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1776: Auf dem europäischen Kontinent herrscht Frieden, doch England muss sich mit den aufmüpfigen Kolonisten in Amerika herumquälen. Seine Truppen müssen über See versorgt werden, doch scheint es an höchster britischer Stelle vor Ort einen Verräter zu geben, der den amerikanischen Freibeutern wie auch den Franzosen Informationen über britische Versorgungsschiffe zuspielt. Die Admiralität in London entschließt sich deshalb, die von den Yankees erbeutete und mittlerweile mit neuartigen Karronaden aufgerüstete Kriegsslup Sbark dem Kommando eines jungen Leutnants namens William Turner anzuvertrauen, weil den niemand kennt. Sein Geheimauftrag, den Maulwurf aufzuspüren, entpuppt sich als höllische Mission. Der spannende erste Band einer neuen marinehistorischen Reihe über den abenteuerlichen Aufstieg des jungen William Turner in der Royal Navy.
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Seitenzahl: 317
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Paul Quincy
Schwarze Flagge
Reihe: William Turner, Band 1
Kuebler Verlag
Das Buch
William „Wild Bull“ Turner und der Verräter
1776: Auf dem europäischen Kontinent herrscht Frieden, doch England muss sich mit den aufmüpfigen Kolonisten in Amerika herumquälen. Seine Truppen müssen über See versorgt werden, doch scheint es vor Ort einen Verräter zu geben, der den amerikanischen Freibeutern wie auch den Franzosen Informationen über britische Versorgungsschiffe zuspielt. Die Admiralität in London entschließt sich deshalb, die von den Yankees erbeutete und mittlerweile mit neuartigen Karronaden aufgerüstete Kriegsslup Shark dem Kommando eines jungen Leutnants namens William Turner anzuvertrauen, weil den niemand kennt.
Band 1 der Reihe über den Aufstieg des William Turner (genannt „Wild Bull“ Turner) von Paul Qunicy
Der Autor
Paul Quincy war Seemann und weltweit als Wachoffizier und in leitender Position auf Schiffen der Großen Fahrt unterwegs. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er als Übersetzer etwa 60 Romane und Fachbücher – zum größten Teil historische maritime Romane aus den Napoleonische Kriegen – vom Englischen ins Deutsche übertragen. Paul Quincy verknüpft in der Reihe um William Turner Spannung mit historischen Fakten und viel Wissen über die Lebensumstände der damaligen Zeit.
Paul Quincy
Schwarze Flagge
William „Wild Bull“ Turner und der Verräter
Band 1 der Reihe „William Turner“
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Impressum
Copyright © 2016 Kuebler Verlag, Lampertheim.
Alle Rechte vorbehalten.
Titelbild: © Kovalenko Inna – fotolia.com.
Dieser Titel ist 2007 erstmals unter dem Titel „Schwarze Flagge – Rote Segel“ im Ullstein Taschenbuch Verlag erschienen.
Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Kuebler Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt, verbreitet oder zugänglich gemacht werden.
ISBN Printausgabe: 978-3-86346-072-3
ISBN Digitalbuch 978-3-86346-265-9
Prolog
Im Jahre des Herrn 1776 herrschte auf dem europäischen Kontinent ausnahmsweise einmal Frieden. Nur England hatte in den amerikanischen Kolonien Probleme mit seinen Siedlern. Offiziell ging es um das Mitspracherecht im englischen Unterhaus. In den Geschichtsbüchern macht die demokratische Forderung „no taxation without representation!“ einen guten Eindruck. Aber viel mehr hat damals die Siedler das Verbot der Krone erbittert und aufsässig gemacht, nicht über festgesetzte Grenzen jenseits der Appalachen in das Indianerland vorzudringen. Wohlgemerkt, die meisten Kolonisten wohnten damals an der Küste in Kleinstädten wie Boston oder New York. Das Hinterland war keineswegs überbevölkert! Habgier, gepaart mit dem Massenmord an den untereinander feindlichen Stämmen und daher zahlenmäßig sowie waffentechnisch unterlegenen Eingeborenen, macht sich in den Geschichtsbüchern allerdings weniger gut!
Die englischen Truppen mussten über See versorgt werden, da die Landwege unsicher waren, denn die Kolonisten hatten die Taktik der Indianer übernommen: Möglichst keine offene Feldschlacht, sondern Überfälle auf kleine abgelegene Posten und Nachschubtransporte.
Die Versorgung erfolgte von den britischen Stützpunkten in Kanada und Westindien. Da gab es für wagemutige Männer viel zu verdienen.
Amerikanische Blockadebrecher exportierten die begehrten Waren des Landes an der Royal Navy vorbei in Drittländer und brachten dafür Waffen und andere Versorgungsgüter für die eigene Armee wieder mit zurück. Das war in den Augen der Briten ein schwerer Gesetzesverstoß – den ertappten Seeleuten drohte als Schmuggler und Hochverräter der Galgen.
Die Kolonien verfügten naturgemäß über keine eigene Marine, der Kontinental-Kongress stellte daher kleinen schnellen Schiffen Kaperbriefe aus. Da die Briten die Kolonien aber nicht als souveränen Staatenverbund anerkannten, winkte auch den Besatzungen dieser Freibeuter als Hochverräter selbstverständlich der Galgen – wenn man sie stellen konnte.
Während des vergangenen Siebenjährigen Krieges operierten viele französische Freibeuter mit offiziellen Kaperbriefen im Bereich der nordamerikanischen Küste. Sie waren also de facto Hilfskriegsschiffe, ihre Kapitäne Kriegsunternehmer, die auf eigene Rechnung der Handelsschifffahrt des Gegners möglichst großen Schaden zufügten – oder bösartiger ausgedrückt: legale Piraten. Nach dem Friedensschluss verloren die Kaperbriefe natürlich ihre Gültigkeit, aber viele Kaperer mochten auf das schnelle Geld nicht verzichten, zumal die französische Regierung aus verständlichem Ärger über die Niederlage und die daraus resultierenden Gebietsverluste beide Augen zudrückte. Wurde so ein illegaler Freibeuter von den Briten auf frischer Tat ertappt, wurde die Besatzung – man ahnt es schon – gehängt.
Ähnlich verhielt es sich mit spanischen Freibeutern. Traditionell waren die Gefühle der Spanier gegenüber den Briten nicht von überbordender Herzlichkeit geprägt. Mit dem Namen von Francis Drake pflegten in der Karibik und den Häfen am Golf von Mexiko die Mütter ihre kleinen Kinder zu erschrecken. Auch hier pflegten die zuständigen Gouverneure in die andere Richtung zu schauen, wenn von Freibeutern die Rede war.
Schließlich gab es da noch die freie Bruderschaft des Meeres. Zwar war die große Zeit der Piraten vorbei, aber wo es nach viel Geld riecht, sind Aasgeier nicht weit. Ihre Mitglieder bestanden aus höchst unterschiedlichen Männern – und Frauen. Viele waren ganz einfach Schwerverbrecher, Mörder, Totschläger und gewissenlose Räuber. Andere waren aus der Royal Navy desertiert, weil brutale Vorgesetzte ihnen das Leben zur Hölle gemacht hatten oder ihnen wegen ihrer sexuellen Präferenzen die Todesstrafe drohte. Die Organisationsform der Seeräuber war erstaunlich basisdemokratisch. Aber das konnte die Krone keineswegs beeindrucken, im Gegenteil! Man stelle sich vor, die Besatzung eines Schiffes des Königs hätte ihren Kommandanten wählen können und jeder Bestrafung eines Seemannes zustimmen müssen! Eher wäre die Sonne im Westen aufgegangen!
Logisch, nach einer Gefangennahme konnte das Urteil für einen Piraten nur lauten: Tod durch den Strick.
In dieser verzwickten Situation hatte die englische Regierung ein Problem. In den Kolonien musste an höchster Stelle ein Verräter sitzen, der die diversen Gegner der Briten mit Informationen über den Schiffsverkehr versorgte. Es war der Royal Navy nicht möglich, den gesamten Nachschub durch Sloops, Fregatten und Linienschiffe abzusichern, zumal das Parlament in Friedenszeiten das Budget der Marine gekürzt hatte.
Auf höchster Ebene entschließt man sich, ein kleines Schiff, die Kriegsslup Shark, unter dem Kommando eines zwar fähigen, aber unbedeutenden jungen Leutnants ohne Einfluss als Joker gegen die Handelstörer einzusetzen. Hat er Erfolg, ist es gut, versagt er, kann man ihn problemlos zum Teufel jagen – wenn ihn seine Gegner nicht schon vorher dorthin befördert haben. Mit seinem schnellen, in Amerika gebauten großen Schoner und den neuen, in Schottland entwickelten Karronaden soll Leutnant Turner RN den Verräter finden – und notfalls ermorden! Wird Leutnant William Turner diese Herausforderung erfolgreich bestehen? Darauf kann es nur eine Antwort geben: Er muss es schaffen, sonst ist er ein für alle Mal erledigt! Sein Schicksal wäre es, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf Halbsold als auf den Strand geworfenes Treibgut ein tristes Leben zu fristen.
Kapitel 1
April 1776, Biskaya
Hohe, lange schwarzblaue Wellenfronten, von deren Köpfen weiße Gischt abgerissen und nach Lee verweht wurde, kamen aus Westen in Reih und Glied, wie unbeirrt blindwütig angreifende Linien von Grenadieren herangerollt. Soweit das Auge unter dem dunklen, mit tiefhängenden Wolken bedeckten Himmel schauen konnte, überall dasselbe Bild, und im Rigg jaulte der Wind wie der Höllenhund persönlich. Die kleinen braunen Sturmsegel aus extra starkem Tuch mit den dicken Taulieken standen steif wie Bretter. Das winzige Schiff erzitterte in der weiten schäumenden See vom Kiel bis hoch zu den Marsen, wenn ein Brecher gegen die Bordwand krachte, und schüttelte sich wie ein geschlagenes Pferd.
Der Kommandant der misshandelten Nussschale, Leutnant William Turner RN, stand in Ölmantel, Südwester und Seestiefeln wie ein Fels in der Brandung auf der Luvseite des Achterdecks Seiner Britannischen Majestät Kriegsslup Shark. Er hatte sich mit einem Arm in die Wanten des achteren Masts eingehakt und blickte aus schmalen Augenschlitzen von den heranschnaubenden Wogen in die Segel, dann zum Kommandowimpel oben im Topp, weiter zu den Männern am Ruder und wieder zurück. Er war jetzt schon seit fast zwei Tagen und Nächten an Deck, um genau zu sein, seit vorgestern Morgen, als sie die ersten Anzeichen des heraufziehenden Sturms ausgemacht hatten. Das war bei den Scilly Islands gewesen. Der Horizont im Westen hatte sich verdüstert, der Wind war launisch hin und her gesprungen, und ab und zu war eine kurze Bö über die See gefegt. Einen Augenblick lang hatte Turner den Gedanken erwogen, umzukehren und in Falmouth Schutz zu suchen, denn mit den Frühjahrsstürmen in der Biskaya war nicht zu spaßen. Aber dann hatte sein Stolz gesiegt. Er befehligte ein gutes, seetüchtiges Schiff, das gerade nach einer Grundüberholung aus der Werft gekommen war. Die Besatzung bestand zum größten Teil aus gestandenen, erfahrenen Seeleuten, die schon während der Reise den Kanal hinunter beim Drill gezeigt hatten, dass sie ihr Handwerk verstanden. Außerdem hatte in den Befehlen der Admiralität gestanden: „… haben Sie sich ohne jede Verzögerung mit allen Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unverzüglich auf die Ihnen zugewiesene Station nach Antigua in Westindien zu begeben.“ Nun stand diese Floskel zwar immer in den Befehlen der hohen Herren, aber Turner nahm diese Anweisung ernst. So hatte er den Bootsmann „Alle Mann!“ pfeifen lassen.
Es waren hektische Stunden gefolgt. Sein Erster (und einziger) Leutnant hatte die Arbeiten am Vormast, der Segelmeister die am achteren Mast überwacht. Sie hatten die Rahen der Toppsegel und der Fock und beide Toppstengen an Deck gegeben, außerdem wurde der Klüverbaum vom Bugspriet gelöst und zurück auf das Deck geholt. Anschließend hatten sie vorne den Sturmklüver gesetzt und gerade noch rechtzeitig die Gaffelsegel gegen die Sturmbesegelung ausgetauscht. Hatten die Seeleute zuerst noch untereinander getuschelt, dass der neue Kommandant wohl ein kleiner Angsthase wäre, gab sich das schnell, als sich das schwarze Wolkengebirge gegen Mittag immer drohender über sie schob, die Böen immer giftiger einfielen und das Schiff auf die Seite legten. Kaum waren die Luken und Niedergänge sturmfest verschalkt, Strecktaue über das Deck gespannt, die Geschütze, die Boote und die Anker mit zusätzlichen Laschings gesichert, ein letztes warmes Essen zubereitet, das Feuer in der Kombüse gelöscht und Reservetaljen für das Ruder aufgeriggt worden, als der Sturm mit brutaler Wucht über sie herfiel.
Ein alter Matrose, sein Name war Pat Grant, sagte langsam zu seinen Messekameraden, als sie zusammen hungrig ihre Schüsseln mit kaltem Erbsenbrei und Salzfleisch leerten: „Was habe ich euch gesagt, der Alte hat den siebenten Sinn, der kann riechen, wenn es dicke kommt! Das weiß ich von einem Kumpel, der zusammen mit Wild Bull Turner auf einer Fregatte gefahren ist. Wenn der seinen dicken Zinken in den Wind hält und sich den Nacken kratzt, dann wird es Zeit, sich aus den Kinken zu bergen.“
„Na ja, diesmal hat er ja recht behalten. Aber eigentlich ist er ja noch verdammt jung …“
„Der fährt schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr bei der Navy zur See und vorher soll er schon auf dem Logger seines Vaters im Kanal mit zum Fischen und Schmuggeln gefahren sein. Der Kerl ist ein besserer Seemann als die meisten Käpt'ns mit 'nem dicken Titel vor dem Namen oder einem prallen Sack voller Gold in der Hinterhand, da gibt es kein Vertun.“
„Na ja, wenn du es sagst. Und wie ist er, wenn der Feind in Sicht kommt?“
Der alte Grant grinste und verkeilte sich fester, damit er von den wilden Bewegungen des Schiffes nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte. Er leckte sich die fettigen Lippen, rülpste und meinte nur lässig: „Glaubst du etwa, der heißt Wild Bull, weil er den Froschfressern die Füße küsst?“
Seitdem waren knapp achtundvierzig Stunden vergangen, und der Kommandant hatte an Deck ausgeharrt. Weil sie der Sturm am Ausgang des Kanals erwischt hatte, waren sie nicht in der Lage gewesen, ausreichend Raum nach Westen gutzumachen. Als Faustregel galt, dass man mindestens auf 12 Grad West stehen sollte, bevor man nach Süden abfallen konnte, ohne bei Weststurm Gefahr zu laufen, in die weite, tiefe Bucht der Biskaya gedrückt zu werden oder gar an den Felsen von Kap Finisterre an der Nordwestspitze Spaniens zu scheitern. Daher lauerte der Kommandant an Deck auf jede Gelegenheit, Raum nach Luv zu machen, aber der Sturm bot ihm keine. Bei dem herrschenden Seegang und ihrer Besegelung war es schwer, ihren Kurs über Grund abzuschätzen. Sicher machten sie auch unter den reduzierten Segeln vier, fünf Knoten Fahrt, vielleicht auch mehr, aber um wie viel Grad wurden sie durch Wind und Seegang von ihrem Kartenkurs nach Lee versetzt? Hier kam auch zum Tragen, dass alle Nautiker neu auf dem Schiff waren und in dieser Beziehung noch keine Erfahrungen hatten sammeln können. Der Bootsmann, der als Deckoffizier schon länger auf dem Schiff gedient hatte, hatte ihnen zwar versichert, dass die Shark aufgrund ihres langen und tiefen Lateralplans nur verhältnismäßig wenig Abdrift haben würde, aber konnte er das richtig einschätzen? Und was hieß schon „wenig“?
Der Erste Leutnant, Patrick O'Bailey, machte vor dem Beginn einer jeden seiner Wachen zusammen mit dem Bootsmann einen Rundgang über das Deck, um alle Laschings und – soweit möglich – das stehende sowie das laufende Gut zu kontrollieren. Der Segelmeister machte dasselbe mit dem Zimmermann unter Deck im Laderaum. Ihr besonderes Augenmerk richteten sie auf das Rudergeschirr und den Wasserstand in den Bilgen. Aber bis jetzt hatten sie dem Kommandanten immer melden können, dass es keine besonderen Vorkommnisse gab.
Auch jetzt näherte sich wieder der Erste Leutnant der starren Gestalt in Luv. Mühsam kämpfte er sich gegen den Wind an seinen Kommandanten heran. Er versuchte zu salutieren, musste dann aber schnell eine Want packen, um seinen Platz zu behaupten. Turner blickte ihn aus müden, rot unterlaufenen Augen an.
O'Bailey brüllte: „An Deck ist alles fest und sicher, Sir!“
„Danke, Mister O'Bailey“, schrie Turner zurück.
„Herr Kapitän, Sie sollten nach unten gehen und sich ein paar Stunden ausruhen. Im Augenblick können Sie hier oben auch nichts ändern, Sir.“
Turner musterte ihn unter dem tropfenden Rand des Südwesters hervor. Man meinte fast zu sehen, wie schwer ihm das Denken fiel. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit und vom Salz verkrustet, die Augen waren geschwollen und rot. „Sie haben recht, Sir. Ich kann verdammt nichts ändern. Wir stehen mitten in dieser verfluchten überschwemmten Wüste mit dem Namen Biskaya. Ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Wecken Sie mich bei jeder Wetteränderung, spätestens aber zur ersten Hundewache, verstanden?“
„Aye, aye, Sir!“
Der Kommandant löste sich von den Wanten, rutschte mehr, als dass er ging, zum Ruder hinunter und kontrollierte den anliegenden Kompasskurs, dann schwankte er zum Niedergang zu seinem Logis. Es war erstaunlich, wie vergleichsweise ruhig es unter Deck war, weil das Jaulen und Heulen des Sturmes gedämpft wurde. Jedenfalls hatte man während der ersten Minuten diesen Eindruck. In der großen Kabine riss er sich das Ölzeug vom Leib und zog sich mühsam die Seestiefel aus, wobei ihm sein Bursche half, der plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte.
„Sör, ich habe Ihre Waschschüssel in Ihrem Schlafraum bereitgestellt, damit Sie sich das Salz aus dem Gesicht waschen können. Danach sollten Sie eine Kleinigkeit essen, Sör.“
William sah den hochgewachsenen, schlanken und verhältnismäßig hellhäutigen Schwarzen aus Westindien zweifelnd an. Wie sollte bei diesen Schiffsbewegungen auch nur ein Tropfen Wasser in der Schüssel verblieben sein! Aber er war zu müde, um mit seinem Aufklarer Tom zu streiten. Steif ging er in die winzige Kabine, wo seine Koje an den Decksbalken aufgehängt war. Verdammt, dachte er, dieser Teufelsbraten Tom hat nachgedacht. Er hatte die Schüssel in zwei Hahnepoten gestellt, die er um neunzig Grad zueinander gedreht und ebenfalls an der Decke befestigt hatte. Diese ganze Einrichtung schwang zwar heftig hin und her, aber kein Wasser wurde verschüttet. Es war eine wahre Lust, sich das Salz aus den entzündeten Augen, der brennenden Nase, den Ohren, dem verkrusteten Gesicht, dem verklebten Bart und dem wundgescheuerten Hals zu waschen und sich mit einem weichen Handtuch abzutrocknen.
Er passte den richtigen Moment ab und ließ sich in voller Montur in die frei pendelnde Koje fallen. Nur einen kleinen Augenblick, dann gehe ich rüber und sehe mal nach, was der gute Tom für seinen ollen Käpt'n zum Frühstück organisiert hat, dachte er.
Die Augen fielen ihm zu, und seine Gedanken begannen zu wandern. Wie war er eigentlich als Kommandant hier auf dieses Schiff gekommen? Er, William Turner, Leutnant RN, ohne Beziehungen, ohne Vermögen, ohne Titel und dazu auch noch als eher unbequemer Untergebener und Querkopf verschrien, der seinen Mund nicht halten konnte, wenn er meinte, etwas besser als seine Vorgesetzten zu wissen oder zu können – und das war zum Leidwesen aller Beteiligten recht häufig der Fall gewesen. Da sein Vater Fischer und, man muss es gestehen, Schmuggler in Littlehampton, einem kleinen Hafen am Kanal, war, hatte er Salzwasser in den Adern und kannte sich mit Wind, Wetter und den Gezeiten aus wie ein papistischer Vikar in seinem Brevier.
Nachdem sein letztes Schiff, die Fregatte Ajax, nach den üblichen vier Jahren aus dem aktiven Dienst genommen worden war, um einer Grundüberholung unterzogen zu werden, war er auf Halbsold gesetzt und nach Hause entlassen worden. Seine Eltern und Geschwister hatten ihn freudig begrüßt, und zuerst war William die Zeit durch das Wiedersehen mit alten Freunden und das Knüpfen neuer Bekanntschaften auch rasch vergangen. Er war einige Male zum Essen auf das Gut des örtlichen Junkers eingeladen worden, mit dessen Söhnen zusammen er seine Schulbildung erhalten hatte. Das hatte er seiner Mutter zu verdanken, die Gesellschafterin der Lady war. Als Tochter des örtlichen Pfarrers gehörte sie zur „besseren“ Gesellschaft.
Aber nach einiger Zeit hatte er abends immer öfter vorn auf der Mole gestanden und den in der Ferne unter vollen Segeln vorbeiziehenden Schiffen nachgeschaut. Auch die gelegentlichen Ausfahrten auf dem Boot seines Vaters hatten seine Sehnsucht nach den Planken eines Kriegsschiffs nicht stillen können.
Zum Glück war dann unvermutet ein reitender Bote mit einem Befehl der Admiralität zu Hause bei seinen Eltern erschienen, der ihn nach London vorlud. Einem überhasteten Aufbruch war eine unbequeme Reise über holprige Straßen nach London gefolgt. Die Wege waren mindestens so voller Schlaglöcher gewesen wie jetzt die verfluchte Biskaya. Dann war noch ein wilder Abend im Nachtjackenviertel von London mit einem Haufen zufälliger Saufkumpane gefolgt …
Wenig später betrat Tom die kleine Schlafkabine und blickte mitleidig auf seinen Kapitän, der fest eingeschlafen war. Vorsichtig legte er einen aus der Koje hängenden Arm auf Turners Brust und deckte ihn fürsorglich mit einer Decke zu.
In seinen wirren Träumen waren die Gedanken von William Turner zurück nach London gewandert, wo vor einem guten Monat an einem regnerischen grauen Morgen im März alles begonnen hatte. Oder besser gesagt, am Abend und in der Nacht vor dem besagten trüben Morgen.
***
Kapitel 2
März 1776, London
Unruhig warf sich William Turner in seinem quietschenden Bett in der billigen Londoner Absteige hin und her. Ein Alptraum quälte ihn, einer, der ihn sehr häufig heimsuchte, wenn er zu viel getrunken hatte. Er war dann wieder auf seinem letzten Schiff, der Ajax, und irrte mit ihm orientierungslos durch dichte Nebelbänke. „Dieser verfluchte Nebel!“, stöhnte er, und in der Tat konnte man vom Achterdeck nicht den Bugspriet, geschweige denn den Klüverbaum erkennen. Seiner Britannischen Majestät Fregatte Ajax glitt fast lautlos, vom Gezeitenstrom des Englischen Kanals angetrieben, durch die dicke wattige, von Feuchtigkeit gesättigte Luft. Von den Tauen des stehenden und laufenden Gutes sowie den schlaff herabhängenden Segeln klatschten dicke Wassertropfen auf das von Nässe schwarze Deck. Von Zeit zu Zeit fiel ein leichter Lufthauch in die Segel ein, die sich daraufhin müde rauschend aufzublähen begannen, nur um anschließend wieder schlaff in sich zusammenzufallen. So ging das nun schon seit vielen Stunden.
Als Turner um 12.00 Uhr auf Wache gekommen war, hatte er mit dem Dritten Leutnant Hastings darüber spekuliert, ob die Frühlingssonne am Nachmittag genügend Kraft haben würde, den Nebel aufzulösen, aber diese Hoffnung hatte sich als trügerisch erwiesen. Immer wieder wanderte Turners Blick nach oben, wo sich schon die Marsstengen in der grauen Suppe verloren. Dort oben schien zwar das Grau etwas heller zu sein als rings um sie her, aber von der Sonnenscheibe war nicht das Geringste zu sehen. So irrten sie weiter wie mit verbundenen Augen durch die graue Waschküche, ohne genau zu wissen, wo sie sich befanden. Die Koppelrechnung des Segelmeisters besagte zwar, dass sie mitten im Kanal zwischen dem Kap de la Hague und Portland Bill standen, aber William Turner, Zweiter Leutnant der Ajax, hatte da so seine Zweifel. Hier war sein Hausrevier, das er mit dem Logger seines Vaters von frühester Jugend an befahren hatte, um die harte Arbeit eines Fischers zu erlernen – oder sich die Tricks eines erfolgreichen Schmugglers anzueignen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie sich viel dichter unter der französischen Küste befanden als ratsam. Zum einen lauerten dort die gefährlichen Untiefen der Kanalinseln, zum anderen konnte man auch in Friedenszeiten nicht ausschließen, dass ein französischer Freibeuter, vollgestopft mit beutehungrigen normannischen und bretonischen Seeleuten, etwas außerhalb der Legalität auf Beute aus war. Bei derartigen Wetterbedingungen konnte schon mal ein Schiff spurlos verschwinden, wer wollte später sagen, ob es auf den messerscharfen Klippen gestrandet oder gekapert worden war?
Turner sah zu seinem Kommandanten, Kapitän zur See Balthasar Pendyke, hinüber, der rastlos mit gesenktem Kopf und auf dem Rücken verschränkten Armen auf der Luvseite auf und ab marschierte. Turner seufzte. Pendyke war ein gebildeter, künstlerisch veranlagter Mensch, der auf jeder Soiree in den Londoner Salons reüssieren konnte, aber er war ganz und gar kein Seemann. Geld und Einfluss hatten ihm den Rang eines Vollkapitäns beschert und leider auch das Kommando auf dieser kleinen schneidigen Fregatte mit zweiunddreißig Zwölfpfündern. Was die Sache noch schlimmer machte: Er vertraute blind seinem Ersten Leutnant Will Cordinghouse, der bei jeder Gelegenheit den Anschein zu erwecken suchte, dass er die Seefahrt persönlich erfunden hatte, aber in der Praxis keinen Achtknoten stecken konnte. Auch dieses Großmaul verfügte über einen hochrangigen Gönner in der Admiralität und hatte eine reiche Familie im Hintergrund. So kam es, dass die fundierten Ratschläge des Segelmeisters und des Zweiten Leutnants häufig leichtfertig vom Ersten verworfen wurden, was sie oft in brenzlige Situationen gebracht hatte, in der die Versäumnisse dann unter Zeitdruck mit Alle-Mann-Manövern ausbügelt werden mussten. Auch jetzt stellte sich Cordinghouse dem Kommandanten in den Weg und trompete lauthals über das Deck: „Etwas unsichtig heute, Sir, ha, ha. Aber die gute, alte Ajax sucht sich hier in dieser Gegend ihren Kurs alleine, fast wie ein edles Ross, das immer seinen Weg in den Stall zurückfindet, ha, ha!“
„Sehr richtig, Mister Cordinghouse, absolut richtig. Man muss es nur gewähren lassen.“
Turner verdrehte die Augen, ballte eine Hand zur Faust und ging zu den beiden Gentlemen hinüber: „Mit Verlaub, Sir, meiner Meinung nach stehen wir zu weit unter der französischen Küste, wir sollten vorsichtshalber das Schiff gefechtsklar machen lassen!“
Cordinghouse musterte ihn hochnäsig von oben herab. „Mister Turner, wir stehen mitten im Kanal, und außerdem befinden wir uns im Frieden mit Frankreich.“ Er wandte sich an den Kapitän: „Habe ich nicht recht, Sir?“
„Ahem, Mister Cordinghouse, ja, natürlich, mein Bester.“
Cordinghouse grinste höhnisch. „Und, falls Sie es vergessen haben sollten, Mister Turner, dieses Gewässer hier nennt man den Englischen Kanal!“
„Wenn Sie es sagen, Sir“, schnarrte Turner mit unbewegtem Gesicht, machte auf dem Absatz kehrt und stellte sich wieder neben das Kompasshaus, um festzustellen, welcher Kurs anlag. Er wusste nur, dass sich sein Nackenhaar aus einem unerfindlichen Grund sträubte, und auf dieses warnende Anzeichen konnte er sich für gewöhnlich verlassen.
Wieder fiel Wind in die Segel ein, aber diesmal schien er länger durchzustehen, denn die Segel füllten sich prall, und das Schiff nahm Fahrt auf. Kleine Wellen begannen an der Bordwand zu plätschern.
„Ruder im Schiff!“, meldete der Rudergänger.
„Danke, Quartermaster!“ Turner nickte ihm zu. „Kurs NE!“[1]
„Kurs NE, Sir.“
„Bootsmann! Klar zum Trimmen der Segel auf raumen Wind!“
„Aye, Sir, raumer Wind!“
„Was soll das, Turner?“, fauchte Cordinghouse.
„Ich habe die Wache, Sir!“, erwiderte Turner kurz angebunden.
Cordinghouse begann sich mächtig aufzupumpen wie ein Ochsenfrosch, aber bevor er losbrüllen konnte, rief der Ausguck auf der Back: „Ein Schatten zwei Strich an Steuerbord!“
Alle an Deck erstarrten. Turner hatte sich als erster wieder gefasst und eilte auf der Steuerbordseite nach vorne bis an die Reling des Achterdecks. Tatsächlich! Vor ihnen, aber gut frei von ihrem Bug, schälte sich ein mächtiger dunkler Umriss mit drei Masten aus dem Grau. Auch auf diesem Schiff füllten sich jetzt die Segel, aber es würde aufgrund seiner Masse langsamer Fahrt aufnehmen als die kleine flinke Fregatte.
„Nun wenn schon“, überlegte Turner laut, „wir kommen gut klar voneinander.“ Es musste sich um ein Linienschiff handeln, vielleicht um einen 74er. Aber ein zweiter Blick belehrte ihn eines Besseren: Es war ein dicker, vermutlich welscher Ostindienfahrer, der sich auf der Heimreise befand. Schade, dachte Turner, in Kriegszeiten wäre das eine saftige Prise gewesen, auch wenn der sicher schwer bewaffnet ist und uns einen höllischen Kampf geliefert hätte. Inzwischen befanden sie sich fast auf gleicher Höhe mit dem Dickschiff und dann fiel ihnen buchstäblich der Himmel auf den Kopf. Die Bordwand des Frachters schien zu explodieren, lange orangefarbene Feuerlanzen zuckten aus den Geschützpforten, mächtige Qualmwolken folgten und nahmen ihnen die Sicht auf den Gegner. Über Turners Kopf krachte und splitterte es. Die Großmarsstenge schwankte, zerrte an ihren Wanten und Stagen, dann kam sie mit Donnergetöse von oben gepoltert. Der Feind verwendete nach französischer Sitte Ketten- und Stangengeschosse, um das Rigg zu demolieren. An Deck der Ajax schrien Männer vor Schmerz, aber auch vor hilfloser Wut auf. Die Spieren und Segel stürzten polternd und krachend an der Backbordseite auf das Deck, aber zum größten Teil laut aufklatschend in die glatte See. Die Bramstenge des Fockmasts und der Klüverbaum folgten kurz darauf.
Turner brüllte: „Alle Mann an Deck! Steuerbordbatterie besetzen! Pulver und Kugeln an Deck! Los, los, los! Die Kuhlgäste Äxte fassen und den Plunder, der über Bord hängt, kappen!“ Er blickte sich um. Die Rudergänger waren unverletzt, meldeten aber, dass sie kein Ruder mehr im Schiff hätten. Der Wind war wieder eingeschlafen, aber durch die Abschüsse hatte sich der Nebel etwas gelichtet, was ein häufig zu beobachtendes Phänomen bei Artilleriekämpfen im Nebel war. Turner hätte in diesem Augenblick gut auf die verbesserten Sichtverhältnisse verzichten können. Wieder donnerte drüben die Breitseite und schickte diesmal aus der sie weit überragenden Bordwand massive Kugeln herüber. Da waren mindestens 18-Pfünder am Werk, vielleicht auch ein paar 24er. Die meisten Kugeln jaulten über die verkrüppelte Fregatte ohne weiteren Schaden anzurichten hinweg, aber einige schlugen mit dumpfem Krachen in den Rumpf ein. Einige der Geschützführer da drüben mussten wohl Order gegeben haben, die Richtkeile bis zum Anschlag einzuschlagen.
Die Bootsmannspfeifen schrillten, laute Kommandos wurden in die Niedergänge hinunter gebrüllt.
„Mist, verdammter!“, fluchte Turner. Wo war bloß der Kommandant? Er blickte zur Steuerbordverschanzung hinüber. Kapitän Pendyke lag lang ausgestreckt auf dem Deck, jedenfalls das, was von ihm übrig war. Eine Kugel hatte ihm den Kopf vom Rumpf abgetrennt, eine große Blutlache bildete sich auf dem Deck. Von Leutnant Cordinghouse war nichts zu sehen. Verstörte Seeleute trugen verwundete Kameraden unter Deck ins Lazarett zum Schiffsarzt, während gleichzeitig die Matrosen der Freiwache und Marineinfanteristen aus den Niedergängen an Deck strömten. Pulveräffchen mit bleichen Gesichtern kamen mit Lederbeuteln voller Pulverkartuschen zu den Geschützen geeilt. Die Bedienungsmannschaften öffneten die Geschützpforten und holten die Stücke soweit es ging binnenbords, hantierten mit den Rammern und luden ihre Kanonen. Wieder hüllte sich die Bordwand des Gegners in braungraue Abschusswolken und wieder heulten die Kugeln über ihre Köpfe hinweg, durchschlugen das Gaffelsegel oder rammten ihre eiserne Fracht durch die Planken der Außenhaut. Ein Hexensabbat konnte nicht schauriger sein.
An Bord herrschte ein vollkommenes Tohuwabohu. Der Dritte Offizier, Mister Harwich, kam, sich hastig den Uniformrock zuknöpfend, auf das Achterdeck gestolpert, wo sich schon der Segelmeister Cool eingefunden hatte; auch das halbe Dutzend Midshipmen versammelte sich verstört und blickte mit weit aufgerissenen Augen erschrocken auf die gefallenen Kameraden. Es waren die ersten Toten, die sie so zugerichtet zu sehen bekamen.
„Mister Harwich, Sie übernehmen das Kommando der Steuerbordbatterie in der Kühl! Midshipman Forrest zu den Kanonen auf die Back, Midshipman Fishley zu denen auf dem Achterdeck! Feuer frei, sobald Ziel aufgefasst! Midshipman Finch bleibt bei mir. Die anderen machen Druck, dass wir den hinderlichen Ballast außenbords loswerden, verstanden?“
„Aye, aye, Sir!“, antworteten sie im Chor und eilten von dannen.
Der Leutnant der Seesoldaten Bradburry stand jetzt vor ihm und sah sich mit unbewegter Miene kurz suchend um, dann fragte er gelassen: „Ihre Befehle, Sir?“
„Nehmen Sie mit Ihren Scharfschützen das Achterdeck dieses Hundesohns unter Beschuss!“
„Aye, Sir!“
Die erste ungleichmäßige Salve verließ die Mündungen. Obwohl die Ajax durch die im Wasser treibenden Wrackteile behindert war, befand sich der Gegner – wohl durch eine Laune des Stromes – im Schussbereich ihrer Stücke. Trotz des allgemeinen Durcheinanders fanden ihre Kugeln ihr Ziel. Aber der Gegner antwortete und diesmal verwendete er Traubengeschosse. Auf dem Deck wurden Männer wie Stoffpuppen von den Füßen gerissen, abgetrennte Arme, Hände, Beine flogen umher, auf dem Deck bildeten sich klebrige Blutlachen. Getroffene pressten ihre Hände gegen ihre Bäuche, um die herausquellenden Gedärme wieder hineinzudrücken. Ein Mann lag mit zerquetschtem Unterkörper unter einer umgestürzten Lafette und brüllte sich vor Schmerzen die Lunge aus dem Hals. Er verstummte schnell. Andere Unglückliche versuchten sich armlange gezackte Holzsplitter aus den Körpern zu reißen. Ein Seesoldat hielt seinen Kameraden schützend im Arm, dem beide Beine und ein Arm abgerissen worden waren. Jetzt war nicht nur sein Waffenrock blutrot, sondern auch seine ehemals weiße Hose. Wieder eine Salve. Hinter ihm ein Aufschrei, der Quartermaster und die Matrosen am Ruder lagen in ihrem Blut auf dem Deck, auch das Rad war schwer beschädigt. Turner schluckte, er war halb betäubt und sah die Szene wie durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernglas, alles war weit weg, hatte mit ihm eigentlich gar nichts zu tun. Die braungelben Schwaden des Pulverqualms vermischten sich mit den wirbelnden hellgrauen Fetzen des Nebels. Der Kanonendonner schlug dumpf den Takt zu einem makabren Totentanz: Die Tänzer waren die Geschützbedienungen, die mit den Rammern und Auskratzern, Kartuschen und Kugeln sehr anmutig ein irrsinniges Ballett um ihre Kanonen aufführten, bis sie von einer schweren Kugel durch die Luft gewirbelt und zerfetzt wurden. „Ich muss diesem Wahnsinn ein Ende bereiten“, krächzte er hustend, „ich muss die Flagge streichen!“ Er wankte auf unsicheren Beinen nach achtern und zog seinen Säbel. Aber da war keine Flaggenleine mehr. Ihre Nationale war schon längst weggeschossen worden, aber der Gegner hatte das Feuer nicht eingestellt.
Urplötzlich war es vorbei. Wieder umhüllte sie der graue Mantel des Nebels, aber diesmal war er willkommen. Kein Kanonendonner mehr, keine dumpfen Einschläge im Rumpf, nur das erbärmliche Jammern und Stöhnen der Verwundeten war noch zu hören. Mit schweren Schritten schleppte sich Turner zurück zum Kompasshaus. Sein Blick fiel auf Midshipman Finch. Der Junge saß wie betäubt an den Besanmast gelehnt, starrte ihn mit glasigen Augen an und stammelte wirr unzusammenhängende Worte vor sich hin.
„Hoch mit Ihnen, Mister Finch! Setzen Sie achtern eine neue Kriegsflagge!“
Der Junge, er mochte vielleicht fünfzehn Jahre alt sein, sah ihn aus weit aufgerissen Augen an, schüttelte verwirrt den Kopf und versuchte sich dann mühsam aufzurichten.
„Nein, Sir, das … das kann ich nicht. Ich … ich kann nicht mehr gehen!“, wimmerte er.
Turner blickte auf die Beine des Midshipman, die einen völlig unversehrten Eindruck machten, beugte sich herunter und schlug ihm mit der flachen Hand rechts und links ins Gesicht.
„Komm auf die Füße, Junge! Das ist ein Befehl!“
Schwankend kam Finch auf die Beine und versuchte Haltung anzunehmen.
„Aye, Sir, Flagge setzen! Jawohl!“
An dieser Stelle seines Traums wachte Turner regelmäßig auf. Nie im Leben würde er die Augen des jungen Finch vergessen, die das maßlose Entsetzen über das Grauen widergespiegelt hatten, das so völlig unvermutet über sie hereingebrochen war.
William Turner faltete die Arme hinter seinem Kopf und starrte blicklos zur Decke des dunklen Zimmers hinauf. Draußen prasselte ein heftiger Regenguss herab und klatschte gegen die Fensterläden. Der Rest der unrühmlichen Geschichte kam ihm wieder in den Sinn, und er schluckte schwer.
Er und Harwich hatten ihre Wachen gemustert. Sie hatten zu diesem Zeitpunkt siebenundzwanzig Tote und über sechzig Verwundete notieren müssen, das war ein ungewöhnlich hoher Blutzoll. Wie viele gute Männer die Behandlung durch den Schiffsarzt nicht überleben oder später an Wundbrand sterben würden, wussten die Götter allein. Als keine Schüsse mehr fielen, war auch Mister Cordinghouse wieder auf Deck erschienen. Nachdem alle hinderlichen oder beschädigten Riggteile abgehackt, abgesägt oder abgeschnitten worden waren, hatten sie mit Hilfe einer Reserverah, ein paar anderen Spieren und Segeln zuerst ein Notrigg am Fockmast improvisiert. Mit dessen Hilfe und der ausgebesserten Besegelung am Besanmast konnten sie bei dem aufkommenden Westwind nach Nordosten in Richtung des Solent ablaufen. Später kam auch noch eine Notbesegelung am Großmast hinzu. Die Leckagen im Bereich der Wasserlinie wurden so gut es ging abgedichtet, aber da sie jetzt mit Backbordhalsen segelten, lagen viele der Lecks unter Wasser und so mussten sie alle Stunde die Bilgen lenzen. Doch schließlich erreichten sie unter vielen erstaunten und ungläubigen Blicken aus eigener Kraft die Reede von Spithead und humpelten auf ihren Ankerplatz. Als Cordinghouse sich während der Arbeiten mal wieder als Antreiber aufspielen wollte, obwohl die erschöpften Männer taten, was sie konnten – und mehr –, zischte Turner ihn wütend auf dem Achterdeck an, ohne dass es dafür Ohrenzeugen gegeben hätte.
„Mister Cordinghouse, wir hätten Ihr lautes Organ gerne an Deck gehört, als es hier ums Überleben ging! Jetzt ist es zum Brüllen ein wenig zu spät … Sir!“
Cordinghouse war kreidebleich geworden, hatte die Lippen aufeinander gepresst und war nach unten in die Kammer des Kommandanten verschwunden. Turner war sich bewusst, dass auch schon vorher zwischen ihnen kein herzliches Verhältnis bestanden hatte, aber jetzt – da war er sich ganz sicher – hatte er sich einen Feind fürs Leben geschaffen.
Als er jetzt in der Dunkelheit des Zimmers an das Kriegsgericht dachte, das auf dem Flaggschiff einberufen worden war, musste er gegen einen Anfall von Übelkeit ankämpfen. Vor den versammelten Kapitänen, die unter dem Vorsitz des Admirals tagten, hatte Turner ausgesagt, dass er Leutnant Cordinghouse während des Gefechts nicht gesehen hätte, dass dieser sich aber wahrscheinlich in der Kühl befunden hätte, um für die Beseitigung der Takelage zu sorgen. Die anderen Zeugen konnten das zwar nicht bestätigen, aber auch nicht ausschließen, schließlich war alles drunter und drüber gegangen. Allerdings hatte Leutnant Bradburry von den Seesoldaten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er den Ersten Leutnant nach Beendigung des Beschusses aus der Kammer des Kommandanten hatte kommen sehen. Da das Schiff nicht gefechtsklar gemacht worden war, waren auch die Schotte nicht niedergelegt worden, die das Logis des Kapitäns vom normalen Schiffsvolk trennten. Auch die dort aufgestellten Geschütze waren nicht zum Einsatz gekommen. Die Offiziere des Tribunals hatten sich daraufhin mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen unter gerunzelten Brauen angeblickt. Leutnant Cordinghouse hatte vorgebracht, dass er während der ganzen Zeit ständig an Deck und im Schiff unterwegs gewesen wäre, um das Ausmaß der Schäden festzustellen. Schließlich habe er nicht gewusst, dass der Kapitän gefallen war. Keiner der Befragten konnte oder wollte seiner Aussage widersprechen, aber alle waren einhellig der Meinung gewesen, dass der Zweite Leutnant, Mister Turner, während des gesamten Zwischenfalls die Führung des Schiffes übernommen und mit seinen klaren Befehlen noch Schlimmeres verhindert hatte. Während der Verhandlung konnte nicht festgestellt werden, um was für ein Schiff unter welcher Flagge es sich gehandelt hatte, mit dem sie aneinandergeraten waren, aber es wurde vermutet, dass es ein französischer Ostindienfahrer gewesen war, der nach dem Motto gehandelt hatte: Erst feuern, dann fragen! So kurz vor seinem Heimathafen hatte er kein Risiko mehr eingehen wollen.
Am Ende wurden alle Offiziere von einem schuldhaften Verhalten freigesprochen, da das andere Schiff unprovoziert in Friedenszeiten das Feuer eröffnet hatte. Es war der Ajax unter den gegebenen Umständen an Feuerkraft weit überlegen gewesen. Am Ausgang des ungleichen Kampfes hätte es wohl auch nicht viel geändert, wenn die Fregatte klar zum Gefecht gewesen wäre, wie es Leutnant Turner empfohlen hatte, aber der Blutzoll wäre vermutlich geringer gewesen. Cordinghouse allerdings wurde mit ein paar eisigen, missbilligenden Blicken bedacht, die ihm deutlich machten, dass sich die hohen Herren seinen Namen gut merken würden, und zwar keineswegs, um ihn zur nächsten Dinnerparty einzuladen. Sein Platz wäre unter allen Umständen auf dem Achterdeck gewesen, in Kriegszeiten wäre er wahrscheinlich wegen Feigheit vor dem Feind verurteilt worden. Das war ihm durchaus bewusst, daher war er aschfahl geworden und hatte seine blutleeren Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst.
Turner wurde für seine Umsicht und seinen Einsatz belobigt.
„Aber dafür kann ich mir auch nichts kaufen“, murmelte William bitter, dem der hasserfüllte Blick von Cordinghouse nach der Verhandlung noch gut in Erinnerung war. Nach wie vor hatte er keine Beziehungen, keinen Gönner in der Admiralität, kein Vermögen und keinen Adelstitel. Wie es aussah, würde er seine Karriere in der Navy irgendwann als kauziger und trunksüchtiger alter Leutnant beenden, der wegen seiner seemännischen Erfahrung zwar geschätzt wurde, hinter dessen Rücken man aber mitleidig lächelte, weil er es nicht weiter gebracht hatte. Für einen ehrgeizigen und fähigen jungen Mann waren das keine sehr ermutigenden Aussichten. Er schluckte schwer und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.
„Oh je, mein Kopf! Verdammt, der letzte Eiergrog gestern Abend muss vergiftet gewesen sein! Oder war es schon heute früh gewesen? Scheißegal, jedenfalls platzt mir gleich die Birne …“, krächzte William und hielt sich den schmerzenden Kopf. Die Zunge lag wie ein aufgequollener pelziger Fremdkörper in seinem trockenen Mund und der Geschmack, den er unangenehm wahrnahm, erinnerte ihn an … nein, er wollte ihn lieber nicht präziser beschreiben, weil er nicht sicher war, ob er sich dann nicht auf der Stelle übergeben würde. Durst! Trinken! Ja, das war es. Er schlug das Deckbett zurück, unter dem hell der nackte füllige Körper einer Frau in der Dunkelheit schimmerte. „Verdammt, wie kommt die denn hierher?“
Nur langsam kehrte die Erinnerung an die Ereignisse der vergangenen Nacht zurück. Die Frau knurrte ärgerlich und zog das wärmende Deckbett wieder über ihren Körper. Bildfetzen zogen vor seinem geistigen Auge vorbei, von einem Tisch mit grölenden Saufkumpanen, grell geschminkten Mädchen mit aufreizenden Blicken und tief ausgeschnittenen Kleidern.