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1779: Während Commander Turner auf die Reparatur der Ville de Rouen wartet, um den Atlantik nach Großbritannien zu überqueren, versüßt ihm die lebenslustige Lady Jane das Leben an Bord, während sein Sohn sich endlich bei ihm und unter der Obhut einer Amme befindet. Doch gilt die alte Seemannsweisheit: Wer zu früh rechnet, muss zweimal rechnen! Die Stadt Lunenburg wird überfallen und ein feindlicher Indianerstamm entführt Frauen und Kinder. Der Admiral beauftragt ihn, sie zu befreien. Ein deutscher Oberst und befreundete Indianer sollen ihm dabei helfen.
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Seitenzahl: 335
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Paul Quincy
Indianersommer
Reihe: William Turner, Band 7
Kuebler Verlag
Das Buch
1779: Während Commander Turner auf eine Gelegenheit wartet, um den Atlantik nach Großbritannien zu überqueren, versüßt ihm die lebenslustige Lady Jane das Leben an Bord, während sein Sohn sich endlich bei ihm und unter der Obhut einer Amme befindet. Doch gilt die alte Seemannsweisheit: „Wer zu früh rechnet, muss zweimal rechnen!“
Band 7 der Reihe über William Turner (genannt „Wild Bull“ Turner) von Paul Qunicy
Der Autor
Paul Quincy war Seemann und weltweit als Wachoffizier und in leitender Position auf Schiffen der Großen Fahrt unterwegs. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er als Übersetzer etwa 60 Romane und Fachbücher – zum größten Teil historische maritime Romane aus den Napoleonische Kriegen – vom Englischen ins Deutsche übertragen. Paul Quincy verknüpft in der Reihe um William Turner Spannung mit historischen Fakten und viel Wissen über die Lebensumstände der damaligen Zeit.
Paul Quincy
Indianersommer
William „Wild Bull“ Turner im Wechselbad der Gefühle
Band 7 der Reihe „William Turner“
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www.kueblerverlag.de
Impressum
Originalausgabe im Kuebler Verlag,
1. Auflage
Copyright © 2016 Kuebler Verlag, Lampertheim.
Alle Rechte vorbehalten.
Titelbild: © Kostyantyn Ivanyshen – shutterstock.com.
Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Kuebler Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt, verbreitet oder zugänglich gemacht werden.
ISBN Printausgabe 978-3-86346-018-1
ISBN Digitalbuch 978-3-86346-310-6
Prolog
Eigentlich sollte Commander William Turner mit seinem Schiff, der Ville de Rouen, schon längst wieder im heimatlichen Britannien weilen, aber die Beschädigungen, die diese im Gefecht mit den amerikanischen Freibeutern vor Beaufort erlitten hatte, zwangen ihn, New York anzulaufen, um sie vor der gefahrvollen Atlantiküberquerung reparieren zu lassen. Leider stellte sich nach der Ankunft heraus, dass das Trockendock der Werft auf unabsehbare Zeit belegt sein würde, daher wollte er den gut gemeinten Rat befolgen, weiter nach Halifax auf Nova Scotia zu verholen. Das umso lieber, da er in Manhattan beinahe auf Befehl des Geheimdienstes zum Meuchelmörder geworden wäre. Dazu kam noch der ungeklärte Mord an seinem Zahlmeister im Laderaum seines Schiffes. Vermutlich hatte er einen oder gar zwei Mörder in seiner Besatzung, deren Identität niemand kannte.
Trotzdem hätte er froh und zufrieden sein können, da die schöne Lady Jane ihm das Leben an Bord versüßte und er seinen Sohn in der Obhut einer Amme endlich bei sich in Sicherheit wusste. Nun ja, wir wissen, dass bei Turner nur selten alles glatt geht. Auch für ihn gilt die alte Seemannsweisheit: Wer zu früh rechnet, muss zweimal rechnen! Wie schon der alte Cäsar so richtig zu bemerken pflegte: „Libenter homines id, quod volunt, credunt.“[1] Es bleibt also abzuwarten, welche Stolpersteine ihm die unberechenbaren Götter der See noch in den Weg legen werden, ehe er wieder den Boden Britanniens betreten kann. Man wird den Verdacht nicht los, dass er Odysseus nacheifert, der bekanntlich für seine Heimfahrt von Troja nach Ithaka zehn lange Jahre benötigte. Allerdings hat der Schlingel davon allein ein Jahr bei der lieblichen Circe verbracht; was die beiden da so getrieben haben, wollen wir lieber nicht wissen. Hinterher kann man dann alles auf die Götter schieben. Immerhin haben diese der Circe die Gabe verliehen, Männer in Schweine verwandeln zu können; ein Erbe, das sie anscheinend vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen hinterlassen hat …
Nun warten wir ab, wie Commander Turner und seine Offiziere und Mannschaften die Herausforderungen meistern werden, die verborgen hinter dem dunklen Schleier der Zukunft auf sie warten.
***
[1] Gerne glauben die Menschen das, was sie sich wünschen.
Kapitel 1
Nova Scotia, Juli 1779
Der Mond näherte sich den tiefschwarzen verschwommenen Schatten der zerklüfteten Küstenlinie von Nova Scotia vor dem ein wenig geringer düsteren Westhimmel. Der mäßige Westwind drückte Feuchtigkeit in die dicht bewaldeten felsigen Hügel mit den dazwischenliegenden engen Fjorden, die weit in das Land hineinschnitten. Fahlgraue Schwaden waberten über dem Wasser. Daher war eine klare Trennungslinie zwischen der See und dem Ufer nicht zu erkennen. Das Meer war so drohend düster wie die kleinen mit sturmgebeugten, verwachsenen, knorrigen Bäumchen bestandenen Inseln und nackten felsigen Schären, an deren glattgewaschenen Abhängen sich widerwillig, müde und ermattet nach der langen Reise über den Atlantik die lange Dünung brach. Ab und zu hatte sie noch Kraft genug, unheimlich gegen die Felsen zu klatschen und eine kleine weiße Fontäne in die Höhe schießen zu lassen. Kaum sichtbar in diesem Stillleben aus Schwarz, Anthrazit, Dunkelgrau und der dahinterstehenden silbernen halben Mondscheibe geisterten die gespenstigen Umrisse von sechs völlig abgeblendeten Seglern auf nördlichen Kursen mit raumem Wind ihrem Ziel entgegen. Es war die Zeit des Beginns der Morgenwache um 04:00 Uhr, aber auf keinem der Schiffe, drei unterschiedlich großen Schonern, einem großen Kutter und einer handigen Brigg, war das Glasen der Glocke zu vernehmen. Was auch immer die Männer auf diesen Fahrzeugen vorhatten, es konnte nichts Gutes sein, wenn sie auf dieses geheiligte Ritual verzichteten. Am nordöstlichen Horizont zeigte sich ein dünner silberner Streifen. In Kürze würde die Sonne aufgehen. Was würde der Tag bringen?
Auf dem Deck des größten Schoners wandte sich ein bulliger, untersetzter Mann in einem blauen Rock und einem Zylinder an den Rudergänger: „Mister Holmes, neuer Kurs NNW, ein Viertel W! Achtung das Deck: An die Schoten! Wir fallen ab und halsen! Lotgasten: Ständig loten, Jungs, jetzt wird es eng, also höchste Konzentration, verstanden!“
Die Antwort war ein dumpfes Gemurmel mit einem gedämpften: „Aye, aye, Sir.“
Kapitän Whitehead drehte sich um und blickte achteraus, die kleine Flotte formierte sich hinter ihm in Kiellinie. Auch die führende Brigg halste, brasste die Rahen und trimmte ihre Segel für den halben Wind und lief mit Steuerbordhalsen unter Vollzeug in das dunkle Loch vor ihrem Bug hinein. Sie setzte sogar Leesegel. Kapitän Whitehead nickte anerkennend und murmelte: „Dieser Dearing ist zwar ein unausstehlicher Angeber, aber Courage hat er, das muss man ihm lassen. Es gehören schon Eier dazu, unter Vollzeug in dieses schwarze Loch zu preschen. Nun ja, er hat zur Sicherheit auch noch einen einheimischen Lotsen an Bord.“ Er lächelte grimmig, als er an die Gefangennahme des Mannes dachte. Es waren erhebliche Überredungskünste von Nöten gewesen, um den Mann zu überzeugen, dass es für seine Gesundheit besser war, den Befehlen der Freibeuter zu gehorchen.
Der Kerl war ein sturer, dickköpfiger Mann, der vom schweren Leben als Fischer auf den Großen Bänken hart wie ein Granitbrocken geworden war. Dazu kam, dass er ein gebürtiger Deutscher war. Er stammte aus einer Gegend Norddeutschlands,[2] die sich etwas darauf einbildete, dass dort hohes, hartes Friesengewächs aufwuchs. Im Übrigen traf auf einen großen Teil der Bewohner Lunenburgs zu, dass sie aus Deutschland stammten. Allerdings kamen sie aus den verschiedensten Gauen des Fleckenteppichs, der sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nannte. Erst ein abgeschnittenes Ohr hatte Nils Randerson beeindruckt. Er hatte den Knorpellappen, der ihm von einem grinsenden Seemann vor die Augen gehalten wurde, finster angestarrt und böse etwas in sich hineingeknurrt. Die Wunde befingern konnte er nicht, da seine Hände gefesselt waren. Als ihm der wohlmeinende Maat einen in Alkohol getränkten Lappen auf die Wunde presste, was höllisch brennen musste, verzog er keine Miene – wie schon gesagt, er war ein harter Mann. Schließlich kam er zu der Überzeugung, dass Kooperation unter diesen Umständen der bessere Teil der Tapferkeit war.
Whiteheads Gedanken wanderten wieder zu Kapitän Dearing zurück. Schließlich hing von dem Mann eine Menge ab. Er musste das Landungskommando rechtzeitig an dem verabredeten Punkt absetzen. Hoffentlich waren die roten Verbündeten auch pünktlich zur Stelle. Sie waren zwar gute Krieger, aber leider so unzuverlässig wie eine sommerliche Abendbrise.
Die Schoner liefen trotz der immer schwächer werdenden südlichen Kühlte mit dem ersten Reff in den großen Segeln in die Lunenburg Bay hinein, um der Gannet den nötigen Vorsprung zu verschaffen. Es wurde schnell heller. Vor dem Backbordbug zeichnete sich der dunkle Umriss des Rose Point immer deutlicher vom Hinterland ab, auf Steuerbord war jetzt das steinige Ufer des flachen, dicht bewaldeten Cross Island klar sichtbar. Vor ihnen näherte sich die Brigg unter dem Kommando von Kapitän Dearing bereits der Halbinsel, die dem Hafen von Lunenburg vorgelagert war und ihn gegen östliche Stürme schützte. Auf der nach Süden hinausragenden Landspitze waren die zerfallenen Wälle eines alten Forts aus dem Siebenjährigen Krieg zu sehen. Es hatte dem Kap zu seinem Namen verholfen: Battery Point. Nördlich davon auf der Ostseite war das Wasser bis dicht unter die Küste tief genug für die Gannet.
„Achtung, das Deck! Die Reffs ausschütten, danach Schiff klar zum Gefecht. Jetzt gilt es, Jungs.“
„Schlauerweise haben wir uns den Sonntag ausgesucht“, überlegte Whitehead selbstgefällig. „Da schlafen selbst die Fischer mal ein paar Stunden länger und laufen nicht in aller Herrgottsfrühe aus. Sie wollen den heiligen Gottesdienst nicht versäumen. Na, wir werden euch heute die Glocken ordentlich läuten, verlasst euch drauf, ihr verdammten Speichellecker von Schorchies Gnaden.“
Die Brigg vor ihnen drehte auf und lag hinter dem über sechzig Fuß hohen Hügel auf der Halbinsel bei. Sie war den Blicken etwaiger Frühaufsteher im Ort verborgen. Die Boote, die sie achteraus mitgeschleppt hatten, wurden längsseits geholt. Bis an die Zähne bewaffnete Seeleute sprangen hinein und setzten ans Ufer über. Wie von einem Zauberer mit einem magischen Spruch aus dem Nichts herbeibefohlen, erschienen dort plötzlich indianische Krieger in ledernen Jacken und Hosen. Auf dem Kopf trugen sie lederne Kappen oder einen Federschmuck. Sie begrüßten die Ankömmlinge und schwangen ihre Waffen über den Köpfen. Eines der Boote nahm die übrigen in Schlepp und brachte sie zur Brigg zurück, die wieder Fahrt aufnahm und eine Warteposition zwischen den zahlreichen gefährlichen Untiefen der Bucht einnahm. Sie sollte das Landungskommando und die Schoner vor unangenehmen Überraschungen von See her absichern. Die Schoner passierten langsam nacheinander die Landspitze und drehten auf die farbenfroh rot, blau und weiß gestrichenen Häuser und Schuppen des kleinen Ortes ein.
Über dem Ort thronten drohend die beiden örtlichen Forts. Es handelte sich um Holzbauten, die aus massiven Baumstämmen errichtet worden waren. Ihr Grundriss war in etwa quadratisch. Das Erdgeschoss wies nur kleine schießschartenähnliche Fenster und eine schwere, widerstandsfähige Tür aus dicken Bohlen auf. Das erste Stockwerk hatte eine größere Grundfläche als sein Unterbau, stand also auf allen vier Seiten über. In den schrägen Balken, die in einem Winkel von vielleicht 45° nach oben und außen verliefen, befanden sich Schießscharten, in den senkrechten Wänden befanden sich kleine Fenster. Es handelte sich eher um Wehrtürme als um echte Festungswerke, vergleichbar den steinernen Kirchtürmen in Europa, die ehemals der Dorfgemeinschaft als Zufluchtsort und Verteidigungsstellung bei Überfällen gedient hatten. Whitehead musterte die beiden Bauwerke durch sein Fernrohr, konnte aber in ihrer Nähe kein Lebenszeichen entdecken. Die gottesfürchtigen Einwohner von Lunenburg schliefen den Schlaf des Gerechten.
Da zerriss der scharfe Knall eines Schusses die sonntägliche Stille. Auf der Pier waren plötzlich an einigen Stellen hektische Bewegungen zu erkennen. Ein zweiter Schuss krachte. Whitehead musste nicht lange nachdenken, um sich ziemlich sicher zu sein, wer den Alarm ausgelöst hatte. Es waren gewiss die unvermeidlichen Angler gewesen. Alte Männer, die nicht mehr die ganze Nacht durchschlafen konnten, oder Trinker, die um diese Zeit ihren ersten Schluck aus der Flasche brauchten und meinten, das am unauffälligsten an der Pier mit einer Angelrute in der Hand bewerkstelligen zu können. Allerdings wusste jeder im Ort über ihre Schwäche Bescheid, aber hier waren sie jedenfalls außerhalb der Sicht- und Reichweite ihrer zänkischen Weiber.
Seitdem es Gerüchte gab, dass die Stämme der Mi'kmaqs das Kriegsbeil ausgegraben hatten, ging kein Mann – und auch viele Frauen – ohne eine Schusswaffe aus dem Haus. Überall flogen jetzt Fenster und Türen auf. Zwar konnte Whitehead nicht verstehen, was sich die Leute zuriefen, aber er konnte sich doch den Sinn mühelos zusammenreimen. „Herr im Himmel! Die Yankees kommen! Zu den Waffen, Bürger!“
Er brummte ärgerlich in sich hinein. Die Indianer schienen zwar die Wachposten wie besprochen rechtzeitig ausgeschaltet zu haben, aber mit den bettflüchtigen Alten hatte niemand, einschließlich ihm selbst, gerechnet. Nun hieß es schnell zu handeln. Laut befahl er: „Klar zum Ankern! Klar zum Bergen der Segel! Etwas plötzlich, die Herren!“ Die Hafenbucht von Lunenburg mochte eine maximale Länge von knapp einer Seemeile und eine Breite von drei Kabellängen[3] haben. Hier unter Land in der Abdeckung der vorgelagerten Hügel war die Brise kaum noch spürbar. Die Schiffe der Freibeuter krochen nervenzermürbend langsam durch das Wasser – jedenfalls für das Gefühl der Yankees. Aus der Perspektive der Bewohner von Lunenburg näherten sie sich immer noch viel zu schnell.
Aus den Hauseingängen quollen Männer in Hemdsärmeln oder in offenstehenden Röcken mit umgehängten Pulverhörnern und Kugelbeuteln. Die langen Musketen pressten sie gegen die Brust und eilten zu den Befestigungen auf den Hügeln empor. Whitehead fluchte verbissen vor sich hin. Wenn sich die Kerle darin verschanzten, dann würde man sie nur mit einem hohen Blutzoll da wieder herauswerfen können. Nicht auszudenken, wenn sie in dem Blockhaus auch noch über Artillerie verfügten, dann stellten die ankernden Schiffe leichte Ziele dar: „Wie Sitting ducks!“, fluchte Whitehead verbiestert und schlug mit der Faust auf den Schandeckel der Reling. Die Schiffe konnten das Feuer nicht erwidern, da die maximale Höhenrichtung ihrer Stücke dafür nicht ausreichte.
Die ersten Verteidiger hatten fast das westliche Bollwerk erreicht, als sie plötzlich zum Stillstand kamen. Es schien fast, als wären sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Whitehead stieß überrascht den Atem durch die Nase aus. Aber das Mirakel entpuppte sich sehr schnell als eine große Gruppe Indianer, die, wie es ihre Art war, urplötzlich aus dem Boden zu wachsen schienen und mit lautem Kriegsgeschrei über die etwa zwei Dutzend Männer herfielen. Der Kampf war hart, blutig und kurz. Am Ende waren die Weißen niedergemacht, aber auch ein knappes Dutzend Mi'kmaqs blieb von Kugeln getroffen oder mit von Kolben zerschmetterten Köpfen auf der Wallstatt zurück. Die überlebenden Krieger beugten sich über die Leichen ihrer Gegner, sobald sie sich wieder aufrichteten, schwenkten sie triumphierend etwas durch die Luft, das wie ein blutiger Lappen aussah. Whitehead hatte einen schalen Geschmack im Mund, denn er wusste, was das war. Die Indianer hatten ihre Gegner skalpiert, um später die versprochene Kopfprämie zu kassieren. Der Ausdruck „Kopfgeld“ bekam durch diesen Brauch einen äußerst degoutanten Beigeschmack.
An Land begannen die Kirchenglocken Sturm zu läuten. Vermutlich hofften die Bewohner, dass der Schall die kleinen verstreuten Ansiedlungen im unmittelbaren Hinterland und die benachbarten Orte hinter den Hügeln erreichen und deren Einwohner veranlassen würde, ihnen zu Hilfe zu eilen. Aber selbst wenn man dort die Zeichen richtig deutete, würde es eine geraume Zeit dauern, bis die Verteidiger von Lunenburg auf eine Verstärkung hoffen durften, die diesen Namen auch verdiente.
Langsam, unendlich langsam krochen die Schiffe der Amerikaner in die Bucht hinein. „Segel bergen! Ausscheiden mit dem Loten!“, kommandierte Whitehead. „Mister Holmes, sorgen Sie dafür, dass eine Spring an die Ankertrosse angesteckt wird!“
„Spring auf Ankertrosse, aye, Skipper!“
Ratternd kamen die Segel herunter und wurden behelfsmäßig aufgetucht. Der Schoner kam zum Stillstand. „Lass fallen Anker!“ Der schwere Anker klatschte laut ins Wasser, eine Wolke von Spritzwasser verschaffte den Männern auf dem Vorschiff eine nicht unwillkommene Erfrischung. Rumpelnd polterte die Ankertrosse durch die Klüse. Die Spring lag zum Laufen aufgeschossen auf dem Deck bereit. Der schwache Strom drückte den Schoner herum, langsam trieb er in die Bucht hinein.
Der Kutter Seagull unter Kapitän Noah Adams und der kleine Schoner Divine Grace von Richard Franklin machten keine Anstalten zu ankern, sondern hielten auf den Kai zu, der von in den Grund gerammten dicken Baumstämmen gebildet wurde. Ihr geringerer Tiefgang erlaubte es ihnen, daran längsseits zu gehen. Die elegante Algonquin schob sich an der etwa gleichgroßen Faithful von Kapitän Whitehead vorbei und ließ in gut zwei Kabellängen Abstand von ihr den Anker fallen.
Kapitän Whitehead übernahm das Ruder vom Bootsmann: „Mister Holmes, drehen sie mit der Spring das Schiff so, dass unsere Breitseite die Häuser bestreichen kann. Dann feuern Sie bitte eine blinde Salve – also ohne Kugeln – zur Warnung ab! Die Männer, die nicht zum Bedienen der Stücke benötigt werden, mit den restlichen Booten an Land übersetzen, Mister!“ Whitehead fand wieder Zeit durch sein Fernrohr zu blicken. Er schaute zum östlichen Bollwerk hinüber und fluchte unchristlich, denn dort verschwanden gerade die letzten Männer in der Tür, die sofort hinter ihnen verschlossen wurde. Der Freibeuter sah vor seinem inneren Auge, wie drinnen die schweren Querbalken in die geschmiedeten Lagerungen eingelegt wurden. Kurz darauf erschienen die langen Läufe der Musketen in den Schießscharten und nahmen ohne zu zögern den Kutter und den kleinen Schoner unter Feuer, da deren Besatzungen die unmittelbare Gefahr darstellten. Da man sich hier draußen in der Wildnis aus dem Land ernährte, waren die Einwohner im Umgang mit Schusswaffen vertraut und in der Mehrzahl auch gute Schützen. Wer sein Wildbret nicht erlegen konnte, musste hoffen, dass er wenigstens ein begnadeter Fischer war oder einen grünen Daumen für den Anbau von Gemüse hatte. Diese Kerle im Bollwerk schossen jedenfalls verdammt gut, nach Whiteheads Geschmack bei weitem zu gut. Schmerzensschreie klangen vom Kai herüber. Leblose Gestalten wurden unter Deck getragen. Auch aus einigen Häusern wurde auf die Freibeuter gefeuert, die, sobald das möglich war, zornig und rachedurstig an Land sprangen, um diese Widerstandsnester auszuräuchern.
Da kam unvermutet aus einer engen Seitengasse eine wilde, ungeordnete Menschenmenge auf die Pier gestürmt, Whitehead meinte zu sehen, dass auch Frauen darunter waren. Alle waren mit dem bewaffnet, was sie gerade zur Hand gehabt oder was sie am schnellsten hatten greifen können. Er sah Dreschflegel, Sensen, Heugabeln, Sicheln, Spaten, allerdings waren lange blitzende Messer, große Äxte und Säbel in der Überzahl. Daneben waren aber auch Pistolen und die eine oder andere Flinte zu sehen. Der unvermutete Angriff in ihrer Flanke brachte den Angriffsschwung der Amerikaner zum Stehen. Whitehead brüllte: „Was ist los, Holmes? Wo bleibt die Salve? Feuer frei, verdammt!“
Die sechs Sechspfünder der Breitseite bellten giftig auf, lange, orangefarbene Lanzen schossen aus den Rohren, dann hüllte sich der Schoner in eine grauweiße Wolke aus Pulverqualm ein. Doch die Salve war Vergeudung von Pulver, denn die Wirkung auf die Kämpfenden am Kai war gleich Null. Ein blutiges Handgemenge hatte sich zwischen den beiden Parteien entwickelt. Langsam wurden die Freibeuter in Richtung ihrer Schiffe zurück gedrängt. So hatten sie sich den Verlauf des Überfalls nicht vorgestellt. Pardon wurde nicht gegeben, denn die Amerikaner wussten, wenn ihre Schiffe erobert wurden, waren sie so gut wie sicher verloren, auf der anderen Seite kämpften die englischen Loyalisten für ihre Familien, ihr Eigentum und nicht zuletzt um ihr Leben. Auf dem Kai bildeten sich große Blutlachen, in denen seltsam verkrümmte Leichen lagen. Verwundete mit blutenden Wunden versuchten, sich kriechend aus dem Kampfgetümmel wegzustehlen.
Aus dem Blockhaus stiegen dunkle Qualmwolken auf, dumpfe Abschüsse rollten über die Bucht.
„Verdammt! Ich habe es geahnt – sie haben Kanonen im Fort. Aber wo sind die Einschläge? Sollten wir mehr Glück als Verstand haben und den Engländern ist das Pulver feucht geworden? So wie der Qualm aussah, wäre das sehr gut möglich!“
Das Ende für die tapferen Verteidiger kam, als die Boote der Faithful und der Algonquin anlegten und ihre brüllenden, waffenschwingenden Horden an Land spuckten. Kämpfend wichen die Tories zurück. Ihre Verteidigung brach vollends zusammen, als von hinten die Landungstruppe unter dem Kommando des Ersten Maaten Aaron Coleman von der Faithful zusammen mit den roten Kriegern in den Kampf eingriffen. Von einer geordneten Verteidigung konnte jetzt keine Rede mehr sein. Die dezimierte Gruppe der Verteidiger löste sich auf und wer konnte, eilte in Richtung seines Hauses davon. Den meisten war vermutlich bewusst, dass das nur geborgte Zeit war, aber sie sahen keine Alternative mehr. Wer nicht entkam, wurde niedergemacht und skalpiert.
Nachdem die Pier fest in den Händen der Freibeuter und ihrer Verbündeten war, begannen einige der Yankees mit dem Geschäft, zu dessen Erledigung sie eigentlich hierhergekommen waren. Mit Äxten zerschlugen sie die Tore der Lagerhäuser, um festzustellen, ob der Abtransport der hier lagernden Güter lohnen würde. Aber sie konnten ihren räuberischen Aktivitäten nicht ungestört nachgehen, denn noch immer lagen die Kais unter dem wohlgezielten Feuer der Scharfschützen im Blockhaus.
Whitehead beobachtete durch sein Teleskop wie sein Maat das Entermesser wütend durch die Luft schwang, schwach hörte er ihn in seiner besten Achterdeckkommandostimme brüllen: „Ausscheiden mit den Plünderungen, Männer! Her zu mir! Wir müssen zuerst das kleine Fort da drüben ausschalten, verstanden, ihr syphilitischen Trauergestalten mit dem Hirn einer Eidechse?“ – „Gut der Mann“, dachte sein Skipper, „der Junge erkennt, was nötig ist, und handelt sofort entsprechend.“ Zwar konnte er die Antworten der Seeleute nicht verstehen, aber es kostete ihn keine Mühe, sie sich lebhaft vorzustellen. Sie würden murren und aufsässig werden. Sie waren keine Soldaten, deren Metier das Kämpfen war, sondern in erster Linie war der Raub ihr Geschäft, gleichgültig ob es sich um ein Schiff oder um eine Ortschaft handelte. Begeisterte Kämpfer waren sie nur, wenn der Ausgang des Kampfes von vorneherein feststand, weil sie sich in einer vielfachen Übermacht befanden.
Die Kugel eines Schützen aus dem Wehrturm unterstrich ungewollt die Worte von Coleman. Einer der Kerle, der vorher die aufsässigsten Reden geschwungen hatte, warf plötzlich die Arme in die Luft und stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden. Das überzeugte die anderen. Oben auf dem Hügel dröhnten wieder die Geschütze. Diesmal schlugen die Kugeln schon zwischen dem Ufer unterhalb des Forts und den beiden ankernden Schiffen ins Wasser. Das Landungskommando – jedenfalls der größte Teil – folgte dem Maaten, der im Laufschritt die Stadt auf der Uferstraße durchquerte. Die Indianer blieben zurück und begannen schon mal mit der Plünderung. Ein Angriff auf ein Fort war nicht ihre Sache, sie verstanden sich darauf, einen Hinterhalt zu legen oder den Gegner im unwegsamen, unübersichtlichen Gelände überraschend zu überfallen, aber nicht auf eine Belagerung.
Kaum dass die Freibeuter aus dem Schutz der Häuser heraus waren, wurden sie unter gut gezieltes Feuer genommen. Sie mussten Deckung suchen und sich mühsam von einer Bodenvertiefung zu nächsten Bodenwelle, von einem verkrüppelten Baum zum nächsten schutzbietenden Busch weiter nach oben vorarbeiten. Das Teuflische dabei war, je näher sie dem Blockhaus kamen, desto zielsicherer wurden dessen Verteidiger, die tödlichen Kugeln summten ihnen im besten Fall nur wie gereizte Hornissen um die Ohren. Aber viele der Angreifer erhoben sich nach einem letzten Sprung nicht mehr. Schließlich ging es nicht mehr vorwärts, das gut gezielte Feuer nagelte sie buchstäblich am Boden fest.
Die Sonne näherte sich auf ihrem täglichen Weg über das sommerlich blaue Himmelsgewölbe ungerührt ihrem Zenit. Es wurde heiß. Der felsige Boden reflektierte die Wärme. Die Männer wurden durstig. Keiner von ihnen hatte eine Feldflasche bei sich. Wieder donnerten die Geschütze, Coleman sah, wie dicht neben der Algonquin eine weiße Wasserssäule senkrecht in die Höhe stieg. Auf der Faithful flogen Splitter durch die Luft. Die Tories begannen sich einzuschießen, es musste dringend etwas geschehen. „Falsch“, dachte Coleman, „ich muss etwas unternehmen, sonst schießen diese Hunde mir mein schönes Schiff unter dem Arsch weg, und das, wenn ich gar nicht drauf bin. Es ist ein verdammt langer und mühsamer Fußweg von hier bis nach Boston, verdammt!“ Er musste Zeit gewinnen, vielleicht konnte man des Nachts mehr erreichen. Den Kopf vorsichtig in Deckung haltend, wandte er sich an einen Quartermaster, der sich recht bequem in einer tiefen Bodenwelle nicht weit von ihm eingerichtet hatte: „Smith, befestige dein Unterhemd an deiner Muskete und wedele damit ordentlich durch die Luft. Hast du verstanden?“
„Wird schwer werden, Mister Mate, weil, ich habe kein Unterhemd an.“
„Dann nimm, verdammt noch mal, deine Unterhose! Herrgott, stell dich nicht so an!“
„Ich weiß nich', Sir, aber meinen Sie wirklich, dat die Limies die Bedeutung einer grauen Flagge mit goldenen Streifen kennen?“
Coleman wäre vor Ärger beinahe aufgesprungen. Mühsam, immer auf Deckung bedacht, schob er sein Wehrgehänge über den Kopf. Kugeln schlugen um ihn herum ein und ließen kleine Gesteinssplitter durch die Luft sausen, die, wenn sie trafen, hässliche Wunden verursachten. Als nächstes schälte er sich aus einem blauen Rock. Es war eine Wohltat, als die sanfte Brise über seinen verschwitzten Körper strich. Endlich war das ziemlich weiße Hemd an der Reihe. Er schob es, soweit es ihm möglich war, zu Smith hinüber. Der fummelte eine ganze Weile damit an seiner Muskete herum, aber schließlich schwang er es durch die Luft. Coleman wartete ab, zählte langsam bis zehn, stand dann auf und zog den blauen Rock wieder an. Er beugte sich leicht nach vorne, so als wollte er den Einschlag einer schweren Bleikugel in seiner Brust abfangen, ohne nach hinten umzufallen. Aber im Blockhaus blieb alles ruhig. Langsam ging Coleman auf die Tür zu, die sich öffnete, als er noch etwa fünfzehn Schritte von ihr entfernt war. Ein großer Mann mit einer langen blonden Mähne, die unter einem breitkrempigen Hut hervorquoll, trat heraus. Im Hutband aus bunten Glasperlen steckte eine Adlerfeder. Seine Bekleidung bestand aus einem offenen langen blauen Uniformrock mit rotem Innenfutter, sowie gleichfarbigen Ärmel- und Rockaufschlägen und roten Rabatten mit weißen Litzen. Allerdings waren die Farben schon stark ausgeblichen.[4] Dazu kamen eine weiße Weste, weiße Kniebundhosen und knielange indianische Mokassins. Coleman konnte diese seltsame Uniform keiner der kriegführenden Armeen zuordnen. Das Wehrgehänge des sonderbaren Mannes war leer. Das Gesicht wurde von zwei blitzenden blauen Augen beherrscht, die den Freibeuter kalt taxierten und in deren Hintergrund eisige Wut darauf lauerte, sich frei austoben zu können. Sein Aussehen erinnerte an einen Vulkankrater kurz vor dem Ausbruch. Die braune lederne Haut wies tiefe Furchen auf. Es war das Gesicht eines Mannes, der in seinem Leben schon viel gesehen hatte und dem beileibe nicht alles gefallen hatte, was ihm vor die Augen gekommen war. Er hielt dem Maaten die leeren geöffneten Handflächen entgegen, um anzuzeigen, dass er unbewaffnet war. Coleman erwartete von ihm scharf angefahren, möglicherweise verflucht zu werden, desto mehr überraschte ihn die beherrschte, ja fast gleichmütige Stimme des großen Mannes, die ihm, als noch fünf, sechs Yards Raum zwischen ihnen war, gedehnt befahl: „Das ist nahe genug, Mordbube!“ Der Mann hatte seine Gefühle unter Kontrolle. Coleman kam nicht umhin diese Selbstbeherrschung widerwillig zu bewundern.
„Mit Verlaub, Sir! Wir sind Freibeuter mit gültigen Kaperbriefen der Regierungen der unabhängigen Staaten Maine bzw. New Hampshire, Sir. Ich bin der Erste Maat des guten Schoners Faithful aus Boston. Mein Name ist Aaron Coleman.“
„Sind die roten Teufel etwa auch Freibeuter, Sir?“
„Unsere indianischen Verbündeten sind brieflich von General George Washington persönlich aufgefordert worden, als freie Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika die Waffen zu erheben, um die Feinde unseres Landes zu verjagen, damit wir zusammen mit ihnen in Friede und Eintracht leben können“, erklärte Coleman mit erheblichem Pathos. Er erntete dafür nur ein schiefes Lächeln.
„Da werden Ihre roten Freunde aber sehr erstaunt sein, wenn sie feststellen müssen, dass sie aus dem Regen unter Umgehung der Traufe direkt in der amerikanischen Jauchegrube gelandet sind. Und auch Sie, junger Mann, werden noch erheblich dümmer gucken, wenn Sie feststellen, dass die Sympathien der Mi'kmaqs eigentlich den Welschen gelten. Sie haben wohl vergessen, dass sie während des Siebenjährigen Krieges auf Seiten Frankreichs gegen uns gekämpft haben. Aber vielleicht sind Sie zu jung, um sich daran zu erinnern. Es wird nicht lange dauern, bis die hier in der Gegend ansässigen Stämme feststellen, dass es sich unter dem Purpurmantel Seiner Britannischen Majestät besser und sicherer lebt, als unter der Fuchtel von ein paar Dutzend landgeilen Sklavenhaltern. Auch Ihnen könnten noch die Augen übergehen, wenn es erst ans Steuerzahlen geht. Bis jetzt hat das Mutterland den Löwenanteil der Kosten für die Verteidigung der Kolonien getragen. In Zukunft müssen Sie jede Muskete, jede Patrone, jede auch noch so kleine Slup zur Küstenüberwachung allein finanzieren. Das wird Ihrer Geldkatze richtig wehtun, mein Freund!“ Er grinste freundlich, aber seine Augen blieben kalt. „Übrigens, Sir, mein Name ist Friedrich Holzschuh, ich bin Oberst der örtlichen Miliz. Womit kann ich Ihnen dienen, Sir, wenn Sie sich denn schon zu uns nach oben zu unserer abgelegenen asketischen Mönchsklause bemüht haben?“, erkundigte er sich sarkastisch.
Erschrocken fuhr der junge Seemann zusammen, als die Kanonen im Wehrturm feuerten. Der ätzende Pulverqualm hüllte sie ein und lies ihn husten. Den Oberst schien das nicht zu berühren.
Coleman schüttelte verwirrt den Kopf, dann brüllte er wütend: „Sir, wir sind unter dem Schutz der weißen Parlamentärflagge hier! Wie können Sie es wagen, weiter Ihre Geschütze einzusetzen! Das widerspricht allen Gepflogenheiten, Sie wandelnde Vogelscheuche mit einer zusammengestoppelten Uniform. Ein blauer Rock macht beileibe noch keinen Gentleman!“
Holzschuh blickte ihn amüsiert an. „Wenn wir uns nicht schon im Kriegszustand befinden würden, Sir, hätten Sie sich mit Ihren unbedachten Worten soeben ein Treffen mit mir am frühen Morgen am Strand eingehandelt.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Da erkennt doch dieses grüne Mondkalb das mit Ruhm bedeckte Ehrenkleid eines Offiziers des großen Königs von Preußen nicht!“ Er zog ironisch eine Augenbraue in die Höhe. „Man sollte es wirklich nicht glauben. Tse, tse, tse … Aber ich bin sicher, nach dem heutigen Tag wird er das preußisch blaue Tuch ebenso meiden wie der Stier das sprichwörtliche rote – falls er denn überleben sollte. Im Übrigen gilt unser Waffenstillstand natürlich nur hier oben, junger Freund, schließlich hören Ihre Mordbuben da unten ja auch nicht mit ihrem schändlichen Tun auf, nicht wahr. Wie kommen Sie also auf die sonderbare Idee, dass wir die Schiffe nicht weiter beschießen sollten?“
Der junge Mann riss sich zusammen, er wollte sich von diesem hochmütigen Kerl nicht aus der Fassung bringen lassen. Es war offensichtlich, dass der Oberst auf Zeit spielte, denn wenn die Kirchenglocken die Nachbarschaft nicht alarmiert haben sollten, so hatte es ganz gewiss das Donnern der Geschütze getan. Solange sie hier standen und langatmig parlierten, wurde an dieser Stelle nicht geschossen und die mögliche Verstärkung konnte ungestört heranrücken. Der Maat räusperte sich und versuchte verbindlich zu lächeln. „Sie haben genug für die Ehre getan, Sir. Ich bewundere Ihren Mut und die Tapferkeit Ihrer Männer aufrichtig, aber Sie haben auf die Dauer keine Chance gegen unsere Übermacht“, bluffte er, „daher fordere ich Sie in aller Form auf, mir dieses Blockhaus zu übergeben, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.“
Der Oberst sah ihn mit leicht schief gelegtem Kopf an, er hatte die Stirn in Falten gelegt, blickte sich vielsagend um und musterte Coleman dann wieder mit durchdringenden Blicken aus seinen hellblauen Augen. Spöttisch erwiderte er schließlich: „So wie es aussieht, fließt hier bei uns auf dem Hügel einzig und allein das Blut Ihrer Männer, Mister Mate. Oder irre ich mich da etwa? Aber Sie können sich darauf verlassen, das wird sich in Kürze ändern. Meine Kanoniere sind zum großen Teil durch die harte Schule der preußischen Feldartillerie von Friedrich Zwo gegangen. Unsere letzten Schüsse haben schon deckend bei Ihren Schiffen gelegen, was bedeutet, dass nun auch da unten auf den Schiffen die Luft eisenhaltig werden wird. Meine Empfehlung für Sie lautet daher: Sammeln Sie Ihre Männer ein und kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, so lange es noch schwimmt. Ich möchte wetten, dass Ihr Skipper froh über jede Hand ist, die ihm dabei behilflich ist, den Schoner aus der Bucht zu warpen. Aus einem heroischen Rückzug – oder nennen wir es besser kopflose Flucht – unter vollen Segeln dürfte augenblicklich nichts werden, würde selbst ich als unbedarfte Landratte vermuten.“ In den blauen Augen blitzte so etwas wie Spott auf.
Coleman knirschte mit den Zähnen. „Dann werde ich meinem Kapitän empfehlen, das Feuer auf die Häuser eröffnen zu lassen. Wir werden den Ort ausradieren, Sir, und Sie werden die Verantwortung dafür tragen. Ebenso für die Toten, Verstümmelten und Verletzten unter den Bewohnern.“
„Sie vergessen, dass die Zeit gegen Sie arbeitet, Mister Coleman. Verstärkung aus den umliegenden Gehöften und Niederlassungen dürfte schon im Anmarsch sein und bald hier eintreffen. Und vergessen Sie nicht, Halifax liegt quasi um die Ecke, die Royal Navy patrouilliert hier regelmäßig vor der Küste. Mal ganz abgesehen davon, dass es deren Pflicht ist, uns beizustehen, kenne ich den Heißhunger der Kapitäne der Navy auf eine schöne fette Prise. Ihre properen Schiffchen kämen denen gerade recht, wetten, Sir?“
„Da ist wohl der Wunsch der Vater des Gedankens[5], Sir. Um ihre erhoffte Verstärkung an Land werden sich die Krieger unserer Redskins kümmern. Sobald sie mit ihren Freunden und Bekannten fertig sind, werden Sie diese anschließend nicht wiedererkennen, falls Sie deren Überreste in den Wäldern überhaupt jemals auffinden sollten, Colonel[6]. Und was die Navy angeht, so ist die bis über beide Ohren unten im Süden beschäftigt. Also, was ist nun …“, drängelte er ungeduldig aber mit einem schlechten Gefühl im Magen.
„Spes ultima moritur[7]“, entgegnete der große Mann trocken. Bitter fuhr er fort, die blauen Augen blickten jetzt so eiskalt wie die Eisberge, die im Frühjahr und Sommer draußen auf der See nach Süden vorübertrieben: „Drüben im Ort wird schon geplündert und wenn Sie genau hinhören, dann hören Sie das lautstarke verzweifelte Jammern der Weiber, die Schreie der Misshandelten und das Weinen der Kinder, die von den Indianern verschleppt werden. Ihre Eingeborenenhilfstruppen können Sie abschreiben, denn die werden mit ihrem Beutegut und vor allem den Frauen und Kindern wie die Schatten mit dem Dunkel der Wälder verschmelzen, sobald sie genug Beute gemacht haben. Sie werden sich auf keine Scharmützel mit unseren Verstärkungen einlassen. Ihr einziges Ziel ist es jetzt, die Gefangenen und das Diebesgut heil zu ihrem Stamm zurückzubringen. Unsere Männer im Ort sind erschossen, erschlagen und skalpiert, was also haben wir hier oben im Blockhaus zu verlieren? Was hätten Sie uns denn anzubieten, junger Mann, um uns umzustimmen? Einen schnellen Tod? Wissen Sie was, junger Mann, etwas Besseres als den Tod findet man überall, wenn man nicht übereilt aufgibt. Wir werden Ihnen einen Kampf liefern, von dem Sie Ihren Enkeln berichten werden – falls Sie ihn denn überleben. Wie Sie hören, wiederhole ich mich, offensichtlich würde ich darauf keinen rostigen Penny wetten, dass Sie jemals den Rang eines Kapitäns erreichen werden. Aber sollten wir Ihr Schicksal teilen – wenn es denn so sein soll –, Sir, so werden wir eines mit in unser Grab nehmen, nämlich die Gewissheit, dass jeder Yankee-Pirat zukünftig voller Entsetzen zurückzucken wird, wenn man ihn auffordert, bei einem Überfall auf Lunenburg mitzumachen. Darauf gehe ich jede Wette ein, Sir! Ich setze eine blanke Goldmünze mit dem Porträt unseres Königs gegen eine ganze Seekiste, die gestrichen voll mit Ihren wertlosen Papierdollars ist.“
Er fischte aus seiner Uniformjacke einen Geldbeutel und entnahm ihr eine Guinee. Er hielt sie Coleman spöttisch auf der flachen Hand hin. Die Sonne ließ das Goldstück gleißend funkeln. „Seien Sie nicht wählerisch, Mister Seeräuber. Es mag Sie stören, dass auf der Rückseite unser verblichener König George II. prangt, aber dafür besteht die Guinee durch und durch aus bestem afrikanischem Gold! Aber Sie sollten sich beeilen, Mister Mate! Denn bevor Ihr Schiff das Feuer auf den Ort eröffnen kann, müssen der Kutter und der Schoner, die längsseits des Kais liegen, von dort verholt werden, denn sonst könnte es passieren, dass sie von ihren eigenen Kugeln beschädigt werden. Und das wäre doch ärgerlich – für Sie, nicht wahr?“ Der Sarkasmus war unüberhörbar. Es war klar, dass der Oberst weiterhin bemüht war, Zeit zu schinden. Und seine Taktik war richtig, denn die Zeit lief den Freibeutern davon.
Coleman fluchte mit zusammengebissenen Zähnen in sich hinein. Er war kein einfältiger Mensch und sah durchaus ein, dass der Oberst eine ganze Reihe Trümpfe in der Hand hielt. Bevor er sich neue Argumente überlegen konnte, verstaute Holzschuh die Münze wieder ganz gemächlich und sagte lakonisch, als würde er gemütlich auf der Terrasse seines Hauses beim Tee sitzen: „Ach ja, übrigens würde ich an Ihrer Stelle jetzt ganz hurtig zum Rückzug blasen. Ich verstehe zwar nicht viel von Schiffen, aber wenn ich mich nicht irre, werden auf den beiden Schiffen auf Reede die Anker gehievt und die beiden anderen am Kai treffen alle Anstalten, die darauf hindeuten, dass sie ablegen wollen.“
Coleman fuhr herum und atmete erschrocken tief ein. Der Oberst hatte recht. Die Spills waren besetzt und die Ankertrossen krochen langsam in die Klüsen. Auf der Faithful und der Algonquin wurden aus der dem Ort abgewandten Seite Signalschüsse abgefeuert, das war das verabredete Zeichen, wieder an Bord zu kommen. „So eine verfluchte Bullenscheiße, verdammt!“, fluchte er laut vor sich hin, um gleich darauf nochmals erschrocken zusammenzufahren, denn auch von weiter draußen vor der Hafenzufahrt war der Abschuss einer Kanone zu hören. Die Brigg hatte ihn abgefeuert. Colemans scharfe Augen entdeckten weit draußen auf See mehrere Segel von Schiffen, deren Kurs sie in die Bucht von Lunenburg führen würde. Eines davon schien sogar ein Linienschiff zu sein. Er spürte, wie sich eine eiskalte Hand würgend um seinen Hals legte. Hier lief etwas ganz erheblich anders, als es geplant gewesen war. Die Schiffe dort draußen machten noch einige Fahrt über Grund, da dort vor der Küste noch immer eine mäßige Brise wehte. Er hörte wie durch Watte gedämpft Holzschuhs milde Empfehlung:
„Sie haben freies Geleit bis zu der Bodenwelle, in der Sie gelegen haben, bevor Sie versucht haben, uns aus unserer sicheren Stellung herauszubluffen, Sir. Danach würde ich an Ihrer Stelle wie von Furien gehetzt bergab rennen und nicht aufhören, bevor ich in einem Boot sitzen würde – falls sich Ihre hektischen Kameraden freundlicherweise die Zeit nehmen, auf saumselige Landgänger zu warten.“ Coleman hatte das Gefühl, dass der Sarkasmus in den Worten des Obersten wie bitterer, sämiger Honig auf die kärgliche Grasnarbe tropfte. „Es war mir ein Vergnügen mit Ihnen zu plaudern, Sir. Aber nun bleibt mir wohl nur übrig, Ihnen noch einen guten Tag zu wünschen, Mister Coleman! Ganz sicher wird er für Sie noch sehr interessante Erlebnisse bereithalten, Sir. Übrigens Erfahrungen, auf die ich sehr gut verzichten könnte!“ Der Mann schnurrte behaglich wie ein Tiger, der sich seiner Beute sicher ist, aber seine kalten Augen straften den milden Ton seiner Worte Lügen.
In Coleman kochte es, aber er antworte nicht, sondern machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte langsam zu den Stellungen seiner Männer zurück. Je näher er ihnen kam, desto langsamer ging er. Halblaut instruierte er den Quartermaster: „Sobald ich anfange zu rennen, folgt mir mit gesetzten Leesegeln. Und schlagt Haken wie ein Hase dabei! Weitersagen!“ Es waren noch sechs, sieben Yards bis zu dem magischen Punkt. Coleman blieb kurz stehen und wischte sich umständlich den Schweiß von der Stirn. Schließlich ging er weiter, die letzten Meter vor der besagten Bodenwelle begann er mit langen Sätzen den Abhang hinunterzulaufen.
Seine Männer folgten ihm. Sofort umschwirrten sie Kugeln und viele fanden ihr Ziel, gruben sich klatschend in Leiber oder bohrten sich dumpf in Köpfe und Gliedmaßen. Die getroffenen Männer überschlugen sich vom eigenen Schwung vorwärts getragen mehrfach, so wie man das bei der Jagd auf Feldhasen bei den getroffenen Tieren regelmäßig beobachten kann, wenn sie die Schrotladung des Jägers getroffen hat, bevor sie entseelt oder angeschossen liegenbleiben. Andere Männer stolperten über Steine oder Bodenunebenheiten und schlugen hin. Wenn sie Glück hatten, dann hatte keiner der Scharfschützen im Fort ihren Lauf verfolgt und sie konnten sich mühsam wieder erheben. Sie bekamen dann eine zweite Chance. Allerdings waren einige nach dem schmerzhaften Sturz gehandicapt und wankten mehr den Hügel hinab, als dass sie rannten. Sie stellten für scharfäugige Schützen mit ihren langen Flinten ein leichtes Ziel dar.
Mit raumgreifenden Sätzen, immer darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hetzte Coleman im Zickzack den Hügel hinab. Die Lungen des jungen Steuermannes brannten, er vermeinte keine Luft mehr zu bekommen, rote Kreise rotierten vor seinen Augen, rasselnd saugte er Luft, viel zu wenig Luft durch den weit aufgerissenen Mund. „Jetzt nur nicht stürzen“, war alles, woran er denken konnte. Er hatte kaum noch Kontrolle über seine Beine, sie bewegten sich losgelöst von seinem Willen auf und ab, auf und ab …, vorwärts immer weiter vorwärts! Er konnte an nichts Anderes mehr denken, als an den Schutz, den ihm die Häuser vor ihm geben würden. Aber diese Häuser lagen allem Anschein nach noch meilenweit entfernt vor ihm. Endlich, endlich erreichte er das erste Gebäude und sackte hinter der schützenden rotgestrichenen Wand kraftlos zusammen. Sein Atem ging rasselnd und seine Brust hob und senkte sich konvulsivisch. Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf war vornüber gesunken. Kaum nahm er wahr, dass seine Männer oder jedenfalls diejenigen, die überlebt hatten, neben ihm keuchend auf die Knie fielen oder hektisch nach Luft japsend einfach mit dem Bauch nach unten im Straßenstaub liegen blieben.