Eiskalte Gegner - Paul Quincy - E-Book

Eiskalte Gegner E-Book

Paul Quincy

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Beschreibung

1778: Nach Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten durch die Franzosen greift der Siebenjährige Krieg auch auf die kolonialen Besitzungen Englands und Frankreichs in der Karibik über. Und einmal mehr gerät William 'Wild Bull' Turner, der junge Kapitän der Royal Navy, mit seiner Kriegsslup Shark zwischen die Fronten. Als er in Erfahrung bringt, dass sich eine starke französische Flotte dem Weg nach Amerika befindet, stellt er aus seemännischem Pflichtbewusstsein die bereits anberaumte Hochzeit mit der reichen Plantagenbesitzerin Elizabeth Parker, die ein Kind von ihm erwartet, erst einmal zurück. Admiral Hood, der sonst in der Chesapeake Bay in der Falle säße, muss unbedingt vor der herannahenden Gefahr gewarnt werden. Ohne seine Vorgesetzten zu informieren, hetzt William Turner mit seinem Schiff nach Norden. Bislang war es ihm noch immer gelungen, seine Gegner mit trickreichen Einfällen und der Feuerkraft der Shark zu besiegen. Auch wenn der nahende französische Verband von einem ganz anderen Kaliber ist, baut er dennoch auch diesmal auf sein Können und Kriegsglück.

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Paul Quincy

Eiskalte Gegner

Reihe: William Turner, Band 4

Kuebler Verlag

Das Buch

1778: Nach Anerkennung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten durch die Franzosen greift der Siebenjährige Krieg auch auf die kolonialen Besitzungen Englands und Frankreichs in der Karibik über. Und einmal mehr gerät William Turner, der junge Kommandant der Royal Navy, mit seiner Kriegsslup Shark zwischen die Fronten. Als er in Erfahrung bringt, dass sich eine starke französische Flotte auf dem Weg nach Amerika befindet, stellt er aus seemännischem Pflichtbewusstsein die bereits anberaumte Hochzeit mit der reichen Plantagenbesitzerin Elizabeth Parker, die ein Kind von ihm erwartet, erst einmal zurück.

Band 4 der Reihe über William Turner (genannt „Wild Bull“ Turner) von Paul Qunicy

Der Autor

Paul Quincy war Seemann und weltweit als Wachoffizier und in leitender Position auf Schiffen der Großen Fahrt unterwegs. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er als Übersetzer etwa 60 Romane und Fachbücher – zum größten Teil historische maritime Romane aus den Napoleonische Kriegen – vom Englischen ins Deutsche übertragen. Paul Quincy verknüpft in der Reihe um William Turner Spannung mit historischen Fakten und viel Wissen über die Lebensumstände der damaligen Zeit.

Paul Quincy

Eiskalte Gegner

William „Wild Bull“ Turner und König der Karibik

Band 4 der Reihe „William Turner“

Mehr Informationen zu diesem Buch, zum Autor und zu anderen maritimen Romanen erhalten Sie hier:

www.kueblerverlag.de

Impressum

Copyright © 2016 Kuebler Verlag, Lampertheim.

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © Kostyantyn Ivanyshen – shutterstock.com.

Dieses Buch ist 2008 erstmals unter dem Titel „Tosendes Meer – Eiskalte Gegner“ im Ullstein Taschenbuch Verlag erschienen.

Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Kuebler Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt, verbreitet oder zugänglich gemacht werden.

ISBN Printausgabe 978-3-86346-012-9

ISBN Digitalbuch 978-3-86346-271-0

Prolog

Mit der Kapitulation von General Burgoyne bei Saratoga war die Strategie des britischen Oberkommandos in Nordamerika gescheitert, durch einen entschlossenen Sichelschnitt von Kanada über Fort Ticonderoga und das Flusstal des Hudson nach New York die abtrünnigen Kolonien in Neuengland von den Rebellen im Süden zu trennen. Zwar gelang es General Howe, Philadelphia zu erobern und den Congress[1] von dort zu vertreiben, aber der Sieg bei Saratoga brachte die zögernden – weil vom Staatsbankrott bedrohten – Franzosen dazu, die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten vertraglich anzuerkennen. Das war für Großbritannien de facto eine Kriegserklärung, trotzdem bestand noch für mehrere Monate ein seltsam brüchiger Frieden, in dem es aber zu vielfältigen quasikriegerischen Zwischenfällen – bis hin zur Wegnahme von Prisen – kam.

Die französische Regierung hatte die Aufständischen schon vorher inoffiziell massiv mit Waffen und Freiwilligen unterstützt. Der Grund dafür kann allerdings kaum in dem von einigen amerikanischen Rebellenführern vertretenen Gedankengut gesehen werden, denn ausgerechnet das, was 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung formuliert worden war, fegte später, 1789, die morsche französische Monarchie im Namen von liberté, égalité, fraternité hinweg. Die Geschichtsforschung ist sich heute weitgehend darin einig, dass das kostspielige Engagement im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg neben der notorischen Verschwendungssucht am Hof von Versailles Frankreichs Finanzen endgültig zerrüttet und damit die Revolution befördert hat – die Geschichte scheint ironische Pointen zu lieben. Das Hauptmotiv der Franzosen für den Kriegseintritt war sehr wahrscheinlich der Wunsch nach Revanche für die Niederlage und die damit verbundenen demütigenden Gebietsverluste im Siebenjährigen Krieg: Wenn man in dem Abkommen mit den Amerikanern schon auf die Rückgabe Kanadas verzichtete, so wollte man sich dafür wenigstens an den reichen britischen Kolonien in der Karibik und in Ostindien schadlos halten.

In dieser Zeit des unerklärten Krieges unternahm die britische Regierung unter Lord North mindestens zwei ernsthafte Versuche, den Krieg mit den Kolonien friedlich zu beenden. Am 12. April 1778 versuchte die Carlisle Commission mit dem Congress zu verhandeln. Alle Forderungen der Amerikaner mit Ausnahme der Unabhängigkeit sollten erfüllt werden. Der Delegation gehörten Frederick Howard (Earl of Carlisle), William Eden und George Johnston an. Der Congress weigerte sich, die Herren auch nur anzuhören, und speiste sie mit einem Brief ab.

Etwa zur selben Zeit, genaugenommen am 23. Februar, erreichte der ehemalige preußische Offizier Baron von Steuben das Winterlager von General Washington in Valley Forge. Wie wir im letzten Band gelesen haben, hat der englische Geheimdienst und damit natürlich auch William „Wild Bull“ Turner zusammen mit der Besatzung der Shark alles versucht, um durch Sabotage, Bestechung und Mordanschläge Steuben daran zu hindern, eine führende Stellung in der amerikanischen Armee zu übernehmen. Trotz der ehrabschneidenden, vom Geheimdienst in Umlauf gebrachten Gerüchte, die Steuben unterstellten, homosexuell zu sein, muss der Preuße den Oberkommandierenden der Continental Army von seinen Fähigkeiten überzeugt haben, denn auf Washingtons Betreiben hin wurde er als Generalmajor und nach kurzer Probezeit auch als Generalinspekteur des regulären Heeres eingestellt. Umgehend begann er mit seiner Arbeit. Es entbehrte sicher nicht einer gewissen Komik, wenn der General die unbeholfenen Infanteristen seiner Musterkompanie dreisprachig zusammenstauchte (auf Deutsch, Französisch und Russisch), seine rabenschwarzen Flüche aber von seinem Adjutanten erst ins Englische übersetzt werden mussten. Auch die zuständigen Truppenoffiziere bekamen ihr Fett weg, wenn ihre Männer die Ausrüstung nicht vollständig und in einem guten Zustand präsentieren konnten. Sehr beeindruckt hat Steuben, dass kein Exerzierbefehl nur deshalb ausgeführt wurde, weil er gegeben worden war, sondern erst befolgt wurde, wenn die Männer eingesehen hatten, dass er sinnvoll war. In dieser Zeit entstand auch das berühmte „Blue Book“ (Regulations for the Order and Discipline of the Troops of the United States), ein Exerzierreglement, das in seinen Grundzügen noch bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt. Es enthielt nicht nur Anweisungen zum Exerzieren und zum Verhalten auf dem Schlachtfeld, sondern auch Erläuterungen zu den Pflichten der Offiziere und Unteroffiziere, außerdem Vorschriften beispielsweise zum Bau von Latrinen, die in gebührender Entfernung von den Zelten und auf der dem zentralen Küchenbereich gegenüberliegenden Lagerseite eingerichtet werden mussten. Bis dahin hatte jede Zeltgemeinschaft für sich an einem Lagerfeuer gekocht und hinter dem nächstgelegenen Baum ihre Notdurft verrichtet – was den hygienischen Bedingungen und der Gesundheit der Soldaten nicht sonderlich zuträglich gewesen war. Dank Steuben erreichte die Continental Army in relativ kurzer Zeit einen erstaunlich hohen Ausbildungsstand, der sie befähigte, sich auf dem Gefechtsfeld diszipliniert zu bewegen. Dadurch verloren die Soldaten aus den amerikanischen Kolonien ihr Unterlegenheitsgefühl gegenüber den britischen Berufssoldaten, was sich zum ersten Mal in der Schlacht von Manmouth zeigte. Der Vorwurf der Sodomie (wie man die Homosexualität damals nannte) hat Steuben bis zu seinem Tod verfolgt, da er immer mal wieder auch von seinen amerikanischen Neidern und Gegnern hervorgekramt und kolportiert wurde. Wie doch schon die Alten so richtig sagten: Verleumde nur dreist, etwas bleibt immer hängen.

Da die Briten ihre Landstreitkräfte nicht nennenswert verstärkten, sondern sogar kampferprobte Truppenteile vom amerikanischen Kriegsschauplatz abziehen mussten, um die Einheiten in der Karibik aufzustocken, hatten sie nach dem Eingreifen starker französischer See- und Landstreitkräfte 1778 ein echtes Problem. Aber das Sterben und Leiden sollte auf allen Seiten noch mehrere Jahre weitergehen.

Und mittendrin steckt William Turner, der Bräutigam in spe und werdende Vater, auf seiner Kriegsslup Shark. Bis jetzt hat er bei seinen Einsätzen viel Glück gehabt. Durch Prisengelder hatte er sich ein kleines Vermögen sichern können, und seine zukünftige Ehefrau, die Witwe Elizabeth Parker, würde drei Zuckerrohrplantagen mit in die Ehe bringen. Er würde so reich sein, wie er es sich, als Sohn eines Fischers und Schmugglers aus Sussex, nie auch nur annähernd hätte vorstellen können.

Privat sah seine Zukunft also glänzend aus, anders war das mit der beruflichen Karriere. Bis jetzt waren seine Gegner zumeist Schiffe seiner Größenordnung gewesen, die er mit seiner überlegenen Feuerkraft und mit schlitzohrigen Einfällen besiegen konnte. Aber bald würden in der Karibik und vor der amerikanischen Küste französische Flotteneinheiten kreuzen, und da war die Wahrscheinlichkeit groß, dass aus dem Fuchs ein Hase wurde – oder um im Bild zu bleiben: Aus der Shark konnte schnell eine Filchard[2] werden.

Aber taugt ein reicher Plantagenbesitzer mit Weib und Kind überhaupt noch als Kommandant eines Schiffes des britischen Geheimdienstes für gefährliche Sonderaufträge? Wird er in Zukunft nicht zu schnell den Kopf zurückziehen, wenn die Luft intensiv nach Blei riecht? Und was sollte ihn daran hindern, in die Politik zu gehen und den Krieg mit klugen Sprüchen auf den Bänken des Parlaments zu führen? Nun kann sich Turner zwar mit allem Geld der Welt keinen Eton-Akzent und einen adligen Stammbaum kaufen, aber bei seinen Fachkenntnissen und einem jährlichen Einkommen von mehreren tausend Pfund Sterling bekommt auch der Sussex-Dialekt eines Fischerjungen einen gewissen Charme.

Aber kann „Wild Bull“ Turner so einfach aus seiner Haut schlüpfen? Wir werden sehen …

***

[1] 1776 verabschiedeten 13 Kolonien im „Kontinentalkongress“ die Unabhängigkeitserklärung der späteren USA von Großbritannien. Aus diesem Kongress entstand später der US-Kongress (Gründung 1789). Zur Unterscheidung wird der Kontinentalkongress in diesem Buch „Congress“ genannt.

[2] Atlantischer Makrelenhecht, schlanker, räuberischer Fisch.

Kapitel 1

April 1778, Antigua, Karibik

William Turner seufzte und rieb sich den Hinterkopf. Das war eine Marotte von ihm, die er nicht mehr hatte ablegen können, nachdem ihn bei der Erkundung des spanischen Hafens Puerto Santo an der Küste Südamerikas, ein Schlag mit einem Sandsack zu Boden gestreckt hatte. Er rekelte sich missmutig in seinem bequemen Sessel aus geflochtenem Rohr, der bei jeder seiner Bewegungen leise knarrte, dann warf er die Schreibfeder wütend auf die Tischplatte und griff nach seinem Glas mit Limonade. Durstig stürzte er das erfrischende Getränk aus frischgepressten Zitrusfrüchten hinunter, danach rülpste er – immerhin hinter der vorgehaltenen Hand – laut und vernehmlich. Unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck wehte eine angenehme leichte Brise, das grüne Wasser der Bucht leuchtete einladend, und er überlegte, ob er nochmals mit einem Kopfsprung hineintauchen sollte. Sein Kopf schmerzte und er blickte düster über das Deck. Der Dienst auf der Shark ging seinen gewohnten Gang. Die Schäden, die das Schiff bei der Kollision mit dem französischen Depeschenkutter Loriot davongetragen hatte, waren in der Werft beseitigt worden und jetzt war die eingespielte Mannschaft unter den scharfen Augen seines Ersten Offiziers, James Dechamp, und des Bootsmanns Peter „Horseshoe“ Baxter eifrig und, wie er dem Gefrotzel und Lachen entnehmen konnte, auch fröhlich dabei, die letzten Spuren der Reparaturen während des Werftaufenthalts zu beseitigen und das Schiff seeklar zu machen.

Einen Vorteil hatte es ja, wenn man einen Mann wie Smith, den Niederlassungsleiter von Hermes Worldwide Enterprises, oder besser gesagt vom Geheimdienst Seiner Majestät Regierung, hinter sich hatte. Der Agent wusste von den meisten einflussreichen Männern – oder ihren Frauen – in Verwaltung, Werften und Werkstätten, Depots, Arsenalen, Magazinen und selbst dem Prisengericht sehr viele interessante schmutzige Details, die besser nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Dadurch war sichergestellt, dass nach einem dezenten Hinweis von Smith die HMS Shark stets bevorzugt behandelt, schnell und fachmännisch repariert sowie mit Materialien der besten Qualität beliefert wurde. Aber heute konnte all das William Turner noch nicht mal ein ironisches Lächeln abringen. Die letzten Tage und Nächte waren einfach zu aufregend und anstrengend gewesen.

Eigentlich sah der junge Mann, der Mitte zwanzig sein mochte, nicht wie der Kommandant eines Kriegsschiffs der Königlichen Marine aus, und das lag nicht nur an den blutunterlaufenen, trüben blaugrauen Augen und dem unter der tiefen Sonnenbräune fahlen Teint. Er trug keine Perücke, sondern auf seinem krausen rotbraunen Haar klebte ein feuchtes rotes Kopftuch, ähnlich dem eines Piraten, und ein markanter, kurzgeschnittener rötlicher Bart umrahmte den Mund und zierte das Kinn. Das weiße Leinenhemd stand bis zum Gürtel offen und wies Wasserflecken auf. Aus den hochgekrempelten Ärmeln ragten muskulöse braungebrannte Arme und auf dem linken Arm deutete eine lange weiße Narbe auf eine Verletzung durch eine Hiebwaffe hin. Die weiten, hellen Arbeitshosen ließen Turner jede Menge Bewegungsfreiheit. Er war barfuß. Nein, einen Kapitän der Royal Navy stellte man sich anders vor. Aber dieser Mann hatte Sorgen, er war gerade dabei, einen schweren inneren Konflikt mit sich auszutragen – und übel von dem vielen Alkohol, den er gestern in sich hineingeschüttet hatte, war ihm obendrein.

Die Nachrichten vom bevorstehenden Eintritt der Franzosen in den Krieg, für den er den Beweis auf dem Depeschenkutter Loriot gefunden hatte, war in der kleinen Kolonie – Geheimhaltung hin, Verschwiegenheit her – wie eine Bombe eingeschlagen, denn alle fürchteten, sicher nicht ganz zu Unrecht, dass die prosperierenden Inseln in der Karibik ein bevorzugtes Ziel für die Franzosen sein würden. Europa war auf den Geschmack von Zucker gekommen und zahlte dafür fast jeden Preis!

In einem langen Gespräch mit Abi Goldman, dem Geschäftsführer seiner Rumfabrik, erörterte er mit diesem die internationale Lage, da Turner schon früher zu seinem Erstaunen festgestellt hatte, wie gut die Eigentümer des Bankhauses Goldman & Söhne durch ihre weltweiten Kontakte auch über die Hintergründe vieler politischer Schachzüge informiert waren.

„Nu, soll ich stolz darauf sein, dass der Bourgoyne bei Saratoga wirklich hat kapitulieren müssen, Sir?“, hatte der junge Goldman achselzuckend gemeint. „Die Karten waren für ihn einfach zu ungünstig gemischt. Wär er gewesen a bissel weise, hätt er da lieber gepasst und wär gezogen rechtzeitig zurück nach Norden. Nu ja, hätt ihm gewiss gebracht nicht viel Ruhm, aber hat er jetzt die Ehr?“

„Wann werden die Franzosen zuschlagen, Mister Goldman?“

„Bin ich der Allwissende, Sir? Nein, das ist zu viel der Ehre, Sir. Sie überschätzen mich, ich bin nu mal nicht Louis XVI, aber wenn ich Koch wäre, würd ich sagen, der Topf steht auf dem Feuer, aber ist noch nicht am Überkochen, denn das Gold in der Kriegskasse klimpert nur zaghaft. Wie man hört, müssen die Franzosen ihre Flotten erst wieder auf Vordermann bringen, das kostet Zeit und Geld. Aber wem sage ich das? Den Briten geht das ja kaum anders, Ihr famoser Earl of Sandwich kündigt als Erster Lord der Admiralität schon seit Jahren eine grundlegende Reform und Modernisierung der Navy an, hat bis jetzt aber kaum etwas zustande gebracht. Sie wissen, was man in London über ihn sagt?“

„Nein“, knurrte William gereizt, „woher auch? Bin ich vielleicht ein Politiker oder ein jüdischer Bankier?“

„Nun, das wird sich sicher bald ändern“, lächelte Abi verträumt vor sich hin, wobei er wohl kaum Williams Religion meinte. Vielmehr sah er sich wohl schon als Hausbankier und Berater eines wichtigen Parlamentsabgeordneten. „Es heißt von ihm, selten habe ein Mann so viele Funktionen gehabt und so wenig erreicht. Nicht gerade schmeichelhaft, würd ich meinen.“

„Ahem, äh, nein. Wohin werden sich die Franzosen zuerst wenden, was meinen die Synagogengerüchte?“

„Na, wohin schon? Werden sie zuerst versuchen, die britische Flotte vor Amerika zu schlagen, dann haben sie freie Bahn! Außerdem müssen sie ihren neuen Verbündeten zeigen, dass sie etwas für sie tun. Zahlreiche Yankees trauen den Franzosen nicht. Zu lange hat man sich mit ihnen blutig an den Grenzen des Indianerlandes herumgeschlagen. Viele Amerikaner sind zwar reichlich naiv, aber einigen fragen sich schon, wenn man König George III. einen Despoten nennt, als was soll man dann Louis XVI. bezeichnen, dem noch nicht mal ein gewähltes Parlament auf die Finger schaut?“ Abi Goldmann legte die Fingerspitzen aneinander und stützte sein Kinn darauf ab.

William schnaufte gereizt. „Wie sieht es mit einer Prognose für unsere Inseln aus?“

Abi wiegte nachdenklich den Kopf. „Der Herr, der Gerechte, wird es wissen. Wenn ich heut sollt kaufen eine Plantage, möcht ich machen einen Bogen um alle kleinen Inseln ohne einen Stützpunkt der Navy und eine starke Garnison in einer massiven Festung aus Stein, gespickt mit Kanonen wie ein Igel. Der Jammer ist, dass alle Garnisonen nur schwach besetzt sind, und die Flotte … schauen Sie sich doch in English Harbour um, Sir.“

William hatte sich den Hinterkopf gerieben, leise vor sich hin geflucht und genickt. In der vor allen Stürmen geschützten Bucht rottete das Flaggschiff von Konteradmiral Blake schläfrig an seiner Mooring vor sich hin, zwei kleine Fregatten und ein Kutter schwoiten gelangweilt an ihren Ankern. Nun gut, die anderen Schiffe machten draußen auf See Jagd auf Schmuggler und Freibeuter, aber es war keine furchteinflößende Schlachtflotte.

„Wie stehen die Aktien, was den Ausgang des Krieges angeht, Mister Salomon? Was meinen der Rebbe und die Weisen in der Schul?“

Salomon blickte ihn aufmerksam an. „Wie ich Ihren Worten entnehme, haben Sie sich ein wenig über unsere Gemeinde informiert, Sir. Aber was gibt a Goi darauf, was die alten Jidden in der Beth Knesset bereden?“

William Turner blickte ihn kühl an. „Ich weiß nicht, was Sie wollen, schließlich war Jesus von Nazareth ein jüdischer Rabbi, und Ihr Gott ist auch mein Gott!“

Abi Salomon schwieg einen Moment irritiert, dann wiegte er den Kopf. Leise begann er monoton eine Geschichte zu erzählen: „Zu einem bekannten Rabbi kommt ein verzweifelter Vater. Der arme Mann weint und zerreißt sich das Hemd über der Brust. Völlig verstört stöhnt er: ‚Rebbeleben, mein Sohn, der Uri, ist geworden a Goi! Was soll ich nur machen, gib mir Ezzes.‘ Der Rabbi streicht sich den langen, gepflegten Bart und denkt lange nach. Schließlich lächelt er und antwortet: ‚Was ist daran so schlimm, Moshe, mach es genauso, wie es der Allmächtige in seiner unendlichen Weisheit gemacht hat, nachdem sein Sohn Christ geworden ist, mach ein neues Testament!‘“ Abi schaute William ohne zu zwinkern in die Augen. Turner blickte ihn verdutzt an, dann prustete er laut los, auch Salomon kicherte.

„Ich will verdammt sein, Sir, wenn Sie nicht durch beide Ohren geschlitzt sind! Sie haben natürlich völlig recht, das Neue Testament macht den Unterschied“, keuchte William und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Aber im Ernst, wie stehen unsere Chancen, den Krieg zu gewinnen, Mister Salomon?“

„Muss es immer einen Gewinner geben, Sir? Möcht' sein, dass am Ende dieses Krieges alle Beteiligten verloren haben. England wird ganz sicher die dreizehn Kolonien verlieren und wenn es ganz schlimm kommt, zusätzlich seine karibischen Besitzungen und Kanada. General Howe muss Truppen abgeben, was ihn in Amerika weiter schwächt, und die Flotte kann bei ihrer jetzigen Stärke den Franzosen nicht Paroli bieten, geschweige denn die ganze lange Küste wirkungsvoll blockieren.“

Salomon sann eine Weile nach, doch als er merkte, dass Turner ihm gespannt zugehört hatte, fuhr er fort: „Auch Frankreich wird seine Kolonie Akadien[3] von den Amerikanern nicht zurückbekommen, zumindest nicht kampflos, aber wenn die Briten schlau sind, schenken sie ihnen am Verhandlungstisch Quebec, das Ohio- und Mississippital und dazu Louisiana. Dafür verlangen sie von den Franzosen die Karibikinseln. Frankreich wird durch die Kriegskosten und Investitionen in die überseeischen Gebiete so geschwächt sein, dass es keinen Livre und keinen Sou mehr für irgendwelche Abenteuer in Ostasien übrig hat, so dass England dort freie Hand haben dürfte. Wenn die Verschwendungssucht am Hof von Versailles so weitergeht, möchte aber niemand dafür garantieren, was langfristig in Frankreich passieren wird. Könnt sein, dass die Wechsel platzen. Der Knall kann dem König den Thron kosten, denn die Habsburger, Hohenzollern, Oranier – und wer weiß nicht noch wer – haben noch alte Rechnungen mit den Bourbonen offen. Schließlich war Frankreich in den letzten Jahrhunderten neben Schweden die aggressivste und landhungrigste Großmacht auf dem Kontinent.“

Wieder machte Salomon eine nachdenkliche Pause, orakelte dann aber weiter, als sähe er die künftigen Ereignisse genau vor sich: „Die Amerikaner werden zwar ihre Unabhängigkeit bekommen, aber mit den Franzosen an ihrer Nord- und Westgrenze werden sie in einen endlosen blutigen Kleinkrieg mit den Indianern und den Frenchies verwickelt werden. Im Süden könnten ihnen die Dons Druck machen. Wie weit sich die Interessen der dreizehn selbstbewussten Staaten unter einen Hut – sprich eine Bundesregierung – bringen lassen, steht völlig in den Sternen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich Kleinstaaten unter dem Dach einer machtlosen Zentrale, ähnlich wie im Deutschen Reich oder in Italien, entwickeln. Die Yankees müssten nach dem Rückzug der Briten ihre Verteidigung allein bezahlen und das würde ihnen sehr wehtun. Wussten sie, dass die Siedler im Siebenjährigen Krieg im Durchschnitt weniger als einen Shilling pro Jahr an Steuern gezahlt haben? Der durchschnittliche Bürger im Mutterland musste dagegen 26 Shilling per anno berappen. Das wird sich nach der Selbständigkeit ändern, die Yankees sind zwar ein robuster Menschenschlag, aber an ihrer Geldkatze sind sie sehr empfindlich. Das wird noch viel Ärger geben, wenn sie für ihre Verwaltung und ihre Verteidigung selbst aufkommen müssen. Sollten sich die Dinge so wie geschildert entwickeln, dann könnte Großbritannien vielleicht noch am meisten von dem Krieg profitieren, aber …“ Salomon zog die Schultern in die Höhe und streckte die geöffneten Handflächen nach vorne aus.

Turner nickte nachdenklich, aber dann kamen sie auf wesentlich erfreulichere Dinge zu sprechen, wie die Entwicklung seiner Rumfabrik. Goldmann hatte ihm geraten, vorerst nur kleinere Partien zu einem verhältnismäßig hohen Preis an die Marine und die Aufkäufer der Armee abzugeben, um die ausgezeichnete Qualität der Marke Sailor's Delight zu betonen. Er hatte ausgeführt, dass man auf Elizabeths Grundstücken – die bald unter seiner Verwaltung stehen würden – genügend Lagerplatz hatte. Sobald die unverzichtbare Verstärkung für die Armee und die Flotte der Westindischen Station eintreffen würde, wäre man in der Lage, auch große Mengen zu einem für Turner sehr befriedigenden Preis anzubieten. Leider musste man auf die erste Charge des mehrjährig gereiften Captain's Pride noch warten, obwohl der gewiss zu einem Favoriten in den Offiziersmessen werden würde.

Dieses Gespräch mit Abi Salomon war aber das Geringste, was Turner aufgehalten hatte. Dazu war die Verpflichtung gekommen, einen langen Brief an seine Mutter schreiben zu müssen, in dem er ihr haarklein alles von Elizabeth und der bevorstehenden Heirat erzählen musste, damit sie die Neugierde aller Familienmitglieder befriedigen konnte. Und noch viel schlimmer waren die nicht enden wollenden Einladungen für das Paar am Nachmittag und Abend gewesen, dazu die Termine bei den Advokaten und Behörden. William Turner hatte allerhand juristischen Kram dazulernen müssen. Nach dem englischen Common Law behielt zwar Elizabeth das Eigentum an ihren Immobilien, ihrem Schmuck und ihrer Kleidung, aber ihr sonstiger Besitz und alle Geldeinkünfte aus den Plantagen gingen in das Eigentum des Ehemanns über.[4] Als Ehefrau war sie ihm persönlich vollständig untergeordnet und zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Er besaß zu ihrer Maßregelung das Züchtigungsrecht und durfte sie einsperren und sie, falls sie ihn verließ, mit Gewalt zurückholen. Sie war im Prinzip zivilrechtlich nicht handlungsfähig, konnte daher keine Verträge schließen und vor Gericht keine Klage erheben oder aussagen. Allerdings konnte sie auch nicht verurteilt werden. Wenn seine liebe Elizabeth nun Schulden über Schulden machte, würde das Urteil gegen ihn ergehen, hatte William grinsend bei sich gedacht. Was ihn anging, so würde sich in ihrer Beziehung nicht viel ändern – hoffte er –, aber inzwischen hatte er gemerkt, dass die anderen Mitglieder der besseren Gesellschaft auf Antigua das anders sahen. Elizabeth war ein Paradiesvogel gewesen. Ihr immenser Reichtum hatte es ihr erlaubt, ein Leben außerhalb oder doch zumindest am Rand der strengen Moralvorstellungen der sogenannten anständigen Bürger zu führen. Damit war es jetzt vorbei. Die bigotten Matronen würden wachsam ihre Lorgnons an die Augen führen und eifersüchtig darauf achten, dass dem Kolibri die Flügel gestutzt wurden und er sicher im goldenen Käfig eingeschlossen blieb. Vermutlich konnten sie sich mit ihrer schmutzigen Phantasie gar nicht vorstellen, dass das Vögelchen gar nicht wegfliegen und an verbotenen Früchten naschen wollte – selbst wenn das Türchen des Käfigs weit geöffnet war. Ein Käfig musste kein Gefängnis sein, er konnte auch ein sicherer Ort sein.

Am gestrigen Abend hatte so etwas wie ihre offizielle Verlobung stattgefunden. Dafür hatte der Gouverneur die Räume seiner Residenz zur Verfügung gestellt, weil das Stadthaus von Elizabeth für die große Zahl der Gäste nicht geräumig genug gewesen war. Die geplante Hochzeit in zwei Wochen würde selbstverständlich im Herrenhaus ihres größten Besitzes, der Rainbow-Plantage in der Nähe von Saint John's, stattfinden. Aber dieses Ereignis musste noch etwas warten, denn Smith hatte ihm gestern auf dem Fest fast en passant und, wie es William vorgekommen war, mit einem maliziösen Grinsen mitgeteilt, dass er einen eiligen Auftrag für ihn hatte. Er würde wichtige Depeschen nach Barbados befördern müssen, daher solle er sich nach dem Fest umgehend an Bord begeben und das Schiff klar zum Auslaufen machen lassen. Diese Neuigkeit hatte ihm die Freude an dem rauschenden Fest genommen. Er hatte mehr getrunken als ihm guttat, und so hatte Tom, sein Bursche und Bootssteuerer, zusammen mit der Besatzung der Gig alle Hände voll zu tun gehabt, um den unflätig fluchenden, sternhagelvollen Turner sicher an Bord und in die Koje zu bringen.

William tauchte sein rotes Kopftuch erneut in die Pütz mit Seewasser und kühlte seinen schmerzenden Schädel. Der Abschied von Elizabeth war … ja, wie war der gewesen, so recht wusste er das nicht mehr. Verflucht, es war zum Auswachsen! Elizabeth war im sechsten Monat schwanger und ihn wollte man wieder hinaus auf die See jagen. Er blickte mit trüben Augen auf den Text, den er mit zittriger Hand verfasst hatte: Es war seine Bitte um den Abschied aus der Royal Navy! Konnte ihn der kommandierende Admiral der Westindischen Station von seinen Pflichten entbinden? Wohl kaum. Da er unter der Flagge der Admiralität segelte, unterstand er nicht dem Admiral dieses Stützpunktes, auch wenn es der alten Süffelnase, Konteradmiral Sir Samuel Blake, wohl eine große Befriedigung gewesen wäre, wenn er ihm seine Bestallung abnehmen und ihn in einen zwar reichen, aber lumpigen Zivilisten hätte verwandeln können. Schließlich hatte Turner ihn mehr als einmal bis aufs Blut gereizt und bloßgestellt, was sein Flaggleutnant Forthingworth mit großer Befriedigung brühwarm in der Offiziersmesse – und damit in der ganzen Flotte – bekanntgemacht hatte. Also würde er wohl oder übel abwarten müssen, bis sein Gesuch in London geprüft worden war und die Antwort wieder in Antigua eintraf. Das konnte gut und gerne drei Monate dauern und auch länger. Bis dahin konnte er keinen rechtmäßig gegebenen Befehl verweigern, wollte er nicht ein Kriegsgerichtsverfahren riskieren, das ihn den Kopf kosten konnte. Damit war also nichts gewonnen. Fluchend knüllte er das Papier zusammen und warf es über Bord. Grimmig sah er mit schmalen Augenschlitzen dem weißen Ball hinterher, der auf den kleinen gekräuselten Wellen mit dem Wind nach Lee abtrieb, sich langsam mit Wasser vollsaugte, zerfaserte und sich auflöste. Ein Gleichnis für seinen Traum, mindestens bis zur Geburt seines Sohnes im Hafen zu bleiben – Elizabeth hatte ihm nämlich im Brustton der Überzeugung versichert, dass es ein Sohn werden würde, so wie sich das kleine Kerlchen in ihrem Bauch schon jetzt aufführte. Aber Hölle und Verdammnis, da draußen tobte ein mörderischer Krieg, und der würde in den nächsten Monaten noch sehr viel härter werden. Turner seufzte tief auf. Natürlich hatte Smith jedes Recht, ihn und sein Schiff einzusetzen, und wenn er es sich richtig überlegte, dann war das Lächeln von Smith gar nicht so bösartig gewesen, sondern fast ein wenig bedauernd. Aber William war so enttäuscht gewesen … Ein Schatten fiel über ihn. Tom beugte sich zu ihm herunter und reichte ihm mit unbewegtem Gesicht ein Glas. „Ein altes Rezept von meinen Leuten, etwas abgewandelt zwar, aber ich denke, es wird Ihnen helfen, Käptum, Sör.“

Turner schnupperte misstrauisch an der trüben Flüssigkeit, aber außer einem leichten Geruch nach Rum konnte er die Bestandteile nicht identifizieren.

„Nur dieses eine Glas in einem Zug leeren, Sör – das ist die Bedingung, sonst wirkt der Zauber nicht.“

Turner brummte irgendetwas Unverständliches vor sich hin, aber er vertraute Tom in diesen Dingen blind. Entschlossen setzte er das Glas an die Lippen und leerte es mit einem Zug. Ein glühender Lavastrom schien sich seine Speiseröhre zu ergießen und als Feuerkugel in seinem Magen zu explodieren. Tränen schossen ihm in die Augen. Tom nahm ihm das Glas aus der Hand. „Den Mund geschlossen lassen, Käptum, Sör, nur tief durch die Nase atmen. Tom ist sicher, dass der Käptum noch vor dem nächsten Glasen wieder frisch wie ein Bullenkälbchen über das Deck stolzieren wird.“

William kämpfte gegen die Versuchung an, Tom bis zum nächsten Glasen eine Vorstellung von der Reichhaltigkeit seines Repertoires an Flüchen zu vermitteln. Er presste die Zähne aufeinander und blickte durch den Tränenschleier zum Land hinüber. Der Schleier lichtete sich und so sah er zuerst undeutlich, dann ganz scharf die Boote, die sich der Shark näherten. Sie waren mit Wasserfässern und frischer Verpflegung beladen. Ein kleineres Boot hatte sich von den schweren Lastenbooten abgesetzt und hielt mit flotter Fahrt auf die Shark zu. Auf der Achterducht saß ein Herr in einem weißen Anzug, auf dem Kopf einen weißen Strohhut. Smith! Turner sprang auf und polterte den Niedergang zu seiner Kabine hinunter. Eilig knöpfte er sein Hemd zu, rollte die Ärmel herab, schlang lose ein Halstuch um und schlüpfte in seine alte Uniformjacke. Zuletzt drückte er sich seinen Hut auf den Kopf und wollte schon wieder an Deck eilen, als Tom missbilligend auf seine bloßen Füße deutete. Schnell wurden die Strümpfe übergestreift und dann die Schnallenschuhe angezogen. Er war jetzt immer noch kein Bilderbuchoffizier, ähnelte aber doch bereits wieder einem Leutnant der Royal Navy. Der Seesoldat neben der Tür präsentierte seine Muskete, als die Tür aufflog, aber Turner war schon an ihm vorbei und oben an Deck. Verblüfft stellte er fest, dass seine Kopfschmerzen verflogen waren und er sich auch sonst viel besser fühlte. Toms Zaubertrank hatte gewirkt.

Smith kam gerade über die Seite geklettert und marschierte mit einem finsteren Gesicht auf ihn zu. Turner begrüßte ihn mit unbewegter Miene.

„Guten Morgen, Sir. Wollen wir nach unten gehen?“

Smith nickte wortlos, aber er machte nicht den Eindruck, als ob er diesem Morgen viele gute Seiten abgewinnen konnte. Zusammen stiegen sie den engen Niedergang hinunter, der Marineinfanterist machte wieder, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Ehrenbezeugung. In der Kabine bot Turner dem Agentenführer einen Stuhl an. „Was darf ich Ihnen servieren, Sir, Kaffee, Tee oder eine Spezialschokolade nach einem geheimen Rezept meines Aufklarers.“

„Vermutlich besteht der zur Hälfte aus purem Rum“, giftete Smith gereizt. „Sie hatten ja gestern den Rausch des Abends. Ein Glück, dass Ihre Verlobte so schnell reagiert hat und Sie durch ihren Kutscher und den Bootssteurer aus dem Verkehr gezogen hat, bevor die anderen Gäste mitbekommen haben, dass Sie auf dem besten Weg waren, sich zum Affen zu machen. Wenn Sie mich fragen sollten, dann ist diese Lady für so einen Parvenü, wie Sie einer sind, viel zu schade, Mister!“

„Ich frage Sie aber nicht, Sir“, entgegnete Turner ruhig, fast freundlich. Das schien Smith aus dem Konzept zu bringen. „Ich nehme an, Sir, dass Sie gewichtige Gründe hatten, mich gestern Abend so überstürzt aus der Feierlichkeit zu katapultieren. Meine Reaktion auf diese unerwartete Order war gewiss übertrieben und ich muss Sie dafür um Entschuldigung bitten, Sir. Kommen wir also zum Geschäft. Sobald der Proviant und das Wasser an Bord sind, kann ich auslaufen.“

Smith blickte ihn mit seinen hellblauen Augen nochmals abschätzend an, schüttelte dann leicht irritiert den Kopf und räusperte sich: „Ahem, zu einem Kaffee würde ich nicht nein sagen. Ihr Aufklarer soll ihn vorne in der Kombüse zubereiten und sich Zeit lassen, äh, Herr Kapitän.“

Tom machte sich auf den Weg nach vorne. Smith schloss das Skylight und schaute dann misstrauisch aus den Heckfenstern, die er dann ebenfalls zuzog. Turner beobachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Smith schnaufte, und da jetzt in der Kabine kein Luftzug mehr herrschte, bildeten sich sofort Schweißperlen auf seiner Stirn. Er kehrte zum Tisch zurück, ließ sich schwer auf den Stuhl fallen und wischte sich mit einem großen weißen Taschentuch das Gesicht ab.

„Nun, ja, ich weiß selbstverständlich von Ihrer bevorstehenden Heirat und es tut mir leid, dass ich Sie auf See hinausjagen muss, aber es sind wichtige Nachrichten zu befördern. Nach Barbados ist es ja keine Weltreise, mit etwas Glück sollten Sie in spätestens acht Tagen wieder zurück sein.“ Hier irrte Smith, aber glücklicherweise wussten die beiden Männer das nicht. Der Agent holte einen dicken, versiegelten Umschlag und schob ihn Turner über den Tisch zu. „Diese Post überbringen Sie dem Gouverneur.“ Er deutete auf die Anschrift. „Wenn Sie hier bitte quittieren wollen.“ Er reichte ihm ein vorbereitetes Papier, das Turner unterschrieb und Smith zurückgab. Der kramte ein Leinensäckchen heraus, steckte den Umschlag hinein, dabei stießen die Bleikugeln unten in dem Säckchen dumpf gegeneinander. „Siegelwachs, Sir!“ Während Turner das Wachs über einer Kerze erhitzte, zog Smith eine Kordel durch die Ösen des Postsacks und verknotete die Enden fest. Dann ließ er das geschmolzene Wachs über die Kordel tropfen und drückte abschließend mit einem Petschaft ein Siegel hinein. „Sollten Sie von einem Feind aufgebracht werden, nun, Sie kennen die übliche Prozedur, Herr Kapitän, und erinnern sich gewiss daran, dass Sie mit Ihrem Kopf dafür haften, dass diese Papiere nicht in falsche Hände geraten.“

Turner nickte stumm.

„In Barbados werden Sie Kontakt mit einem Mister Miller von den Hermes Sugar Transports aufnehmen und ihm das Folgende mündlich berichten, passen Sie gut auf. Ich hoffe für Sie, dass Sie nicht unter den Nachwirkungen Ihres gestrigen Alkoholexzesses leiden.“

Turner schaute ihn gelassen an und schwieg.

Smith schüttelte verwundert den Kopf: „Entweder Sie sind verdammt gut in Übung, Sir, oder der Sturztrunk hat Sie gestern wirklich gleich umgehauen, weil Sie nichts mehr gewöhnt sind.“ Er musterte ihn misstrauisch. Turner überlegte: Wahrscheinlich macht er sich jetzt eine mentale Notiz, dass er meine Trinkgewohnheiten durchleuchten lassen muss, der argwöhnische alte Schnüffler.

„Es handelt sich um eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass ein Konvoi unterwegs ist, der Barbados mit Nahrungsmitteln versorgen wird.“ Als er Turners ungläubigen Blick sah, fügte Smith erklärend hinzu: „Auf Barbados werden, bedingt durch den intensiven Anbau von Zuckerrohr, kaum Nahrungsmittel erzeugt. Das über die Rebellen verhängte Handelsembargo hat dazu geführt, dass der übliche Austausch Zuckerrohr gegen Nahrungsmittel unterbrochen wurde. Dadurch wurden die Nahrungsmittelvorräte auf der Insel nicht mehr ausreichend ergänzt, folglich herrscht dort eine schlimme Hungersnot. Aus diesem Grund hat der König die Hilfslieferungen verfügt. Die schlechte Nachricht ist, dass am 13. März der französische Botschafter unsere Regierung in äußerst frecher Form davon in Kenntnis gesetzt hat, dass Frankreich die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkennt. Das ist praktisch die Kriegserklärung! Allerdings ist sie noch nicht in aller Form erfolgt, aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann sollten Sie künftig jedes französische Schiff wie ein feindliches behandeln. Aber dazu muss man sie ja nicht besonders auffordern, das tun sie mit vorauseilendem Gehorsam ohnehin! Die Geschichte mit der Loriot werden wir ganz gewiss problemlos regeln können.“

Smith lächelte schief und fuhr fort: „Beruflich wird Sie sicher noch interessieren, dass die Yarmouth, vierundsechzig Kanonen unter Kapitän Vincent, die amerikanische Fregatte Randolph, zweiunddreißig Kanonen unter Kapitän Briddle, vor South Carolina in die Luft gejagt hat. Und dreihundert Seemeilen nördlich von Barbados haben die Ariadne, zwanzig Kanonen, und die Ceres, sechzehn Kanonen, das Flaggschiff der Yankees, die Alfred mit vierundzwanzig Geschützen, genommen und nach Barbados eingebracht. Es gibt also doch noch erfreuliche Neuigkeiten.“ Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Er sprang auf und riss die Heckfenster auf. „Dann wünsche ich Ihnen günstige Winde und eine schnelle Reise. Schließlich möchte auch ich mich auf der Hochzeitsfeier an den delikaten Köstlichkeiten gütlich tun, die Ihre bezaubernde Elizabeth ganz gewiss auffahren lassen wird. Fürs Erste werde ich ihr in Ihrem Namen Blumen überbringen lassen.“ Er wendete sich ab, griff nach seinem Hut und wollte offensichtlich gehen, als er nochmals kurz stehen blieb, Turner scharf fixierte und fragte: „Brauchen Sie nicht eigentlich eine Heiratsgenehmigung von Ihrem Vorgesetzten, Sir?“ Er drückte sich den Hut auf den Kopf und entschwand.

Turner starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Tom kam mit dem Kaffee herein, schaute ihn kurz an und verschwand dann schnell in seiner winzigen Pantry. Als er wieder herauskam, servierte er William einen großen Mug mit dampfendem Kaffee und öffnete nach einem fragenden Blick das Skylight wieder. Turner riss sich den Uniformrock vom Leib und schleuderte die Schuhe von den Füßen.

„Puh, das war knapp! Hoffentlich ist es mir gelungen, das alte Ekel einigermaßen zu besänftigen. Wie sieht es an Deck aus, Tom, sind die Vorräte gut gestaut? Ach, vergiss es, ich werde selbst an Deck gehen und den Faulenzern Feuer unter dem Hintern machen!“ Er knotete sich das rote Tuch auf dem Kopf fest und stürmte voller Energie an Deck. Tom blickte ihm grinsend nach und murmelte vor sich hin: „Die alten Hausmittelchen wirken doch immer noch am besten …“

Turner schoss wie ein Schachtelteufelchen aus dem Niedergang nach oben, ließ seinen Blick über das Deck schweifen und sah sofort, dass die Besatzung in einer knappen halben Stunde mit der Übernahme der Vorräte fertig sein würde.

„Mister Dechamp, wenn Sie so freundlich wären und den Anker schon kurzstags hieven lassen, wäre ich Ihnen sehr verbunden.“

„Aye, aye, Sir!“

Ein paar Seeleute, die abwartend an einer Lastentalje standen, stießen sich verstohlen an und grienten breit. „Der Alte hat Hummeln im Arsch, der will wieder schnell ins Himmelbettchen zu seiner Goldmarie – na ja, ich kann es ihm nicht verdenken, die Lady ist ja auch ein Prachtexemplar.“ Die anderen nickten weise, nur ein junger Decksmann runzelte die Stirn und rümpfte die Nase: „Mir wäre sie ein wenig zu alt, die olle Mieze wird doch schon dreißig …“

„Wenn die Herren die Güte haben würden, die Hieve an Bord zu holen!“, grollte ein Bootsmannsmaat hinter ihnen. „Und legt euer Kreuz hinein! Holt weg die Lose, ihr Landlubber!“ Er schwang drohend seinen Starter. Die Männer zuckten zusammen und fielen in die holende Part ein. Im Takt der kurzen Kommandos ihres Vormanns stieg die Schlinge mit den Fässern aus dem Boot in die Höhe. Mit einer zweiten Talje wurde die Last über das Deck und über die geöffnete Luke des Laderaums eingeschwungen, während die erste kontrolliert mitgefiert wurde, dann wurden die Fässer in den Raum hinabgelassen.

Zufrieden verschwand Turner wieder unter Deck, um einen kurzen Brief an Elizabeth zu schreiben. Zwar konnte er ihr keine Einzelheiten über seinen Auftrag mitteilen, aber zumindest konnte er sich für sein Verhalten am gestrigen Abend entschuldigen und ihr versichern, dass er rechtzeitig zur Hochzeit zurück sein würde. Er bestäubte den Bogen mit Löschsand, blies ihn herunter, faltete ihn zusammen und versiegelte ihn seufzend.

„Tom, sorge bitte dafür, dass der Brief mit einem der Boote an Land gelangt.“ Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Münze, die er seinem Burschen zuwarf.

„Aye, Sör, wird gemacht.“

Zwei Stunden später verließ HMS Shark die Bucht und nachdem sie frei vom Land waren, konnte Turner in aller Ruhe das Billett lesen, das mit einem der letzten Boote an Bord gekommen war. Er roch an dem zart duftenden Papier und sog ihre liebevollen Worte in sich auf. Sie hatte ihm geschrieben, noch bevor sie seinen Brief erhalten haben konnte, und sie verzieh ihm und hatte Verständnis für seinen Ärger, den sie im Übrigen teilte, allerdings verspürte sie nicht das Bedürfnis, denselben zu ersäufen, schon um zu vermeiden, dass sein Sohn nach Rum schreiend auf die Welt kam und die Brüste der Amme verschmähte. Bei seiner Rückkehr würde alles für die Hochzeit vorbereitet sein. Es würde ein Fest geben, von dem selbst die verwöhnte Gesellschaft Antiguas noch lange reden würde.

„Amen“, murmelte William.

***

[3] Ehemaliges französisches Kolonialgebiet, das in etwa die Gebiete Nova Scotia, Teile von Québec, Teile von Maine und New Brunswick umfasste.

[4] William Blackstone in Commentaries on the Law of England, Vol. I (1765), Chap. 14

Kapitel 2

Mai 1778, Karibik

Die Shark zeigte sich wieder mal von ihrer besten Seite und lief unter vollen Segeln im beständigen Passat mit hoher Fahrt an den aufgereihten Inseln der Kleinen Antillen vorbei. Noch in der Nacht hatten sie die französische Insel Guadeloupe auf einem südöstlichen Kurs passiert, um dann auf einem süd-südwestlichen Kurs den rund zweihundert Seemeilen langen Schlag nach Barbados anzuliegen. William Turner hatte seinen Ärger über seinen erzwungenen und überstürzten Aufbruch vergessen und genoss die Freiheiten, die ihm das Leben eines Kommandanten auf einem unabhängig operierenden Schiff bot. Er befahl am folgenden Morgen seinem Ersten Leutnant James Dechamp, den an Bord alle hinter seinem Rücken wegen seiner Physiognomie nur „das Ross“ nannten, die Seeleute nach dem langen Hafenaufenthalt tüchtig durch alle denkbaren Segelmanöver zu hetzen. Während die Decksmänner und Toppgäste fluchend schwitzten und an den Fallen, Schoten, Geien, Nieder-, Auf- und Ausholern zogen, bis ihnen die Augen aus den Höhlen traten und die Luft knapp wurde, saß William Turner ganz achtern in seinem Korbstuhl zwischen den Jagdgeschützen und ließ den lieben Gott einen guten Mann sein. Sein scheinbares Desinteresse konnte die Seeleute nicht täuschen; sie wussten genau, dass ihm keine Schlamperei entging. Wurde diese nicht sofort vom Segelmeister Paul Lennon, dessen lange weiße Schläfenlocken im Wind flatterten, oder von Dechamp gerügt, würde sich achtern eine zwar höfliche, aber schneidende Stimme melden, die Aufklärung verlangte, warum dies oder jenes nicht nach gutem Seemannsbrauch erledigt wurde. Nun entging den scharfen Augen des alten Weißkopfseeadlers Lennon ganz gewiss nichts, im Gegenteil, seine scharf gekrümmte Raubvogelnase schien Fehler schon zu riechen, noch ehe der Sündenfall eingetreten war, aber bei James Dechamp war das noch etwas anderes. Inzwischen war er zwar auch schon über ein Jahr an Bord und hatte viel gelernt, aber da er als Sohn eines Earls und Angehöriger des alten normannischen Adels von England einen großen Teil seiner Dienstzeit auf Linienschiffen zugebracht hatte, bevor er sich freiwillig auf die kleine Shark meldete – oder, wie er es nannte, sich dank seiner Beziehungen selbst auf die Kriegsslup versetzt hatte –, waren ihm viele Dinge der praktischen Seemannschaft noch nicht so in Fleisch und Blut übergegangen, wie das beispielsweise bei dem für seinen Rang zu alten Midshipman Armstrong der Fall war; dessen Achillesferse war allerdings die Theorie, was ihn immer wieder bei der Leutnantsprüfung scheitern ließ. Aber Dechamp war trotz seines immer schläfrig wirkenden Gesichtsausdrucks mit den halbgeschlossenen Lidern über den wässrigen hellblauen Augen ein scharfer Beobachter, der aus Fehlern – auch denen anderer – lernte und sich auch nicht zu fein war, Turner, Lennon oder Bootsmann Baxter um einen Rat zu bitten. So verging der Vormittag mit dem Segel- und Manöverdrill schnell. Nach der Bestimmung der Mittagsbreite zog sich William in seine Kabine zurück, wo ihm Tom ein leichtes Mittagsmahl aus frischem Brot, Käse, kaltem Geflügelfleisch und Obst servierte. Anschließend setzte sich William mit einem Glas kühlem Weißwein auf die Heckbank und blickte durch das geöffnete Heckfenster hinaus in das schäumend brodelnde Kielwasser. Seine Gedanken wanderten zurück zu Elizabeth, der bevorstehenden Heirat und seinen sich daraus ergebenden neuen Pflichten und Verantwortlichkeiten. Drei Plantagen und eine Rumfabrik mit über sechshundert Sklaven zu verwalten – nun ja, verwalten zu lassen –, das war schon etwas.

„Tom, ich möchte dich etwas fragen.“

„Aye, Käptum, Sör.“

„Wie du weißt, besitzt meine zukünftige Gattin viel Land und daher auch viele Sklaven.“ Er sah, dass Tom leicht zusammenzuckte, sich aber sofort wieder gefangen hatte, kurz nickte und ihn ausdruckslos anschaute. „Wie du weißt, halte ich nicht allzu viel von der Versklavung. Ich hatte mir da auch schon etwas für meine Arbeiter in der Rumfabrik überlegt, aber man hat mir davon abgeraten, meinen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen.“ Tom blickte ihn scharf an, sagte aber nichts. „Ich wollte meine Sklaven freilassen und sie dann mit festen Arbeitsverträgen wieder einstellen. Verstehst du, sie hätten dann eine Rechtsstellung, die mit denen der weißen Indentures[5] vergleichbar wäre. Wie du weißt, müssen sich die meisten armen Emigranten aus Großbritannien für drei bis fünf Jahre fest verpflichten, für den Plantagenbesitzer zu arbeiten, der ihnen die Überfahrt bezahlt hat. Der Arbeitsvertrag und das Duplikat werden an einem auffällig gezackten Rand getrennt, damit man ihre Echtheit später durch das Aneinanderlegen beider Teile beweisen kann – daher kommt auch die seltsame Bezeichnung für diese Beinahe-Sklaven.“ Gespannt blickte er Tom an. Der hellhäutige Karibe sah jetzt auch hinaus auf das Meer, sein Kiefer mahlte, und er hatte die Hände fest ineinander gekrampft. Schließlich entspannte er sich wieder und schaute William gerade in die Augen.

„Sör, warum fragen Sie mich das? Weil ich früher mal Sklave gewesen bin?“

Turner zuckte zusammen. Er hatte das zwar immer schon vermutet und auch Tom hatte manchmal Andeutungen gemacht, die in diese Richtung gezielt hatten, aber so offen ausgesprochen hatten sie das noch nicht. Er wollte das Thema nicht dramatisieren, daher zuckte er leichthin mit den Schultern.

Mit fester Stimme fuhr Tom fort: „Kein freier Krieger möchte das Eigentum eines anderen Mannes sein und behandelt werden wie ein Hund oder ein Pferd – wobei ich Pflanzer kenne, die ihre Pferde besser behandeln als ihre Negersklaven, von den Hunden ganz zu schweigen. Aber Tom kann sich denken, warum man dem Käptum geraten hat, die schwarzen Leute nicht freizulassen. Es wäre ein schlechtes Beispiel für die anderen Pflanzer gewesen, nicht wahr, Sör?“

Turner nickte stumm. Tom schwieg eine ganze Weile, dann begann er mit einer emotionslosen Stimme zu erzählen.

„Tom hat sich über das Problem oft und lange mit den alten weisen Männern und Frauen und auch mit seinen Freunden unterhalten. Sklaverei ist eine Einrichtung, die es schon seit undenklichen Zeiten gibt, wie die Alten berichten, und auch drüben“, er deutete nach Osten, wo weit hinter dem Horizont Afrika liegen musste, „auch dort gehört die Versklavung zum ganz gewöhnlichen Alltag. In Afrika überfallen sich die Stämme wechselseitig, töten einander und rauben den Besiegten die jungen, kräftigen Menschen, die sie früher den Göttern opferten oder an die arabischen Händler verkauften. Heute werden sie immer öfter an die Küste verschleppt, wo man sie auf die Schiffe der Weißen bringt. Aber Kriegsgefangene sind nicht die einzigen Sklaven, daneben gibt es Tribut-, Haushalts-, Familien- und Pfandsklaven, wobei sich bei den letzten drei Kategorien die Menschen aus bestimmten Umständen freiwillig in die Sklaverei begeben oder durch ein Gericht dazu auf Zeit verurteilt werden. Das Los der Sklaverei wird von den meisten Betroffenen als nicht so bedrückend angesehen, schon weil es so alltäglich ist und auch weil es sehr häufig die Möglichkeit gibt, ihr wieder zu entkommen, so zum Beispiel durch Freikauf oder Austausch, durch das Erlöschen der Schuld oder Wegfall des Grundes. Die Sklavenhalter lassen ihre Unfreien zwar schwer arbeiten, aber in der Regel achten sie darauf, dass sie nicht an Erschöpfung oder mangelhafter Ernährung eingehen. Hier in Amerika ist es anders; die Leute werden oft ohne jede Rücksicht ausgebeutet, jeder Penny für ihre Ernährung und ärztliche Versorgung wird dreimal umgedreht. Dazu kommt bei einigen Pflanzern eine sadistische Freude an grausamen Bestrafungen. Aber selbst wenn ihr Eigentümer ein wohlwollender Patriarch ist, leiden die Afrikaner sehr unter dem Verlust der Heimat, und ganz besonders macht ihnen zu schaffen, dass man sie aus ihrer Familie, ihrem Stamm herausgerissen, sie ihrer Wurzeln beraubt hat. Selbst wenn eine Familie einigermaßen wohlbehalten auf einem Schiff in einem karibischen Hafen ankommt, wird sie spätestens beim Verkauf getrennt werden. Nur wenige werden von ihren Eigentümern freigelassen, und außerdem sehen sie keine Möglichkeit, jemals wieder in die Heimat zurückzukehren.“

Tom schluckte trocken, und sein Blick verriet, dass er innerlich aufgewühlt war. „Die Alten sagen, dass es drei verschiedene Menschentypen gibt, die jeweils ganz unterschiedlich auf die Sklaverei reagieren. Da gibt es zuerst den stolzen, kriegerischen Typ, der kann auch von einer Frau verkörpert werden, Sör! Diese Menschen akzeptieren ihr Los nie. Sie sind aufsässig, stiften Unruhe, zetteln Rebellionen an, flüchten – kurz, sie sind ein Fluch für ihre Herren. Die zweite Gruppe kann man ruhigstellen, indem man sie an der langen Leine laufen lässt.“ Tom grinste spöttisch bei dem Wortspiel. „Man kann sie überall als Unteraufseher, Hausbedienstete und als spezialisierte Handwerker finden. Der Rest ist zufrieden, wenn er nur genug zu essen bekommt und nicht grundlos geschlagen wird. Auf der anderen Seite arbeiten diese Sklaven mehr schlecht als recht, drücken sich nach Möglichkeit vor jeder Anstrengung und sind in jeder Beziehung nachlässig. Hauptsache ist, dass der Aufseher sie nicht persönlich haftbar machen kann. Unvermittelt in die Freiheit entlassen, würden sie entweder verhungern oder nach kurzer Zeit als Diebe gehängt werden –, aber sehr wahrscheinlich würden sie sich nach kurzer Zeit einen neuen Herrn suchen und ihre Unabhängigkeit für ein Linsengericht verkaufen.“

„Du scheinst keine allzu gute Meinung von deinen Leuten zu haben, Tom.“

„Es sind nicht meine Leute, Sör. In meinen Adern fließt zu drei Viertel weißes Blut, und das letzte Viertel ist Blut des stolzen Stammes der Ashanti. Dieser Stamm gilt als kriegerischster in Westafrika und ist dort führend im Sklavengeschäft.“ Tom grinste schief.

In Turners Kopf drehte sich alles. Was war das für eine verrückte Welt! Da erzählte ihm ein ehemaliger Sklave, der seine Wurzeln in einem Volk von gewieften Sklavenhändlern hatte, welche Arten der Sklaverei es gab und wie unterschiedlich die betroffenen Menschen mit diesem Schicksal umgingen. Im Übrigen hatte ihn die Einteilung in drei Typen von Sklaven stark an die charakteristische Verteilung der Temperamente auf einem beliebigen Schiff der Königlichen Marine erinnert. Aber einer Lösung seines Problems war er dadurch noch nicht näher gekommen. „Was rätst du mir, Tom?“

„Wie könnte ich Ihnen einen Rat geben, Käptum, Sör?“ Tom lachte freudlos. „Die Alten haben mir erzählt, was sie erlebt haben, und das kann ich Ihnen weitergeben. Drüben“, wieder das Deuten des Kopfes nach Osten, „hat man die Unbeugsamen bevorzugt geopfert oder seinem schlimmsten Feind verkauft. Die richtige Behandlung der anderen beiden Gruppen ist leicht, besonders wenn man den starken Familiensinn der Leute beachtet. Man sollte also nie Mann und Frau, Mutter und Kinder auseinanderreißen, um sie einzeln zu verkaufen. Außerdem sollte man für die Trägen Anreize schaffen, damit sie nicht nur arbeiten, wenn der Aufseher hinter ihnen steht, sondern weil es ihnen einen greifbaren Vorteil bringt.“

Turner rieb sich den Hinterkopf und nickte nachdenklich. Über dieses Problem würde er noch länger nachdenken müssen, es gab anscheinend keinen Königsweg.

Sie hatten nach einer verhältnismäßig langen Überfahrt wegen launischer Winde Bridgetown auf Barbados erreicht. Bei seinem Landgang war William Turner überall auf Hinweise der Hungersnot gestoßen, von der Smith gesprochen hatte. Wenn man die üppige grüne Vegetation sah, konnte man kaum glauben, dass man in diesem tropischen Paradies Hunger leiden konnte. Das war der Fluch, der über die Einwohner kam, weil man sich hier ausschließlich auf den Anbau von Zuckerrohr spezialisiert hatte, wofür die kleinen Leute, die von den Entbehrungen hauptsächlich betroffen waren, aber am wenigsten konnten. Der Gouverneur war sichtlich erleichtert, als er von der Hilfslieferung erfuhr. „Bei Gott, wir stehen kurz vor der offenen Rebellion, Sir!“, hatte er Turner wissen lassen. „Die gute Nachricht werde ich heute Abend öffentlich vom Balkon meiner Residenz verkünden! So, wie ich die Einwohner dieser Stadt kenne, werden sie daraufhin sofort eine große Feier mit viel Musik, Tanz und Rum veranstalten. Na, sollen sie, der Rum dämpft den Hunger, und der Tanz vertreibt die rebellischen Gedanken. Hoffen wir nur, dass der Konvoi nicht von amerikanischen Freibeutern oder gar der französischen Marine abgefangen wird. Übrigens, haben Sie schon das Flaggschiff der amerikanischen Marine bewundert, das im Hafen auf seine Versteigerung wartet?“