Inheritance - Die Erben der Grigori 1 - Pippa Winter - E-Book

Inheritance - Die Erben der Grigori 1 E-Book

Pippa Winter

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Beschreibung

»Wie du mir, so ich dir!« – Rache ist die Grundnahrung des Bösen auf der Welt. Was aber, wenn der Teufel höchstpersönlich nach Vergeltung strebt? Mit diesem Problem muss sich Erzengel Michael herumschlagen, denn seit er Luzifer aus dem Himmel verbannt und in die Hölle befördert hat, nutzt dieser jede Gelegenheit zum teuflischen Gegenschlag. Luzifers beliebteste Zielscheibe sind die Nephilim, Michaels Schützlinge, für deren Vorfahren Michael, einst gefeierter Held des Himmels, vom Himmel selbst verstoßen wurde. Die vier Jugendlichen Hannah, Bea, Tina und Tom erfahren kurz vor ihrem Schulabschluss, dass sie Träger des Nephilim-Blutes sind und übernatürliche Fähigkeiten in sich tragen. Viel Zeit sich mit der neuen Situation anzufreunden, bleibt ihnen jedoch nicht. Die Hölle ist ihnen bereits auf den Fersen und Michael beschließt, die Schüler nach Golgatha zu bringen, einer verborgenen Trainingseinrichtung für junge Nephilim. Dort offenbart sich den Neulingen eine grausam-faszinierende Welt voller himmlischer und höllischer Geheimnisse. Doch von Zusammenhalt der halbstarken Gruppe fehlt jede Spur. Stattdessen führen Tom und Bea ihre Fehde aus Schulzeiten auch in Golgatha fort. Die lebenslustige Hannah hingegen ist schnell gelangweilt vom spröden Golgatha und zwischen ihr und dem mürrischen Michael fliegen rasch die Fetzen. Nur Hannahs Schwester Tina scheint sich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig wohl zu fühlen.

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Table of Contents

Title Page

Akt 1: Initiation

Bea

Michael

Hannah

Bea

Hannah

Michael

Hannah

Michael

Bea

Akt 2: Golgatha

Michael

Hannah

Bea

Michael

Bea

Hannah

Bea

Michael

Tom

Hannah

Tina

Bea

Michael

Hannah

Michael

Bea

Akt 3: Untergang

Hannah

Tina

Hannah

Bea

Michael

Bea

Hannah

Bea

Danksagung

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Pippa Winter

 

Inheritance

Die Erben der Grigori 1

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Akt 1

Initiation

Bea

 

 

 

Bea hasste den Sportunterricht. Nass geschwitzt stand sie auf dem Volleyballfeld und wartete lustlos auf den Aufschlag der gegnerischen Mannschaft. Es war Tom, der sich bereitgestellt hatte. Blöd grinsend warf dieser Idiot den Ball in die Luft und schmetterte ihn so gezielt, dass er Bea am Kopf traf. Sie geriet ins Taumeln und plumpste unsanft zu Boden. Alles lachte, am lautesten aber Tom. Wütend und verschämt zugleich, rieb sie sich den Schädel. Jetzt schoss ihr auch noch die Schamesröte ins Gesicht. Warum musste sie nur immer so verdammt rot werden?! Tom hatte ihr wieder einmal eins ausgewischt. Seit Jahren schon hatte er sie auf dem Kieker und ließ keine Gelegenheit aus, Bea vor den anderen Schülern bloßzustellen. Ohnehin hatte Bea die Außenseiterposition für sich dauerreserviert. Wegen überdurchschnittlicher Leistungen - von einer schwächelnden Sportnote einmal abgesehen - hatte sie eine Klasse übersprungen und war somit das Klassenbaby. Zu jung, zu schlau; Bea galt als Spaßbremse. Toms boshafte Hänseleien, die leider zur Tagesordnung gehörten, drängten sie nur noch weiter ins Abseits. Für Bea stand schon lange fest: Tom war ein wahres Charakter-Schwein.

Leider stand sein Aussehen im Kontrast zu seinem Charakter. Tom war ein waschechter Hingucker, groß gewachsen und von Natur aus muskulös. Doch erst Toms pechschwarze Haare, der dunkle, intensive Blick und die feinen, aber maskulinen Gesichtszüge rundeten das Erscheinungsbild perfekt ab. Die Jungs eiferten ihm nach, die Mädchen waren ihm verfallen. Wann immer Tom an einer von ihnen vorbeiging, war die Reaktion die Gleiche. Sofort spielte man sich blöde kichernd an den Haaren herum und steckte tuschelnd den Kopf mit der besten Freundin zusammen.

Das alles ließ Tom kalt. Er scherte sich um niemanden, hielt jeden auf Distanz, ganz so, wie es nur ein selbsterklärter Außenseiter tat. Er war immer cool und kontrolliert, solange es nicht um Bea ging. Dann mutierte er regelmäßig zu einem echten Ekelpaket.

»Bea, verdammt noch mal, kannst du dich nicht einmal im Sportunterricht konzentrieren?!«

Die grobe Stimme des Sportlehrers, Herrn Maler, riss Bea aus ihren Gedanken. Mit genervtem Kopfnicken befahl er ihr ungeduldig, das Feld zu verlassen. Herr Maler war für seine schlechte Laune und den rauen Umgangston bereits bekannt, obwohl er erst kürzlich an die Schule gewechselt war. Es war Bea schleierhaft, weshalb die Direktion einem solchen Lehrer überhaupt einen Job gab.

Resigniert verließ Bea das Volleyballfeld, ging in die Umkleidekabine und trank einen Schluck Wasser, weniger aus Durst und mehr, um den gehässigen Blicken der Mitschüler auszuweichen. Sie setzte sich auf die Bank und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war so wütend auf Tom, dieser arrogante Pinsel. Warum ließ er sie nicht einfach in Ruhe? Zum Glück waren es nur 150 Tage bis zum Schulabschluss, dann würde sie diesen blöden Mistkerl für immer los sein.

Doch es hatte eine Zeit gegeben, in der Tom und Bea beste Freunde waren. Tom war der Nachbarsjunge und früher waren die beiden unzertrennlich gewesen. Jeden Winter waren sie gemeinsam Schlitten gerodelt und im Sommer, wenn sie nicht am See spielten, waren sie in die Kirschbäume geklettert und hatten Kirschen gegessen, bis die Bäuche schmerzten.

Doch eines Tages im Herbst, als Bea 12 wurde, eine Klasse übersprungen hatte und jetzt in Toms Klasse wechselte, war nichts mehr, wie es war. Er hatte Bea an diesem Morgen nicht von zuhause abgeholt und im Klassenzimmer wich er schnell ihrem Blick aus. Stattdessen warf Tom nur seine Schultasche auf den Platz neben sich. Nervös stellte sich Bea den Mitschülern vor. Da raunte Tom ungehalten aus der hinteren Reihe: »Seit wann ist das Klassenzimmer eine Kindertagesstätte?« Die Schüler lachten und Bea, die vollkommen verwirrt und überfordert von Toms ausgewechselten Verhalten war, schossen die Tränen in die Augen. So sehr sie diese auch stoppen wollte, sie konnte nicht, war sie doch schon immer ein Wutheuler gewesen. Gekrönt hatte Tom seinen verbalen Schlag aber, als er rief: »Ooooh, jetzt habe ich das Baby eingeschüchtert. Es weint. Kann ihm jemand einen Schnuller bringen, dem Schnullerkind?«

Die Schüler grölten lauter. Auch wenn der Lehrer die Klassenmeute versuchte zu stoppen, so konnte er nicht verhindern, dass »Schnullerkind« Beas neuer Name wurde. Und Tom nutzte seither jede Gelegenheit, Beas Leben zu erschweren.

Das Klackern der schweren Eisentür riss Bea aus ihren trüben Gedanken. Der Sportunterricht war vorbei. Hannah, eine Mitschülerin, steckte den Kopf zur Tür herein. Bea stöhnte leise. »Möchtegernmodel«, schoss es ihr durch den Kopf. Verstohlen musterte Bea Hannah, wie sie mit federnden Schritten durch die Umkleidekabine schwebte. Ihr braunes, langes, glänzendes Haar wippte bei jedem Schritt anmutig auf und ab. Bea verzog den Mund. Im Gegensatz zu Hannahs Haarpracht wirkten ihre aschblonden Strähnen ziemlich langweilig. So wünschte sie sich sehnlichst, zumindest ein kleines Anzeichen von Spliss in Hannahs Mähne zu entdecken. Genauso perfekt wie das Haar war Hannahs Sportoutfit: pinke Sportschuhe, eine knappe Sporthose und ein etwas zu enganliegendes Oberteil. Dass sie so mit ihrem Outfit kokettierte, löste in Bea innerlich einen gewaltigen Brechreiz aus. Das einzig Positive an Hannah war, dass nicht einmal Tom in ihrer Liga spielte und sie gegen seinen Charme immun schien.

Erwartungsvoll zählte Bea leise bis drei, da öffnete sich die Tür ein weiteres Mal. Hannahs Zwilling Tina kam herein, den Bea nur den »Schatten« nannte. Sie erschienen zumeist im Doppelpack. Doch der eigentliche Grund für den Spitznamen war, dass Tina neben Hannah unscheinbar war, denn zumeist richteten sich alle Augen nur auf ihre Schwester. Als Zwilling hatte Tina zwar ein ähnlich hübsches Gesicht, aber ihr fehlten die Stilsicherheit und vor allem das übersteigerte Selbstbewusstsein Hannahs. Allein schon deshalb war Tina die sympathischere Schwester. Bea konnte aber gut und gerne auf beide verzichten.

Völlig unerwartet stand Tina vor Bea.

»Du hast die letzten Minuten des Sportunterrichts verpasst. Herr Maler möchte Projektarbeit machen und hat uns dazu in Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe soll beim nächsten Mal eine Sportart vorstellen und die Regeln beschreiben. Du bist in unserer Gruppe. Nächste Woche haben wir vor dem Referat eine Besprechung mit Herrn Maler.«

Bea stöhnte innerlich. Jetzt nahm dieser mürrische Lehrer auch noch ihre Freizeit in Beschlag!

»Wer ist denn noch in unserer Gruppe?«

»Du, ich, Hannah und Tom.«

Michael

 

 

 

In den Augen Luzifers sah Michael den Hass auflodern. Hass gegen ihn, gegen seine Schwestern und Brüder, gegen Gott und seine Schöpfung.

Wie viele Jahre hatte Luzifer das himmlische Reich bereits betrogen? Wann hatte er angefangen, hinterlistig Engel auf seine persönliche Schlacht, sein Kräftemessen mit der himmlischen Front vorzubereiten? Michael wusste die Antwort nicht und in diesem Moment schien es ihm egal. Nie zuvor war ein Engel abtrünnig geworden und hatte das göttliche Handeln in Frage gestellt. Doch Luzifers größte Schwächen waren schon immer Neid und Missgunst gewesen. Statt sich weiterhin zu fügen, strebte er selbst die himmlische Führung an und dank seiner ultimativen Stärke, der Überzeugungskunst, hatte er mühelos Anhänger für sein Vorhaben gewinnen können. Und während er heimlich eine Armee aus Engeln geschaffen hatte, hatten weder Michael, seine Geschwister, noch Gott selbst von dem Komplott geahnt.

Jetzt erstreckte sich vor Michael das Resultat des perversen Massakers. Tausende Engel lagen leblos zu seinen Füßen, zerfledderte Hüllen, deren göttliches Licht für immer erloschen war. Der Anschlag hatte den Himmel über ein Drittel seiner Gefolgsleute gekostet. Doch auch die dunkle Armee hatte deutlich eingebüßt, wenngleich sich das Schlachtfeld nicht um die Zugehörigkeit der Soldaten scherte.

Michael hatte die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, und zum ersten Mal in seiner Existenz, rann ihm eine Träne über seine Wange. Er weinte um den Verrat Luzifers, um seine Geschwister und die Gewissheit, dass das himmlische Reich niemals mehr sein würde, wie es vor dem Feldzug war. Zerrissen von nie da gewesenen Schmerz und rasend vor Wut, hatte er Luzifer fest an den Armen gepackt, so fest, dass Michaels Muskeln bebten. Doch Luzifer war stark und Michael spürte, dass er ihn nicht mehr lange bändigen würde. Beide atmeten schwer und schwitzten vor Anstrengung und dem Bestreben, den jeweils anderen zu Boden zu drängen. Doch endlich hatte Michael die Oberhand. Er schlug sein Schwert auf den Boden, um den Höllenschlund zu öffnen, der sich ihm bald zeigte. Geschockt und fasziniert zugleich, wagte er einen Blick in die Schlucht. Der widerlich stinkende Schwefelgeruch drehte ihm den Magen um; die aufsteigende Hitze schien ihm das Gesicht zu verbrennen. Niemals zuvor hatte sich ihm oder einem der anderen Engel die Hölle gezeigt. Der Anblick war entsetzlicher als alles, was man sich darüber erzählt hatte. Doch es war der einzige Ort, der Luzifer in Schach halten und vom Himmel fernhalten würde. Auch Luzifers geweitete Augen verrieten den Schreck beim Anblick des lodernden Höllenschlunds.

Er wandte sein Gesicht Michael zu. Die Hölle raunte, polterte und zischte.

»Dafür, mein Bruder, wirst du bezahlen! Ich verspreche dir, ich werde dich jagen und ich werde das Eine finden, das dir das Kostbarste ist; das eine, was dir mehr bedeuten wird, als der Himmel hier. Und wenn ich es gefunden habe, dann werde ich es dir wegnehmen und es zerstören. So sollst du leiden bis in alle Ewigkeit.«

Dann riss er sich aus Michaels Armen und sprang mit teuflischem Grinsen in den Schlund hinein. Michael starrte ihm nach und wie in Trance sah er zu, wie Luzifer verschlungen wurde. Schnell schloss sich der Boden wieder. Doch Michael verspürte keine Erleichterung, denn der Schlund würde Luzifer nur temporär aufhalten. Der Teufel würde zurückkommen. Das Böse war erwacht und würde nicht mehr zu vernichten sein.

Der widerliche Brechreiz wanderte Michaels Kehle hoch, der ihn immer dann heimsuchte, wenn das Bild von Luzifer in den Höllenflammen in seinen Gedanken zum Leben erwachte. Er schüttelte den Kopf, als könne er damit die Erinnerung vertreiben. Doch es war zwecklos. Immer und immer wieder hallte Luzifers Versprechen in seinem Kopf so präsent und real, als sei es eben erst ausgesprochen worden. Immer war die Stimme da, wenngleich nicht so laut wie heute. Kurz vor einer Initiation war es am Schlimmsten, denn Michael hatte das, was ihm mehr bedeutete als der Himmel, gefunden und versuchte es seither, zu verteidigen und zu beschützen.

»NEPHILIM, Erben der Grigori«, hörte er sich selbst flüstern.

Er drehte den Schlüssel im Schloss zu seinem Apartment um, das er vorübergehend angemietet hatte. Er sah sich um und stöhnte. Die Wohnung war ein einziges Chaos. Ordnung halten war nie Michaels Stärke gewesen. Er warf seine Lederjacke in die Ecke und schwang sich aufs Sofa, gönnte sich eine Pause, bevor er mit den Vorbereitungen anfangen würde. Das Aufräumen würde er sein lassen, das lohnte sich für eine Initiation nicht. Außerdem dröhnte es in seinem Kopf und die Kehle kratzte, was wohl dem gestrigen Whiskey geschuldet war. Der Whiskey war Tradition am Abend vor einer Initiation, denn gerade in diesem Moment jagte ihn die Vergangenheit. Der Alkohol blendete zumindest temporär den geistigen Film des Gewesenen aus. Wie immer war es leider das letzte Glas, das endlich seine Erinnerungen zu verklären half, auch das Eine zu viel gewesen. Er warf den Kopf zurück ins Kissen und schloss seine Augen, in der Hoffnung, der pochende Schmerz in seinen Schläfen würde nachlassen. Da wurde er erneut in den Sog seiner Erinnerungen gezogen.

Es war der Tag, an dem der Himmel den Befehl erteilt hatte, die Grigori zu vernichten. Jener Moment hatte das Dasein Michaels und der anderen Erzengel schlagartig und für immer verändert. Er und seine Brüder waren geschockt gewesen. Wie konnte der Himmel, der für sich selbst »das Gute« deklariert, ja, sich selbst als solches belabelt hatte, überhaupt in Erwägung ziehen, seine eigene Schöpfung zu eliminieren?! Die Wesen, die zum Schutz des Himmels und der Erde entsandt worden waren und unerbittlich an der Seite der Menschen auf der Erde gekämpft hatten, sollte Michael hinrichten?! Weil sie nicht makellos waren und stattdessen die Flamme des eigenen Willens in sich trugen? Weil sie sich zu den Menschen hingezogen fühlten?

Es war das erste Mal, dass Michael eine Entscheidung des Himmels in Frage stellte. Doch die Grigori und die Erzengel standen sich nah, zu viele Schlachten hatten sie geschlagen, zu stark war das Band zwischen den Grigori und ihren Feldherrn, den Erzengeln. Nein, diesem einen Willen hatte sich Michael nicht beugen können. So war auch in ihm der freie Wille erwacht, hatte sich unwiderruflich in seine Seele gebrannt.

Und so geschah es, dass Michael, einst gefeierter Engel obersten Ranges, erster Gegenspieler Luzifers, aus dem Himmel verbannt wurde. Die himmlischen Pforten schlossen sich für Michael. Seine Strafe lautete »Fleischwerdung«. So sperrte man ihn ein einen menschlichen Körper ein. Die Fleischwerdung war die erste und zugleich schmerzlichste körperliche Wahrnehmung, die Michael ertragen musste. Sie ließ ihn jeden Teil, jede Zelle seines neuen Körpers spüren. Seine Haut, die Sehnen, Venen und Arterien, selbst seine Eingeweide schienen zu zerbersten. Der Schmerz war so unerträglich, dass er sein Bewusstsein verloren hatte. Fortan war Michael an die Erde gebunden. Lediglich seine Fähigkeiten und die Unsterblichkeit ließen sie ihm.

Michael schauderte es immer, wenn er daran zurückdachte. Zwar gab es keine Sekunde, in der Michael seine Entscheidung gegen den Himmel und für die Grigori anzweifelte, doch der Himmel war seine Heimat gewesen. Das Wissen darum, niemals zurückkehren zu dürfen, diese hoffnungslose Sehnsucht nach seinem Zuhause, zermürbten ihn bis heute. Am schlimmsten aber war, dass seine Auflehnung völlig umsonst gewesen war, denn am Ende waren alle Grigori vernichtet worden.

Michael schüttelte wieder den Kopf, versuchte, seine Erinnerungen wie lästige Fliegen loszuwerden. Er sah auf die Uhr, schwang sich vom Sofa und nahm einen Energydrink aus dem Kühlschrank, den er in einem Zug hinunterkippte. Während er in die klebrige Lampe des Kühlschranks starrte, schweiften seine Gedanken erneut ab.

Ganz umsonst war der Aufstand nicht gewesen, denn er und die anderen Erzengel hatten zumindest die menschlichen Gefährten gerettet und damit auch die Nachkommen der Grigori, die sogenannten Nephilim. Niemand hatte geahnt, dass eine Kreuzung zwischen Mensch und Grigori überhaupt möglich war, doch seit der Geburt des ersten Nephilim war es Michaels selbstauferlegte und oberste Mission, die Nachkommen seiner einstigen Gefolgsleute zu schützen. Entgegen Michaels Befürchtungen hatte der Himmel keine Jagd auf die Nephilim gemacht. Stattdessen wurde ihre Existenz auf der Erde toleriert. Aber die eigentliche Gefahr kam von unten; aus der Hölle. Die explosive Mischung der Nephilim aus engelschen Fähigkeiten, Menschlichkeit und angeborenen freien Willen weckten schnell Luzifers Interesse. Und nicht zuletzt, weil das Überleben der Nephilim für Michael von höchster Wichtigkeit war, ließ der Teufel keine Gelegenheit aus, sie zu jagen.

Wieder sah er auf die Uhr und begann angespannt mit den Vorbereitungen. Er nahm den Apfel aus der Tasche und schnitt ihn so klein, dass er in den Mixer passte. Noch einmal blickte er sich um. Die Wohnung war wirklich ziemlich dreckig. Zumindest sollte er die Gläser noch einmal spülen, aus denen er den Apfelsaft servieren würde. Gleich würde es an der Türe klingeln. Dann würde die Initiation der nächsten Nephilim-Generation beginnen. Er erblickte die Sporttasche, die achtlos in der Ecke lag und er atmete erleichtert aus. Zumindest musste er nach dem heutigen Tag nicht mehr in die Rolle des Sportlehrers Herrn Maler schlüpfen müssen.

Hannah

 

 

 

Es war der erste sonnige Frühlingstag des Jahres, doch Hannahs Laune hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wie schön wäre es gewesen, in einem hübschen Kleid in der Fußgängerzone zu bummeln und sich mit ihrer Schwester Tina ein Eis zu gönnen? Stattdessen musste sie diesen herrlichen Tag an den chronisch schlecht gelaunten Sportlehrer und sein blödes Referat vergeuden. Hannah seufzte, trottete stumm neben Tina, Tom und Bea her und hing ihren Gedanken nach.

Nein, Herr Maler hatte bei ihr verspielt. Ein arroganter Kerl wie er war es nicht wert, auch nur einen Gedanken an ihn zu verschwenden. Umso mehr ärgerte es Hannah, dass sie ihre erste Begegnung mit Herrn Maler einfach nicht aus ihrem Gedächtnis löschen konnte. Doch wie konnte man auch den absolut peinlichsten Moment seines Lebens vergessen?

Zum ersten Mal hatte Hannah ihn im letzten Jahr auf dem Schulparkplatz gesehen. Sie hatte gerade ihre Vespa geparkt und sich den Helm ausgezogen, da war er ihr sofort aufgefallen. Hannahs Herz hatte einen Sprung gemacht.

Mit dunkler Sonnenbrille und einer lässig über die Schulter hängenden Sporttasche, schlenderte der Fremde Richtung Schulhof. Seine schwarz gelockten Haare glänzten beinah unnatürlich im Sonnenlicht. Der muskulöse Oberkörper, der sich unter dem T-Shirt abzeichnete, verriet Hannah, dass er wohl regelmäßig das Fitnessstudio besuchte.

Ein Seeeeeeegen von Mutter Natur, schoss es Hannah durch den Kopf, gefolgt von einer wilden Abfolge der Adjektive atemberaubend, übernatürlich und sensationell.

Sie zwickte Tina in die Seite und deutete mit übertriebenem Kopfnicken und breitem Grinsen in seine Richtung. Tina rollte gespielt genervt mit den Augen, musste aber selbst zweimal hinschauen.

Hannah schätzte ihn auf höchstens Mitte zwanzig. Schnell warf sie ihre Haare gekonnt zurück und richtete noch einmal ihr knappes Sommerkleid, das immer so ein hübsches Dekolletee zauberte. Sie wusste, dass sie gut aussah, und war bereit zum Flirtangriff.

Als er auf Hannahs Höhe angekommen war, gab sie ihr unwiderstehlichstes Lächeln zum Besten. Tatsächlich war er vor ihr stehen geblieben und betrachtete sie intensiv von oben bis unten. Für einen Moment zögerte er und fast schien es, als fehlten ihm die Worte. Doch dann versteinerte sich sein Gesicht.

»Junge Frau, das hier ist ein Schulgelände. Ich finde ihre Kleidung außerordentlich unangebracht. Sie sollten sich etwas mehr anziehen und weniger Haut zeigen. Das ist ja peinlich!«

Dann ließ er die verdutzte Hannah stehen. Fast wäre sie im Erdboden versunken, so sehr schämte sie sich. Sie war sicher, dass ihr Herz bald in die Magengrube rutschen würde. Kleinlaut schaute sie sich um, ob außer Tina jemand ihre Blamage mitbekommen hatte. Hoffentlich würde sie diesem Idioten niemals wieder unter die Augen treten.

Doch das Schicksal war ein Spielverderber und Hannahs Entsetzen groß, als sich der Fremde als Herr Maler, der neue Sportlehrer entpuppte, der auch auf den zweiten Eindruck einfach mürrisch, schlecht gelaunt und unfreundlich war.

Am schlimmsten aber war für Hannah diese Welle von Peinlichkeit und Scham, die sie jedes Mal ergriff, wenn sie auch nur an Herrn Maler dachte. Dass sie heute den Nachmittag mit ihm verbringen musste, stank einfach zum Himmel.

Die Begeisterung für ihre Mitstreiter war bei Hannah ebenfalls begrenzt. Während Hannah an einem Gespräch mit diesem Angeber Tom genauso wenig interessiert war, wie an theoretischem Fahrschulunterricht, hatte sie mit seinem Opfer Bea bestenfalls Mitleid. Kein Wunder also, dass der gemeinsame Fußmarsch zu Herrn Malers Wohnung schweigend verlief. Zum Glück war ihre Zwillingsschwester mitgekommen.

In Herrn Malers Wohnung erwartete Hannah der nächste Schlag. Das kleine Appartement war ein absolutes Chaos. Überall lagen Kleidungsstücke herum und dreckiges Geschirr stapelte sich. Eines stand für Hannah fest: Herr Maler war definitiv Single. Eine vernünftige Frau würde so eine Wohnung genauso wenig aushalten, wie ihren ätzenden Bewohner. Tina blickte sie an und Hannah hob angewidert eine Augenbraue. Einen bissigen Kommentar verkniff sie sich aber. Eine schlechte Note wollte sie nicht riskieren.

Herr Maler schien die stille Kommunikation zwischen Hannah und Tina mitbekommen zu haben, denn er kratzte sich verlegen hinter dem Ohr, bevor er ungeschickt einen Berg Kleidungsstücke vom Sofa schob und die vier anwies, dort Platz zu nehmen.

Misstrauisch beäugte Hannah Herrn Maler. Als er ihr kurz direkt in die Augen sah und ihren Blick einfing, erschauderte sie. Nie zuvor waren ihr seine durchdringenden, glasklaren Augen aufgefallen, die in ihrer Intensität so unmenschlich wirkten, als sähen sie direkt durch Hannah hindurch, nur um sie zugleich in ihrer Ganzheit zu erfassen. Plötzlich verlegen, wandte sich Hannah wieder ab.

»Ihr habt bestimmt Durst.«

Herr Maler servierte unbeholfen ein Tablett mir Gläsern und einer Karaffe mit gelber, klarer Flüssigkeit.

»Apfelsaft«, kommentierte er und fügte fast stolz ein »selbstgemacht« hinzu, bevor er sich räusperte.

Das Schweigen der Gruppe wurde unerträglich und Hannah griff schnell nach einem der Gläser. Mit ihrem Blick forderte sie auch Tina auf, sich ein Glas zu nehmen. Die anderen taten es ihr gleich. Der Saft rann Hannahs Kehle hinunter und schmeckte unnatürlich bitter. Skeptisch betrachtete sei noch einmal das nun leere Glas in ihren Händen. Schlagartig machte sich ein beklemmendes Gefühl in Hannah breit. Ihr Hals brannte. Sie nahm noch wahr, wie Herr Maler gebannt auf alle starrte und dann murmelte:

»Ich bin das Licht, du die Dunkelheit.

Ich bin das Meer und du die Erde. Ich bin Tag und du die Nacht.

Ich bin Blut, du bist Leib. Ich bin Eitel und Ewigkeit.

Ich und du sind Eins, jetzt und gleich. Durch Erkennen erlangen wir Unendlichkeit.«

Hannah hustete. Ihr Puls raste und der Kopf pochte. Eine klebrige Flüssigkeit lief aus ihrer Nase. Sie fasste sie an und sah erschrocken, dass es Blut war. Sie schaute auf. Auch Toms Augen bluteten. Dann sank sie bewusstlos zusammen.

Bea

 

 

 

 

 

Bea wachte auf und blinzelte. Schnell kniff sie die Augen jedoch wieder zusammen, denn grelles Licht blendete sie. Ihr Mund war trocken und die Zunge pelzig. Vor allem aber schmerzte ihr Körper. Mit der Hand die Augen abschirmend, richtete sie sich auf und stellte verwundert fest, dass es das Sonnenlicht war, das in ihren Augen brannte. Verwirrt sah sie sich um. Zu ihrem Erstaunen - oder war es pures Entsetzen? - erstreckte sich vor ihr eine endlose, dürre Wüstenlandschaft. Wie zum Teufel war sie bloß hierhergekommen?

Der Apfelsaft!, schoss es ihr durch den Kopf. Schnell griff sie sich an die Nase, doch zu ihrer Erleichterung war kein Blut erkennbar.

»Scheiße... ich glaube, mein Schädel explodiert gleich!« Es war Hannah, die zusammen mit dem Ekel Tom etwa 50 Meter weiter im Sand hockte und sich theatralisch an den Kopf fasste.

»Wo ist dieser Mistkerl? Hat der uns Drogen untergemischt?! Wenn ich ihn finde, verpasse ich ihm eine, dass er nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist!«, fluchte Tom, während er und Hannah sich zu Bea gesellten. Bea stöhnte genervt. Als ob dieser Angeber auch nur annähernd in der Lage sein würde, den perfekt durchtrainierten Herrn Maler umzuboxen!

Doch hatte Tom mit seiner Vermutung recht? Beas Gedanken fuhren Karussell. Hatte Herr Maler ihnen Betäubungsmittel untergemischt? Aber wie hätte er es mit vier bewusstlosen Jugendlichen in die Wüste geschafft? Und warum würde ein Lehrer seine Schüler verschleppen? Vielleicht aber hatte Bea einen Schlaganfall erlitten und lag im Koma?

»Wo ist Tina?« Hannahs Stimme klang schrill und panisch. Bea sah sich um, aber von Tina fehlte jede Spur.

»Tina, Tina!« Aus voller Kehle schrie Hannah den Namen ihrer Schwester. Doch die Wüste verschluckte ihren Ruf.

»Hannah, halt mal deine Klappe, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du hier so hysterisch rumschreist!« Bea stieß Tom unsanft in die Seite. Aber als Hannah endlich das Schreien einstellte, war es eine Wohltat für ihre Ohren.

»Wir sollten von hier verschwinden und den nächsten Ort aufsuchen.«

Bea stimmte Ekel-Tom gedanklich zwar zu, doch ihr Stolz war zu groß, als dass sie es laut ausgesprochen hätte.

»Ohne meine Schwester gehe ich nirgendwo hin!«

Augenrollend entschied sich Bea nun doch, ihren Stolz zu ignorieren.

»Tom hat Recht. Es hat keinen Sinn hier herum zu sitzen. Wir müssen hier weg. Wir sollten gleichzeitig nach Tina und dem nächsten Ort suchen. Falls wir Tina nicht finden, können wir so zumindest die Polizei verständigen.«

Zu Beas Überraschung nickte Hannah ihr zu.

 

Mehrere Stunden waren Bea, Hannah und Tom durch die öde Wüste getrottet. Der Wassermangel machte sich bemerkbar. Ihre Münder waren trocken und die Köpfe schwirrten. Bea fühlte sich, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Dennoch schaffte sie es, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Mittlerweile brannte die Sonne nicht mehr so stark, sie stand jetzt wesentlich tiefer. Auch wenn es keiner von ihnen aussprach, die Wahrscheinlichkeit, vor Einbruch der Dunkelheit eine Siedlung zu finden, sank mit jedem Schritt.

Als die Dämmerung so weit fortgeschritten war, dass der Sand zu flackern schien, war es Hannah, die das Unausgesprochene endlich zur Sprache brachte.

»Wir müssen bis morgen Pause machen. Ich kann ja nicht einmal mehr meine eigenen Füße erkennen, so dunkel ist es.«

Erleichtert ließ sich Bea neben Hannah in den Sand fallen. Selbst ihr Durst würde sie nicht mehr lange wach halten können. Und kaum hatte sie sich auf den Boden gebettet, legte sich die Erschöpfung wie eine warme, weiche Decke über ihren gesamten Körper und ließ Bea eindösen. Doch der schläfrige Friede hielt nur kurz an, denn Hannah, die zwischen Tom und Bea saß, schluchzte und schniefte leise vor sich hin. Zunächst ignorierte Bea Hannah. Ohnehin hätte sie keine tröstenden Worte finden können. Doch ihr bitterliches Welpenwimmern wollte nicht stoppen. So setzte Bea sich schließlich auf und legte hilflos den Arm um Hannah.

»Mache dir keine Sorgen um Tina. Ich bin mir sicher, dass wir sie morgen wiederfinden werden, falls sie uns bis dahin nicht schon gefunden hat.«

Dankbar drückte Hannah Beas Hand, schaute auf und rang sich ein verzerrtes Lächeln ab.

»Sag mal, wie blöd bist du eigentlich?!« Ekel-Tom machte sich nicht einmal die Mühe, Bea anzuschauen, während er sie angiftete.

»Hannah heult doch gar nicht wegen ihrer Zwillingsschwester, sondern weil wir hier ziemlich in der Scheiße sitzen. Genau genommen sind wir komplett am Arsch! Im Gegensatz zu dir hat sie das wenigstens kapiert. Wir können froh sein, wenn überhaupt einer von uns hier unbeschadet rauskommt. Für dich blöde Kuh noch einmal zum Mitschreiben: egal, was auch mit uns passiert ist, der Maler hat uns das nicht angetan, damit wir ab morgen wieder lustig durch die Gegend marschieren!«

Beas Magen krampfte und die Zornesröte schoss ihr in die Wangen. Am liebsten hätte sie Tom geohrfeigt. Nicht einmal jetzt ließ er Bea in Frieden. Entschlossen stand sie auf und marschierte davon. Eher würde sie sich hier allein ihrem Schicksal überlassen, als nur eine Sekunde länger mit Tom zu verbringen.

»Ich komme mit Dir. Ich habe auch keine Lust mehr auf diesen Idioten. Tut mir leid, dass Tom dich so angegangen ist. Ich weiß, du wolltest nur nett sein.«

Eigentlich konnte Bea mit Hannah so viel anfangen, wie mit einer Dornenwarze unter dem Fußballen. Jetzt aber war sie erleichtert, nicht allein in dieser Einöde zu schlafen. Wenige Minuten später war Bea, trotz Wut im Bauch, eingeschlummert.

 

***

 

Nachts wachte Bea auf, weil Hannah sie kräftig an den Schultern rüttelte. Als sie die Augen öffnete, war es, als versuchten Hunderte von Stecknadeln in ihre Augen einzudringen. Ein fürchterliches Sausen hallte in ihren Ohren. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass um sie herum ein Sandsturm tobte. Das hatte gerade noch gefehlt! Schnell sprang sie auf, doch sofort wurde sie von einer peitschenden Böe zu Boden geschleudert. Bäuchlings liegend versuchte Bea panisch den Kopf zu heben. Immer wieder versuchte sie, Hannah zu rufen, doch sobald sie den Mund öffnete, füllte er sich mit Sand. Der Sturm wurde stärker. Bea zitterte am ganzen Leib aus Angst, von der nächsten Böe durch die Luft geschleudert zu werden. Wie ein Rudel Wölfe heulend, fegte der Wind unbarmherzig durch die Wüste.

Während sie vergeblich versuchte, sich im Sand festzukrallen, spürte sie einen starken Druck zwischen ihren Schulterblättern. Irgendetwas drückte sie mit aller Kraft in den Sand. Ehe sie begriff, was passierte, hörte sie Toms Stimme. Er schrie, um gegen den tosenden Wind anzukommen. »Ihr müsst näher zusammenrücken! Flach auf den Boden mit euch!«

Tom rückte Bea und Hannah zusammen. Ihre Köpfe lagen jetzt so dicht nebeneinander, dass Hannahs Haarsträhnen immer wieder wild um Beas Nase peitschten. Tom breitete seine Jacke über die beiden aus und legte sich dann selbst so über die zwei, dass Bea fast im Sand versank. Ihr Herz klopfte wild gegen ihre Brust. Der Sturm tobte um sie herum. Sie schloss die Augen, hoffte und betete, die Nacht zu überleben. Unterdessen hielt Tom die beiden fest und drückte sie unaufhörlich mit aller Kraft zu Boden.

Nachdem der Sturm sich beruhigt hatte, ließ Tom von den beiden ab. Nur langsam fand Beas Herz wieder seinen normalen Rhythmus.

»Danke«, presste Hannah überschwänglich hervor. Doch Bea schwieg und wich Toms Blick aus. Seine beleidigenden Worte würde sie ihm trotz seiner Rettungsaktion nicht so schnell verzeihen. Auch Tom sagte nichts, schaute nur kurz verstohlen zu Bea und beschäftigte sich dann damit, seine Jacke vom Sand zu säubern.

»Seht mal, was der Sturm angeweht hat!«

Bea schaute zu Hannah, die keck an einen vier Meter langen, dicken Baumstamm lehnte.

»Gut, dass wir nicht von dem Riesenast getroffen wurden. Viel hat ja nicht gefehlt.«

Bea staunte. Tatsächlich war das Teil monströs und hätte sie leicht erschlagen können. Übermütig tätschelte Hannah den Baumstamm und imitierte eine lächerliche Siegerpose. Bea kicherte. Sie selbst war ganz euphorisch, den Sturm unbeschadet überlebt zu haben. Doch ihr Atem stockte, als sich am Ende des Baumstammes zwei kokosnussgroße Löcher öffneten. Zwei riesige Glupschaugen stierten Bea an.

»Hannah…, komm da weg«, sagte sie leise und versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen.

»Was denn? Das Ding hätte uns fast erschlagen. Da kann ich doch einmal kurz den Triumph feiern.«

Die unwissende Hannah schwang sich auf den Baumstamm und ließ frech ihre Beine hinunter baumeln.

Auch Tom hatte die Augen entdeckt und krächzte: »Heilige Scheiße! Verdammt, komm da runter!«

Plötzlich wackelte das andere Ende des Stammes wie ein monströser Tierschwanz. Bea weitete ungläubig die Augen. Das Ding war eine verdammte Riesenschlange!

Die Schlange bewegte sich und bäumte ihren Körper so, dass Hannah fast vom Rücken des Tieres gefallen wäre. Hannah, die jetzt auch begriff, dass sie auf einem wilden Reptil ritt, krallte sich krampfhaft am Rücken fest. Die Schlange fletschte angriffslustig ihre handgroßen Zähne und schnappte nach ihr, wandte und schlängelte sich weiter, sodass Hannah das Gleichgewicht verlor und hinunterfiel. Jetzt war die Schlange richtig aktiv, bäumte wütend den Oberkörper auf, fauchte und spie eimerweise Speichel. Die Schlange schnappte nach Hannah, die direkt vor ihrer Nase lag. Bea wusste, dass sie Hannah helfen musste, doch stattdessen starrte sie wie angewurzelt auf das vor ihr liegende Monstrum. Auf allen vieren versuchte Hannah flink vor der Schlange zu flüchten. Blitzschnell holte sie mit ihrem Schwanz aus und traf Hannah, die durch die Luft flog und in Reichweite des Schlangenmauls landete. Tom eilte zu ihr. Bea war immer noch vor Schreck gelähmt.

Die Schlange spuckte einen Schwall Speichel auf Hannah und übergoss ihr Gesicht mit der klebrigen Flüssigkeit. Hannahs Schrei war schrill und Bea wandte sich ab. Der Anblick war nicht zu ertragen. Der Speichel hatte Hannahs Gesicht verätzt! Die Haut war wie zu einer Plastikmasse geschmolzen! Da, wo eben noch ihre Augen und Nase waren, war bloß verätzte Haut zu erkennen. Nur der Mund war erkennbar. Hannah lag schreiend am Boden und rieb wild mit den Händen über ihr Gesicht. Irgendwie schaffte es Tom, Hannah in Beas Richtung zu schubsen. Sie torkelte zu Bea, die Hannah auffing, bevor diese erneut zusammensackte. Bea hielt die verzweifelt wimmernde Hannah fest im Arm.

Unterdessen hatte die Schlange Tom ins Visier genommen. Zwar entkam er einem frischen Schwall der ätzenden Flüssigkeit, aber als die Schlange nach ihm schnappte, erwischte sie sein Bein. Tom schrie vor Schmerz jäh auf. Zornig holte die Schlange ein weiteres Mal mit dem Schwanz aus und traf Tom an der Schulter. Er sackte zusammen.

Bea atmete tief durch und sammelte all ihren Mut. Entschlossen setzte sie Hannah auf den Boden und rannte zielstrebig auf die Schlange zu. Rittlings sprang sie auf den Schlangenrücken. Die Bestie versuchte Bea abzuschütteln, bäumte sich auf und biss wütend nach ihr. Mit aller Kraft hielt sich Bea an der Schlange fest, umklammerte sie mit beiden Beinen und Armen und kroch in Richtung Kopf. Sie umschloss den Schlangenkopf. Panisch spie das Monstrum wild um sich, doch Bea ließ nicht los, auch nicht, als ätzender Speichel auf Beas Arme prasselte. Bea biss die Zähne zusammen und packte die Kreatur noch fester. Intuitiv drehte sie den Schlangenkopf nach links und hörte zu ihrer eigenen Überraschung ein lautes Knacken. Eine letzte, kurze aufbrausende Bewegung des Monstrums wich einem kräftigen Zittern.

Bea bündelte ihre Kräfte und zerrte am Kopf, bis sie diesen in den Händen hielt. Der Schlangenkorpus sackte zusammen.

Angewidert ließ Bea den Kopf fallen, stieg mit zitternden Beinen von der Bestie und stürzte zu Tom und Hannah. Tom sah sie mit großen Augen und offenen Mund an.

»Was ist passiert«, fragte Hannah ungeduldig. »Hat die Schlange Bea erwischt? Oh Gott, ist sie gestorben?«

»Bea hat die Schlange einen Kopf kürzer gemacht. Verdammt, wie hast du das gemacht? Bist du ein verdammter Superheld?!«

Leider konnte sich Bea nicht an Toms blöden Gesichtsausdruck erfreuen. Ihr Blick fiel auf die arme Hannah, die verstümmelt auf dem Boden hockte.

»Großer Gott, das ist fürchterlich! Wir müssen dich hier sofort wegschaffen!«

Doch Hannah hörte Bea nicht zu. Stattdessen griff sie nach Beas Hand und drehte den Kopf in Richtung der Schlange, obwohl sie diese gar nicht sah.

»Die Schlange hatte so große Schmerzen. Es war, als ob sie Tausend Tode gestorben wäre«, murmelte sie in Trance vor sich hin. Bea und Tom tauschten fragende Blicke aus. Dann zuckte Hannahs Körper, als ob ihr jemand ein Messer und die Brust gerammt hätte.

»Was ist mit dir, sag doch was!« Bea rüttelte sie. Kurz schrie Hannah auf, sackte dann aber zusammen und flüsterte: »Ich spüre den Tod, die Schmerzenswellen. Es ist falsch! Die Schlange darf nicht sterben. Sie muss leben. Ihr Tod ist gegen die Gesetzmäßigkeit der Natur.«

Bea und Tom tauschten Blicke aus. Er kommentierte das Geschehen mit einer drehenden Bewegung seines Zeigefingers an seiner Schläfe. Bea nickte zustimmend. Wenigstens jetzt waren sich die beiden einig. Hannah hatte eine Schraube locker.

»Sie muss leben«, wiederholte Hannah mit Nachdruck.

»Bist du vollkommen übergeschnappt?! Wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen!«

»SIE. MUSS. LEBEN.« Jetzt fauchte Hannah Tom wütend an.

»Ach verdammt«, fluchte Tom resigniert. »Und wie sollen wir das bitte anstellen?«

Fragend hob er den Schlangenkopf auf und beäugte ihn. Da öffneten sich die Augen und glotzten Tom an. Erschrocken wich Bea einen Schritt zurück. Toms Hände glühten. Er hielt den Kopf an den leblosen Hals und sofort, zu Beas und Toms Erstaunen, verschmolzen beide Teile miteinander. Das Leben kehrte umgehend in sie zurück. Bea staunte; die Schlange raunte und rieb zum Dank ihren kräftigen Kopf an Toms Wade. Erschrocken sprang Tom einen Satz nach hinten.

»Was zum Teufel…?!«

Der letzte Satzteil blieb in Toms Kehle stecken, denn ein weißer Blitz am Himmel ließ die drei Jugendlichen zusammenzucken.

Hannah

 

 

Kaltes Wasser schwappte erbarmungslos in Hannahs Gesicht. Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Zu ihrer Überraschung sah sie Herrn Maler, der sich dämlich grinsend über sie gebeugt hatte. Ihr Kopf schwirrte bei dem Versuch, ihre Gedanken zu sortieren. Dass sie in seine Fratze starrte, bedeutete zumindest, dass sie nicht mehr blind war. Hastig tastete sie ihr Gesicht ab. Erleichtert atmete Hannah aus. Auch Verätzungen hatte sie keine davongetragen. Unter anderen Umständen hätte sie ihren Handspiegel gezückt; jetzt aber war ihr Impuls, diesem Lehrer eine grandios schallende Ohrfeige zu verpassen. Da überschlugen sich schon die Ereignisse. Herr Maler flog zur Seite und landete krachend im Wohnzimmertisch. Es war Tom, der sich auf ihn gestürzt hatte und jetzt mit gespreizten Beinen über ihm saß. Wütend drosch er ziellos mit den Fäusten auf den Sportlehrer ein und gab sein gesamtes Repertoire an Schimpfwörtern zum Besten.