Wenn es Ahornblätter regnet - Elisabeth Marienhagen - E-Book
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Wenn es Ahornblätter regnet E-Book

Elisabeth Marienhagen

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Beschreibung

Ein Roman um ein dunkles Familiengeheimnis vor der der atemberaubenden Naturkulisse Kanadas »Berge, Meer, Häuser und Philippe. Sein Duft, seine Wärme. Ein Wirrwarr an Gefühlen brach über sie herein.« Auf ihrer Traumreise nach Kanada verliebt sich die früh verwaiste Janine in den deutschstämmigen Philippe. Ein Besuch bei seinen Eltern in Québec endet mit einem Eklat: Offensichtlich kennt sein Vater ihre Familiengeschichte besser als sie selbst. Als er Janine aus dem Haus weist, bricht Philippe zornig mit ihm. In der Hoffnung, die beiden zu versöhnen, taucht Janine immer tiefer in die Lebensgeschichte ihrer Großmutter ein. Schließlich entdeckt sie, was nach dem Willen dieser unglücklichen Frau im Verborgenen bleiben sollte … »Dieser Roman hat mich regelrecht gefesselt . Er ist romantisch , fesselnd , teilweise aufwühlend und spannend bis zum Schluss.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Schöne Lektüre für einen Herbsttag, der den Indian Summer ins eigene Wohnzimmer bringt.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wer Familiengeheimnisse mag und diese gerne versucht zu lösen, ist hier sehr gut aufgehoben. Sehr unterhaltsam, spannend und auch super zu lesen.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

Redaktion: Sandra Lode

Covergestaltung: Traumstoff Buchdesign traumstoff.at

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Danksagung

Kapitel 1

Janine – Juni 2019

Janine Reinhardt klopfte an die Bürotür ihres Onkels, nachdem seine Sekretärin ihr mit einem Nicken und einem verschmitzten Lächeln signalisiert hatte, dass die Gelegenheit günstig war. Denn auch die Nichte des Chefs durfte nicht einfach bei Moritz Reinhardt hereinplatzen.

Sie klopfte noch einmal energischer.

»Hat Ihr Onkel Sie nicht gehört? Warten Sie, ich melde Sie an.« Frau Froneck griff zum Telefon. »Herr Reinhardt, Ihre Nichte steht vor der Tür.«

»Ja, bitte!«, dröhnte gleich darauf die Bassstimme ihres Onkels.

Janine trat ein und riss überrascht die Augen auf. Der große Schreibtisch, der bisher das Zimmer dominiert hatte, war durch ein modernes Modell ersetzt worden, eine dünne Platte aus Ahornholz mit Metallbeinen, darunter zwei Rollcontainer aus dem gleichen Material.

»Guten Tag, Onkel Moritz.«

Allein durch seine Anwesenheit nahm er den Raum ein, sein charmantes Lächeln tat ein Übriges. Zudem besaß er einen guten Riecher für zukünftige Trends und hatte es geschafft, das Möbelhaus seiner Familie in ein florierendes Unternehmen zu verwandeln. Ein Geschäft mit exklusiver Designerware, die in München und Umgebung seit Jahren sehr gut angenommen wurde.

»Nini, wie schön!« Wenn sie allein waren, benutzte er Janines Kosenamen aus Kinderzeiten. »Gut getimt zwischen zwei Terminen.«

»Lass dich erst mal begrüßen.« Sie warf ihre Tasche auf einen der Besucherstühle, umrundete das Möbelstück und drückte ihrem Ersatzvater Küsschen links und rechts auf die Wangen.

»Kann ich dir was zu trinken anbieten? Wasser? Kaffee? Cappuccino? Espresso?«

»Nein danke. Ich habe schon literweise Kaffee in mich reingeschüttet. Aber ein Wasser nehme ich gerne.«

Flaschen standen auf dem Tisch. Ihr Onkel schenkte ein und schob ihr das Glas hin.

»Ein neuer Schreibtisch?« Obwohl er an der Quelle saß, hatte er die Einrichtung seines Büros noch nie ausgewechselt. Das hier war also eine Premiere.

»Ist das nicht ein wunderbares Stück? Etwas absolut Innovatives. Durchscheinendes Holz, ich hätte nicht gedacht, dass das machbar ist.« Liebevoll strich Moritz über die Tischplatte, die tatsächlich sehr schön gemasert war. Evernoor hieß die Marke. Philippe Evert belieferte nur einige wenige exklusive Geschäfte mit seiner Serie. Als eins von drei in Deutschland gehörte das ihres Onkels zu dem erlesenen Kreis.

Die Arbeiten dieses Designers waren vor drei Jahren ins Vertriebsprogramm aufgenommen worden und die neuen Modelle erst vor ein paar Tagen eingetroffen. Ihr Onkel strahlte sie stolz an und Janine wurde das Herz schwer. Zu wissen, dass sie solche Details nicht mehr auswendig zu lernen brauchte, hinterließ gemischte Gefühle in ihr. Sie war traurig, weil sie Moritz begreiflich machen musste, dass heute der Tag war, an dem seine Lieblingsnichte kündigte. Leicht fiel ihr der Schritt nicht. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern hatte er sie in seinen Haushalt aufgenommen und sie behütet und versorgt wie seine eigenen Kinder.

Sie wollte sich nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne Tante Mia und ihn verlaufen wäre. Zumal Moritz nach dem Tod ihres Vaters entsetzt feststellen musste, dass von der stattlichen Summe, die er seinem Bruder Thomas als Erbteil ausgezahlt hatte, wegen Fehlspekulationen kaum etwas übriggeblieben war. Den kümmerlichen Rest, zehntausend Mark, legte er mündelsicher für seine vierjährige Nichte an. Anlässlich ihres achtzehnten Geburtstags hatte Moritz ihr das Sparbuch überreicht, noch einmal so viel als Geschenk darauf eingezahlt und die Summe aufgerundet.

Wie sollte sie ihm erklären, dass sie Ende Juli, in vier Wochen, aus seinem Betrieb ausscheiden wollte und schon einen Flug gebucht hatte?

»Bist du zufrieden damit?« Sie strich über die Tischplatte. Eine Mischung aus Biokunststoffen und Holz, die dessen filigrane Zellstruktur fürs menschliche Auge freilegte, wenn sie das richtig verstanden hatte. Angenehm glatt und ausnehmend schön gemasert.

»Warte, bis du die Beleuchtung siehst. Ich könnte den halben Tag nur dasitzen und die Vollkommenheit der Natur bewundern.«

»Ach ja, eine Schönheit, die bei dieser Tischplatte technisch und künstlich zu voller Geltung gebracht worden ist?«, neckte sie ihn.

»Spotte du nur.« Er drückte einen Knopf. Im nächsten Moment verdunkelten elektrische Jalousien den Raum, während der Schreibtisch im warmen Glanz einiger LEDs erstrahlte: durchsichtiges Holz.

»Wow«, entfuhr es Janine unwillkürlich und sie verfiel in Schweigen.

Ihr Onkel durchbrach die Stille. »Jede einzelne Platte ist ein Unikat. Wenn diese Schreibtische keine Käufer finden, weiß ich auch nicht …«

»Dazu passende Regale und beleuchtete Paneele«, fügte Janine hinzu, froh, dass sie noch eine kleine Galgenfrist bekommen hatte. Nervös griff sie nach ihrer Tasche.

»Also, nimm erst mal Platz. Bei der Gelegenheit kannst du mir gleich sagen, was du von diesen Neuerwerbungen hältst.« Er wies auf die eleganten Besucherstühle und betrachtete Janine forschend aus klugen, dunkelgrauen Augen.

Sie legte die Tasche auf ihren Schoß und testete ihr Exemplar ausgiebig. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das Leder, das ihr fest, aber keineswegs zu hart oder spröde vorkam. Nicht dass sie auf dem Gebiet eine Koryphäe war, aber sie hielt es für ausgezeichnete Qualität. »Lederbouquet, nicht zu aufdringlich, naturgegerbt.« Sie drückte ihren Rücken an die Lehne. »Angenehme Polsterung. Man sitzt gut darin. Sogar sehr gut. Stammt der Stuhl auch von diesem aufstrebenden Talent?«

»Genau, von Philippe Evert.«

»Du bist ja ein richtiger Fan.«

»Ich war einer der Ersten, mit denen er Geschäfte abgeschlossen hat, als ihm sein kleines Start-up-Unternehmen noch gehört hat. Es ist inzwischen vom Möbelimperium seines Vaters geschluckt worden, der die Verträge am liebsten aufgelöst hätte.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht. Philippe ist jedenfalls ein wohlerzogener junger Mann, ganz nach meinem Geschmack. Sympathisch und bescheiden. Derzeit macht er eine Tour durch Europa, inklusive eines kleinen Abstechers nach Deutschland. Von hier geht es nach Köln. Paris und London stehen auch noch auf seinem Programm.«

»Hat er extra in München Halt gemacht, um dich zu treffen?«, fragte sie überrascht.

»Nicht nur, er hat Verwandtschaft in Deutschland und bleibt nach seinen Pflichtterminen noch einige Wochen in der Gegend. Was immer das heißen mag bei den Entfernungen, die Kanadier gewöhnt sind.« Ihr Onkel verstummte. »Bei so einem riesigen Land gilt die Strecke von München nach Köln oder sogar Hamburg vermutlich als Katzensprung.«

Verlegen griff Janine nach ihrem Glas. Sie trank einen Schluck und betrachtete den kreisrunden Wasserrand, den es auf der Tischplatte hinterlassen hatte.

»Oh je, den mache ich gleich weg.« Sie öffnete ihre Tasche, zog ein Papiertaschentuch aus der Packung und wischte darüber.

»Keine Sorge, diese Art Holz ist absolut wasserdicht«, meinte Moritz. »… kommen wir nun zu dir. Um meine neuen Möbel zu prüfen, bist du sicher nicht in die ›Höhle des Löwen‹ vorgedrungen?« Ihr Onkel warf einen unmissverständlichen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. Eine Smartwatch, mit der er Mails abrufen, seinen Lebensrhythmus überwachen und Musik hören konnte. Ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau. Janine schmunzelte. Mit seinen sechsundsechzig Jahren war er erstaunlich offen für neue Techniken und nutzte sie gerne. Geradeheraus fragte er: »Was liegt an?«

»Onkel Moritz … also … ich …«

»Weshalb druckst du so herum? Hast du etwas ausgefressen?«, meinte er halb im Spaß, halb im Ernst, während sie ihre Handtasche öffnete und den Brief herauszog, den sie ihm persönlich überreichen wollte und musste.

»Nein, natürlich nicht.«

»Eine Einladung?«, fragte er überrascht. »Gibt es einen Grund zum Feiern?«

»… nein, Onkel Moritz. Was ich dir sagen will: Für mich ist es an der Zeit, neue Wege einzuschlagen. So wie du es mir mit deiner neuen Einrichtung vorgemacht hast. Der Brief enthält meine Kündigung.« Jetzt war es heraus.

Ihr Onkel wurde blass. »Wieso? Was soll das bedeuten, Nini? Ist etwas zwischen dir und meinem Sohn vorgefallen, von dem ich nichts weiß?«

»Nein, natürlich nicht.« Janine umklammerte ihre Tasche. »Henry ist wie ein älterer Bruder für mich. Aber ich an seiner Stelle wäre nicht glücklich, wenn ich hierbliebe. Dafür, dass du mir in deinem Betrieb ein duales Studium ermöglicht und eine Anstellung gegeben hast, werde ich dir ewig dankbar sein. In der Buchhaltung und im Verkauf habe ich immens viel gelernt.« Vor allem höflich zu sein und zu bleiben, selbst wenn ihr nach einem Zwölf-Stunden-Tag beinahe die Hutschnur platzte. Schließlich gab es Kunden, die fünf Minuten vor Ladenschluss antanzten und noch eine ausführliche Beratung plus gute Laune erwarteten. »Aber inzwischen bin ich seit einem Jahr mit dem Bachelor fertig, habe Geld gespart und möchte … Ich will reisen.«

»Das geht nicht. Du bist wichtig für den Betrieb.«

»Bitte, mach’s mir nicht so schwer, Onkel Moritz.« Janine lachte hell auf. »Ich bin erwachsen.«

»Nichts da! Wie soll ich auf dich aufpassen, wenn du dich weiß Gott wo herumtreibst? Ich habe deinem Vater nach dem Unfall auf dem Sterbebett versprochen, dass ich dich immer beschützen werde. Erst danach ist er gestorben, als ob er vorher die Gewissheit haben wollte, dass ich mich um dich kümmere.«

»Damals war ich ein Kind.«

»Als ob du mit dreiundzwanzig etwas anderes wärst.«

»Onkel Moritz, Vater hätte sicher nicht gewollt, dass du mich in Watte packst.«

»Und wenn dir etwas passiert? Das würde ich mir nie verzeihen. Wohin willst du überhaupt?«

»Nach Kanada. Der Indian Summer soll wunderschön sein.«

»Willst du etwa allein dorthin?«

Ursprünglich hatte Janine mit ihrem Freund hinfliegen wollen. Der Plan war jedoch ein für alle Mal geplatzt. Leider hatte Caro, ihre allerbeste Freundin, mit der sie nach dem Abitur quer durch Europa gereist war, nicht genug Zeit und Geld für den Trip.

»Das beredete Schweigen deute ich als Ja. Mir gefällt das ganz und gar nicht. Hast du deine Tante schon in die Pläne eingeweiht?«

Janine schüttelte den Kopf. »Weder sie noch den Rest der Familie.«

»Immerhin sind sie keine Mitverschwörer.«

»Ich wollte erst mit dir reden.«

Ihr Onkel legte die Fingerspitzen aneinander. »Verhindern kann ich es nicht?«

Janine nickte.

»Was planst du anschließend?«, bohrte er nach. »Du hättest mir nicht die Kündigung überreicht, wenn du nach deiner Rückkehr wieder in meinem Betrieb arbeiten wolltest.«

»Das stimmt«, gab sie zu. »Anschließend werde ich es in einer anderen Branche versuchen. Ich mag nicht länger das Label ›Nichte des Chefs‹ tragen.«

»Moment! Jeder, der dich kennt, weiß, was du leistest.«

»Trotzdem bin ich mir darüber im Klaren, was manche Leute reden. Dass ich auf eigenen Beinen vorwärts kommen will, müsstest du selbst am besten verstehen.«

»Das alles passt mir trotzdem kein bisschen.«

»Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich mich an dich wende, wenn ich Gefahr laufe, Hunger zu leiden.«

»Mir kommt da eine Idee.« Ihr Onkel strich liebevoll über die illuminierte Schreibtischplatte. »Ich sollte Henry den Betrieb überlassen, Mia schnappen und dich begleiten.«

Erschrocken ließ sie das Glas sinken, das sie gerade an die Lippen führen wollte. »Ich dachte, eine Geschäftsübergabe müsste von langer Hand geplant werden.«

»Dein Cousin ist gut eingearbeitet.«

Meinte Moritz den Vorschlag etwa ernst? »Onkel, versteh doch, ich möchte etwas erleben, Menschen kennenlernen …«

Er lachte dröhnend. »Du solltest dein Gesicht sehen. Henry ist erst in ein paar Jahren so weit. Also gut, ich füge mich. Aber ich hasse es, dass jetzt auch mein Küken seine Flügel spreizt und flügge wird.«

Sie sprang auf. Erleichtert lief sie zu ihrem Onkel, legte ihm die Arme um den Hals und küsste ihn auf die Wangen. »Warte ab, bis du deinen ersten Enkel kriegst, dann hast du wieder jemanden zum Behüten.«

Das Baby ihrer sechs Jahre älteren Cousine sollte Mitte November auf die Welt kommen und war neben den Reisekosten der wichtigste Grund, weshalb Janine Ende Oktober zurückkehren wollte.

»Ich habe dich durchschaut, du streust ein bisschen Zucker auf die Zitrone.«

Sein Mobiltelefon summte. Eine Terminerinnerung. Demnach war es an der Zeit, ihn seiner Arbeit zu überlassen. Sie wünschte ihm einen schönen Tag und leerte im Hinausgehen ihr Glas.

»Über die Einzelheiten reden wir noch miteinander«, rief er ihr nach und die ›Audienz‹ war beendet.

Kapitel 2

Janine – Juli 2019

Die Kontrollen am Flughafen nervten Janine, brachten sie aber nicht aus der Ruhe. Ihr war höchstens die Vorstellung peinlich, dass die kanadischen Zollkontrolleure ihren Koffer öffneten und die Riesenpackung Kondome entdeckten, die ihre Freundin Caro ihr zum Abschied frech hineingepackt hatte. Und wenn schon, die Leute vom Zoll machten bestimmt noch ganz andere Funde.

Nach den Erfahrungen ihrer Europatour nahm sie das wilde Piepsen des Metallsuchgeräts gelassen hin. Was für ein Mist, dass sie wieder nicht an die Nieten ihrer Jeans und den Büstenhalter gedacht hatte. Bei der Rückreise würde sie eine Jogginghose anziehen. Punkt! Sie wurde daraufhin nicht nur gründlich abgetastet, sondern auch in eine der Kabinen zum Durchleuchten gebeten. Auch ihr Handgepäck filzten sie sorgfältig, und sie überlegte, ob sie wirklich nach Drogenschmugglerin oder Terroristin aussah. Vermutlich nicht. Aber Vorschrift war Vorschrift, lieber einmal zu viel kontrolliert als zu wenig.

Keine der Sicherheitsmaßnahmen vertrieb ihre gute Laune. Vor ihr lagen drei Monate Kanada. Von der Westküste bis zur Ostküste in den Indian Summer. Höchstens das Canceln des Flugs könnte ihrer gehobenen Stimmung einen Dämpfer versetzen. Danach sah es aber nicht aus, wie die Anzeige auf der elektronischen Hinweistafel bestätigte.

Ihr Reisegepäck war aufgegeben. Den Rucksack, Strickjacke für das klimatisierte Flugzeug und ihre dünne Regenjacke hatte sie unter einer Sitzbank im Wartebereich vor dem Gate verstaut und quasi darauf Platz genommen. Die Bordkarte steckte griffbereit in ihrer Umhängetasche. Jetzt hieß es darauf warten, dass der Flug nach Vancouver endlich zum Boarding aufgerufen wurde. Wenn alles glatt lief, würde sie ungefähr zehn Stunden nach dem Start in Kanada landen. Eine unbändige Vorfreude stieg in ihr auf: British Columbia wartete. Die nächsten zwei, drei Wochen wollte sie damit verbringen, die Gegend der Westküste rund um Vancouver zu erkunden.

Anschließend plante sie eine Zugreise quer durchs Land, mit dem Ziel, rechtzeitig zum Indian Summer in Québec einzutrudeln. Wenn sie den Prospekten und Reiseführern Glauben schenkte, boten die Blätter der Bäume um diese Jahreszeit ein Fest an warmen Farben: Wälder in allen Abstufungen von Gelb bis Dunkelrot. Ein spektakuläres Naturschauspiel.

Was das Englische anging, hatte sie keine Sorge. Da wies ihr Wortschatz wenig Lücken auf, außer wenn sie es mit Schimpfwörtern, Slang- oder Dialektausdrücken zu tun hatte. Aber ob sie im frankofonen Teil zurechtkommen würde? Ihr bisschen Schulfranzösisch bereitete Janine wesentlich größere Bauchschmerzen. Doch mit Händen und Füßen würde die Verständigung schon irgendwie klappen.

Janine gähnte. Vor Aufregung und aus Angst, den Wecker zu überhören, hatte sie kaum eine Auge zugemacht. Ihr Cousin Henry hatte sich erboten, den Chauffeur zu spielen. Pünktlich um vier Uhr stand er auf der Matte, brachte sie zum Flughafen und spendierte ihnen einen Kaffee. Beim Abschied schluckte sie trotz ihrer Vorfreude Tränen hinunter und trug ihm liebe Grüße an die Familie auf. Inzwischen war es acht Uhr und sie kämpfte immer noch oder schon wieder mit der Müdigkeit.

Jemand lief an ihr vorbei. Ein Mann in einer hellen Leinenhose. Keine schlechte Wahl bei der Hitze, die nach einem verregneten Frühling in diesem verdrehten Sommer zu spät einsetzte und draußen umso unnachgiebiger herrschte. Sogar schon am Morgen. Selbst die Nacht brachte kaum Abkühlung. Insgeheim beglückwünschte Janine ihn zu seinem guten Geschmack. Seine Füße steckten in eleganten Schuhen aus hellem Leder, das wirkte wesentlich stilvoller als ausgetretene Sandalen oder Gesundheitslatschen kombiniert mit weißen Socken und Stachelbeinen. Sie sah von ihrem Reiseratgeber auf, betrachtete sein zerknittertes Jackett. Vermutlich ein gut situierter älterer Herr. Wetten, gleich würde er zu einem der Duty-Free-Läden spazieren, um teure Zigarren zu kaufen oder einen Cognac zu erstehen. In dem Moment machte er kehrt, und sie staunte, wie sehr sie danebengelegen hatte.

Er war jung! Mitte bis Ende Zwanzig vielleicht. Dank des glatt rasierten Gesichts kamen seine scharf geschnittenen Züge und das energische Kinn besonders gut zur Geltung. Schräg gegenüber nahm er Platz und streckte seine langen Beine aus.

Als ob er bemerkt hätte, dass sie ihn neugierig musterte, hob er auf einmal den Kopf. Statt weiter auf sein Mobiltelefon zu sehen, schaute er ihr direkt in die Augen. Seine waren von einem hellen Braun, das sicher sehr gut zur Farbpalette des Indian Summer passte.

Unwillkürlich fuhr Janine über ihre grün-blau changierende Lieblingsbluse, die mit ihren Augen harmonierte. Eine störende dunkelblonde Haarlocke strich sie hinters Ohr. Ihr Gegenüber verzog die Mundwinkel zu einem unverschämt netten Grinsen.

Hastig senkte sie die Lider, um in ihr Buch zu schauen. Doch ihre Aufmerksamkeit wurde von einem glucksenden Kleinkind gefesselt, das mit Schokoladeneis bewaffnet war. Lachend lief es vor seiner Mutter davon. Zielgenau rannte es auf den Mann mit der hellen Leinenhose zu, der seine Beine noch nicht wieder eingefahren hatte. Seine Umwelt schien er völlig ausblenden zu können, konzentriert starrte er auf sein Smartphone.

»Baba!«

Oh, schade, dann war er also der Vater des Winzlings? Der kleine Kerl legte noch einen Zahn zu. Wenn schon sein Erzeuger nicht reagierte, genoss der Junge immerhin die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Mutter. Verzückt schaute er über seine Schulter und juchzte.

»Tobias, nein! Bleib sofort stehen.« Der Aufschrei und ihr entsetztes Gesicht spornten den Jungen zu Höchstleistungen an. Sein Vater war die Ruhe selbst. Wie gebannt las er eine Nachricht oder was auch immer.

Janine legte ihren Reiseführer beiseite. Amüsiert beobachtete sie den Knirps, der immer schneller trippelte. Das Eis hielt er hoch wie ein Fackelträger die olympische Flamme. Immer noch keine Reaktion von Seiten des Vaters, dabei war der Winzling bedenklich nah. Sollte sie eingreifen? Sie persönlich hielt es für ziemlich gewagt, etwas derart Empfindliches wie weißes Leinen anzuziehen, wenn man kleine Kinder hatte. Aber bitte.

»Tobias, nicht! Bleib sofort stehen!« Die Stimme der Mutter klang ziemlich gestresst.

»Aufpassen!«, warnte Janine den Mann scharf.

Er schreckte hoch. Gerade noch rechtzeitig schaffte er es, die Beine einzuziehen und die kleine Hand abzufangen, ehe das Schokoladeneis auf seiner Hose landete.

»Ich danke Ihnen, da haben Sie ein Unglück verhindert!«, meinte er an sie gewandt.

»Keine Ursache.« Die Worte hatte er korrekt ausgesprochen, trotzdem irritierte sie etwas an der Betonung. Was war das für ein Akzent?

»Na komm, geh wieder zu deiner Mama«, forderte er den Kleinen auf.

Das Kind sah seine Mutter kommen, die über den Buggy hinweg vergebens nach ihm haschte, und rannte auf Janine zu. »Da!«

»Untersteh dich!« Die Mutter packte den Jungen, der juchzend sein Eis fallen ließ. Die schmelzende Kugel samt Waffel landete in Janines Schoß. Wo die kalte, braune Soße äußerst unappetitlich aussah, obwohl sie intensiv nach Schokolade duftete.

Der Vater starrte verdutzt in das Gesicht seines Sohnes und auf Janines Bluse und Jeans. Sofort sprang er auf. »Oh sorry, es tut mir furchtbar leid, dass Sie die Bescherung abbekommen haben, die für mich gedacht war …«

Dass er sie im Beisein seiner Frau intensiv und unverhohlen musterte, fand Janine merkwürdig. Während sie noch wie erstarrt dasaß, hatte er bereits eine Packung Tempos aus seiner Hosentasche gezogen. Mit zwei Schritten war er bei ihr.

»Entschuldigen Sie. Das ist mir furchtbar peinlich.« Seine Frau schnappte den Kleinen und drückte das strampelnde Kind in seinen Buggy.

»Nein, nein! Will nis!«

Eine jähe Panik überfiel Janine, dass das alles nur ein Ablenkungsmanöver gewesen sein könnte, und sie tastete nach ihrem Rucksack. Er lag unberührt unterm Sitz, ihr Reiseführer auf der Bank und die wasserdichte Umhängetasche mit Portemonnaie und Bordkarte hatte sie nicht abgelegt.

»Dada!«, krähte der Knirps.

»Oh, nein, Tobi! Ach du lieber Himmel, das tut mir so leid. Darf ich?« Seine Mutter versuchte zu retten, was zu retten war.

Ihr Mann tat immer noch so, als ob die beiden ihn nichts angingen. Schon ein komischer Vogel, obwohl er total nett lächelte. Von beiden Seiten kam Hilfe. Hastig klaubte die Frau die Eistüte von Janines Schoß und warf sie in einen Beutel, der am Buggy hing.

»Bitte sehr!« Ihr Mann hatte ein Taschentuch aus der Packung gezerrt und drückte es in Janines Hand. Seine Frau kramte unterdessen in einer blau karierten Wickeltasche, reichte Janine eine Packung Feuchttücher und seufzte beim Anblick der Flecken auf den Zipfeln der Bluse und den Jeans. »Das Oberteil kann man nicht waschen, oder? Wir bezahlen Ihnen natürlich die Reinigung. Jens, Jens, kommst du mal!«

»Bitte, das ist schon in Ordnung!«, wehrte Janine ab.

»Der Urlaub fängt ja toll an. Jens!« Die Schreie der Mutter wurden immer lauter und schriller. »Jens …!«

Entweder war der Kerl neben ihr taub oder … Janine erwiderte das Lächeln des Fremden, der demnach nicht Vater dieses Kindes war.

Ein Mann kam angehastet. »Was ist denn wieder? Kannst du nicht ein einziges Mal aufpassen?«

»Ach, du meinst also, dass das hier meine Schuld ist? Weshalb kaufst du dem Kleinen ausgerechnet ein Schokoladeneis?«

»Alles halb so schlimm«, beschwichtigte Janine das Pärchen. »Ich habe Wechselkleidung im Handgepäck und Jeans und Bluse kann man waschen.«

Es roch nach einer seltsamen, Übelkeit erregenden Melange aus Schokolade und voller Windel. Sie konnte Tobias nachfühlen, dass es ihm bei der Mischung den Appetit verschlug. Vor allem, wenn sie die Flecken auf ihrer Kleidung ansah. Dieses dunkle Braun auf der Hose und den Blusenzipfeln war irgendwie eine undankbare Farbe. Außerdem drang die kühle Feuchtigkeit bis zu ihrer Haut durch. Sie wischte die klebrige Soße weg, so gut es ging, und reichte der Frau die Packung mit den restlichen Frischtüchern.

»Danke, wirklich, das passt schon«, beruhigte sie die Eltern des Kleinen, die hoffentlich bald gehen würden.

»Eissss haben!«, schluchzte Tobias. Unglücklich verzog er seinen Mund. Im nächsten Moment kullerten dicke Tränen über seine Wangen. Offensichtlich bereute er seine großzügige Geste, forderte seine Speise vehement zurück und brüllte infernalisch. »Eisss haben!«

Haben! In dem Moment erinnerte der Winzling Janine fatal an Ulrich, ihren Verflossenen, der sie ursprünglich auf dieser Reise begleiten sollte. Ihr Ex hatte jeder Cent gereut, den er für irgendetwas ausgeben musste. Wie Dagobert Duck war er nur glücklich, wenn er sein Bares zusammenhielt. Als er auch noch anfing, Zahnpastatuben aufzuschneiden, um auch noch den letzten Krümel auszukratzen, endete ihr gemeinsamer Lebensweg. Er hielt Geiz tatsächlich für geil, während sie wenig ausgab, weil sie auf ihre Reise sparte. Das war ein kleiner, aber feiner Unterschied.

»Sie brauchen mir kein Geld zu geben. Das ist schon in Ordnung.«

Sein Vater schob den Buggy weg. Der Kleine weinte jetzt nach seiner Mama.

Die junge Mutter blieb zweifelnd vor ihr stehen und zückte ihren Geldbeutel. »Wirklich?«

»Ja klar, wenn ich es Ihnen sage. Gehen Sie ruhig. Vorm Boarding möchte ich mich unbedingt noch umziehen.«

»Vielen Dank, das ist total nett von Ihnen.« Die Frau eilte hinter ihren beiden Männern her.

»Sind Sie sicher, dass die Flecken beim Waschen rausgehen? Falls nicht, bezahle ich Ihnen die Reinigung selbstverständlich«, erklärte der Mann im hellen Leinenoutfit zu Janines Überraschung. »Sie haben schließlich nur eingegriffen, um meine empfindlichen Sachen zu retten. Übrigens herzlichen Dank dafür. Wenn ich geahnt hätte, dass Ihr kleiner Verehrer Ihnen ein Geschenk machen wollte, wäre ich natürlich nicht untätig geblieben. Leider habe ich zu spät reagiert.«

Fasziniert lauschte Janine seiner Stimme. Sonor und dunkel. Einige Verkäufer im Geschäft ihres Onkels würden ihn mit Sicherheit um dieses Organ beneiden. Dazu kam der Hauch eines Akzents. Vielleicht hatte er eine Weile im Ausland gelebt? Sie hätte zu gerne gewusst, woher er stammte.

»Aber einen guten Geschmack hat er, offensichtlich hat er Sie für die Süßeste weit und breit gehalten.«

Sie lächelte zurück und rief sich energisch zur Ordnung. Dieser Mann war mit Sicherheit vergeben. Und selbst wenn nicht, würde er bald aus ihrem Leben verschwinden.

»Momentan fühle ich mich eher pappig.« Sie schielte erst zu ihrer Uhr, dann zur Waschraumtür. Die Zeit reichte noch. Statt von diesem Fremden zu schwärmen, sollte sie lieber die Kleidung wechseln. Seufzend packte sie ihren Reiseführer ein und griff nach dem Rucksack.

»Wenn Sie wollen, halte ich Ihnen den Platz neben mir frei.« Sein Lächeln stieg bis zu den Augen hoch. »Der Gang ist voller Passagiere. Der Ansturm auf die Bänke beginnt.«

Er strahlte sie an, sie lächelte zurück und nickte unwillkürlich.

»Das wäre nett.«

»Übrigens ist mein Angebot mit der Reinigung keine hohle Phrase. Hier, bitte.« Er zog ein schwarzes Etui aus der Innentasche seines Jacketts, öffnete es und reichte ihr eine Visitenkarte.

»Vielen Dank.«

»Es ist mir wichtig, falls wir uns doch aus den Augen verlieren sollten.«

Janine wich seinem forschenden Blick aus, nahm das schlicht gehaltene Kärtchen in Empfang und betrachtete das Logo auf der Vorderseite. Es stellte einen stilisierten Baum dar. Sie kannte es aus dem Betrieb ihres Onkels, der einer der wenigen Auserkorenen war, der Produkte von Evernoor in Deutschland vertreiben durfte. Sie drehte die Karte um. Dort standen ein Name, eine Telefonnummer und seine Mail.

»Sie sind Philippe Evert? Wenn mein Onkel wüsste, dass ich ausgerechnet Sie hier am Flughafen treffe, käme er aus dem Staunen nicht heraus.«

»Ihr Onkel?«, fragte er verblüfft.

»Moritz Reinhardt.« Sorgfältig verstaute sie die Karte in einem mit Reißverschluss gesicherten Fach ihrer Handtasche und nannte ihm ihren Namen. »Er ist ein großer Fan Ihrer Entwürfe.«

»Ich fühle mich geehrt. Hat er Ihnen das selbst erzählt?«

»Ja, und es gibt sogar einen Beweis. Er hat seit neuestem eins Ihrer Unikate als Schreibtisch in seinem Büro stehen. Der erste Wechsel überhaupt.«

»Wirklich? Das freut mich sehr.«

»Ich fliege heute übrigens in Ihre Heimat«, ergänzte sie.

»Oh, dann sitzen wir im gleichen Flieger.« Seine Augen leuchteten auf. »Sind Sie im Auftrag Ihres Onkels unterwegs?«

»Nein, ich will in Kanada Urlaub machen.« Sie drehte sich abrupt um, damit er das dämliche Grinsen auf ihrem Gesicht nicht bemerkte. »Bis gleich.«

»Ich freue mich.«

Hatte er das wirklich gesagt? Sie sah nicht zurück. War sie verrückt? Sie öffnete die Tür zum Waschraum und hoffte, dass die klinisch, nüchterne Atmosphäre von weißen Fliesen und abgestandener Luft sie wieder in die Wirklichkeit zurückholten. Weit gefehlt. Es war verrückt. Sie schwebte wie auf Wolken.

Streng musterte sie ihr Spiegelbild und flüsterte. »Hast du den Verstand verloren? Schlag ihn dir aus dem Kopf. Er ist ein Kanadier.«

Sie wartete, bis eine der Kabinen frei wurde. Ein wenig Toilettenpapier lag am Boden, ansonsten war die Toilette sauber und dank moderner Technik auch desinfiziert. Sie hatte die Wahl zwischen einer Schlabberhose aus dünnem Stoff und Shirt oder etwas Figurbetontem. Nach kurzer Überlegung zog sie ein Trägerkleid mit Blumendruck aus dem Gepäck, dessen Schnitt ihre schmale Taille vorteilhaft herausstrich. Die Slipper passten farblich auch. Sie streifte das Kleidungsstück über, stopfte die Schmutzwäsche in eine Plastiktüte und trat hinaus. Eine alte Dame stand abwartend vor den Waschbecken. Ihr Mittelscheitel und die Hochsteckfrisur erinnerten Janine an eine Fotografie ihrer Großmutter, die im Wohnzimmer von Onkel Moritz hing.

Angesichts der Technik, die bei dem Seifenspender offensichtlich ihren Dienst versagte, murmelte die Frau kopfschüttelnd: »Früher, ohne diesen neumodischen Firlefanz, ist es auch nicht schlechter gewesen, das sage ich Ihnen.«

Janine nickte ihr lächelnd zu und überlegte, ob Oma Maria dem zugestimmt hätte. Angeblich war sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Nicht nur ihr Gesicht und die großen Augen, sondern auch die dichten, dicken Haare …

Kapitel 3

Maria – Juli 1950

Maria Krafft strich eine Strähne ihres dichten, dicken Haars aus der Stirn, legte ihre blaue Schürze ab und hängte sie an den dafür vorgesehenen Haken neben der Küchentür. Den Herd für die Nacht mit Holzscheiten nachzufeuern, brauchte sie im Sommer zum Glück nicht. Die Glut durfte nachts vergehen.

Den abendlichen Abwasch hatte sie erledigt und die Fliesen am Boden gefegt. Blitzsauber waren sie nun, aber abgetreten und stumpf blieben sie trotzdem. Die Mutter saß im Wohnzimmer neben dem Fenster im Ohrensessel der verstorbenen Großmutter über einer Näharbeit. Mit winzigen Stichen und einem feinen Faden flickte sie die Ferse eines Seidenstrumpfs, den sie über einen Stopfpilz gespannt hielt.

»Das Paar hat ein Vermögen gekostet. Pass besser auf, wenn du sie nachher anziehst«, ermahnte sie Maria.

Sie reichte ihr den Strumpf und griff nach einem Unterhemd des Vaters, das am Rand ausfranste. Müde und abgehärmt sah sie aus und war dennoch unermüdlich am Werken. Die Angst vor Entbehrungen saß der Mutter selbst fünf Jahre nach Kriegsende noch in den Knochen und hatte sie hart gemacht. Ihre Devise hieß: Sparen, sparen, sparen. Als ob sie immer noch im Elend leben müssten wie in der schweren Zeit nach dem Krieg.

»Hab vielen Dank. Ich werde mich vorsehen, Mama«, murmelte Maria gottergeben und betrachtete die ausgebesserte Stelle, die kaum auffiel.

Sie wollte noch hinzufügen, dass es nicht ihre Schuld war, wenn das Leder ihrer Schuhe innen an der Ferse scheuerte, aber sie schwieg. Widerspruch duldete die Mutter nicht.

»Gehst du heute aus, Kindchen?« Ihr Vater hatte sein Jackett abgelegt, als Maria und er um halb sieben nach Hause gekommen waren. In Hosenträgern und langärmligem Hemd saß er auf dem mit Decken geschützten Sofa, leistete ihnen Gesellschaft und rauchte.

»Ich dachte, ich hätte vor zwei Wochen erwähnt, dass unsere Tochter eine Einladung zu einer Geburtstagsfeier erhalten hat.« Die Mutter ließ Arbeit und Hände auf den Schoß sinken. »Sie geht auf eine dieser neumodischen Cocktailpartys zu Gudrun Reinhardt.«

»Das ist mir neu.« Ihr Vater blies Rauch aus, streifte die Zigarette am Aschenbecher ab und strich mit der linken Hand über sein lichtes Haar. In dünnen Strähnen hatte er es über seine kahle Kopfhaut drapiert. »Wie kommst du zu der Ehre?«

»Ich weiß es nicht.«

Gudrun war die Tochter ihres Chefs. Sie arbeitete zwar wie Maria als Sekretärin, hatte aber eine Sonderstellung inne und nicht viel mit den anderen Angestellten zu tun. Als fleißig galt sie nicht. Sie erschien zur Arbeit, wann sie wollte, und verdiente vermutlich das Dreifache von dem, was Maria erhielt. Während ihr Gehalt fast gänzlich in die Familienkasse floss, knauserte Gudrun nicht mit dem Geld. Dementsprechend war sie ein hübscher Anblick: Immer adrett gekleidet, dezent geschminkt und in den Pausen ohne Unterlass am Rauchen. Sehr elegant zog sie an ihrer Zigarette, schnippte die Asche ab und hielt Maria wahrscheinlich für einen rückständigen Trampel. Wenn Gudrun die Karte nicht zu ihr nach Hause geschickt hätte, wo sie der Mutter in die Hand gefallen war, hätte Maria ihr abgesagt. »Warum sie mich eingeladen hat, begreife ich ehrlich gesagt nicht, Papa.«

»Du Schäfchen, ihr Bruder holt dich um halb sieben ab. Was gibt’s daran nicht zu verstehen.«

»Johann Reinhardt?«, warf der Vater ein.

»Allerdings.« Die Art, wie die Mutter die Tatsache betonte, behagte Maria noch viel weniger als die angedrohte Begleitung.

»Wie konntest du das über meinen Kopf hinweg ausmachen, Mama?«

»Der junge Reinhardt ist eine ausgezeichnete Partie«, fuhr die Mutter unbeirrt fort und ein Lächeln huschte um ihre Mundwinkel. »Er ist katholisch, stammt aus einer angesehenen Familie und wird zu gegebener Zeit das Möbelgeschäft seines Vaters übernehmen. Es soll schon wieder sehr guten Umsatz machen. Außerdem ist er unübersehbar an dir interessiert. Ich wüsste nichts, was gegen ihn spricht. Du bist einundzwanzig und durchaus im heiratsfähigen Alter. Bleib kühl und sei nicht zu entgegenkommend, dann zappelt er im Nu an deinem Haken und kommt nicht mehr los …«

»Mama«, keuchte Maria entsetzt.

»Wenn erst ein Krieg mit den Kommunisten ausbricht, kann ein Mann mit Geld und guten Beziehungen nicht schaden. Denk an Korea und die Ostzone. Wer weiß, was da noch passiert.«

»Richte dich schon mal darauf ein: Deine Mutter hört die Hochzeitsglocken läuten«, warf der Vater belustigt ein.

»Aber ich mag diesen Menschen nicht …« Maria missfielen die Blicke, mit denen Johann sie verschlang. Die Gier darin, dieses unverhohlene Habenwollen. Er sah in ihr seine nächste Gespielin. Ein entsprechender Ruf eilte ihm voraus. Mehr steckte hinter seiner Leidenschaft nicht, auch wenn die Mutter diese Tatsache nicht wahrhaben wollte. Das Alleinsein mit dem Mann vermied Maria, so gut sie konnte. Leider kreuzten ihre Wege sich immer wieder, nachdem sie seit ein paar Monaten im Möbelhaus seines Vaters als Sekretärin arbeitete. Dabei hatte sie ihm nie Hoffnungen gemacht und seine Avancen schroff zurückgewiesen. Schließlich gab es einen anderen, dem ihr Herz gehörte. Seit Jahren schon.

Der Gedanke an den Liebsten gab ihr die Kraft, gegen die Pläne der Mutter aufzubegehren. »Ich würde es bei Weitem vorziehen, wenn Papa mich zu den Reinhardts begleitet.«

»Dazu ist es nun zu spät. Wie wäre es damit? Ich hole dich heute Abend Punkt neun Uhr ab.«

»Danke, Papa«, murmelte Maria erleichtert.

»Du wirst eine geschlagene Stunde nach Freising laufen müssen, Herbert, und die gleiche Strecke zurück«, warf die Mutter ein. »So ein Umstand für nichts. Mit einem Auto dauert die Fahrt nur ein paar Minuten.«

Der Vater stand Maria zum Glück tapfer bei. »An einem so schönen Abend wie diesem schadet mir ein Spaziergang nicht, Gerda.«

»Sie derart früh abzuholen, grenzt an Unhöflichkeit. Zumal Herr Reinhardt Maria sicher gerne nach Hause bringt.«

»Was mir aber zuwider wäre, Papa.«

»Unhöflich wollen wir nicht sein. Einigen wir uns also darauf, dass ich dich um zehn abhole.« Der Vater schaltete das Radio ein.

»Wieso hast du den Apparat jetzt schon angemacht?« Missbilligend kniff die Mutter ihre Lippen zusammen.

Dass sie verärgert war, ließ sie jeden durch ihre Leichenbittermiene wissen. Welche Vorstellung sie vom Ablauf des Abends für ihre Tochter gehabt hatte, wollte Maria lieber nicht wissen.

Das große Telefunken-Gerät, an dem nur der Vater die Sender verstellen durfte, stammte noch aus der Vorkriegszeit. Es rauschte und brauchte eine Weile, bevor es seinen Dienst aufnahm.

Der Vater lächelte verschmitzt. »Ihr werdet es nicht glauben: Heute soll in Wuppertal ein Elefant aus der Schwebebahn in die Wupper gesprungen sein.«

»Das ist doch Humbug, Herbert. Da hat dich jemand auf den Arm genommen«, antwortete die Mutter ungnädig.

»Nein. Tuffi heißt das Tier und es gehört zu einem Wanderzirkus.«

»Du lieber Himmel, ist der arme Elefant schwer verletzt?«, fragte Maria besorgt. »Oder am Ende sogar tot?«

»Nein, ihm ist wie durch ein Wunder nichts passiert. Ein paar Zeitungsreporter sind angeblich zu Schaden gekommen.«

»So ein Unfug, dass diese Geschichte wahr ist, kann ich mir nicht vorstellen.« Die Mutter warf einen Blick auf die Uhr. »Geh und zieh dich um, Maria. Dein Verehrer kommt bald.«

»Bitte, benutz dieses Wort im Zusammenhang mit Herrn Reinhardt nicht. Er ist lediglich höflich.«

»Sei nicht kindisch. Du bist ein ausnehmend schönes Mädchen, du musst deine Karten nur geschickt ausspielen.«

Maria ging schweigend davon. Das Kleid mit dem schwingenden Tellerrock und der schmalen Taille, das sie zu der Party anziehen sollte, war von der Mutter aus cremefarbener Fallschirmseide nach einer Schnittvorlage selbst geschneidert worden. Den kleinen runden Kragen und den breiten Gürtel hatte Maria mit einem ornamentalen Blattmuster bestickt und die Knöpfe an der Vorderleiste eigenhändig mit dem passenden Stoff bezogen.

In ihrem Zimmer, einer kleinen Kammer, in die mit Müh und Not ein Bett, ein kleiner Schreibtisch und ein schmaler Schrank passten, streifte sie es über und knöpfte es zu. Unwillkürlich fuhr ihre Hand zu dem silbernen Anhänger, der ein Schutzengelchen zeigte. Ihr Liebster hatte es ihr geschenkt, bevor er auf Wanderschaft gegangen war: Drei lange Jahre und einen Tag dauerte die Walz. Gesellen absolvierten sie, damit sie anschließend auf die Meisterschule gehen durften. Maria lächelte. Ihretwegen hatte Carl die Reise angetreten, damit er ihr eines Tages als Schreinermeister eine bessere Zukunft bieten konnte. Seither begleitete ihr Schutzengelchen sie auf allen Wegen, selbst wenn sie es, wie bei diesem hochgeschlossen Kleid, für alle anderen unsichtbar trug. Die Ärmel waren kurz, der Stoff schwang herrlich um ihre Knie und der Schnitt betonte ihre schlanken Beine und Fesseln. Die zwei in die Seitennaht eingelassenen Taschen fielen überhaupt nicht auf. Energisch bürstete Maria ihre dunklen Locken, fasste sie zu einem Pferdeschwanz zusammen und ordnete sie zu einem Dutt.

Tiefblaue Augen schauten ihr aus dem Handspiegel entgegen, mit dem sie ihre Frisur prüfte. An den langen Wimpern gab es nichts auszusetzen. Ein wenig blass war ihr Teint, etwas zu madonnenhaft die Züge für ihren Geschmack. Aber genau richtig für Johann, den sie um keinen Preis zu irgendwelchen Zärtlichkeiten ermuntern wollte.

Zuletzt nahm sie auf dem Bett Platz, das noch von ihrer Großmutter stammte, und schlüpfte vorsichtig in die Strümpfe. Sorgsam befestigte sie die hauchdünne Seide an ihrem Miedergürtel. Fehlten nur noch die halbhohen schwarzen Schuhe mit den hübschen Riemchen auf dem Fußrücken, die in einem Care-Paket aus Amerika gewesen waren, das ihnen eine Tante der Mutter geschickt hatte. Maria schloss die Schnalle an der Seite. Fertig.

Sie griff nach dem Geschenk, das sie in hübsches Papier eingeschlagen hatte. Ein Buch über Archäologie von einem gewissen C. W. Ceram, für das sie den stolzen Preis von zwölf Mark berappen musste. Hoffentlich traf sie mit dem Präsent Gudruns Geschmack. Maria hatte nicht widerstehen können und selbst ein wenig hineingeblättert. Sehr vorsichtig natürlich, um den Buchrücken nicht zu beschädigen. Ach, es wäre zu schade, wenn es ungelesen im Regal enden würde. Sie selbst hätte es am liebsten nicht wieder aus der Hand gelegt. Sie las furchtbar gerne, allerdings fand sie selten die Zeit.

Pünktlich um halb sieben schellte es an der Tür.

Maria schlüpfte in einen passenden, ebenfalls selbst genähten Bolero, sagte den Eltern ›auf Wiedersehen‹ und ging die Treppe hinunter. Im Hausflur roch es ein wenig muffig und streng nach dem Abendessen der Nachbarn – Fisch. Schließlich öffnete sie die Haustür und trat hinaus zu Johann Reinhardt. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Nur ungern stieg sie in seinen Wagen, einen dunklen Mercedes.

Kapitel 4

Maria – Juli 1950

Maria gefiel es nicht bei den Reinhardts. Allein das schrille Lachen, mit dem Gudrun sie in der schicken Villa begrüßt hatte, einem weiß gestrichenen Haus aus den Dreißigerjahren mit einem großen Entree, einem Herrenzimmer, einem Wohnzimmer und einem Esszimmer im Erdgeschoss. Auf die Besichtigung der Schlafzimmer im oberen Stockwerk verzichtete sie dankend. Andere Gäste schlichen verstohlen hoch, wie sie errötend beobachtete. Auch im Garten flanierten Gäste. Johann redete von ›lauschigen Plätzen‹. Sie blieb mit ihm im Haus.

Johanns Vater war im Gegensatz zu seinem Sohn ein vierschrötiger, rotwangiger Mann, der vor Kraft zu bersten schien und einen Schnaps nach dem anderen kippte. Die meisten Gäste hielten mit und tranken viel zu schnell viel zu viele Martinis und Cocktails. Allseits herrschte beste Stimmung. Im Radio spielte moderne Swing-Musik von Nat King Cole und Frank Sinatra. Einige Pärchen tanzten. So gesehen war die Party ein voller Erfolg.

»Darf ich Ihnen etwas zu essen bringen, gnädiges Fräulein?«, fragte einer von Johanns Freunden.

»Danke, nein. Wenn ich so viel zu mir nehmen wollte, wie mir angeboten wird, müsste ich platzen.« Maria wurde sehr hofiert, machte sich aber nichts aus der Bewunderung, die ihr Äußeres hervorrief.

»Darf ich bitten?« Johann drängte den jungen Mann zur Seite und hielt ihr die Hand hin.

Ihr war klar, dass sie mit keinem anderen tanzen konnte, wenn sie seine Aufforderung ablehnte. »Danke, nein. Ich kenne diese Tänze nicht.«

»Laut hier, nicht?« Er nutzte den Vorwand und trat über Gebühr dicht an sie heran. Seine Lippen streiften um ein Haar ihr Ohr. Sie spürte seinen heißen Atem auf ihrem Hals. Vor Ekel lief ihr eine Gänsehaut über den Rücken. »Darf ich Ihnen stattdessen eine Zigarette anbieten?«

»Nein, danke, ich rauche nicht. Mein Vater findet, dass es bei Frauen geschmacklos aussieht.«

»Gott, wie rückständig, Maria, hast du noch nie etwas von Emanzipation gehört?« Das Geburtstagskind schlenderte an ihnen vorbei bis zur Tür, wo weitere Gäste erschienen waren.

»Da haben Sie es.« Johann lachte spöttisch. »Tun Sie alles, was Ihr Vater sagt, gnädiges Fräulein?«

Seinen Versuchen, sie von den anderen abzusondern, war Maria bisher geschickt ausgewichen.

»Sollte das nicht jede Tochter?«

»Braves Mädchen.«

»Ich weiß, dass das nicht als Kompliment gemeint war.« Sie stellte ihr halb volles Glas mit Pfirsichbowle, an der sie bisher nur genippt hatte, auf ein Tablett.

Lediglich die Dame des Hauses fand sie nett. Eine unscheinbare Frau mit linkischen Bewegungen, die nicht zu der todschicken, modernen Einrichtung der Villa passen wollte: Nierentische aus der neuesten Kollektion zierten das Wohnzimmer, Tütenlampen und zierliche grüne Cocktailstühle mit halbhoher Lehne waren der letzte Schrei.

Gudrun machte inzwischen einem der Neuankömmlinge schöne Augen. Das fröhliche Lachen des jungen Mannes war Maria sofort aufgefallen. Sie hätte es unter allen anderen wiedererkannt. Dunkel und voll.

Carl hier? Wie konnte das sein? Der Mann wandte den Kopf und Marias Herz versteinerte. Tatsächlich, er war es. Ein Kloß schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte nicht hinschauen, aber sie konnte auch nicht wegsehen: Sie beobachtete Gudrun und ihn. Jede Bewegung. Die Köpfe, die sehr nah beieinander steckten. Johann war ebenfalls aufmerksam geworden.

»Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken bringen oder ein Häppchen reichen?«, fragte er, als ob er ihr seine Anwesenheit in Erinnerung rufen wollte. »Einen Wodka Highball oder einen Martini? Käsecracker, ein gefülltes Ei, Gürkchen?«

»Nein danke, Herr Reinhardt.«

Obwohl es den anderen Gästen gegenüber grob unhöflich war, folgte er ihr seit dem Betreten der Villa wie ein Hund. Sein Verhalten fand sie peinlich, wagte aber nicht, ihn darauf anzusprechen.

Manchmal streifte Carls eisiger Blick ihr Gesicht und Maria senkte betroffen die Lider. Schließlich nickte er Gudrun zu, kam auf die Beine und trat zu Johann, der ihn herbeigewunken hatte.

»Darf ich Sie mit Herrn Ebnert bekannt machen, Fräulein Krafft? Er ist ein guter Freund.«

Maria reicht Carl die Hand, die er kaum drückte. Schon wollte er sich abwenden.

»Seit wann bist du zurück?«, fragte sie ihn hastig.

»Seit gestern«, antwortete Carl knapp. »Drei Jahre und ein Tag sind eine lange Zeit.«

»Ihr kennt euch?«, fragte Johann misstrauisch.

»Wir haben im gleichen Dorf gelebt, bis das Haus meiner Familie ausgebombt wurde und wir auf den Hof einer Tante in den Nachbarort gezogen sind.«

Die beiden Männer standen nebeneinander – vom Alter und der Körpergröße her hätten sie Brüder sein können. Ansonsten hatten sie kaum Gemeinsamkeiten: Johann stand gönnerhaft lächelnd da, überschlank und hohlwangig. Schlecht sah er nicht aus, einige der Kolleginnen schwärmten sogar für ihn. Maria fand ihn allerdings nicht anziehend. Sein schmales Gesicht mit den fleischigen Lippen, unverkennbar ein Erbteil seines Vaters, stieß sie regelrecht ab.

Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu Carl, der während seiner Abwesenheit zum Mann gereift war. Sein energisches Gesicht war bartlos, seine braunen Locken trug er inzwischen kurz geschoren. Schon in seiner Zimmermannskluft, den weiten schwarzen Hosen, der Weste und der Jacke mit den silbernen Knöpfen, hatte er ihr ausnehmend gut gefallen.

Im grauen Abendanzug gab er eine tadellose Erscheinung ab. Viele Blicke folgten seiner aufrechten Gestalt. Ohne ein weiteres Wort an sie zu richten, machte er kehrt und eroberte den Platz an Gudruns Seite zurück. Jähe Eifersucht auf die Rivalin flammte in Maria auf.

Carl war also zurückgekehrt. Als kleiner Junge hatte er sie an den langen Zöpfen gezogen und ihre Nester mit unreifen Birnen im Heu ausgehoben, wo sie reifen sollten. Als sie achtzehn geworden war, hatte er sie im Garten seiner Tante auf die Lippen geküsst und Maria dann mit ihren unausgesprochenen Sehnsüchten und Träumen wie einen begossenen Pudel stehen und zurückgelassen. Das hätte ihr eine Warnung sein sollen.

Wie dem auch sei, vorwerfen konnte sie ihm nichts. Versprechen hatten sie damals keine ausgetauscht. Sie war dumm genug gewesen, ihm eine Fotografie als Geschenk zu überreichen, das vom Format her gut in seine Geldbörse passte. Freudig überrascht steckte er es damals ein und war noch am gleichen Tag fortmarschiert, um auf die Walz zu gehen. Ein unbekümmerter Bursche von zweiundzwanzig Jahren. Sie hatte geweint und geschworen, ihm die Treue zu halten. Seit drei Jahren hielt sie unbeirrt an diesem Entschluss fest. Zum Glück wusste er nichts davon, sonst hätte er sie vermutlich ausgelacht.

Sie warf einen Blick auf die Wanduhr.

Erst halb neun. Wie lange sollte diese Qual denn noch dauern? Sehnsüchtig schaute sie zum Ausgang. Die Anstandszeit hatte sie abgesessen. Nur ihren Schatten, den aufdringlichen Johann, musste sie loswerden, dann würde sie aufbrechen. Die Geburtstagsfeier seiner Schwester konnte er wegen einer unbedeutenden Angestellten wie ihr nicht verlassen, sonst würde im Betrieb die Gerüchteküche brodeln.

Sie griff in ihre Tasche und ertastete außer ihrem zarten Taschentuch etwas Hartes. Ein Markstück, das aus ihrem Portemonnaie gefallen sein musste. Sie kramte ihren Geldbeutel nicht hervor und ließ die Münze in die Tasche ihres Kleides zurückgleiten. Den weichen Stoff des Taschentuchs drückte sie gegen die Lippen. Ihre Geste erweckte Johanns Aufmerksamkeit.

»Fräulein Krafft, ist Ihnen nicht gut?«

Maria nickte. »Ich fühle mich leider unwohl, Herr Reinhardt, ich möchte gehen.«

»Sie sehen tatsächlich sehr blass aus.« Besorgt bat er eine Dame, aufzustehen und wollte sie auf den freien Stuhl nötigen. »So, setzen Sie sich. Ich werde einen Arzt rufen.«

»Bitte nicht. Das kenne ich schon. Ich brauche nur ein wenig frische Luft und es wird gleich wieder besser.«

»Wenn es nur das ist: Nehmen Sie meinen Arm, gnädiges Fräulein. Ich geleite Sie in den Garten hinaus.«

»Nein!« Nur mit Mühe unterdrückte Maria einen Aufschrei. »Dort ist es mir zu laut. Mein Kopf schmerzt und ich brauche Ruhe. Mein Vater ist sicher schon aufgebrochen, um mich abzuholen. Ich werde ihm einfach ein Stück entgegengehen.«

»Das kann ich nicht zulassen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn Ihnen unterwegs etwas zustößt. Selbstverständlich fahre ich Sie nach Hause.«

»Nein, keine Umstände bitte. Ich laufe die Strecke jeden Morgen zur Arbeit und abends wieder zurück.« Sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen.

»Keine Widerrede, ich fahre Sie nach Hause, gnädiges Fräulein.« Er lächelte und versuchte es mit Humor. »Oder muss ich ungnädiges Fräulein sagen?«

»Aber …« Mit ihrem unüberlegten Wunsch hatte sie genau das erreicht, was sie um jedem Preis vermeiden wollte: Johanns Begleitung. Ihr graute vor dem Gedanken an ihre Mutter, die ihn überfreundlich in ihr Haus einladen und auch noch ermuntern würde.

»Ich kann Fräulein Krafft bei ihren Eltern absetzen, Johann. Ich wollte mich ohnehin verabschieden und für mich ist es kein Umweg.«

Maria wandte verblüfft den Kopf. Ausgerechnet Carl kam ihr zu Hilfe, der gerade eben noch in die Unterhaltung mit Gudrun versunken war. Er bot ihr höflich seinen Arm und sie hakte sich nach kurzem Zögern bei ihm ein. An der Garderobe blieben sie kurz stehen.

»Hatten Sie einen Mantel dabei?« Carl siezte sie, als ob Maria eine Fremde wäre.

Sie schüttelte den Kopf. »Nur den Bolero, den ich nicht abgelegt habe.«

»Bis Morgen, Fräulein Krafft. Falls Sie in der Früh nicht zur Arbeit erscheinen, nehme ich mir die Freiheit, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen.« Johann lächelte ein essigsaures Lächeln und sah ihnen mit vor Wut schmalen Augen hinterher. »Wir sehen uns, Carl.«

Es klang wie eine Drohung.

Kapitel 5

Maria – Juli 1950

Schweigend hastete Maria neben Carl durch den gepflegten Garten der Reinhardts. Derart schnell schritt er aus, dass sie kaum nachkam. Wortlos öffnete er das Gartentor und hielt auf einen perlgrauen Volkswagen zu, der am Straßenrand parkte. Wie fremd er ihr geworden war in den drei Jahren, trotz der heimlichen Grüße, die er ihr regelmäßig hatte zukommen lassen. Dass sie bei seinem Fortgehen nicht in direktem Briefkontakt bleiben konnten, schmerzte sie zum Zeitpunkt ihrer Trennung beide tief. Denn eins war damals wie heute gewiss: Ihre Mutter hätte jede Nachricht von ihm, dem Habenichts, umgehend vernichtet. Maria wagte auch nicht, Sendungen postlagernd zu empfangen. Selbst jetzt mit einundzwanzig Jahren, da sie ohne Einwilligung der Eltern ein Postfach mieten konnte, scheiterte es an der Gelegenheit. Nach wie vor kam sie alleine kaum aus dem Haus, durfte allenfalls zum Gemischtwarenhändler im Ort und in Begleitung ihres Vaters zur Arbeit. Zur Post nach Freising kam sie nicht, zu gut behütet war sie auf all ihren Wegen.

Vor Carls Abschied hatten sie todunglücklich gegrübelt, wie sie in der Zeit seiner Wanderschaft voneinander hören konnten. Wie bitter war es für Maria gewesen, dass er auf die Walz gehen sollte, musste … Wenn ein armer Schlucker wie er den Meisterbrief machen wollte, waren die Wanderjahre unerlässlich. Zuletzt hatte er Melitta Langen ins Spiel gebracht, beide nannten die Nachbarin seit ihren Kindertagen Tante, obwohl sie weder mit Carl noch ihr blutsverwandt war.

»Ich werde ihr Karten schicken«, verkündete Carl. »Das habe ich ihr ohnehin versprochen. Deinen Namen werde ich nicht erwähnen. Sie soll die Karten deiner Mutter unbesorgt zeigen können. Aber ich werde das Wort Rose einflechten. Immer, wenn ich von Rosen schreibe, weißt du, dass du gemeint bist. Von dir wird unser gutes Tantchen mir ohnehin berichten, darum muss ich sie nicht bitten.«

Damals lehnte sie an seiner Schulter. Zuletzt hatte er sie geküsst. Treulich hielt er seinen Schwur. Auf jeder Karte, in jedem Brief erwähnte Carl Rosen, bis das Tantchen vor einem Jahr verstorben war. Seither hatte Maria nichts mehr von ihm gehört. Voller Sorge um ihn und ungeduldig harrte sie aus. Und jetzt … Wut stieg in ihr hoch.

»Ich dachte, Burschen auf der Walz dürfen kein Auto haben?«, sagte sie spitz.

»Genauso wenig wie sie ihrer Heimat einen Besuch abstatten dürfen. Das ist richtig. Aber meine Wanderschaft ist zu Ende.« Carl öffnete die Tür und wartete, bis sie eingestiegen war. »Im Übrigen ist es nicht mein Wagen. Das Auto gehört meinem Onkel. Er hat es mir netterweise geborgt.«

»Er muss sehr gut verdienen.«

»Mit Sicherheit um einiges weniger als Ihr besorgter … Freund.« Carl spuckte es aus wie ein Schimpfwort.

»Wieso siezt du mich?«

Er warf die Beifahrertür zu, umrundete das Auto und stieg selbst ein. Routiniert startete er den Wagen, gab Gas und legte den Gang ein. »Weil ich dich nicht mehr kenne. Was hast du mit den Reinharts zu schaffen?«

»Die gleiche Frage könnte ich dir stellen«, antwortete sie schnippisch. »Aber gut, um der alten Zeiten willen, werde ich nicht so sein. Gudrun ist meine Kollegin. Nachdem du weggegangen bist, habe ich auf Wunsch meiner Eltern im Betrieb der Reinhardts eine Ausbildung zur Sekretärin begonnen. Mein Vater arbeitet dort in der Buchhaltung.«

Er nickte, während sie fortfuhr.

»Jetzt bin ich an der Reihe mit Fragenstellen: Woher kennst du Gudrun? Dafür, dass du erst seit einem Tag wieder zurück bist, hast du dich blendend mit ihr verstanden.« Ihre Stimme zitterte.

»Mein Meister arbeitet für die Reinhardts in der dort angegliederten Schreinerei.«

»Das ist natürlich ein guter Grund, dich und nicht ihn zu Gudruns Geburtstagsparty einzuladen.«

Er setzte den Blinker und bog in eine Seitenstraße, die in einen Feldweg mündete.

»Das ist nicht der Weg nach Hause«, protestierte sie erschrocken. »Fahr sofort zurück, ich bin nicht eins von diesen Flittchen …«

Ende der Leseprobe