehr flott aus. Und wenn sich mal ein Transport mit Soldaten nach Wingert verirrte, pfiffen ihr die Kerle hinterher.

„Du bleibst also hier?“, fragte Ella.

„Natürlich! Wo sollt ich denn hinwollen?“

„Komm her, du! Wird’s bald!“, brüllte Gustav.

„Puh, Großpapa scheint wieder einmal sehr schlecht gelaunt zu sein.“

„Der is halt ganz anders als früher.“

Das stimmte leider. Wenn Ella ihn beschreiben müsste, dann mit dem Wort ‚Launenhaft‘. In der einen Minute lieb und nett und im nächsten Moment aufbrausend und ungeduldig. Meist ohne Grund, oft auch, weil ihm etwas misslang. Manchmal schaffte er es nicht, die Hose rechtzeitig zu öffnen und schimpfte wegen der vielen Knopflöcher laut drauflos. Er brunste auch oft neben den Pinkelpott. Und es war nun wirklich kein Vergnügen, die Pfützen aufwischen zu müssen. Inzwischen müffelte sein ganzes Zimmer trotz der Gummimatte, die den Urin daran hindern sollte, in die Ritzen zwischen den Holzdielen zu laufen. Mitunter haftete ihm sogar selbst ein unappetitlicher Geruch an. Auf die Idee, seine Kleidung zu wechseln, kam er deswegen noch lange nicht, obwohl ihm ihre Mutter Magdalena Wechselwäsche herauslegte.

„Noch vor einem Jahr war dat ein so feiner Herr. Der nie wat gemacht hat und jetzt?“

Sie schwiegen beide. Gustavs Benehmen gehörte wie die Politik zur Rubrik ‚heikles Thema‘.

„Ich weiß, was du meinst.“ Als kleines Mädchen hatte Ella ihren Großvater regelrecht vergöttert. Sobald er damals in der Stube in seinem Ohrensessel Platz genommen hatte, kletterte sie auf seinen Schoß. Sofern ihre Cousine Judith ihr nicht zuvorkam. Manchmal hob er sie auch beide auf seine Knie, die eine links, die andere rechts, und sie schmeichelten ihm und bettelten gemeinsam um eine Geschichte. Fasziniert von seiner lebhaften Art zu erzählen, hingen sie an seinen Lippen. Mit Wonne lauschten sie den Schilderungen seiner Jugend, den Berichten über die Urgroßeltern und dem Leben mit seiner innig geliebten Lieselotte. Sie war lange vor der Geburt ihrer Enkelin leider verstorben. Mit den Jahren wurden Judith und Ella zu groß für seine Knie und zu alt für die immer gleichen Geschichten. Mit jeder Wiederholung verloren sie mehr von ihrem Glanz, bis sie wie ein trüber Spiegel matt geworden waren. So vieles hatte sich geändert. Judith lebte längst nicht mehr bei ihnen. Großvater Gustav trank zu viel und die Schnäpschen nannte er seine Medizin. Es war leider eine, die ihm alles andere als guttat. Doch das wollte er nicht einsehen. Seinen achtzigsten Geburtstag würden sie im Juli im kleinen Kreis feiern. Nicht nur wegen des Krieges – die Tage häuften sich, an denen es Gustav nicht mehr in den Kopf ging, dass seine Frau tot war. Und wehe dem, der ihn auf seinen Irrtum hinwies.

„Lotte, ich hab’s nicht so gemeint. Komm zurück!“ Gustavs Stimme klang flehend, schlug aber gleich wieder in einen Befehlston um. „Was fällt dir ein! Du kannst nicht weggehen! Lieselotte!“

„Sucht er wieder meine Großmutter?“

Die zusammengezogenen Augenbrauen kehrten in Idas Gesicht zurück und ihre Lippen wurden zu schmalen Strichen.

Irritiert musterte Ella die Ältere. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“

„Ach wat.“

„Lieselotte, ich werde böse!“

Wenn ihr Großvater sich in einen Wutanfall hineinsteigerte, mussten alle im Haushalt leiden. Noch hatte Ella die Chance, einzugreifen und ihn zu beruhigen.

„Am besten, ich schaue mal nach ihm.“ Sie wollte die Klinke fassen, aber Ida packte ihr Handgelenk mit festem Griff und drückte es unnachgiebig hinunter. So heftig schüttelte sie den Kopf, dass ihre halblangen Haare wild hin- und herflogen.

„Du gehst da nit rein. Und ich auch nit. Basta!“

„Was ist denn los? Ist Großpapa dir gegenüber ausfällig geworden?“ Er konnte nicht nur Geschichten erzählen, sondern auch unflätig schimpfen.

„So ungefähr. Außerdem hat er sein Nachtgewand vollgepinkelt und is jetzt splitterfasernackt. Dat is ein Anblick, den willst du nit sehn. Ich geh gleich wieder zu ihm rein.“

„Falls du dich sehr über ihn geärgert hast, solltest du mit meiner Mutter darüber sprechen.“

„Alles is gut.“ Ida machte keine Miene, ihren Platz zu räumen oder die Flasche in den Müll zu bringen. „Um deinen Großvater kümmer ich mich. Dat is meine Arbeit und du kannst in Hosen nit vor dem Pfarrer Grimm zur Morgenmesse erscheinen. Nun geh schon.“

Ella zögerte nicht länger. Wieso hatte ihre Mutter eigentlich nichts von dem Drama mitbekommen? Idas Reaktion sprach auf jeden Fall für ein ernstes Problem. Bei der Tür, die zur Küche führte, tauschte Ella die Arbeitsstiefel gegen Hausschuhe, drückte die Klinke hinunter, trat ein und erhielt Antwort auf ihre Frage. Magdalena stellte eine Schüssel Erdbeerkompott auf dem Tisch ab, die sie wohl gerade aus dem kühlen Keller geholt hatte.

„Magda…, äh, Mama, magst du, dass ich die Schüssel auf den Tisch stelle?“

„Danke, gerne.“

Ob der Fauxpas ihrer Mutter aufgefallen war? Sie musterte Ella eindringlich, sagte aber nichts. Um dem forschenden Blick zu entkommen, griff Ella nach der Schüssel, die sich angenehm kühl, glatt und ein bisschen feucht anfühlte. Mit einem trockenen Tuch wischte sie das Schwitzwasser ab. Es war wie verhext: In Gedanken benutzte Ella immer häufiger den Rufnamen ihrer Mutter. Was sicher damit zusammenhing, dass ihr vor drei Wochen die Lederkladde mit den Jugenderinnerungen Magdalenas beim Staubwischen aus dem ansonsten abgesperrten Schrank vor die Füße gefallen war. Neugierig hatte sie in die verbotene Lektüre hineingeblättert und Seite für Seite bei den Sorgen, Nöten und Liebeskummer einer Gleichaltrigen mitgefiebert. Außerdem stand dort schwarz auf weiß geschrieben, dass ihre Mutter es mit der Anrede der eigenen Eltern seinerzeit genauso gehandhabt hatte wie Ella jetzt im Geheimen bei ihren. Damals war sie durch Schritte jäh unterbrochen worden und seither wartete sie sehnsüchtig auf eine Gelegenheit, weiterzulesen. Und das, obwohl sie wusste, wie die Geschichte mit Onkel Heiners Brief an die Düsseldorfer Kunstakademie ausgegangen war.

Aufmerksam beobachtete Ella ihre Mutter, die mit umgebundener Schürze am Herd hantierte. Mit der schlanken Figur und dem fein gezeichneten Gesicht konnte sie ohne Weiteres als ihre ältere Schwester durchgehen. Im Dorf gab es genug Familien, bei denen zwischen den ältesten und jüngsten Sprösslingen gut und gerne zwanzig Jahre lagen. Da brachten es Ortsfremde mit ihren Vermutungen über Familienbeziehungen leicht fertig, in peinliche Fettnäpfchen zu treten. Wie es letzthin Fritz Kornbach widerfahren war. Ein Gast der Blauen Forelle hatte Dörte für eine der Töchter ihres Mannes gehalten. Irgendwo eine Unverschämtheit. Denn im Vergleich zu seiner mit Schminke zugekleisterten Frau sah er eigentlich gar nicht übel aus.

Ellas Blick ging zu dem langen Tisch und der Bank an der Wand, mit ihrem Lieblingsplatz am Fenster, von dem aus sie den Garten im Blick hatte. Dort sitzen, dazu ein Glas kuhwarme Milch und ein Butterbrot – das wäre es jetzt. Ihr Magen knurrte. Doch vor dem Empfang der Heiligen Kommunion gab es nichts zwischen die Zähne! Noch eins der ehernen Gesetze im Dorf. Und zu trinken allenfalls Wasser! Und das, obwohl Ella schon Stunden auf den Beinen verbracht und weiß Gott nicht auf der faulen Bärenhaut gelegen hatte. Als sie daran dachte, dass Magdalenas junges Ich über die gleichen Punkte geklagt hatte, die ihr selbst sauer aufstießen, musste sie grinsen. Das betraf sogar die Beichte. Inzwischen empfand Ella den Kirchbesuch allerdings eher wie ein heimliches Aufbegehren gegen die allgegenwärtigen Forderungen und Parolen der Nazis und sie lauschte den Predigten deutlich interessierter als früher. Vielleicht, weil sie mittlerweile die Bedeutung der Worte begriff. Im Übrigen machten weder der Pfarrer noch seine Schwester, die ihm den Haushalt führte, einen Hehl aus ihrer ablehnenden Haltung gegen die derzeit herrschende politische Strömung, der sie eindeutig keine tausend Jahre gaben. Also hängte die olle Kornbach die beiden oft und gerne bei der Gestapo hin - und im Dorf hieß es hinter vorgehaltener Hand, dass die Grimms demnächst im Konzentrationslager landen würden, wenn sie ihren Mund nicht hielten.

„Liebes, die Kirche! Traudl und Tante Lydia sind gerade zur Tür hinaus“, ermahnte ihre Mutter sie. „Beeil dich ein bisschen.“

„Die gehen immer viel zu früh los, weil sie vor der Morgenmesse noch mit den Ferber-Schwestern tratschen wollen.“

„Ella!“

„Wenn es doch stimmt, Mama.“

Magdalenas Mundwinkel zuckten, während Ella die Schlagzeilen der ersten Seite der Zeitung überflog.

Frankreich am Boden! Und jetzt gegen England? Über dem Leitartikel stand in fetten Lettern: Zweihunderttausend Kriegsgefangene an einem Tag. Die französische Armee befindet sich in völliger Auflösung.

Eine Welle des Mitleids mit den Verlierern überflutete Ella. Ihr Land war vernichtend geschlagen und sie hockten von ihren Lieben getrennt zusammengepfercht wie Schlachtvieh in viel zu kleinen Lagern. Während sie die Stufen hochstürmte, musste sie an die horrende Zahl von über einer Million französischer Kriegsgefangener denken, die Anfang Juni Schlagzeilen gemacht hatte. Heute in der Kirche würde sie für diese Menschen beten.

In ihrem Zimmer legte Ella die anstößige Hose ab, hängte sie über den Stuhl und strich über die Lehne, wo ein Fussel hing. Sie warf ihn aus dem Fenster. Wie der Rest der Einrichtung – Bett, Schrank und Tisch – stammte der Stuhl aus den Beständen ihrer Urgroßeltern, war den damaligen Vorlieben entsprechend aus Nussbaumholz gefertigt und alles zusammen fand sie urgemütlich. Rasch holte sie einen dunkelgrauen Rock vom Bügel, der an einem Haken an der Wand hing, und schlüpfte hinein. Unempfindliche Farben und ein ebensolcher Stoff - Kriegsmode, die nicht schick und elegant zu sein brauchte, wenn deutsche Soldaten in der Ferne kämpften. Zwei Aquarelle ihres Onkels Heiner hatten einen Ehrenplatz an der Wand erhalten. Eine Ansicht des Weinbergs der Familie und ein Blick auf die Leiwener Moselschleife, der schönsten des gesamten Flusses – beides jeweils in warmen Herbstfarben zu Papier gebracht. Der Bruder ihrer Mutter hatte an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert und es in Deutschland unter Hitler nicht ausgehalten. Ein Foto von ihm und seiner Familie – als Witwer mit Tochter hatte er eine Witwe mit Sohn geheiratet – hing neben seinen Kunstwerken. Es zeigte die ‚Kanadier‘ vor ihrem Haus in Vancouver. Seit Kriegsbeginn war jede Nachricht von Heiner und seinen Lieben ausgeblieben. Sie hier in Wingert wussten nicht, wie es ihren Verwandten in der Ferne ging - genauso wenig wie umgekehrt. Briefe aus Deutschland konnten sie selbstverständlich auch keine ins Feindesland senden. Besonders ihre Cousine vermisste sie immer noch schmerzlich. Ellas Verstand bläute ihr ein, dass einer Halbjüdin wie Judith - und Juden überhaupt – gar nichts Besseres passieren konnte, als Deutschland rechtzeitig den Rücken zu kehren. Trotzdem wollte ihr Herz die Cousine zurück, die wie eine Schwester mit ihr aufgewachsen und nur wenige Monate mehr zählte als sie. Vielleicht waren sie einander nach sieben Jahren fremd geworden? Außerdem dauerte der Krieg an. Der musste erst enden, bevor sie an einen Besuch denken durfte. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ella eine Bewegung beim Fenster. Eine dunkle Silhouette, ein leises Maunzen. Mit einem eleganten Satz landete Maumau, ein grau getigerter Kater, auf der Überdecke ihres Bettes und rollte sich dort zusammen.

„Na, du?“ Schon vor Jahren hatte Ella es aufgegeben, die Katzen davon zu scheuchen. Im Sommer stand das Fenster in der Früh zum Lüften meist sperrangelweit offen und die gewieften Mäusefänger kamen und gingen, wie sie wollten. „Heute ohne Geschenk?“

Vor allem Maumau brachte ihr von seinen Ausflügen gerne lebende Mäuse mit, die teils noch in der Lage waren, in einen Unterschlupf zu flüchten. Ella ging zu ihm hinüber. Lächelnd beugte sie sich über das Bett und kraulte ihn hinter den Ohren, wo sein Fell besonders weich war. Ein Brummen erfüllte den Raum, sein schönstes Schnurren. Schließlich gähnte er, ließ seine weißen Zähne aufblitzen und suchte zuletzt nach einer bequemeren Schlafposition auf der Überdecke. „Falls du gerade an uns denkst, Judi, wir sind alle wohlauf und deinem Kater geht es gut.“

Die Kirchenglocken! Jetzt aber los!

Frühstück mit Hindernissen

Hungrig stürmte Ella nach dem Besuch der Morgenmesse in die Küche, dicht gefolgt von Ida. Die beiden alten Damen, Tante Lydia und Traudl, trödelten noch an der Garderobe herum. Obwohl es an dem langen Tisch reichlich Platz für ein gemeinsames Frühstück gab, hatte Magdalena in der Stube gedeckt, wie es Großvater gewohnt war. Veränderungen in seinem Tagesablauf behagten dem alten Herrn überhaupt nicht und so blieb die Familie dort wie gewohnt unter sich, während die beiden Mägde und Henri nebenan aßen.

Ihre Mutter legte die Schürze ab. „Ich gehe rasch zu Gustav hinüber und sage ihm, dass das Frühstück fertig ist.“

„Das kann ich doch machen, Magda … Äh, magst du da nicht …?

„Was denn, Ella?“

„… stattdessen lieber in die Stube gehen? Also, ich wollte damit nur sagen, dass ich die jüngeren Beine habe und ich …“

„Lass nur. Wenn du helfen willst, kannst du schon einmal die Kaffeekanne in die Stube bringen.“

Geschickt wickelte Ella ein Tuch um den heißen Griff und den Bauch der Kanne. Selbst so geschützt konnte sie die Hitze spüren. Sie eilte los. Ihre Finger brannten und in ihrer Hast wäre sie beinahe gegen die Kante des Vertikos gestoßen, den halbhohen Schrank, der in der Stube an der Wand stand. Ihre Mutter hatte alles vorbereitet, auch ein Untersetzer lag bereit. Ella stellte die Kanne darauf ab und wedelte mit beiden Händen durch die Luft. Puh, gerade noch geschafft! Beim Anblick der Leckereien für das Frühstück, die sie hungrig inspizierte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Schalen mit Quark, Dickmilch und Erdbeerkompott aus sonnengereiften Früchten fehlten genauso wenig wie etwas Butter und ein paar Scheiben Hartwurst, die so auf einem Teller drapiert waren, dass sie nach mehr aussahen, als es tatsächlich gab. Unwillkürlich schielte sie zum Brotkorb. Das Knäuschen, Endstück und leckerstes Teil überhaupt, lag zuoberst. Bevor sie der Verlockung erliegen und es schnappen konnte, kündeten Schritte im Flur die anderen an. Na dann, nicht. Sie schnitt eine Grimasse, die ihr der Spiegel, der in den altmodischen Holzumbau des dunkelgrünen Sofas eingelassen war, prompt zurückwarf. Kurz nacheinander traten Tante Lydia, Großpapa Gustav und Magdalena ein. Ella wartete, bis die anderen saßen, nahm auf ihrem Stuhl Platz und faltete die Hände. „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“

Seit Henri in ihr Leben getreten war, sprach sie die Worte des Gebets viel andächtiger als vorher. Sie hatten genug zu essen – viele andere nicht.

Ohne Matthias und Martin zum Frotzeln verliefen die Mahlzeiten meist recht ruhig. Bis auf Floskeln wie: ‚Reichst du mir bitte die Butter‘ oder ‚dieses warme Wetter ist gut für die Weinblüte‘ wurde kaum ein Ton gesagt. Ella war es recht. Sie schmierte Quark auf ihr Brot, gab einen großen Klecks Erdbeerkompott darauf und biss ab. Wie köstlich, aromatisch und süß!

Magdalena legte Ellas Großvater unterdessen eine Serviettenkette um den Nacken und knipste ein Mundtuch aus Leinen an den Endstücken fest. „Was möchtest du essen, Schwiegerpapa? Ein Brot mit Wurst?“

„Pfui Teufel, nein. Ich will den … Du weißt schon den … Was du immer machst … Den … Brei.“

Heute gelüstete es Gustav ausnahmsweise nach etwas Süßem.

„Wie du wünschst.“ Mit einem Messer zerteilte ihre Mutter eine Scheibe Brot in Stückchen, füllte sie in eine Schale und gab reichlich Dickmilch dazu. Sie streute ihm sogar einen Löffel Zucker darüber, zwar keinen gehäuften, aber immerhin.

„Du bist geizig“, schnauzte Gustav sie an.

„Großpapa, Mama kann nichts dafür. Seit Krieg herrscht, ist Zucker rationiert.“

Er führte seine Tasse zum Mund, nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. „Igitt, das Zeug schmeckt widerlich.“

„Da hast du recht.“ Tante Lydia nippte selbst an dem Gebräu und verzog das Gesicht. „Aber echter Bohnenkaffee ist praktisch nicht mehr zu kriegen.“

„So ist es und das Wenige an Zucker, was uns zugeteilt worden ist, brauchen wir zum Einkochen.“ Magdalena wies auf das Kompott. „Die Beeren sind reif.“

„Unsinn, du lügst. Du und die da!“ Gustavs Augen wurden schmal.

Als ob er sie für seine Feinde hielt, schoss es Ella durch den Kopf.

Seine Mundwinkel gingen nach unten. „Ihr widert mich an, ihr Diebinnen! Ihr fresst den Zucker selbst.“

„Das stimmt nicht, Großpapa! Wieso behauptest du so etwas?“

Magdalena fing Ellas Blick ein, legte den Zeigefinger an die Lippen und schüttelte den Kopf. „Möchtest du stattdessen Kompott? Es schmeckt süß und sehr lecker. Wir haben es aus frischen Früchten zubereitet, die wir durch die flotte Lotte gegeben haben und müssen es schnell verbrauchen.“

„So etwas Gutes kriegst du nicht im Geschäft!“ Lydia reichte ihm einen Löffel mit Mus. „Hier, bitte, probiere es.“

„Billiger Dreck!“ Gustav neigte den Kopf hin und her und begutachtete die Kostprobe aus schmalen Augen.

„Mir schmeckt es.“ Magdalena bediente sich an der Schüssel. Gustav tunkte nun doch den Löffel in seine Schale mit dem Brot und der Dickmilch und rührte darin herum. Ella beobachtete ihn, ohne es zu wollen: Seine faltigen Wangen wiesen Bartstoppeln auf und die schütteren weißen Haare standen zerrauft vom Kopf ab. Abgenommen hatte er außerdem. Das Hemd war ihm zu weit geworden. Die schlaffe Haut seines Gesichts sah blass aus. Die Hand, mit der er den Löffel zum Mund führte, zitterte. Unwillkürlich streckte Ella ihre Rechte aus. Zum Eingreifen war es zu spät: Die ersten Kleckser landeten auf der Tischdecke.

„Falsch! Hier ist alles falsch.“ Gustav schleuderte den Löffel zu Boden. Das Metall schlug scheppernd auf das Parkett, wo die Reste der Dickmilch ein Spritzmuster hinterließen.

„Ich reibe rasch die Flecken weg und mache dir etwas anderes zurecht.“ Magdalena sprang auf, um nach dem Tuch zu greifen, das auf dem Vertiko lag.

„Also wirklich, Gustav!“ Lydia tupfte mit ihrer Serviette die Dickmilch von der Tischdecke. „Du benimmst dich wie ein kleines Kind.“

Währenddessen fischte Ella mit den Fingern nach dem Löffel, der bis unter ihren Sitz geschlittert war.

„Du! Was hast du mit Lieselotte gemacht? Lotte, was haben sie dir gegeben? Lotte?!“ Gustav schob seinen Stuhl zurück und kam flinker auf die Beine, als Ella es ihm zugetraut hätte. Mit beiden Händen packte er Lydia an den Schultern und schüttelte sie. Gerade so eben fing die alte Dame die Tasse ein, die sie eigentlich zum Mund geführt hatte. Es klirrte, als Lydia sie auf dem Unterteller abstellte. „Bist du noch bei Sinnen?“

„Du hast Lieselotte vergiftet! Stimmt’s? Und jetzt bin ich dran. Mörderin, du mischst mir Gift ins Essen! Du Hexe, du!“

„Bitte, lass Lydia los, lieber Schwiegerpapa!“ Äußerlich wirkte Magdalena gelassen, aber das leichte Flirren ihrer Stimme bewies Ella, dass ihre Mutter nicht so ruhig war, wie sie sich gab. Gustav ließ los. Das war immerhin etwas.

„Ich gehe hinaus.“ Lydia erhob sich.

Magdalena nickte. „Am besten, wir lassen ihn alle in Ruhe. Kommt, wir gehen!“

Ella folgte den beiden.

„Ihr … Ihr wollt mich vergiften!“ Gustav griff die Steingutschale mit der Dickmilch und holte aus.

„Tante Lydia, Achtung!“

Zu spät! Ella schlug die Hände vor den Mund. Zum Glück hatte ihr Großvater schlecht gezielt. Donnernd krachte das Wurfgeschoss gegen die Wand, zerbarst in tausend Scherben und fiel auf den Boden. Sie sprang zur Seite. Bis hinten zu dem Ohrensessel ihres Großvaters flogen die Splitter. Ein paar größere Teile klirrten gegen die Messingtatzenfüße der Stehlampe und rutschten unter den kleinen runden Beistelltisch.

Lydias Bluse war mit Buttermilch bekleckert. Die Ärmste fasste an ihre Wange, von der ein roter Striemen abstach. Einige Bluttropfen quollen aus der Schramme hervor. Genug, um ihre Fingerspitzen rot zu färben. „Gustav, wenn einem von uns eine Scherbe in die Augen geflogen wäre!“

„Fehlt dir sonst etwas?“, fragte Magdalena. „Schmerzt es sehr?“

Während Ella für einen Moment wie zu Eis erstarrt dastand, schob ihre Mutter sich zwischen Lydia und Gustav.

„Schon gut, sorg dich nicht um mich. Mit mir ist alles in Ordnung.“

„Wat is denn hier los?“ Ida hatte unterdessen die Tür aufgerissen und stoppte abrupt auf der Schwelle.

Ellas Gedanken überschlugen sich. Ihr Großvater war ein alter Mann und sie jetzt zu viert. Mit ihm sollten sie spielend fertig werden.

„Ihr hinterhältigen Giftmörderinnen!“

„Großpapa, beruhige dich!“

„Lass ihn, Ella.“ Ihre Mutter packte sie am Arm und sie folgten Lydia zur Tür.

„Fresst es selbst, euer Gift!“ Gustav packte die Kaffeekanne und ließ sie sofort wieder los. „Wollt ihr mich verbrennen! Ihr Hexen.“ Fluchend schnappte er den Brotkorb und hob die Hand. Sie nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Geistesgegenwärtig schloss die Magd die Tür hinter ihnen und stemmte sich mit ihrem Gewicht dagegen. Sie hörten ein Bollern. Sicher der Brotkorb, der gegen die Tür gerumst war. Sie lauschten schweren Schritten. Die Klinke ging wild auf und ab. Ella und Magdalena eilten Ida zu Hilfe. Gegen ihre vereinten Kräfte kam ihr Großvater zum Glück nicht an.

„Lasst mich raus! Euch werd ich’s zeigen.“

Puh! Ella seufzte. So schlimm wie heute war es noch nie gewesen.

Traudl hastete auf Lydia zu und reichte ihr den Arm als Stütze. „Die schaffen dat ohne dich. Setz du dich in der Küch’ auf die Bank. Ich hol dir inzwischen eine saubere Bluse. Herrje, Henri, steh gefälligst nit im Weg rum. Mach dich nützlich! Gieß Wasser in ne Schüssel und setz den Teekessel auf’n Herd.“

„Ihr Diebinnen! Ihr widerwärtigen Mörderinnen! Ihr elendes Dreckspack! Lasst mich raus!“ Fluchen und Trommeln wurden immer lauter und gipfelten in einem Krachen, das nach einem heftigen Tritt klang. Das Holz vibrierte. Die Angeln knarrten. Hoffentlich hielt das Türblatt stand!

„Dat der noch solche Kräfte entwickeln kann, wo er doch so alt is.“ Ida war blass geworden und Magdalena sah mit ihren weit aufgerissenen Augen genauso aufgewühlt und erbärmlich aus wie Ella sich fühlte. Eine Mischung aus Angst, Wut, Sorge und sogar Mitleid mit Gustav schwappte über sie hinweg. Endlich wurden seine absurden Anschuldigungen leiser und gingen in Schluchzer über. Das Schlurfen von Schritten war zu hören und ein Knarzen, als ob Stuhlbeine über Parkett rutschten. Waren Gustavs Kräfte erschöpft? Hatte er sich in seinen Sessel gehockt? Ella presste ihr Ohr gegen das Holz. Hörte sie richtig? Jammerte er ‚Lenchen‘?

„Tretet bitte beiseite.“ Magdalena wischte mit beiden Händen über ihre Wangen und öffnete die Tür einen Spalt. „Gustav?“ Sie nickte ihnen kurz zu und trat ein.

Ella folgte ihr. Eingerollt wie ein Igel, der seine Stacheln verloren hatte, hockte er in seinem grünen Ohrensessel.

„Ist dir kalt?“

„Ja, mein liebes Töchterchen.“ Gustav schniefte und lächelte Magdalena an, die eine Decke aus dem Vertiko holte und über ihn breitete.

„Setzt du dich ein Weilchen zu mir?“, fragte er.

„Sicher doch.“ Sie griff nach seiner Hand und Ella brachte ihr einen der Stühle vom Tisch, auf dem ihre Mutter sich niederließ.

„Ich räum ab, Mama.“ Sie stapelte die Teller aufeinander.

„Da liegen Scherben.“ In Gustavs Stimme schwang Erstaunen mit.

„Die kehrt Ida gleich fort“, antwortete ihre Mutter ihm sanft.

Er deutete aufs Parkett. „Und Brot auf dem Boden.“

„Ich heb es auf.“ Ella fischte den Brotkorb aus einer Ecke. Sie kniete nieder, sammelte die Scheiben ein und war froh, als sie das Zimmer verlassen konnte. Auf dem Flur kam ihr Ida mit Eimer, Handbesen und Kehrblech entgegen.

Tante Lydia hockte mit gesenktem Kopf und blassem Gesicht auf der Küchenbank. Vor ihr stand eine Tasse mit Tee, der beruhigend nach Melisse und Lavendel duftete. Umständlich fingerte sie am Ärmel der sauberen Bluse, die sie zwischenzeitlich übergezogen hatte.

„Warte, ich helfe dir.“ Ella stellte den Brotkorb auf den Küchentisch, setzte sich neben Lydia und drückte den Knopf durch den engen Schlitz. „Tut dir die Wange sehr weh, Tantchen?“

Der Striemen war nach wie vor deutlich sichtbar und erhaben. Wenn die Schwellung erst einmal abklang, würde nur ein schmaler, blutverkrusteter Strich von ungefähr zwei Zentimeter Länge bleiben.

„Macht nicht so viel Aufhebens um den kleinen Ratscher. Da haben mich die Katzen schon schlimmer zugerichtet.“

Henri hatte sich in sein Eck verdrückt. „Mich hat eine mal bös erwischt, dabei wollt ich die nur streicheln. Dat hätt beinah eine Blutvergiftung gegeben.“

Ella nickte ihm zu. „Oje, das tut mir leid.“

„Ich hätt sie halt in Ruh lassen sollen.“

„Wie wär’s mit einer anständigen Stärkung?“ Traudl griff zu ihrer Patentlösung für alle Lebenslagen.

Stumm sahen sie ihr dabei zu, wie sie einige Eier in eine Pfanne schlug und auf dem Herd brutzelte. Was für ein furchtbarer Morgen. Ella dachte an ihren Großvater, musterte Lydias Wange und ließ den Kopf hängen.

„Hier, bitte, greift zu: Essen hält Leib und Seele beisammen!“

„Danke, für mich nicht.“ Lydia hob abwehrend die Hand.

Es roch lecker, aber auch Ella verspürte keinen Appetit und verzichtete.

„Ich nehme gerne, wenn ich darf!“ Sobald es ums Essen ging, fiel jegliche Zurückhaltung von Henri ab.

Traudl reichte ihm seine Portion und erntete ein Lächeln. Die restlichen Eier ließ sie auf einen großen Teller gleiten, richtete ein Tablett mit allem Nötigen und ging nach nebenan in die Stube.

„Lecker!“ Henri wischte die letzten Eigelbreste mit einem Stück Brot vom Teller. Noch während er den letzten Bissen schluckte, sprang er auf und räumte sein Geschirr zur Spüle. „Ich werd dann mal anfangen und den Kessel mit den Kartoffeln für die Schweine füllen. Sonst haben die armen Viecher heut Abend nix zu fressen.“ Er sauste zur Tür hinaus.

„Bist du in Ordnung, Tante?“ Ella gefiel die Gesichtsfarbe der alten Dame nicht, die im Grunde Anspruch auf den ehrwürdigen Titel Urgroßtante hegte.

„Die Aufregung war wohl doch ein bisschen viel für mich, Kind.“

Ella legte ihr einen Arm um die Schulter. Von klein auf hatte ihre Tante den Eindruck vermittelt, dass nichts, aber auch gar nichts ihr etwas anhaben konnte. Egal, was passiert war. Sei es, dass Ella von Bäumen purzelte, sich bei der Aktion ein Bein brach und ins Krankenhaus musste, Onkel Heiner auswandern oder Magdalena Juden verstecken wollte, Lydia handelte besonnen und stand ihren Lieben zur Seite, unerschütterlich ruhig wie ein Fels im sturmgepeitschten Meer. Ihr hageres Gesicht war von Falten zerfurcht und ein paar zusätzliche Pfunde auf den Rippen hätten ihr bestimmt gutgetan, aber dass ihr etwas zu viel wurde …

„Traurig is dat, wenn einer seine fünf Sinne nimmer beisammenhat.“ Traudl war in die Küche zurückgekehrt. Sie hob die gusseiserne Pfanne vom Herd, gab Salz hinein und schrubbte sie gründlich. „Ich war vierzehn, als ich hierhergekommen bin und werd siebzig in dem Jahr. Ich sollt mich endlich zur Ruhe setzen.“

Ida schleppte gerade das Putzzeug aus der Stube heran und stellte den Eimer so abrupt ab, dass das Schmutzwasser beinahe überschwappte. „Wat sagst du?“

„Dat ich in Rente geh. Je eher, desto besser.“

„Nein! Du kannst hier nicht einfach alles stehen und liegen und uns allein lassen! Du gehörst zur Familie.“ Ellas Unterlippe zitterte. „Genau wie Tante Lydia.“

„Du bist doch ein großes, verständiges Mädchen. Sieh mal her, der is gestern mit der Post gekommen.“ Traudl zog einen Briefumschlag aus ihrer Schürzentasche. „Mein Bruder is gestorben. Ich hab sein Häuschen geerbt.“

„Du hattest einen Bruder?“ Im Gegensatz zu ihr machten weder Ida noch Lydia einen sonderlich überraschten Eindruck bei dieser unerhörten Eröffnung.

Traudl überging die Frage. „Hier muss junges Blut her, dat gut schaffen kann.“

Ida nickte, griff nach dem Putzeimer und schleppte ihn hinaus.

„Und wegen des Hauses werd ich meine Zelte eher abbrechen müssen als gedacht.“

„Gäbe es dort denn auch ein Plätzchen für mich?“, fragte Lydia ernst.

„Was? Du willst auch fort?“ Ella biss ihre Zähne aufeinander, damit sie nicht lauthals aufbegehrte.

„Und ob! Für dich is dort immer ein Zimmer frei, meine Liebe. Wat sollen die hier auf dem Hof denn noch mit zwei alten Weibern wie uns? Nit mehr lang und du gehst auf die achtzig. Wenn du mit mir kommst, genießen wir dat Leben und machen uns ein paar schöne Jahre.“

„Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, weil mir so viel durch den Kopf gegangen ist.“ Lydia zog die Ärmel ihrer Bluse zurecht. „Vonseiten meiner Mutter habe ich dort in der Gegend selbst Verwandte. Obwohl wir kaum Kontakt haben.“

„Dat könntest du ändern.“

„Alte Bäume zu verpflanzen, ist und bleibt ein Wagnis. Und es gilt, einiges zu bedenken: Was wäre für den unwahrscheinlichen Fall, dass du vor mir zum Herrn abgerufen wirst?“

„Rück mal ein Stück.“ Traudl zwängte sich neben Lydia auf die Bank. „Wat redest du denn da. Wenn ich vor dir sterbe, erbst du dat Häuschen. Ich wüsst sonst keinen, dem ich’s lieber hinterlassen würd.“

Lydias Wangen waren auf einmal rosig überhaucht. Sie griff nach Traudls Hand. „Wenn wir keine Miete zahlen müssen, könnten wir von unseren Renten ein Dienstmädchen engagieren.“

„Und wo ist dieses Haus?“ Ella schwante der furchtbare Verdacht, dass es nicht in Leiwen stand. Vielleicht nicht einmal in Trier!

„In Kallmünz. Dat wird dir wahrscheinlich nix sagen, dat is ein kleiner Ort bei Regensburg.“

Ella überlegte einen Moment. „Aber, Traudl, das liegt in … Bayern.“

Die Köchin nickte. „In Lydias ehemaliger Heimat.“

„So weit weg?!“ Ella fasste es nicht. Dieser furchtbare Tag wurde immer schlimmer. „Wie kommt, ich meine, wie kam dein Bruder denn dorthin?“

„Der hat sich aus der Pfalz nach da versetzen lassen und meinen Eltern damit dat Herz gebrochen.“

„Und was sagen Papa und Mama zu diesen Plänen?“ Von denen Ella gar nichts hielt. Seit damals als Judi, Onkel Heiner und seine Familie fortgegangen waren, hasste sie Abschiede.

„Na, wat wohl? Die suchen einen Ersatz für mich. Und nun lass den Kopf nit hängen. Ich bleib so lang, bis deine Leut jemand gefunden haben, der ihnen passt.“

„Traudl, bevor du das Erbe antrittst, sollten wir nach Kallmünz fahren und gründlich prüfen, in welchem Zustand das Haus ist.“

„Dat is ne gute Idee, Lydia.“

Von wegen! Am besten die beiden fanden eine Bruchbude vor!

Erwachsenengespräche

Lydia und Traudl beschlossen, die Einzelheiten der Reise nach Bayern beim Beerenpflücken im Garten zu besprechen. Mit großen Emaille-Schüsseln bewaffnet gingen sie hinaus. Mit hängendem Kopf blieb Ella auf der Küchenbank hocken. Sie wollte nicht, dass die Frau, die sie von klein auf verhätschelt hatte, aus ihrem Leben verschwand – und gar noch Lydia mitnahm, die Ella als eine Art Großmutter betrachtete und innig liebte. Briefe boten nur einen erbärmlichen Ersatz für ein Lachen, eine Umarmung oder den Vanillepudding mit Eierschneebergen, Ellas Leibgericht, das Traudl ihr manchmal bei Kummer kredenzte.

Ida kehrte von draußen zurück, verstaute den Putzeimer im Besenschrank und nahm sich Tante Lydias verschmutzte Bluse vor, die in einer Schüssel weichte. Prüfend schaute die Magd in die Packung mit Waschmittel. Es wurde in den Geschäften immer knapper, da halfen auch Bezugsscheine nicht. Und das bisschen, das sie besaßen, musste höchst sparsam verwendet werden. „Der Fleck is fast draußen. Dafür verschwend ich dat lieber nit.“

Sie wrang das Kleidungsstück aus, legte es in die Spüle und nahm sich den schmutzigen Putzlappen vor, den sie ins Einweichwasser tauchte und zwischen ihren Fäusten rieb. „Na, du siehst nit grad begeistert aus, Ella.“

„Wusstest du über die Pläne der beiden Bescheid?“

„Dat haben sie mir vorenthalten, diese Heimlichtuerinnen. Ich hab gestern Abend nix davon mitgekriegt. Dat nehm ich ihnen aber nit übel. Im Leben wird’s immer wieder Dinge geben, an denen du nix ändern kannst. Die musst du ertragen – hilft nix. Et wird halt anders, ohne die beiden. Dat heißt nit, dat es schlechter sein muss.“

„Doch!“

„Sei nit albern.“ Ida kippte das Schmutzwasser in eins der Becken des Spülsteins. Gluckernd floss es in den Garten ab. Sie füllte frisches aus einer Kanne und heißes aus dem Becken neben dem Ofen nach und steckte behutsam die Hand hinein, um die Temperatur zu prüfen. Die schien zu passen, denn Ida griff zur Kernseife. „Die reicht für dat bisschen Wäsch.“

Ellas schlechtes Gewissen regte sich. „Brauchst du Wasser zum Ausspülen?“

„Schon.“

„Dann hole ich dir welches.“ Wie gut, dass der Brunnen seinen Platz in der Küche hatte. Ella ging zur Treppe, die ihn zumindest teilweise verbarg, räumte die Abdeckung beiseite und ließ den Eimer am Seil hinab. Mit einem Platschen tauchte er ins Wasser und lief im Nu voll. Sie ächzte, als sie die Kurbel der Winde drehte, und zog den schweren Eimer hoch. Sie hievte ihn auf den gemauerten Rand des Brunnens, stellte ihn auf den Boden und hob die Abdeckung wieder darauf. Geschafft!

„Ich hoff, dat die Ferber-Schwestern bald wieder Waschmittel reinkriegen. Sonst müss’n wir demnächst mit Buchenasche waschen wie unsere Großmütter anno dunnemal und eigene Seife sieden.“

Magdalena war aus der Stube gekommen. „Nun mal den Teufel nicht an die Wand!“ Sie stellte die benutzten Teller samt Besteck in das zweite Becken der Spüle, griff zu einem Lappen und wusch sie ab. „Gustav schläft jetzt übrigens friedlich in seinem Sessel.“