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Als Tenley von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und zu ihrer Familie zurückkehren muss, bricht für Tattoo-Artist Hayden Stryker eine Welt zusammen. Getrennt von der Frau, die seine ganze Hoffnung auf eine glückliche Zukunft war, droht er erneut in die dunklen Abgründe abzudriften, die vor vielen Jahren schon einmal ihre Schatten nach ihm ausstreckten. Tenley weiß, dass sie Hayden nicht verlassen darf - aber auch, dass die Vergangenheit erst ruhen kann, wenn sie ihren Frieden mit sich geschlossen hat. Auch wenn es dann für ihr Glück mit Hayden vielleicht längst zu spät ist ... (ca. 460 Seiten)
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Seitenzahl: 515
HELENA HUNTING
Inked Armor
Du auf meiner Haut
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
Als Tenley von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und zu ihrer Familie zurückkehren muss, bricht für Tattoo-Artist Hayden Stryker eine Welt zusammen. Getrennt von der Frau, die seine ganze Hoffnung auf eine glückliche Zukunft war, droht er erneut in die dunklen Abgründe abzudriften, die vor vielen Jahren schon einmal ihre Schatten nach ihm ausstreckten. Tenley weiß, dass sie Hayden nicht verlassen darf – aber auch, dass die Vergangenheit erst ruhen kann, wenn sie ihren Frieden mit sich geschlossen hat. Auch wenn es dann für ihr Glück mit Hayden vielleicht längst zu spät ist …
Kato, das hier ist für dich.
Um sechs Uhr dreiundzwanzig wurde die Haustür geöffnet; das Piepen der Alarmanlage signalisierte mir Treys Kommen. Ich hielt den Atem an, als ich auf den Klang des Codes lauschte, der eingetippt wurde, dann ging der Alarm los, gefolgt von Treys wütendem Fluchen.
Gestern Abend hatte ich den Alarmcode zum siebten Mal in einer Woche geändert. Ich hatte mich dazu entschlossen, weil Trey, als ich morgens wach wurde, über mein Bett gebeugt dagestanden und wegen meines Tattoos Zeter und Mordio geschrien hatte. Von den wüsten Schimpftiraden meines Beinahe-Schwagers geweckt zu werden, war nicht gerade angenehm gewesen. Und da er meine Versuche vereitelt hatte, das Schloss auszuwechseln, machte ich ihm eben mit der Alarmanlage das Leben zur Hölle.
Trey reihte äußerst originelle Sätze aneinander, die keinen Zweifel daran ließen, was er von mir hielt. Ich griff nach meinem iPhone, steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und scrollte durch die Playlist, die ich extra für diese Freakshow angelegt hatte. Hardrock dröhnte mir in den Ohren, als der Alarm in den Panikmodus wechselte.
Kurz darauf trommelte er wie üblich gegen meine Tür. Ich griff nach der Fernbedienung auf meinem Nachttisch und schaltete den Surround-Sound ein, der an den Fernseher angeschlossen war, worauf Technobeats loswummerten, dann ging ich ins Bad, um zu duschen. Trey hasste Techno.
Als ich geduscht und mich angezogen hatte, hatte das Trommeln aufgehört. Ganz leise drehte ich das Bolzenschloss an meiner Schlafzimmertür. Ich öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinaus. Kein Trey, was jedoch nicht bedeutete, dass er weg war. Manchmal wartete er stundenlang; seine Hartnäckigkeit kannte keine Grenzen.
Vor der Tür lagen ein Stapel Unterlagen und ein Stift für mich, damit ich die Immobilie überschrieb. Er war jeden Morgen hier aufgetaucht, hatte allerdings seine Taktik ein wenig geändert. Bisher hatte er die Papiere vorbeigebracht und mir etwas später oder abends aufgelauert. Die letzten beiden Tage jedoch hatte er gewartet, bis ich aufgetaucht war.
Meine Antwort war immer die Gleiche gewesen. Ich zerriss die Papiere und sah dabei zu, wie sie wie dicke Schneeflocken zu Boden rieselten. Sie zu zerstören, war zu einem Ritual geworden, das ich genoss.
Ich wollte gerade die zerfetzen, die er heute Morgen dagelassen hatte, als ich bemerkte, dass es nicht die üblichen Dokumente waren. Der Stapel war dünner. Ich blätterte ihn durch und runzelte die Stirn, als ich den Inhalt erfasste. Auf der Rückseite stand meine krakelige Unterschrift. Nach dem, was ich hier vor mir sah, hatte ich Trey Handlungsvollmacht erteilt.
Ich konnte mich allerdings nicht daran erinnern, das Dokument je zu Gesicht bekommen, geschweige denn unterschrieben zu haben. Laut Datum war es zwei Monate nach dem Unfall aufgesetzt worden und durch meine Unterschrift rechtsgültig. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich das Krankenhaus verlassen, war jedoch nicht in der Lage gewesen, für mich selbst zu sorgen, und Trey hatte sich um meine Medikamente gekümmert. Jetzt dämmerte mir, wieso.
»Trey!« Ich zerknüllte das Dokument und rannte die Treppe hinunter.
Er saß an der Kücheninsel und tippte auf seinem Laptop, neben ihm stand eine Tasse Kaffee. Als wäre das sein Haus und nicht meins. Ich knallte ihm den Deckel des Laptops auf die Hände.
»Hast du sie noch alle?« Er sprang auf, und sein Stuhl kippte nach hinten. Das metallische Klappern hallte durch den offenen Raum.
»Ob ich sie noch alle habe?« Ich stieß ihm die Papiere gegen die Brust. »Hast du sie noch alle? Glaubst du, du kannst mich so lange tyrannisieren, bis ich dir das Haus überschreibe?«
Er hielt meine Handgelenke fest, damit ich nicht auf ihn losgehen konnte, und verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Ich habe deine Handlungsvollmacht. Ich kann mir alles nehmen, was ich will.«
»Hast du den Verstand verloren? Glaubst du wirklich, das Papier ist gültig? Ich war nicht einmal bei klarem Verstand, als ich es unterzeichnet habe.« Ich wehrte mich gegen ihn, meine Handgelenke scheuerten schmerzhaft gegen seine Finger, als er den Griff verstärkte.
»Überschreib das Haus, und die Sache ist erledigt.«
»Nicht an dich, und jetzt erst recht nicht!«, stieß ich hervor.
»Überschreib das verdammte Haus, Herrgott noch mal!«, brüllte er.
»Warum bist du eigentlich so scharf darauf?«, schrie ich zurück.
»Weil das Erbe für mich nutzlos ist, solange ich das Haus nicht besitze!«
Er ließ meine Handgelenke los und wandte sich taumelnd ab. Sein drahtiger Körper zuckte, als er sich wieder zu fangen versuchte. Trey hatte nie zuvor die Kontrolle verloren. Ich rieb mir die Handgelenke, die dort, wo er zu fest zugedrückt hatte, rote Striemen hatten. Seine Nasenflügel waren gebläht, und seine Augen glänzten hasserfüllt. Er atmete tief durch und rückte seine Krawatte zurecht.
»Es gibt fünf Häuser auf dem Grundstück. Warum willst du ausgerechnet das hier?«, fragte ich verständnislos.
»Bist du wirklich so blöd? Ich kann das Anwesen nicht verkaufen, bevor ich nicht alle Häuser besitze.«
»Aber im Testament deiner Eltern …«
»Das Testament spielt keine Rolle mehr! Meine Eltern sind tot, dank deiner tollen Hochzeitspläne. Was sie wollten, ist also irrelevant.«
Die Schuld traf mich wie eine Kugel ins Herz. »Das ist nicht fair.«
»Gefällt dir die Wahrheit nicht? Wirst du damit nicht fertig? Soll ich dir eine Tablette holen?«
»Genug.« Ich hob eine Hand.
Ich könnte niemals in diesem Haus leben – es symbolisierte alles, was vielleicht hätte sein können, aber nie geschehen würde. Doch ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es aus dem Familienbesitz verschwand. Vor allem, weil es so viele Verwandte gab, die diese Immobilie gern zu ihrem Zuhause machen würden, sofern sie es sich leisten konnten. Das Anwesen war seit Generationen in Familienbesitz.
»Selbst wenn ich dir das Haus überschreiben würde, besitzen deine Onkel noch immer das Sommerhaus, nicht wahr?«, sagte ich.
»Meine Onkel werden verkaufen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Weil jeder einen Preis hat. Ich bin mir nur noch nicht sicher, wie hoch deiner ist. Ich meine, du bist bei Connor geblieben, nachdem er mit der Hälfte der Frauen an der Cornell geschlafen hatte, während du dir deine kleine Auszeit – oder wie du das nennst – genommen hast«, höhnte Trey. »Und dann bist du sofort auf diesen verdammten Antrag angesprungen. Vielleicht ist dir Geld also wichtiger, als du zugibst. Nach dem, was ich in Chicago mitbekommen habe, bist du anscheinend gewillt, deine Selbstachtung aufzugeben. Wie wär’s, wenn ich das Angebot verdopple? Würdest du es dann annehmen?«
Jeder Funken Sympathie, den ich je für Trey gehabt haben mochte, erlosch in diese Moment. Connor war nicht vollkommen gewesen, und unsere Beziehung auch nicht, doch Treys Behauptungen klangen wie einer seiner fiesen Tricks, um mir wehzutun. Ob es nun stimmte oder nicht, ich brauchte diesen Fleck auf Connors Andenken nicht.
»Warum bist du nur so grausam?«
Trey lächelte boshaft. »Du bist die Einzige, die mir im Weg steht, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu bekommen, was ich will. Wenn du das Haus nicht überschreibst, nehme ich es mir einfach. Meine Bitte war reine Höflichkeit, aber ich sehe, dass du viel zu sehr mit dir selbst beschäftigt bist, um das zu verstehen. Wie üblich.«
Ich hielt die zerknüllten Papiere hoch, während meine Entschlossenheit wuchs. »Das hier hat niemals Bestand.«
»Das werden wir noch sehen.«
Er stellte den umgestürzten Stuhl wieder auf und griff nach seiner Anzugjacke. Dann steckte er den Laptop in seine Aktentasche, doch bevor er sie schloss, nahm er einen weiteren Stapel Unterlagen heraus, die ich sofort erkannte.
»Ich lasse sie dir hier, ja? Für den Fall, dass du deine Meinung änderst.« Damit drehte er sich um und ging hinaus.
Sobald Treys Wagen die Auffahrt verlassen hatte, ließ ich mich auf einen der Stühle sinken. Seine Worte waren wie Splitter, die sich tief in mein Fleisch bohrten.
Mein Verhältnis zu Connor war immer kompliziert gewesen. Er war ein paar Jahre älter gewesen und hatte, vor allem, was seinen Besitzanspruch betraf, unrealistische Erwartungen gehabt. Rückblickend war es nur darum gegangen, den Schein zu wahren. Wenn wir geheiratet hätten, hätte ich mein Leben lang damit klarkommen müssen. Meine »kleinen Macken«, wie Connor sie genannt hatte, wären abgestellt oder von etwas Akzeptablerem ersetzt worden. Oder unter Kleidern und Haaren versteckt worden, wie es mit meinem winzigen Tattoo und meinen Piercings in den Ohren geschehen war.
Connor war seit Jahren im halben Land unterwegs gewesen und nur während der Sommermonate und Feiertage hergekommen. Als wir eine Beziehung anfingen, flog er öfter nach Hause. Doch die Distanz strapazierte die Beziehung trotzdem, und in meinem letzten Collegesemester wurde es mir einfach zu viel. Ich musste mich auf das Studium konzentrieren und durfte mich nicht nach einem Freund verzehren, der weit weg war. Also nahm ich mir eine Auszeit von acht Wochen. Ich hatte ihn nie um eine bestimmte Zeit gebeten. Es schien nicht wichtig zu sein, denn kurz danach machte er mir einen Antrag.
Leider rührte Treys spitze Bemerkung auch an Erinnerungen, die nichts mit Connor zu tun hatten. Ein Bild von Hayden mit Sienna, wie sie sich an ihn klammerte, tauchte in meinem Kopf auf. Bei dem Gedanken daran drehte sich mir der Magen um. Ich ertrug die Vorstellung nicht, dass er mit jemand anderem als mir zusammen war. Was nicht fair war, denn ich hatte ihn verlassen, nicht umgekehrt.
Wenn er während meiner Abwesenheit zu ihr zurückging, konnte ich nur mir selbst die Schuld daran geben. Zwei Wochen genügten ihr, um ihre Klauen erneut in ihn zu schlagen, vor allem, wenn man bedachte, wie ich verschwunden war. Das machte es nur noch dringlicher, ein paar ungelöste Probleme zu klären. Ich vermisste ihn so sehr, dass es eine fortwährende, schmerzhafte Ablenkung war.
Ich glättete die Seiten der Handlungsvollmacht auf dem Tresen. Connors Vermögenswerte und finanziellen Angelegenheiten zu klären war etwas, das ich allein bewältigen konnte – das hier nicht. Ich nahm Handtasche und Dokumente und eilte zur Garage.
Die vertraute Fahrt nach Minneapolis dauerte nicht lange, und bald war ich bei Williams and Williams Attorneys at Law. Eigentlich hätte ich vorher anrufen sollen, doch Frank Williams war ein langjähriger Freund meines Vaters gewesen. Ich war sicher, dass er mich auch ohne Termin empfangen würde.
Die Fahrt mit dem Aufzug in den elften Stock dauerte ewig. Der enge Raum verursachte mir Beklemmungen; ich war nicht mehr in Franks Büro gewesen, seit ich die Papiere bezüglich der Entschädigungszahlung der Fluglinie und des Testaments meiner Eltern unterschrieben hatte.
Die Rezeptionistin blickte mich überrascht an, als ich hereinkam: »Tenley!«
»Hallo, Catherine! Ich habe leider keinen Termin, doch ich warte gern, falls Frank ein wenig Zeit für mich erübrigen kann.«
»Ist alles in Ordnung? Gibt es ein Problem mit dem Testament?«
»Es geht um Connors Nachlass. Ich habe … ein paar Fragen.«
»Ich bin gleich wieder da.« Sie ging den Gang entlang zu Franks Büro, und keine Minute später tauchte er in Catherines Gefolge auf.
»Tenley! Wie schön, dich zu sehen.« Obwohl er lächelte, bemerkte ich seine besorgte Miene, als er mir eine väterliche Umarmung angedeihen ließ, die ich erwiderte. »Wie gefällt’s dir in Chicago?«
»Ich lege gerade eine Pause ein. Es gibt hier ein paar Dinge zu klären.«
»Warum kommst du nicht in mein Büro, und wir unterhalten uns.« Er blickte Catherine an. »Können Sie die Verabredung zum Mittagessen verschieben?«
»Natürlich.«
»Ich sage Ihnen Bescheid, falls wir noch weitere Termine am Nachmittag umlegen müssen«, sagte Frank und führte mich in sein Büro.
Sobald die Tür geschlossen war, setzte ich ihn ins Bild und reichte ihm die Papiere. Frank hob die Bifokalbrille, die um seinen Hals hing, und überflog die Seiten, wobei seine Miene immer ernster wurde.
»Warum kenne ich das nicht?«, fragte er.
»Ich weiß selbst erst seit heute Morgen davon. Ich bin direkt zu dir gekommen. Hat Trey recht? Kann er mir alles wegnehmen?« Der Besitz und dessen finanzieller Wert interessierten mich nicht. Es ging um die Kontrolle, die mir entzogen wurde, um die Möglichkeit eines weiteren Verlusts, mit dem ich nicht klarkäme.
»Ist das deine Unterschrift?« Er blätterte zur Rückseite und hielt sie mir hin.
»Ja, aber ich war gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden und stand unter Medikamenteneinfluss. Ich kann mich nicht erinnern, das unterzeichnet zu haben.«
»Dieser verdammte …« Frank schüttelte den Kopf. »Er könnte deswegen seine Anwaltslizenz verlieren.«
»Können wir denn irgendetwas tun?«
»Es wird ein paar Tage dauern, doch ich bin sicher, das rückgängig machen zu können. Er sollte deswegen zur Rechenschaft gezogen werden – doch ich habe den Eindruck, dass du daran nicht interessiert bist.«
»Ich habe nicht die Energie, ihn vor Gericht zu zerren. Ich will nur sicherstellen, dass er nicht über mich bestimmen kann und das Haus nicht bekommt. Ich will das alles hinter mich bringen, um mein Leben weiterzuleben.«
»Wenn es dir so lieber ist. Catherine hat Connors Immobilienbesitz erwähnt. Kommt da noch mehr auf uns zu?«
»Ja.« Ich zückte eine Kopie von Treys Papieren über die Eigentumsübertragung und den vorgeschlagenen Betrag.
So vieles hatte sich geändert, seit ich das Testament unterzeichnet hatte. Der finanzielle Ausgleich für einen so überwältigenden emotionalen Verlust hatte mich in Schuldgefühlen versinken lassen. Während des vergangenen Jahres hatte ich geglaubt, dieser Verlust sei ein direktes Resultat meines Egoismus gewesen. Trey hatte sich das zunutze gemacht, doch schließlich hatte ich erkannt, dass das, was passiert war, jenseits jeder Kontrolle gelegen hatte. Ich würde nicht zulassen, dass er das weiterhin gegen mich verwendete.
Vier Tage später saß ich erneut in Franks Büro, mit Connors Cousin Weston.
Frank war es gelungen, die Handlungsvollmacht aufzuheben. Außerdem hatte er einen Gemeindeantrag bezüglich des Hoffmann-Grundbesitzes entdeckt, der fünf Häuser und vierzigtausend Quadratmeter umfasste. Trey hatte diesen auf Nutzung als Gewerbegebiet und den Abriss der Häuser gestellt.
Mein Haus und die dazugehörigen achttausend Quadratmeter waren ein Hochzeitsgeschenk von Connors Eltern gewesen. Wir hätten nach unserer Rückkehr von Hawaii dort einziehen sollen – nur dass es nicht dazu gekommen war.
Ich war fassungslos gewesen, als ich erfahren hatte, dass ich das Haus samt Grundstück erben sollte. Trey war wütend gewesen, vor allem, weil ihm Connor, der sich auf Eigentumsrecht spezialisiert hatte, kein Schlupfloch gelassen hatte, um es mir wegzunehmen.
Auch wenn nicht klar war, was damit geschehen sollte, bestand anscheinend die Gefahr, dass ein paar der Häuser abgerissen wurden. Das durfte nicht geschehen.
In der neuen Vereinbarung zur Eigentumsübertragung hatte Frank eine Klausel eingebaut, die vorschrieb, dass für das Haus und achttausend Quadratmeter Grund und Boden die Verordnung für Wohngebiete galt. Und weil das Haus genau in der Mitte des Grundbesitzes stand, machte das Treys Plänen einen Strich durch die Rechnung.
Weston blickte mit dem Stift in der Hand zu mir auf. »Bist du dir sicher?«
»Absolut, Connor hätte gewollt, dass das Haus in Familienhand bleibt.« Westons Familie besaß auch die Hälfte des Sommerhauses. Sobald mein Haus überschrieben wäre, würde Trey in die Röhre schauen.
Weston und Connor waren zusammen aufgewachsen. Weston wäre fast zur Hochzeit gekommen, doch es hatte nicht in seinen Terminplan gepasst. Er war schwer enttäuscht gewesen, doch nun war ich froh über diese kleine Gnade.
Mit respektvollem Nicken beugte er sich über die Papiere und unterschrieb bei jedem gelben Klebestreifen. Als er die letzte Unterschrift geleistet hatte, legte er den Stift beiseite.
»War’s das?«, fragte ich Frank. »Gehört das Haus jetzt Weston?«
»Das war’s. Schlüsselübergabe ist morgen Nachmittag um fünf.«
Damit blieb mir genug Zeit, um die restlichen Kartons mit Connors Habseligkeiten zur Wohlfahrt zu bringen und meine Sachen zu packen. Die Anspannung der letzten Wochen fiel von mir ab. Die Handlungsvollmacht war aufgehoben. Das Haus fiel nicht länger in meinen Verantwortungsbereich; es gehörte jemandem, der es verdiente. Ich hatte kein Geld dafür gewollt, doch Weston hatte darauf bestanden. Frank hatte mir versichert, dass wir einen Treuhandfonds einrichten könnten. Jetzt war nur noch das Haus meiner Eltern übrig. Ich war noch nicht bereit, mich davon zu trennen.
Weston nahm mich in den Arm. »Danke, dass du das für Connor getan hast. Ich weiß, dass es schwer für dich sein muss, das alles aufzugeben.«
Es war eher eine Erleichterung, vor allem, weil ich wusste, dass das Haus nun gerettet war. »Es tut mir leid, dass du es mit Trey zu tun bekommen wirst.«
Er lachte. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich habe schon mein Leben lang mit ihm zu tun. Es ist an der Zeit, dass ihn mal jemand in die Schranken weist.«
Nachdem ich Franks Büro verlassen hatte, fuhr ich zum Haus meiner Eltern. Trotz meiner täglichen Besuche dort, hatte ich den Ort meiner Kindheit nicht richtig leer geräumt. Trauer überschattete das wohlige Gefühl einer vertrauten Umgebung. Ohne meine Familie in dem Haus zu sein tat weh – es war zu einem Mausoleum geworden.
Ich schlenderte durch das Haus, verweilte bei vertrauten Gegenständen und packte Sachen ein, die ich gern mitnehmen wollte. Ich konnte meine Eltern im Wohnzimmer beinahe sehen, wie sie gemütlich auf dem Sofa saßen und fernsahen. Ich vermisste den trockenen Humor meines Vaters und die Wärme meiner Mutter. Ich vermisste die Abendessen im Sommer im Garten hinterm Haus, die Filmabende am Freitag und die Campingausflüge im Regen. Ich vermisste das Leben, das ich gehabt hatte, bevor alles den Bach runtergegangen war.
Trotzdem war mir bewusst, dass es nicht mehr das Gleiche wäre, selbst wenn ich es wieder zurückbekommen könnte. Ich war jetzt ein anderer Mensch. Ich könnte nicht mehr in dem schützenden Kokon meines früheren Lebens existieren; ich hatte zu viel gesehen. Das Trauma hatte meine Verwandlung in Gang gesetzt.
Ich blieb auf der Schwelle zu meinem Zimmer stehen. Die schwarze Tagesdecke passte perfekt zu den Bandpostern und gerahmten Drucken von Escher und Dalí. Meine Eltern hatten meiner Kreativität stets Raum gelassen. Vielleicht hatten sie geglaubt, sie reiche als Ventil für meine rebellische Art, doch das war nicht der Fall gewesen. Meine Mom hatte sich mit mir immer wieder wegen der Piercings gestritten, die eines nach dem anderen an meiner Ohrmuschel aufgetaucht waren. Als ich ein Tattoo in Erwägung gezogen hatte, hatte ich mir einen Vortrag über mein Erscheinungsbild anhören müssen.
Als Connor ihnen zugestimmt hatte, war ich losgezogen und hatte mir trotzdem eins machen lassen. Als er sich darüber aufgeregt hatte, hatte ich mich gerächt, indem ich mir das Haar vor einer Familienfeier knallrot gefärbt hatte. Ich war daraufhin auf den Fotos nicht erwünscht gewesen, hatte mich aber trotzdem draufgeschmuggelt.
Ich hatte stets Grenzen überschritten; in meinem sozialen Umfeld galten viele meiner Interessen als inakzeptabel. Also hatte ich mich mit ihnen in meinem Studium beschäftigt.
Bis Hayden aufgetaucht war.
Ich durchquerte den Raum und ließ meine Finger über die Tagesdecke gleiten. Was hätte Hayden zu meinem Teenagerzimmer gesagt? Was hätten meine Eltern von ihm gehalten? Hätten sie es geschafft, über sein unkonventionelles Äußeres hinwegzusehen? Ich hätte es mir gewünscht.
Vielleicht hätten sie ihn für etwas Vorübergehendes gehalten, etwas zum Ausprobieren, bis ich mich schließlich anderweitig orientiert hätte. Vor dem Absturz hätte ich Hayden vielleicht als Experiment in Sachen Nonkonformismus betrachtet, doch das bezweifelte ich inzwischen. Ich hätte mich trotzdem zu ihm hingezogen gefühlt. Doch hätte ich nicht den Mut gehabt, auf diese Anziehung zu reagieren. Sein Reiz wäre von meinem Bestreben überschattet worden, jemand zu sein, der ich nicht war. Durch meinen Verlust konnte ich ihm jetzt auf eine Weise nahekommen, die sonst nicht möglich gewesen wäre. Hayden verstand meinen Wunsch nach Andersartigkeit.
Seine leise, unaufdringliche Intelligenz und seine spezielle Wahrnehmung der Welt faszinierten mich. Abgesehen davon hatten wir eine körperliche Verbindung, die über bloßes Verlangen hinausging. Von Anfang an war Sex mit Hayden transzendental gewesen. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches erlebt.
Ich vermisste unsere körperliche Nähe. Ich vermisste, wie er schmeckte, wie sich seine Haut anfühlte, die langen Linien seines Tattoos, die seinen Körper bedeckten. Ich wollte ihn zurück – doch zuerst musste ich mich seiner würdig erweisen.
Ich ging in meinem ehemaligen Zimmer hin und her, nahm die Poster von der Wand und rollte sie zusammen, warf ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht zurücklassen wollte, in eine Kiste und ging hinunter, um abzuschließen. Wenn ich das nächste Mal hierherkäme, wüsste ich, was ich mit dem Haus tun wollte. Je entschlossener ich meine Vergangenheit losließ, umso mehr fühlte ich mich der Zukunft gewachsen.
Auf dem Rückweg tat ich das, was ich seit meiner Rückkehr vermieden hatte. Ich hielt bei einem Gewächshaus und kaufte ein paar Weihnachtssterne. Sie würden nicht lange halten, doch ich wollte etwas Schönes hinterlassen. Als ich auf den Friedhof Hillside einbog, fühlte ich Gewissensbisse, weil ich das nicht schon früher getan hatte. Der Gedenkgottesdienst war schrecklich und aufwühlend gewesen, was dazu beigetragen hatte, dass ich den Friedhof seiher gemieden hatte.
Verstehen zu wollen, weshalb mir der Absturz so viel genommen hatte, war sinnlos. Ich hatte den Schmerz verinnerlicht und zugelassen, dass er mein Leben bestimmte, doch ich konnte so nicht weitermachen. Nicht, wenn ich wieder nach Chicago und zu Hayden zurück wollte. Ich hatte nach Arden Hills zurückkommen müssen, um endlich zu verstehen, dass die Tragödie keine Strafe für meine Verfehlungen gewesen war.
Auf dem Friedhof besuchte ich sie alle: die Freunde, die ich verloren hatte, Connors Eltern, meine eigenen. Ich verbrachte eine lange Zeit am Grab meiner Mutter und erzählte ihr von Chicago. Ich erzählte ihr, wie sehr ich meinen Betreuer hasste und dass ich mir nicht sicher sei, ob ich mit seinen unrealistischen Ansprüchen, seinen ständig wechselnden Wünschen und seinem unerwünschten Interesse an mir klarkäme. Ich erzählte ihr von meinem Job im Serendipity und den Freunden, die ich gewonnen hatte, und wie sehr sie sie gemocht hätte, auch wenn sie anders waren. Und ich erzählte ihr von dem Tattoo und dem Künstler, der meine Welt verändert hatte, und dass ich gern mit ihm zusammen sein wollte, auch wenn es mir Angst machte.
Connor hob ich mir bis zum Schluss auf. Schneeflocken wirbelten um mich herum, als ich den weißen Weihnachtstern neben seinen Grabstein stellte. Ich ließ mich in das Gras sinken, ohne auf die Nässe zu achten.
Er war so jung aus dem Leben gerissen worden. Ich fuhr an der Namensinschrift und an seinem Geburts- und Sterbedatum auf dem Grabstein entlang. Er war eine Konstante in meinem Leben gewesen; ich war mit ihm aufgewachsen. In jenem Sommer, bevor ich mit dem College angefangen hatte, hatten sich die Dinge zwischen uns verändert. Er hatte mich plötzlich anders gesehen. Mich anders behandelt.
Dass wir ein Paar wurden, hatte sich wie von selbst ergeben. Anfangs hatten wir es geheim gehalten. Die Geheimhaltung hatte einen Teil der Anziehung ausgemacht, das Versteckspiel, das leidenschaftliche Knutschen, wenn wir allein waren. Mir hatte das Rebellische daran gefallen, dass er älter war und waghalsig und dass ich solche Macht über ihn ausübte.
In der kalten Stille des Friedhofs beweinte ich mein altes Leben, erlaubte mir endlich, um Connor, unsere Familien und Freunde auf eine Weise zu trauern, wie ich es zuvor nicht getan hatte. Schuld und Schmerz strömten mit den Tränen aus mir heraus, und ein Frieden erfüllte mich, den ich so nicht kannte. Ich würde Connor immer lieben, doch er war tot. Es war Zeit, loszulassen.
Nur ein paar Tage, eine Woche, noch ein bisschen länger. Alle sagten mir, dass sie Zeit brauche. Ihr Schweigen sagte mir, dass sie Zeit brauchte.
Zum Teufel mit der Zeit.
Die Zeit verging unerbittlich. Ein endloser Zyklus aus schlafen, wach sein, den Schmerz ertragen, wieder und wieder. Ich hasste die verdammte Zeit.
Tenley war seit drei Wochen weg. Jeder Tag ohne sie war ein Entzug für die Sinne, nicht enden wollend und quälerisch. In der ersten Woche hatte ich sie jeden Tag angerufen. Jedes Mal war die Mailbox angegangen. Sie hatte nie zurückgerufen. Ich hatte damit aufgehört, weil es ein mieses Gefühl war, so mühelos abserviert worden zu sein.
Überall wurde ich an sie erinnert, zu Hause, bei der Arbeit, im Serendipity. Es gab kein Entkommen. Wenigstens verstand ich jetzt, weshalb sie nach Chicago gekommen war: um sich den fortwährenden Erinnerungen zu entziehen. Allerdings konnte ich nicht verstehen, was sie dazu veranlasst hatte, zurückzugehen. Sie konnte vor mir davonlaufen, doch an den Ort zurückzukehren, vor dem sie geflohen war, ergab keinen Sinn. Außer sie wollte sich wieder mit Schuld beladen. Es war leicht, der Zukunft eine Absage zu erteilen, wenn sie sich von der Vergangenheit einholen ließ. Ich kannte das. Ich hatte das jahrelang getan, bis Tenley aufgetaucht war.
An der Tür zum Separee ertönte ein leises Klopfen. Lisa sah schon wieder nach mir.
Inked Armor war geschlossen, doch ich hatte in den letzten drei Wochen den Großteil meiner Freizeit im Laden oder aber in Tenleys leerer Wohnung verbracht. In meiner Wohnung allein zu sein war unerträglich. Im Laden konnte ich wenigstens so tun, als sei die Lage nicht so beschissen. Wie Schatten waren überall ihre Spuren, aber nicht in dem Maße wie in ihrer oder meiner Wohnung. Es war wahnsinnig bedrückend. Trotzdem ging ich jeden Tag zu ihr hinüber, und wenn ich auch nur kurz nach dem Rechten sah. An den schlimmsten Tagen blieb ich stundenlang und gab mich dem schmerzhaften Gefühl hin, allein dort zu sein.
Lisa steckte den Kopf durch die Tür. »Hey, ich hab versucht, dich anzurufen.«
»Tut mir leid, mein Telefon ist ausgeschaltet.«
Ich nahm einen Rotstift und malte eine Fläche auf meiner Skizze damit aus. Es war nicht der richtige Farbton. Ich legte den ruinierten Entwurf in den Ordner zu den anderen und nahm ein neues Blatt Papier.
»Cassie erwartet uns in einer Stunde. Warum machst du nicht Schluss und fährst mit mir und Jamie?«
»Ach ja. Ich komme wohl nicht mit.«
Nachdem ich Thanksgiving hatte ausfallen lassen, hatte sich Cassie angewöhnt, die Truppe vom Inked Armor jeden Sonntag einzuladen. Anfangs hatte ich abgelehnt, weil jemand im Laden sein musste. Dann hatte Lisa die Öffnungszeiten geändert, und der Laden blieb am Sonntag zu. Niemand hatte mich nach meiner Meinung gefragt. Weil Chris und Jamie Partner und damit einverstanden waren, galt die Mehrheitsregel. Lisa nannte den langsameren Rhythmus des Winters als Grund, als ich gegen ihre Entscheidung Einspruch erhob. Ich war nicht dumm. Erzwungene Sozialkontakte würden nicht funktionieren. Tenley allein konnte die Dinge zum Besseren wenden, und sie redete nicht mit mir – also war ich geliefert.
Lisa schnappte sich den Rollhocker, setzte sich und rollte auf die andere Seite des Arbeitstisches. TK maunzte leise bei der Störung. So allein in meiner Wohnung war sie einsam, weshalb ich sie mit in den Laden nahm, wenn ich dort nach Feierabend der Leere zu entkommen versuchte. Sie war auch dabei, wenn ich in Tenleys Wohnung ging.
»Du darfst das Abendessen diesmal nicht versäumen«, sagte Lisa.
»Ich will das hier fertig machen.«
Ich legte das neue Blatt Papier über den Entwurf und kopierte ihn. Sobald ich das Farbschema erarbeitet hätte, würde ich Chris bitten, mir das Tattoo zu stechen. Jamie wäre mir eigentlich lieber gewesen, weil es ein Porträt und kein Tribal-Tattoo war, doch er hatte abgelehnt. Chris ebenfalls, doch ihn könnte ich umstimmen. Ich hatte keinen Platz mehr dafür auf meinen Armen, außer ich deckte ein altes Tattoo damit ab. Ich dachte ernsthaft darüber nach, denn ich wollte das Ding unbedingt haben. Bei der Aussicht auf frische Tinte fühlte ich mich besser.
Lisa legte ihre Hand auf meine. Ich zog sie weg, weil ich den Körperkontakt nicht ertrug.
»Warum machst du nicht eine Pause? Der Entwurf wird auch noch da sein, wenn du zurückkommst.«
»Lieber nicht.« Ich spürte ihren prüfenden Blick. Ich brauchte wohl eine Dusche, auf jeden Fall eine Rasur, doch das hätte eine gewisse Anstrengung bedeutet.
»Wie lange bist du schon hier? Bist du letzte Nacht überhaupt zu Hause gewesen?«
»Ja.« Was nicht ganz stimmte.
»Hast du geschlafen?«
»Ein paar Stunden.«
Seit Tenley weg war, war schlafen ein Problem. Ich schlief drei, vielleicht vier Stunden, bevor die Albträume begannen. Manchmal handelten sie von meinen Eltern, doch meistens von Tenley. Sie trug cremefarbenen Satin, der durch einen kleinen roten Fleck zwischen ihren Brüsten ruiniert wurde. Der Fleck wurde größer und größer und verwandelte den Cremeton in glänzendes Rot. Im Traum konnte ich nie zu ihr gelangen. Ich steckte in einem Türrahmen fest und musste hilflos dabei zusehen, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Schließlich nahm ihre Haut die Farbe des Satins an.
Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Die Albträume waren zu aufwühlend. Nach dem ersten Mal hatte ich Tenley mitten in der Nacht auf ihrem Mobiltelefon angerufen. Ich hatte keine Nachricht hinterlassen, doch ich hatte es mehrmals hintereinander versucht, nur um ihre Ansage zu hören.
»Du solltest wirklich mitkommen«, drängte Lisa.
»Ich bin im Moment keine gute Gesellschaft, und ich will TK nicht allein lassen.« Ich tappte mit dem Fuß, während ich darauf wartete, dass Lisa mich endlich wieder alleine ließ.
»Ich weiß, dass du sie vermisst, doch alle anderen auszuschließen, wird auch nicht helfen.«
Ich legte den Bleistift weg und schloss die Augen. Lisa würde nicht lockerlassen. »Mir ist nicht danach, kannst du mich also, bitte, in Ruhe lassen?«, fauchte ich.
Erschrocken grub TK ihre Krallen in meinen Oberschenkel.
»Na schön. Wenn du unbedingt willst.« Lisa sprang von ihrem Stuhl auf und griff über den Tisch. Sie hob TK von meinem Schoß und marschierte zur Tür.
»Was zum Henker tust du da?« Ich stand zu schnell auf. Mir wurde schwindlig, und ich musste mich wieder setzen.
»Zu Cassie gehen. Bis später.«
Ich versuchte es noch einmal. Diesmal gelang es mir, mich trotz des Schwindelgefühls auf den Füßen zu halten. »Gib mir TK zurück.«
»Nein.«
»Gib mir die verdammte Katze!«, brüllte ich. Es war völlig übertrieben, mich so aufzuregen. Lisa würde schließlich nicht mit ihr davonlaufen, doch Vernunft war in letzter Zeit ein Fremdwort für mich.
Lisa drückte TK vorsichtig gegen die Brust und streichelte ihr gesträubtes Fell. »Erst wenn du zustimmst, zu Cassie mitzukommen.«
»Du willst mich erpressen, damit ich zu einem Abendessen gehe?«
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist, Hayden, aber was du hier abziehst, wird sie auch nicht zurückbringen. Cassie ist krank vor Sorge um dich. Ich bin besorgt um dich. Du kommst nicht klar.«
»Ich komme sehr wohl klar.«
»Wirklich? Denn soweit ich unterrichtet bin, sind Isolation und fehlende Körperhygiene zwei prima Indikatoren dafür, dass jemand das nicht tut.«
»Könnten wir das im Moment bitte lassen? Es ist einfach zu viel. Ich weiß nicht …« Die Wut verebbte und wurde von der riesigen Leere ersetzt, die ich seit Tenleys Verschwinden empfand.
Lisa trat von der Tür weg. »Lass uns zu dir hinaufgehen, damit du duschen kannst. Vielleicht schaffst du es sogar, diesen Hipster-Bart abzunehmen. Dann gehen wir zu Cassie.«
Ich seufzte resigniert. »Na schön.«
TK sprang von Lisas Arm, kam zu mir gehüpft und schmiegte sich zwischen meine Beine. Als ich sie hochhob, streckte sie sich und legte ihre Pfoten auf meine Brust. Dann rieb sie ihren Kopf an meinem Kinn, als fände sie das Vorhaben gut.
Wir verließen den Laden, und ich schloss ab. Jamie saß draußen im Wagen und wartete. Er stieg aus, und die beiden folgten mir ins Foyer meines Wohnhauses. Es hatte seine Vor- und Nachteile, direkt über dem Arbeitsplatz zu wohnen, vor allem, im Moment, da ich mich am liebsten gar nicht in meiner Wohnung aufhielt. Sie folgten mir in den zweiten Stock hinauf. Ich brauchte eine Weile, bis ich meinen Schlüssel fand, und meine Hand zitterte, als ich ihn ins Schloss steckte. Ich wusste nicht, ob ich heute schon etwas gegessen hatte. Oder gestern. Wahrscheinlich war mir deshalb im Laden schwindelig geworden.
Ich ging hinein, streifte die Schuhe ab und stellte sie in den Schrank. »Äh, einen Moment. Ich hab nicht mit Besuchern gerechnet. Ich muss erst ein paar Sachen aufräumen.«
Das war eine Lüge. Meine Wohnung war wie immer tipptopp. Dass ich Tenleys Unordnung ertragen hatte, war ein Beweis dafür, wie wichtig sie mir war, weil mich Unordnung nämlich sonst in den Wahnsinn trieb. Auch wenn Dinge wie rasieren seit Tenleys Verschwinden nicht mehr unbedingt nötig schienen, hatte meine Zwanghaftigkeit in anderen Bereichen zugenommen. Mein Drang zu Organisation und Perfektion wurde stärker, je länger sie weg war.
Ich ging den Gang entlang, schaltete das Licht ein und bog nach rechts ab. Ich sah in jedes Zimmer, wobei ich mir das Schlafzimmer bis zum Schluss aufhob. Die lähmende Angst ließ nach, als ich den Lichtschalter drückte und der Raum in ein warmes Licht getaucht wurde. Ich betrachtete die weichen Linien meiner schiefergrauen Tagesdecke und der Kissen, die am Kopfende lehnten. Das rotschwarze in der Mitte war das Einzige, das den Fluss unterbrach. Ich hatte es aus Tenleys Wohnung mitgenommen, weil sie darauf schlief.
Ich kehrte zu Lisa und Jamie zurück, die geduldig an der Tür warteten. Sie wussten genau, was ich tat, bevor ich sie hereinließ. Sie hatten bereits ihre Schuhe ausgezogen und in den Schrank gestellt.
»Alles okay?«, fragte Jamie.
»Ja. Macht’s euch bequem.« Ich bedeutete ihnen, ins Wohnzimmer zu gehen.
»Wow, Hayden, hier sieht’s ja chaotisch aus«, scherzte Jamie und stieß fast gegen Lisa, die mitten im Raum stehen geblieben war.
»Oh, wow«, hauchte sie.
Es war eine Reaktion auf die neuen Kunstwerke an der Wand. Lisa und Jamie waren eine Weile nicht hier gewesen. Nicht, seit es mit Tenley interessant geworden war. Sie waren früher oft nach der Arbeit oder vor einer Kneipentour vorbeigekommen. Das letzte Mal, dass ich ausgegangen war, das Dollhaus nicht mitgerechnet, war an dem weit zurückliegenden Abend im September gewesen, als ich Tenley dabei beobachtet hatte, wie sie den Blödmann, der die Finger nicht von ihr lassen konnte, geschlagen hatte.
Ich hatte nicht gewusst, dass dieser Abend für mich der Anfang vom Ende gewesen war. Ohne sie war ich schlimmer dran als zuvor, und jetzt hatte ich nicht einmal mehr Laster.
»Du warst fleißig«, stellte Jamie auf seine ruhige, unvoreingenommene Art fest.
»Es hilft, die Zeit totzuschlagen, wenn ich nicht schlafen kann.«
Lisa kam näher und starrte auf die gerahmten Zeichnungen. Ich fühlte mich ertappt. Sie waren eigentlich nur für meine Augen gedacht.
»Hat Tenley sie gesehen?«
Schon ihren Namen zu hören, tat weh. »Nur das in der Mitte.«
Ich hätte mein Leben gern drei Wochen zurückgedreht. Ich wäre mit ihr im Bett geblieben, anstatt TK aus ihrer Wohnung zu holen; die Katze hätte eine Nacht auch ohne Futter überstanden. Dann hätte sie ihr Beinahe-Schwager mir nicht weggenommen.
Doch so war es nicht gelaufen. Tenley hatte mich verlassen. Und auch wenn sie zurückkam, gab es keine Garantie dafür, dass ich noch ein Faktor in ihrer Gleichung war. Angesichts der fehlenden Kommunikation war anzunehmen, dass es vorbei war.
Ich musste verrückt sein. Sie war beinahe halb so lange weg, wie wir überhaupt zusammen gewesen waren, doch ich hatte trotzdem Schwierigkeiten, über sie hinwegzukommen. »Ich geh mal duschen. Macht euch einen Drink, wenn ihr wollt. Ihr wisst ja, wo alles steht.«
Erschöpfung übermannte mich, als ich mein Schlafzimmer durchquerte und ins Badezimmer ging. Ich stellte das Wasser an, dann kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, wo ich meine Sachen auszog und in die verschiedenen farblich markierten Wäschekörbe warf, bevor ich wieder ins Bad ging. Ich prüfte, ob das Wasser warm genug war, und stellte mich unter den Strahl.
Zwanzig Minuten später war ich sauber, rasiert und angezogen. Normalerweise zog ich für die Zusammenkünfte bei Cassie eine Krawatte an, doch heute waren Jeans und ein Button-down-Hemd alles, was ich auf die Reihe bekam.
Ich fand TK an ihrem üblichen Platz: auf meinem Bett, neben Tenleys Kissen zusammengerollt. »Bis später«, sagte ich und kraulte sie unterm Kinn.
Bevor wir gingen, gab ich ihr frisches Wasser und füllte Futter in ihre Schale. Als wir auf die Straße traten, standen Chris und Sarah neben dem Auto. Ich fühlte mich wie das fünfte Rad am Wagen. Fast hätte ich mich umgedreht und wäre wieder im Haus verschwunden.
»Du setzt dich nach vorn, Hayden, da hast du mehr Beinfreiheit«, sagte Lisa und kletterte zu Sarah auf den Rücksitz.
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und bewunderte Chris, der sich hinter mir ganz klein machen musste, selbst als ich meinen Sitz nach vorn schob.
Während der kurzen Fahrt in den Vorort, wo Cassie und Nate wohnten, unterhielten sich Lisa und Sarah über irgendeine Wellness-Sache, die sie organisiert hatten. Wäre Tenley dabei gewesen, hätten die beiden sie dazu eingeladen.
Cassie und Nate wohnten in einem am See gelegenen Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende im Norden Chicagos. Wir parkten in ihrer Auffahrt, und alle bis auf Chris stiegen aus. Er stieß einen Fluch aus und hielt sich keuchend am Rahmen fest. Es war, als würde er versuchen, aus einem Spielzeugauto auszusteigen. Ich lächelte.
»Du …« Er zeigte auf mich. »… sitzt auf der Heimfahrt hinten.«
»Ist nicht mein Fehler, wenn du nicht schlau genug bist, dir ein Fahrzeug mit Türen zu kaufen. Schließlich schneit es fünf Monate im Jahr.«
»Ich brauche keine Blechkiste – mein Mädchen hat schon eine.« Er legte einen Arm um Sarah und zog sie an sich.
Der leise Klaps und die geflüsterte Zurechtweisung ärgerten mich, und ich blickte weg. Ich hasste es, dass ich zu empfindlich war, um mit ihrem Glück klarzukommen. Nachdem wir über die gekieste Auffahrt zur Eingangstreppe gegangen waren, klingelte ich.
Ich hatte mich im Serendipity nicht mehr blicken lassen, nachdem Tenley verschwunden war. Cassie hatte eine neue Teilzeitkraft einstellen müssen, die immerhin kein Mädchen war. Cassie sagte, es sei nur für die Ferienzeit, doch ich konnte es nicht ertragen, dass jemand anders hinterm Kassenschalter saß. Deshalb holten Lisa und Jamie jetzt den Kaffee. Zum Glück schickte Cassie den neuen Mitarbeiter mit den Bestellungen nicht zu mir. Das hätte mir vielleicht den Rest gegeben.
Stattdessen brachte Cassie die Bücher persönlich und immer nur einzeln, weshalb sie zweimal die Woche kam. Ich hatte nichts dagegen, denn mir war bewusst, dass sie nach mir sehen wollte. Doch ich sorgte dafür, dass wir nicht allein waren, weil ich wusste, worum es in dem Gespräch gehen würde, und das hätte ich nicht ertragen.
Cassie drückte auf den Türöffner, als hätte sie am Fenster auf uns gewartet. »Hayden! Wie schön, dass du da bist.« Sie schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest.
»Lisa hat mir keine Wahl gelassen.« Ich tätschelte Cassies Rücken. Die Berührung war ungewohnt und seltsam.
»Du hast abgenommen. Isst du genug? Kann ich dir etwas bringen?«
Deshalb hatte ich nicht kommen wollen. Ich wollte weder Mitleid noch Besorgnis.
»Nein, ich brauche nichts, danke.«
Sie zog mich hinein, und die anderen folgten uns in die Diele. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit jetzt auf die anderen, umarmte sie und plauderte. Nate kam mit einem Glas Scotch in der Hand aus dem Wohnzimmer. Ich zog Schuhe und Mantel aus und ging auf ihn zu. Wir gaben uns die Hände und klopften uns auf den Rücken.
»Wie geht’s dir?«, fragte er und musterte mich ebenfalls.
»Gut. Aber ich brauche einen Drink.«
Ich ging um ihn herum und weiter zur Bar, wo ich mir selbst eine ordentliche Menge Scotch eingoss. Nate hatte immer guten Stoff. Das Eis ließ ich weg, weil ich ihn nicht verwässern wollte. Ich setzte mich und nippte an meinem Drink, während ich meine Hände ruhig zu halten versuchte.
Bierflaschen wurden geöffnet, Wein eingeschenkt, Appetithäppchen serviert. Alle machten es sich bequem, und die Unterhaltung um mich herum ging weiter, während ich dabei zusah, wie mein Drink sich dezimierte – es ging um Pläne für Weihnachten, Neujahr und letzte Einkäufe. Das Gespräch plätscherte vor sich hin. Nichts davon war wichtig. Ich hatte keine Lust, mich daran zu beteiligen.
Ich fragte mich, was Tenley tun würde, ob sie Pläne für die Feiertage hatte. Wahrscheinlich hatte sie Freunde in Arden Hills, die Zeit mit ihr verbringen wollten; Menschen, die sie zurückgelassen hatte. Oder vielleicht war sie bis dahin auch wieder da. Ich würde ein Geschenk für sie besorgen, für alle Fälle, auch wenn sie nicht mehr mit mir zusammen sein wollte.
Zu unruhig, um länger still dazusitzen, stellte ich mein Glas hin und ging zur Treppe. Das Geländer unter meiner Handfläche war glatt, als ich die Wendeltreppe hinaufstieg. Treppen beunruhigten mich manchmal.
Neben den Gerüchen war das Hinaufsteigen in den ersten Stock das, woran ich mich von der Todesnacht meiner Eltern am lebhaftesten erinnerte. Wie ich heimlich in mein Zimmer zu gelangen versucht hatte. Mischiefs warnendes Maunzen, bevor ich den Treppenabsatz erreicht hatte. Der endlose Flur. Der ungewohnte Lichtstreifen unter der Schlafzimmertür. Und der widerwärtige Geruch des Todes, gefolgt von dem grauenhaften Anblick, als ich in dem Wissen, dass etwas nicht stimmte, die Tür aufstieß.
Als ich oben war, stieß ich die angehaltene Luft aus. Ich blickte in jedes Zimmer und blieb vor dem stehen, das ich während meiner kurzen Zeit bei Cassie und Nate bewohnt hatte. Von Erschöpfung übermannt, setzte ich mich auf die Bettkante. Die letzten drei Wochen waren eine emotionale Achterbahnfahrt gewesen, und der Stress hatte mich ausgebrannt. Ich war mir nicht sicher, wie lange ich dort gesessen hatte, als schließlich jemand klopfte.
Nate stieß die Tür auf. »Ich dachte mir schon, dass du hier bist.«
»Ich brauchte eine Pause.«
»Hast du etwas gegen Gesellschaft?« Er reichte mir das Glas, das ich unten hatte stehen lassen. Es war aufgefüllt.
Als ich die Achseln zuckte, setzte er sich neben mich. Er beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln auf, während er seinen Drink schwenkte und die Eiswürfel klirren ließ.
Ich wartete darauf, dass er etwas sagte. Nate war ein Typ, der alles offen aussprach. Als ich bei ihnen gewohnt hatte, hatte ich ein Problem damit gehabt. Er hatte mich dazu bringen wollen, über das zu reden, was ich durchmachte. Als ich ihm von den Albträumen erzählt hatte, hatte er darauf bestanden, dass ich einen Psychiater konsultierte – jemand anderen als ihn, der einen unvoreingenommenen Blick hätte. Ich hatte abgelehnt. Kurze Zeit später war ich achtzehn geworden und ausgezogen. Von da an war es steil bergab gegangen. Ohne jemanden, der mir Grenzen steckte, war ich auf die schiefe Bahn geraten. Es hatte über zwei Jahre gedauert, bis ich wieder zu mir gefunden hatte.
»Tut mir leid, Hayden, aber du siehst nicht gut aus.«
»Du hättest mich sehen sollen, bevor ich mich rasiert habe.« Als er nichts sagte, seufzte ich. »Ich schlafe schlecht.«
»Hast du wieder Albträume?«
»Ist nicht so schlimm. Die kommen immer, wenn ich gestresst bin.«
In den letzten Jahren waren sie erträglich gewesen. Gelegentlich waren sie zurückgekehrt, doch nach ein paar Wochen wieder verschwunden. Bis Tenley gegangen war. Seitdem kamen sie jede Nacht.
»Worum geht’s darin?«
»Das Übliche.« Das war nicht ganz richtig.
»Sind sie wie die, die du nach dem Mord an deinen Eltern hattest?«
»So in etwa.«
Während mir die von meinen Eltern hauptsächlich auf die Nerven gingen, machten mir die von Tenley eine Heidenangst. Normalerweise waren es Erinnerungsfetzen und Bruchstücke von Ereignissen, wie die Vernehmung durch Cross. Ein paar der Albträume handelten von früheren Liebhaberinnen, die sich stets in Tenley verwandelten. Dass mein Unterbewusstsein so etwas zuließ, machte mich rasend. Doch so sehr sie an meinen Nerven zerrten, waren es doch nur Träume, die mit meinen Erinnerungen verschmolzen. Nichts, was Nate wissen musste.
»Soll ich dir ein Schlafmittel verschreiben?«
»Nee, das geht schon wieder vorbei.« Ich hatte bereits Medikamente in meinem Schrank, mich aber bis auf ein einziges Mal vor ein paar Monaten stets geweigert, sie zu nehmen. Auch wenn mir manche Dinge zu schaffen machten, wusste ich doch, was Drogenabhängigkeit bedeutete. Verschrieben oder nicht, ich hatte nicht den Wunsch, in diese selbstzerstörerische Falle zu tappen. Wir saßen eine Weile da, und ich wartete darauf, dass er weitere Fragen stellte, doch das tat er nicht. Schließlich kamen die Worte doch, obwohl ich mir geschworen hatte, nicht mit ihm darüber zu sprechen.
»Ich muss dauernd an den Abend denken, als sie gegangen ist, und ich frage mich, ob ich etwas hätte anders machen können. Und da ist diese eine Sache, die ihr Schwager gesagt hat, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht.«
»Was denn?«
»Er hat gesagt, ich wäre ihre Strafe.«
»Strafe?« Zwischen Nates Augen bildete sich eine Falte. »Wofür?«
»Ich weiß nicht. Für’s Überleben?« Ich rieb mir den Nacken.
»Das erscheint mir ein wenig extrem, wenn man bedenkt, was Tenley durchgemacht hat.«
»Sie hat es nicht abgestritten. Also muss es wahr sein.«
»Ich sehe das nicht unbedingt so. Es kommt auf den Kontext an, oder nicht? Und ihr Schwager scheint genau der Mistkerl zu sein, von dem man mir erzählt hat. Ich denke, die eigentliche Frage ist, ob du selbst so empfindest.«
Ich zögerte. »Vielleicht. Er meinte, Tenley habe sich unters gemeine Volk gemischt.«
»Unters gemeine Volk? Du lebst nicht in einer Sozialbausiedlung.«
»Ich strebe aber auch nicht gerade danach, der Oberschicht anzugehören, oder? Meinen Highschool-Abschluss habe ich aus Mitleid bekommen, und nicht, weil ich mich sonderlich dafür angestrengt hätte. Ich habe kein Hochschuldiplom und entspreche ganz bestimmt nicht irgendwelchen gesellschaftlichen Erwartungen.«
Im Allgemeinen wollten nur jene Leute etwas mit mir zu tun haben, die meine Tattookunst auf ihrem Körper wollten. Was nicht viel über mich als Person sagte.
»Erstens besteht die Oberschicht hauptsächlich aus narzisstischen Arschlöchern, weshalb dieser Status gar nicht so erstrebenswert ist. Zweitens hatten deine Probleme in der Highschool nichts mit Unfähigkeit zu tun. Dein Abschlusszeugnis wurde dir verliehen, weil du kompetent bist. Du warst um Klassen besser als deine Mitschüler, aber du hast dich zu Tode gelangweilt. Weshalb du dich zum Teil so verhalten hast.«
»Ich wäre auch so eine Nervensäge gewesen, wenn es nicht so langweilig gewesen wäre.«
»Mag sein. Aber seien wir ehrlich, Hayden – so sehr ich deine Eltern auch geliebt habe, sie haben nicht besonders gut auf dich aufgepasst.«
Er hatte recht, auch wenn es sich wie Verrat anfühlte, sie zu kritisierten. Erst als ich begonnen hatte, betrunken und high nach Hause zu kommen, hatten sie versucht, mich in die Schranken zu weisen. Aber da war es bereits zu spät gewesen.
Als ich schwieg, fuhr er fort. »Nonkonformismus war dein Motto, seit du eigenständig gedacht hast. Außerdem warst du das einzige Kind, und sie konnten nicht Nein zu dir sagen. Als du sie verloren hast, hast du auch dich selbst verloren. Aber deswegen bist du noch lange keine Strafe.«
Ich hob eine Hand. Er übertrieb es mit seinen Affirmationen. »Genug mit dem Psychogefasel.«
Nate lächelte amüsiert. »Ich fürchte, das ist ein natürlicher Impuls. Und an Therapie ist nichts Falsches.«
»Ich bin nicht verrückt.«
»Das behaupte ich auch nicht.«
»Ich muss nicht über meinen Kram reden.«
»Jeder muss über seinen Kram reden.«
»Ich hätte besser nichts gesagt«, erklärte ich, verärgert darüber, dass ich den Mund überhaupt aufgemacht hatte.
»Du hast die letzten sieben Jahre damit verbracht, dich obsessiv mit dem Tod deiner Eltern auseinanderzusetzen. Damit bestrafst du dich selbst. Also wäre es nur natürlich, dass du Tenleys Weggang als Reaktion auf etwas begreifst, was du getan hast, und nicht auf äußere Umstände.«
Es war schwer, die Wahrheit zu leugnen. Aus diesem Grund war ich Nate stets aus dem Weg gegangen. Ich redete zu viel in seiner Anwesenheit.
»Ich halte absichtlich jeden auf Distanz.« Ich schüttelte den Kopf angesichts der Ironie. »Und in dem Moment, als ich Tenley an mich heranlasse, verlässt sie mich. Es tut verdammt weh. Es ist, als hätte ich ein riesiges Loch in meiner Brust, das nur dann verschwinden würde, wenn sie zu mir zurückkäme. Nur dass das nicht stimmt – denn diese Sache wird ab jetzt immer zwischen uns stehen.«
»Meinst du ihren verstorbenen Verlobten?«
Nate wartete schweigend.
Es war mir schrecklich unangenehm, dass er über meine Angelegenheiten Bescheid wusste.
»Eins verstehe ich nicht ganz: Wenn ich so wegen einer Frau leide, die noch immer am Leben ist und die ich erst seit ein paar Monaten, wie hat sie es dann geschafft, weiterzumachen, nachdem sie neun Menschen verloren hat? Deshalb denke ich, dass ich ihre Strafe bin. Als hätte sie mich gerade deshalb ausgesucht, weil ich nicht der Richtige für sie bin.«
»Liebe kommt nicht immer zum passenden Zeitpunkt.«
»Tenley liebt mich nicht.« Ich wünschte mir, die Leute würden das nicht mehr behaupten. Zuerst hatte ich es selbst geglaubt. Doch nach Wochen des Schweigens nicht mehr. Ich war nach Arden Hills gefahren, um sie zurückzuholen, doch der Wichser Trey hatte mein Vorhaben vereitelt. Falls ich ihn je wiedersehen würde, würde ich ihm die Zähne einschlagen.
»Hat sie dir das gesagt?«
»Sie hat mich verlassen. Das sagt doch wohl alles.«
»Hast du dich gefragt, ob sie vielleicht gegangen ist, weil sie nicht weiß, wie sie mit dem, was sie empfindet, umgehen soll?«
»Sie ist gegangen, weil sie sich um ihr Erbe kümmern muss.«
»Bestimmt spielt das eine Rolle.«
»Egal. Die Gründe ändern nichts daran, dass sie weg ist.«
Ich leerte den Rest meines Scotchs und stand vom Bett auf. »Ich muss nachfüllen.«
Beim Abendessen ging es genauso weiter. Ich klinkte mich aus und dachte an Tenley. In knapp zwei Wochen war Weihnachten, und ich fragte mich, wie Tenley die Feiertage überstehen würde. Früher hatte ich sie in Alkohol ertränkt und mit Drogen vernebelt. Jetzt beschränkte ich mich auf Scotch – ein maßvoller Rausch und so.
Nach dem Abendessen scheuchte ich alle aus der Küche, um aufzuräumen; im Chaos Ordnung zu schaffen half mir, meine Ängste zu bekämpfen. Ich wollte nach Hause, weil ich heute noch nicht in Tenleys Wohnung gewesen war. Die Abweichung von meiner Routine verschlimmerte meine Zwangsstörung und machte mich zu einem Getriebenen.
Als ich den letzten Teller weggeräumt hatte, ging ich zurück ins Wohnzimmer. Die Mädchen drängten sich um Cassies Smartphone. Ich beugte mich vor, um herauszufinden, was sie so faszinierte, und hörte, wie Lisa irgendetwas von Tenley flüsterte. Sie erwähnten sie nur selten in meiner Gegenwart, aus Angst, ich könnte durchdrehen. Was nicht unwahrscheinlich war. Lisa bewegte ein wenig den Kopf, woraufhin das Display sichtbar wurde. Ich erkannte eine E-Mail von Tenley.
»Verdammt, was ist das?«
Ich schnappte Cassie das Smartphone aus der Hand und überflog die Mail, bevor sie es mir wieder wegnahm. Es war eine Überweisung für Tenleys Miete. Sie hatte sie früh geschickt, normalerweise zahlte sie am fünfzehnten jedes Monats. In den Zeilen, die sie dazugeschrieben hatte, sagte sie, dass es ihr gut gehe, sie aber noch nicht wisse, wann sie wiederkomme. Am Schluss fragte sie, wie es mir gehe, ob ich klarkomme. Als täte ich ihr leid. Es war ein solcher Tritt in die Eier.
»Sie schreibt dir Mails? Seit wann?«, fragte ich. Weil ich den verdammten Schmerz nicht verbergen konnte, schlug er in Wut um.
Mein Ausbruch ließ sie entsetzt zurückweichen. Sarah und Lisa tauschten Blicke.
»Ist sie mit euch auch in Kontakt?« Ich blickte von einem zum anderen. Ihre schuldbewussten Mienen genügten mir als Antwort. Ich blickte Lisa vorwurfsvoll an. »Willst du mich verarschen? Ausgerechnet du hast mir das verheimlicht? Ich dachte, du wärst meine Freundin. Wo bleibt deine verdammte Loyalität?«
»Wir wollten dich nicht aufregen«, erklärte Lisa.
Aufregen traf es nicht mal im Ansatz.
Ich konnte nicht glauben, dass sie mit allen außer mir in Kontakt stand. »Fahrt doch allesamt zur Hölle.«
Ich schlüpfte in meine Schuhe und nahm meine Jacke aus dem Schrank.
»Hayden, warte!«, rief Lisa.
Ich wirbelte herum. »Lass mich in Ruhe.«
»Reiß dich zusammen, Alter«, sagte Jamie, der hinter Lisa auftauchte.
Mein Blick schnellte zu ihm, als er näher kam, wahrscheinlich war er um ihre Sicherheit besorgt. »Verpiss dich.«
Ich riss die Tür auf, trat hinaus und schlug sie hinter mir zu, doch Dampf abzulassen brachte keine Befriedigung. Es fühlte sich eher so an, als hätte jemand meine Gefühle in Säure ertränkt. Ich ging an Lisas Beetle vorbei und stürmte die Auffahrt hinunter. Ich fror, denn ich war für das Wetter nicht richtig angezogen, doch das war mir egal. Ich musste weitergehen, bis ich einen Bus oder ein Taxi erwischte. Ich konnte jetzt keinen von ihnen ertragen; ich war zu verletzt.
Die Tür hinter mir ging auf, und das Geräusch von Schritten wurde lauter, weshalb ich einen Zahn zulegte.
»Hayden! Bruder, bleib stehen!«, rief Chris.
Das fehlte mir noch. Als seine Hand meine Schulter berührte, stieß ich sie weg und lief weiter. »Ich will es nicht hören.«
»Komm schon, Mann. Ich weiß, dass du wütend bist, aber du kannst nicht nach Hause laufen.«
Ich fuhr herum. »Und ob ich das kann. Auf keinen Fall setze ich mich mit den beiden in einen Wagen.«
»Tee hat sich letzte Woche lediglich mit Sarah in Verbindung gesetzt. Und das nicht, um zu plaudern. Sie hatte etwas, das ihrem Betreuer an der Uni persönlich übergeben werden musste, darum hat sie sie gebeten.«
»Was ist mit Cassie und Lisa?«
»Ich weiß nicht. Warum kommst du nicht wieder rein und fragst sie selbst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich brauche Abstand.«
Chris kam mir nicht länger nach. Er wusste, wann er mich in Ruhe lassen musste. Ich war nicht ganz zurechnungsfähig, und es wäre für alle Beteiligten das Beste, wenn ich mich erst einmal wieder beruhigte. Ein paar Minuten später fuhr Nates schwarzer Mercedes vor mir rechts ran. Das Fenster auf der Beifahrerseite surrte, als es heruntergelassen wurde, und er beugte sich über den Sitz und öffnete die Tür. »Lass mich dich nach Hause bringen.«
Er würde im Schritttempo bis zu Inked Armor neben mir herfahren, wenn ich nicht einstieg. Also ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte mich an.
»Es ist in Ordnung, wenn du wütend wirst«, sagte er und fuhr auf die Straße zurück.
»Ich will nicht darüber reden«, blaffte ich.
»Auch das ist in Ordnung.«
Ich fummelte am Radio herum, weil ich die angespannte Stille nicht ertragen konnte. Sämtliche Sender waren auf Rock aus den Siebzigern eingestellt.
»Darf ich etwas sagen?«
»Tust du doch sowieso.« Ich starrte aus dem Fenster. Jedes Mal, wenn wir an einer Straßenlaterne vorbeifuhren, erblickte ich in der getönten Scheibe mein Spiegelbild. Ich sah so fertig aus, wie ich mich fühlte.
»Das war erst das zweite Mal, dass Tenley Cassie kontaktiert hat. Das erste Mal hat sie es getan, um ihr mitzuteilen, dass sie eine Zeitlang weg sein würde, und um ihr eine Liste potenzieller Mitarbeiter zu geben, die sie vertreten könnten. Beide Male hat sie sich nach dir erkundigt.«
Ich antwortete nicht. Ich hatte nichts zu sagen. Was hieß das schon, dass sie nach mir gefragt hatte? Wie es mir ging, schien sie weniger zu kümmern als ihre Gewissensbisse, die wie ein Betonklotz um ihren Hals hingen.
Als wir vor Inked Armor hielten, packte ich den Türgriff, doch Nate drückte auf den Sperrknopf und hielt ihn fest. »Warte.«
Ich seufzte. »Ich bin nicht in der Stimmung dazu.«
»Wirklich schade, weil ich dir gerne etwas sagen würde. Menschen erleben manchmal schreckliche Dinge, Hayden. Immer wieder. Du hast es selbst erlebt. Wir können das nicht kontrollieren, aber wir entscheiden, wie wir damit umgehen. Du musst dich endlich mit dem auseinandersetzen, was deinen Eltern passiert ist. Es wird nicht weggehen, nur weil du es willst.
Cassie hat Angst, dass du wieder anfängst, dich selbst kaputtzumachen. Als sie ihre Schwester verloren hat, war das tragisch, und dabei zuzusehen, wie du beinahe gemeinsam mit Eleanor untergegangen bist, hat sie fast zerstört. Tu ihr das nicht noch einmal an.«
»Willst du mir deswegen ernsthaft Schuldgefühle einreden?«, fragte ich wütend.
»Du brauchst Hilfe. Wenn das der einzige Weg ist, zu dir durchzudringen, von mir aus. Aber ich lasse nicht zu, dass meine Frau das noch einmal durchmachen muss.«
Das Klacken des Türschlosses war mein Signal zum Aussteigen.
Er fuhr mit quietschenden Reifen davon. Heftige Schuldgefühle überkamen mich. Natürlich hatte Cassie gelitten, als sie ihre Schwester verloren hatte – aber mir war nicht klar gewesen, dass mein Verhalten sie so mitgenommen hatte. Sie und Nate hatten mich trotz der Probleme, die ich machte, aufgenommen. Ich hatte ihre Zuwendung und Besorgnis nicht ertragen und war so schnell wie möglich wieder geflohen.
Nate hatte recht. Ich stand kurz vor dem nächsten Zusammenbruch. Ich hatte mich in den letzten sieben Jahren nicht sehr verändert.
TK zu füttern, war meine erste Pflicht, als ich nach Hause kam. Nachdem sie ihr Futter verschlungen hatte, nahm ich sie auf den Arm und ging zu Tenleys Wohnung hinüber. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, zog ich meine Schuhe aus und stellte sie auf die Matte neben Tenleys heruntergekommene weinrote Chucks. Ich machte einen Rundgang und sah in alle Räume, bevor ich in die Küche zurückging.
Der Kühlschrank war beinahe leer. Eine Packung mit Schmelzkäsescheiben, Gewürze, das Bier, das ich mitgebracht hatte, eine Kanne Wasser und die Zitronen, damit ihr Kühlschrank frisch roch, das war alles.
Ich nahm mir ein Bier und holte alles aus dem Kühlschrank, was abgelaufen war. Dann trat ich zu dem Schrank unter der Spüle und nahm eine neue Schachtel Natron heraus. Ich drückte den perforierten Rand ein, stellte sie in das untere Regal und warf die alte Schachtel weg. Dann entsorgte ich die Zitronenhälfte von gestern und ersetzte sie ebenfalls durch eine Neue.
Als Nächstes war ihr Bad dran. Obwohl es nicht benutzt worden war, machte ich es aus Gewohnheit sauber. Das Schlafzimmer war wie immer zuletzt dran. Ich war noch nicht so weit, es zu betreten, weshalb ich ins Wohnzimmer ging. Eine Kopie von Tenleys Masterarbeit lag auf dem Wohnzimmertisch, in der ich immer las, wenn ich eine Weile dablieb. Tenley war klug, und ich fragte mich, welches Problem ihr Betreuer mit ihrer Arbeit haben mochte. Er behinderte sie grundlos.
Sämtliche Vorhänge waren zugezogen. Ich zog sie zurück und blickte hinunter zu dem Schild von Inked Armor. Tenley konnte von hier aus direkt in den Laden schauen, so wie ich von meinem Schlafzimmerfenster aus in ihre Wohnung schauen konnte. Gott, es fühlte sich an, als wäre es eine Ewigkeit her, dass ich mich in ihrer Küche an sie herangemacht hatte. Schon damals hatte ich mich gefragt, ob sie wohl ein Tattoo hätte. Ich hatte die Antwort auf die Frage bekommen, doch der Preis kam mir jetzt verdammt hoch vor.
Ich ließ den Vorhang los und drehte mich zu dem leeren Wohnzimmer um. Mein Blick schweifte zum Bücherregal und verharrte bei den Fotoalben auf dem obersten Regalbrett. Die Alben waren nach Jahren sortiert. Alles, wonach ich suchte, und sämtliche fehlenden Puzzleteile mussten dort drin sein. Ich berührte einen Albumrücken und zog es aus dem Regal.
Der ausgeblichene Ledereinband war abgewetzt; er sah aus, als wäre er so alt wie Tenley. Darin befanden sich verblasste Polaroids, die mit Namen und Daten in ordentlicher Schreibschrift versehen waren. Tenleys Eltern lächelten mich an, ohne zu ahnen, was ihnen viele Jahre später widerfahren würde.
Tenley war ihrer Mutter von der Wölbung der Augenbrauen bis zu den vollen Lippen wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch die graugrünen Augen und das spitzbübische Funkeln darin hatte sie von ihrem Vater. Ich betrachtete die Geschichte ihrer Eltern vom College über den Beziehungsanfang bis zum Strandurlaub und schließlich ihrer Hochzeit. Ein Paar, das bereits auf vielen der Collegefotos aufgetaucht war, stand als Trauzeugen neben Tenleys Eltern.
Im zweiten Album tauchten die Babys der Trauzeugen auf, und die sorglosen Gesichter der Jugend wichen den etwas kantigeren von Erwachsen. Tenleys Mom hielt diese kleinen Hosenscheißer mit der faszinierten Ehrfurcht, die Säuglingen vorbehalten war. Zuerst war da ein dunkelhaariger Junge, und ein paar Jahre später tauchte ein blonder auf. Die Namen Trey und Connor standen in eleganter Handschrift am unteren Rand. Tenley hatte den Mann, den sie heiraten sollte, ihr Leben lang gekannt. Ich stellte das Album zurück und zog das Nächste heraus.
Auf der ersten Seite stand Tenleys Mutter auf der hinteren Veranda eines Schindelhauses, eine rosa Wolke am Horizont. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, ihre Hand lag auf der unter ihrem Kleid kaum verborgenen Wölbung.