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Die Behindertenarbeit befindet sich derzeit in einem hochdynamischen Umbruch. Dabei folgt sie neuen Leitprinzipien wie der "Inklusion", des "Empowerment" und der "Partizipation", die hierzulande als "Teilhabe" bezeichnet wird. Zwar gibt es inzwischen einige theoretische Beiträge zu den dahinter stehenden Konzepten; was aber fehlt, sind bislang konkrete Praxisbeispiele und damit Antworten auf die Fragen: Wie sieht der jeweilige Ansatz in der Praxis aus? Wie lässt sich das konkret umsetzen? Gibt es dafür in Deutschland schon vorbildliche Beispiele? Genau hier setzt das Buch an. Es dokumentiert für die Bereiche des Arbeitens, Wohnens und der Lebensgestaltung Best-Practice-Beispiele und zeigt damit auf, welche Zukunftsperspektiven sich für die Behindertenarbeit aus den neuen Leitprinzipien ergeben.
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3. Auflage 2018
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-033427-4
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-033428-1
epub: ISBN 978-3-17-033429-8
mobi: ISBN 978-3-17-033430-4
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Vorwort
Einführung: Von der Integration zur Inklusion im Sinne von Empowerment
Georg Theunissen & Helmut Schwalb
1 Wohnen und Leben in der Gemeinde
Georg Theunissen
1.1 Die Auflösung von Großeinrichtungen ist möglich!
Dieter Kalesse & Team
1.2 Gemeinwesenintegration und Vernetzung
Christian Bradl & Angelika Küppers-Stumpe
1.3 Aktion Menschenstadt
Georg Herrmann
1.4 »Teilhabe konkret« – Entwicklungen bei der Lebenshilfe in Baden-Württemberg und ihre Motive
Sandra Fietkau, Stephan Kurzenberger & Rudi Sack
2 Unbehindert am Arbeitsleben teilhaben
Helmut Schwalb
2.1 Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt – es geht!
Renata Neukirchen
2.2 Die Virtuelle Werkstatt Saarbrücken
Kerstin Axt
2.3 »Fit für die Werkstatt« oder eher »fit durch die Werkstatt«?
Michael Zobeley
2.4 Aus Prinzip: So normal wie möglich
Werner Neubrandt
2.5 Unbehindert miteinander arbeiten und lernen
Jürgen Dangl
2.6 Arbeitsplatzreife: Lernen im Leben
Klaus Hotz
3 Freizeit und Erwachsenenbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten
Reinhard Markowetz
3.1 »Freizeit Inklusive« – ein saarländisches Projekt
Thomas Fertig
3.2 Nix besonderes – Pfadfinden mit und ohne Behinderung
Jörg Duda
3.3 Freizeit miteinander erleben – sich gegenseitig beleben
Bertram Goldbach
3.4 Nachtrag zum Thema Freizeit für Menschen mit Lernschwierigkeiten
Reinhard Markowetz
3.5 Das Bildungszentrum Nürnberg auf dem Weg zu einer Erwachsenenbildung für alle
Michael Galle-Bammes
4 Empowerment und Inklusion durch Positive Verhaltensunterstützung
Georg Theunissen
Die Autorinnen und Autoren
Die gesellschaftliche Situation von Menschen mit Behinderungen befindet sich derzeit in einem hochdynamischen Umbruch: War sie bisher vom Prinzip der Integration gekennzeichnet, so geht es heute um Empowerment, Inklusion und Partizipation von Menschen mit Behinderungen. Dazu gibt es mittlerweile in der deutschsprachigen Literatur bemerkenswerte Überlegungen, so zum Beispiel in der 3. Auflage der Monographie »Empowerment und Inklusion behinderter Menschen« (Theunissen 2013), die als eine Einführung in die Heilpädagogik und Soziale Arbeit mit Menschen mit Behinderungen konzipiert wurde. Wenngleich dieses Werk als Wegweiser für eine zeitgemäße Behindertenarbeit hohe Wertschätzung erfährt, wünschen sich Professionals aus der Praxis weitaus mehr Beiträge, welche sich auf konkrete Beispiele, ja auf Best-Practice beziehen. Mit dem Buch »Inklusives Wohnen mit Behinderung« (Theunissen & Kulig 2016) wurde hierzu soeben ein wichtiger Schritt getan, der zeitgemäße Wohnformen und Unterstützungsangebote aufgreift.
Ferner ist die Thematik in Bezug auf Empowerment, Inklusion und Partizipation durch die von Deutschland ratifizierte UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen verstärkt angeregt worden. Insofern lohnt es sich, kurz darauf einzugehen – handelt es sich doch um eine Konvention, der es explizit um Empowerment, Partizipation und Inklusion zu tun ist.
Unter Hinweis auf die Allgemeine Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen, welche die Anerkennung der Würde und Werte sowie der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Menschen betont, wird mit der Behindertenrechtskonvention das Verständnis von einer Gesellschaft bekräftigt, in der alle Menschen mit oder ohne Behinderungen willkommen sind, respektiert werden, sich als zugehörig erleben sollen sowie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit Blick auf Menschen mit Behinderungen werden hierzu im Artikel 3 der Konvention allgemeine Prinzipien herausgestellt, so zum Beispiel »Nichtdiskriminierung«, »Respekt für Differenz und Akzeptanz von Behinderung als Bestandteil menschlicher Vielfalt und Menschlichkeit«, »Chancengleichheit« oder »Gleichberechtigung der Geschlechter«. Eine prominente Rolle spielt die Forderung der »vollen und effektiven Partizipation und Inklusion in der Gesellschaft«, die sich auf alle Aspekte menschlichen Lebens, auf die verschiedensten Lebensbereiche, Dienstleistungssysteme und gesellschaftlichen Bezugsfelder erstreckt (z. B. Erziehungs-, Bildungs- und Gesundheitswesen, Arbeitswelt, Freizeit, Wohnen, öffentlicher Nahverkehr, Einkaufsstätten, kulturelle Einrichtungen). Dabei tritt die Konvention als ein kritisches Korrektiv in Erscheinung, indem sie sich gegen alle Erscheinungen wendet, die Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft ausgrenzen, ihnen den Zugang erschweren oder gar verwehren. Dies wird ausdrücklich mit der Forderung der »vollen »Zugänglichkeit« unterstrichen. Als menschenrechtswidrig gelten in diesem Zusammenhang beispielsweise ein unfreiwilliger Ausschluss eines behinderten Kindes vom Unterricht mit nichtbehinderten Kindern einer Allgemeinen Schule (vgl. Artikel 24 § 2), eine unfreiwillige Beschulung behinderter Kinder in Sonderschulen, eine Verweigerung einer unterstützten Beschäftigung eines jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung auf dem 1. Arbeitsmarkt zugunsten einer Unterbringung in einer Behindertenwerkstatt (vgl. Artikel 27) oder die Verweigerung eines unterstützten, häuslichen Wohnens in einer eigenen Wohnung mit dem Verweis auf freie Plätze in einem Wohnheim (vgl. Artikel 19).
Indem die UN-Konvention das Recht auf Inklusion mit dem Recht auf persönliche Wahl und eigene Entscheidungen verknüpft (vgl. Präambel § n; Artikel 3 § a), hat sie nicht nur eine gleichberechtigte Inklusion, sondern gleichfalls eine freiheitliche im Blick. Selbstbestimmung erscheint wie in dem von uns vertretenen Empowerment-Konzept als eine soziale Kategorie (vgl. Präambel § w), sie gehört unauflöslich zu den Bindegliedern einer Gemeinschaft und Gesellschaft, die im Gegenzug durch Inklusion und Partizipation Raum und Rückhalt für Individualität und Selbstverwirklichung, für ein selbstbestimmtes Leben und eine persönliche Entfaltung geben muss.
Ein solches im Bewusstsein der Menschenwürde rechtlich kodifiziertes Gesellschaftskonzept verträgt sich nicht mit der traditionellen Behindertenarbeit, die von einem defekt- oder defizitorientierten Denken und Handeln geprägt war und da und dort noch ist, welches Menschen mit Behinderungen als versorgungs-, behandlungs- und anweisungsbedürftige Mängelwesen betrachtet. Demgegenüber argumentiert die Konvention auf der Grundlage der Erkenntnis, »dass Behinderung aus der Interaktion zwischen Personen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren resultiert, die die volle und effektive gesellschaftliche Partizipation auf gleichberechtigter Basis mit anderen hindern« (Präambel § e). Vor diesem Hintergrund ist es geradezu konsequent, wenn sich die Konvention in ihrer Präambel (§ o) und mit Artikel 29 (§ b) dem Empowerment-Gedanken verpflichtet, der Menschen mit Behinderungen als »Experten in eigener Sache« eine Stimme verleiht und ihre direkte Beteiligung an Entscheidungsprozessen über Konzepte der Behindertenpolitik sowie die Selbstvertretung zum Programm erklärt. Wohl wissend, dass es auch Menschen mit Behinderungen gibt, die nicht als »empowered persons« für sich selber sprechen können, sieht die Konvention assistierende Hilfen und Bildungsprogramme vor, die die Betroffenen stärken und unter anderem auch zu einem »Bewusstsein ihrer Würde und ihres Selbstwertes« (Artikel 24 § 1a) verhelfen sollen. Bewusstseinsbildung ist aber nicht nur ein Programm für Personen mit Behinderungen, sondern eine »inklusive Gesellschaft« und kann nur dann gedeihen, wenn ebenso alle anderen ein entsprechendes Bewusstsein, eine positive innere Einstellung behinderten Menschen gegenüber entwickelt haben. Dementsprechend soll gesellschaftliche Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit geleistet werden (vgl. Artikel 8).
Erfreulich ist es, dass sich Deutschland mit der Ratifizierung der Konvention zu einer zeitgemäßen Behindertenarbeit bekennt. Das soll zukünftig durch das Ende 2016 verabschiedete Bundesteilhabegesetz erreicht werden, welches unter anderem an dem Verständnis von Behinderung der UN-Behindertenrechtskonvention anknüpft. Gleichwohl erreicht das Bundesteilhabegesetz an mehreren Stellen (z. B. mit Blick auf Wohnmöglichkeiten von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, vor allem in Bezug auf selbstbestimmtes Wohnen und Partizipation betroffener Personen) nicht das Niveau der UN-Behindertenrechtskonvention. Möglicherweise ist dies neben spezifischen Interessen von sozialpolitischen Instanzen, Kostenträgern, Fachorganisationen oder Einrichtungsbetreibern Missverständnissen oder Fehlauslegungen durch die deutschsprachige Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention geschuldet, die an mehreren Stellen dem Anliegen des regulären englischsprachigen Dokuments nicht gerecht wird. Vor einer Orientierung an der deutschen Übersetzung ohne Blick auf die Originalversion sei daher ausdrücklich gewarnt. Das betrifft zum Beispiel den Begriff der Teilhabe, der als Übersetzung von »participation« in der Gefahr steht, zur »Leerformel« zu gerinnen, indem ihm das Potenzial genommen wird, das im angloamerikanischen Sprachraum und letztlich auch mit der UN-Konvention intendiert ist. Partizipation steht nämlich nicht nur für aktive Beteiligung in einem sozialen System oder als Teil oder Mitglied einer Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern gleichfalls – wie im Empowerment-Konzept angelegt – für das Recht auf Mitsprache, konkrete Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie Mitbestimmung.
Als besonders kritisch muss der Umgang mit dem Begriff der Inklusion gesehen werden, der in der deutsprachigen Version der UN-Konvention durch »Einbeziehung« oder »Integration« ersetzt wurde. Das hat an mehreren Stellen zu inhaltlichen Verzerrungen geführt, die die Intention der UN-Konvention verfehlen (vgl. Artikel 3 und 19). Haben wir es im Original unter »Inclusion« mit einer unmittelbaren gesellschaftlichen Zugehörigkeit behinderter Menschen zu tun, so wird mit den Übersetzungen aus einer »Außenperspektive«, aus der Position eines nichtbehinderten Menschen bzw. einer mächtigen, handlungsbestimmenden Instanz argumentiert. Anders gesagt: Von einer Einbeziehung kann nur der sprechen, der sich am Pol der Macht befindet. Genau das aber soll mit dem Grundanliegen der Inklusion und Partizipation vermieden werden, welches zugleich dem Empowerment behinderter Menschen dienen soll.
Genau an dieser Stelle setzt unser Sammelband an, der mit seinem ersten Beitrag »Von der Integration zur Inklusion im Lichte von Empowerment« in die Leitterminologie einführt.
Nachfolgend greift die Veröffentlichung einen häufig geäußerten Wunsch aus der Praxis auf, indem sie in Bezug auf drei zentrale Themen Best-Practice-Beispiele vorstellt. Mit dieser Fokussierung betritt der Sammelband Neuland und will zugleich eine beklagte Lücke schließen.
Im ersten Teil geht es um Best-Practice-Beispiele zum Wohnen und Leben in der Gemeinde. Hierzu ist uns eine Zusammenstellung bundesweit bedeutsamer Projekte und Reformen gelungen, die von herausragenden Fachleuten aus der Praxis präsentiert werden.
Der zweite Teil imponiert mit Best-Practice-Beispielen zum Thema Arbeit, die allesamt eines gemeinsam haben: das Ziel, Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Wie steinig, aber auch Erfolg versprechend ein solcher Weg sein kann, wird uns unmittelbar aus der Praxis plastisch vor Augen geführt.
Teil drei befasst sich mit dem Thema der Freizeit und Erwachsenenbildung, welches gleichfalls von erfahrenen Praktikern mit anregenden Beispielen für die Praxis aufbereitet wurde.
Abgerundet wird unser Sammelband mit einem Beitrag zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Lernschwierigkeiten oder auch hohem Unterstützungsbedarf. Dieser Beitrag von Georg Theunissen hat »übergreifenden« Charakter, insofern Verhaltensauffälligkeiten oder Problemverhalten in allen Lebens- oder Arbeitsbereichen auftreten können. Zudem wird mit diesem Beitrag der Nachweis erbracht, dass es uns nicht nur um »Elite-Behinderte« zu tun ist, sondern dass sich Konzepte wie zum Beispiel Empowerment oder Leitideen wie Inklusion auf alle Menschen mit Lernschwierigkeiten beziehen.
Irritierend könnte vielleicht der Begriff der Lernschwierigkeiten sein. Er steht in unserem Buch für Personen, die hierzulande üblicherweise als geistig behindert oder stark lernbehindert bezeichnet werden. Aus internationaler Sicht sind damit Personen mit »intellectual disabilities« gemeint (nähere Ausführungen dazu in Theunissen 2013). Genau um diesen Personenkreis geht es. Seine genaue Bezeichnung haben wir jeweils den einzelnen Autorinnen und Autoren überlassen. Das betrifft auch die Wahl der männlichen oder weiblichen Schreibweise (z. B. Assistent/Assistentin). Auf jeden Fall sind bei Bevorzugung einer Schreibweise (z. B. Schüler) die des anderen Geschlechts (Schülerin) stets mitgedacht.
Alles in allem hoffen wir, ein attraktives und lesenswertes Buch zusammengestellt zu haben. Wichtig waren uns eine leichte Zugänglichkeit der Texte sowie eine Auswahl mit interessanten, Impuls gebenden und richtungsweisenden Beiträgen. Hierzu möchten wir allen Autorinnen und Autoren herzlich danken. Unser Dank gilt ferner unserem Redaktionsteam sowie Herrn Dr. K.-P. Burkarth vom Kohlhammer-Verlag für die gute Zusammenarbeit. Erfreulich waren die positiven Rückmeldungen zu den bisherigen Auflagen dieses Buches und die rege Nachfrage, die zu einer 3. durchgesehenen und aktualisierten Herausgeberschrift geführt hat.
Oktober 2017
Helmut Schwalb (Sölden bei Freiburg i.Br.)Georg Theunissen (Freiburg i.Br. und Halle a.S.)
Die gesellschaftliche Situation von Menschen mit einer Behinderung und damit auch die Behindertenarbeit befinden sich derzeit in einem dynamischen Umbruch: Hatte sie sich bisher den Prinzipien der Integration und im Zusammenhang damit der pädagogisch-therapeutischen Förderung verschrieben, so steht heute das Paradigma Inklusion, verbunden mit dem Empowerment-Konzept, auf der Tagesordnung. Unser Beitrag greift diesen Perspektivwechsel auf und möchte ihn im Hinblick auf Fragen der Teilhabe am Arbeitsleben und des Lebens in der Gesellschaft, insbesondere des Wohnens und der Freizeit, beleuchten. Dabei konzentrieren wir uns auf die Situation von Menschen mit Lernschwierigkeiten, also jener Menschen, die bisher mit dem Begriff »Menschen mit einer geistigen Behinderung« etikettiert wurden.
Mit dem Schweizer Heilpädagogen Bürli (1997) lassen sich in der Begriffsgeschichte der Arbeit mit behinderten Menschen seit dem 19. Jahrhundert vier Phasen ausmachen:
Die erste Phase benennt er als Phase der Exklusion. In dieser Phase waren Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen ausgeschlossen, sie wurden weggeschlossen (zuhause oder in Anstalten für von der Norm abweichende Menschen).
In der zweiten Phase, die Bürli als Phase der Segregation bezeichnet, wurden Menschen mit Behinderung zwar weiterhin als krank, behandlungs- und versorgungsbedürftig bezeichnet, dem Fürsorgeansatz folgend wurden für sie aber nunmehr eigene, abgetrennte Sozialisationseinrichtungen geschaffen, in denen sie gefördert werden konnten. Diese Phase war gekennzeichnet durch die in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts forcierte Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen. Damals war es in vielen Industrienationen zu zahlreichen Heim- oder Anstaltsgründungen gekommen. Die Beweggründe dafür waren recht unterschiedlich. Neben den christlichen Impulsen der Nächstenliebe und Barmherzigkeit ging es um »Heilung« und Erziehung zur »Brauchbarkeit« für die Gesellschaft. Dabei zeigte sich jedoch, dass es behinderte Menschen gab, die die Anforderungen nicht oder kaum erfüllen konnten und diese Erfahrung förderte die Vorstellung, dass es sinnvoll sei, das Heim- und Anstaltswesen in Anstalten oder Abteilungen für »bildbare« Personen auf der einen Seite und in Pflegeheime oder Pflegeabteilungen für »bildungs- und erziehungsunfähige« Menschen auf der anderen zu differenzieren.
Im 20. Jahrhundert wurde weltweit dieses von der Psychiatrie gestützte Zwei-Klassen-System zunächst uneingeschränkt fortgeschrieben (dazu Theunissen 2012). Allerdings war es in einigen hoch entwickelten Industrienationen (USA, skandinavische Länder) alsbald zu scharfer Kritik am Ausschluss der Menschen mit Behinderung von der Teilhabe an gesellschaftlichen Regelsystemen gekommen. Kritisiert wurde insbesondere die Unterbringung behinderter Menschen in Institutionen, denen ein »totaler Charakter« (Goffman) attestiert wurde. Das betraf vor allem staatliche Behindertenanstalten. Hierzulande war die Kritik an der Institutionalisierung verhaltener, da kirchliche Anstalten im Versorgungssystem behinderter Menschen die dominierende Rolle spielten, die sich durch eine christlich geprägte Philosophie von den staatlichen Institutionen (z. B. psychiatrischen Landeskrankenhäusern) abzuheben versuchten. Die Auseinandersetzung wurde dabei von betroffenen Menschen, von ihren Eltern und Familien sowie von engagierten Fachwissenschaftlern, Professionellen und Bürgerrechtlern geführt.
Hier setzte eine dritte Phase der Entwicklung an, die Bürli als Phase der Integration bezeichnet. Menschen mit Behinderung wurden zwar immer noch als »defizitär ausgestattet« beschrieben, es wurde jedoch nunmehr erkannt, dass die diagnostizierten Defizite durch Förderung soweit reduzierbar seien, dass Menschen mit Behinderung an normale Lebensbedingungen herangeführt werden können. Dies war die Stunde der heilpädagogischen Förderung.
Inzwischen beginnt eine vierte Phase Kontur zu bekommen, deren Leitbegriff Inklusion heißt. Sie hat ihren Ausgangspunkt in der Kritik an der Priorisierung von Eigeninteressen der Kostenträger, Wohlfahrtsverbände und Organisationen der Behindertenhilfe sowie einer Fremdbestimmung durch die heilpädagogische Helferkultur. Stattdessen wird ein Autonomie-Modell eingefordert, das sich auf die Rechte-Perspektive behinderter Menschen (Menschen- und Bürgerrechte) bezieht. Im Kern geht es hierbei ganz im Sinne von Empowerment um einen Wechsel der Zuständigkeit und Umverteilung von Macht, indem behinderte Menschen als »Experten in eigener Sache« selbst darüber entscheiden möchten, was für sie gut, sinnvoll und hilfreich ist und was nicht (Theunissen 2013). Die Vorstellungen in Bezug auf Arbeiten und Wohnen im Erwachsenenalter sind dabei eindeutig: Kein Arbeiten in Sondereinrichtungen, sondern Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt und keine Unterbringung in stationären Einrichtungen, sondern ein Leben in kleinen, gemeindeintegrierten Wohnungen, die mit einer Öffnung nach außen als Ort des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet werden. Das Paradigma der Inklusion geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung sehr wohl in der Lage sind, trotz ihrer Behinderung, aber auch mit daraus resultierenden spezifischen Fähigkeiten an normalen Lebensbedingungen in den gesellschaftlichen Regelsystemen teilzuhaben, dass sie ein Recht haben auf ein selbstständiges und selbst verantwortetes Leben in der Gesellschaft.
Der geschilderte Entwicklungsprozess hat insbesondere unter dem Stichwort der gesellschaftlichen Integration einen hohen Bekanntheitsgrad. Unzweifelhaft handelt es sich hierbei um ein wichtiges Leitprinzip, das angesichts des Wohnens und Arbeitens vieler Menschen mit Lernschwierigkeiten in großen Institutionen bis heute seine Bedeutung hat. Allerdings sind im Zuge der Integration mehrere Probleme deutlich geworden, die zur Weiterentwicklung und Neubestimmung des Konzepts geführt haben. Im Folgenden werden einige Probleme genannt:
Bis heute wird unter Integration zumeist nur eine strukturelle Eingliederung in die Gesellschaft verstanden. Dabei handelt es sich um ein Input-Prinzip, bei dem anstelle abseits gelegener Einrichtungen auf der grünen Wiese oder auf dem Lande Wohnangebote möglichst innerhalb einer Gemeinde und Arbeitsangebote auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geschaffen werden. Wir können dieses Prinzip auch als räumliche Integration bezeichnen, die aber noch kein Garant dafür ist, dass eine funktionale Integration stattfindet, indem Menschen mit Lernschwierigkeiten allgemeine Dienstleistungsangebote nutzen, am gesellschaftlichen Leben partizipieren und sich soziokulturell integriert erleben. Was nutzt es einem behinderten Menschen, wenn er zwar räumlich integriert in einem Wohnheim oder einer Wohngemeinschaft lebt, aber kaum Kontakt zu seiner Außenwelt hat und ihm das Leben in der Gesellschaft fremd bleibt?
Abgeleitet vom lateinischen »integrare« kann Integration mit »heil, unversehrt machen, wiederherstellen, ergänzen« (Duden 1997, 308) in Verbindung gebracht werden. Oder anders gesagt: Integration bedeutet die Wiederherstellung eines Ganzen. Demzufolge handelt es sich bei der Auslegung von Integration als Eingliederung um ein verkürztes Begriffsverständnis, welches die innere und äußere Wiederherstellung eines Ganzen ignoriert1.
Die Reduktion des Integrationsbegriffs auf strukturelle Eingliederung führt auf handlungspraktischer Ebene zur Vernachlässigung des Kontextes. Das gilt zum Beispiel für alle Wohnkonzepte, die nur auf die Schaffung von räumlich integriertem Wohnraum hinauslaufen, ohne dabei infrastrukturelle, soziale und kulturelle Bedingungen sowie eine Vernetzung und Einbettung der Wohnformen in einem eng umschriebenen Sozialraum (Stadtteil, Wohnviertel) zu beachten. Vernetzung und Einbettung ist weitaus mehr als bloße Eingliederung nach dem Input-Prinzip. Auch in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen wird nicht selten der Kontext vernachlässigt, wenn sie abseits gelegen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln schwer zugänglich sind. Das hat unter anderem die Konsequenz, dass potenzielle Selbstfahrer daran gehindert werden, ihre Selbstständigkeit durch Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel beständig unter Beweis zu stellen.
Des Weiteren wird durch die Reduktion des Integrationsbegriffs auf Eingliederung letztlich die Vorstellung zum Ausdruck gebracht, dass es zwei Welten gibt: zum einen die Welt der nichtbehinderten Menschen und zum anderen die der behinderten Personen. Die Welt der nichtbehinderten Menschen gilt als Normalität und wird durch das Input-Prinzip der Eingliederung zur Norm für Personen mit Behinderungen erklärt. Wir stoßen hier auf das Problem der Anpassung behinderter Menschen an Normen und Werte einer Gesellschaft aus nichtbehinderten Menschen. Zugleich wird durch das dekapitierte Integrationsverständnis das Trennende betont und eine systemökologische Sicht und Praxis der Integration, die das Ganze durch beidseitige Anpassungsprozesse sowie durch die Akzeptanz von Differenz und eines »Lebens im Plural« (Welsch) im Blick hat, vernachlässigt.
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass Integration im Sinne von Eingliederung eine vorausgegangene Ausgrenzung voraussetzt. Anders gesagt: Es wird davon ausgegangen und zugleich hingenommen, dass Menschen mit Behinderungen zunächst einmal aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Lebensraum ausgegrenzt werden, in dem sie dann später mit Blick auf das Wohnen wieder eingegliedert werden sollen. In einer ähnlichen Bahn bewegt sich der Integrationsbegriff im Sinne der Wiederherstellung des Ganzen. Auch hier werden Störungen, Beeinträchtigungen oder Ausgrenzungen als Ausgangspunkt für ein »Heil- oder Unversehrtmachen« zugrunde gelegt.
Typisch für die Integration als Eingliederungsprinzip ist die Gepflogenheit, vom grünen Tisch aus Angebote zu planen und zu implementieren. Eine solche Top-down-Praxis geht nicht selten an den Interessen von Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten vorbei. Das gilt gleichfalls für die Helferzentrierung, die mit der Top-down-Praxis eng verknüpft ist. Zumeist sind es Organisationen, Funktionäre, Sachbearbeiter und Professionelle, die das Sagen haben und eigene Interessen bei der Entwicklung und Schaffung von Angeboten in einer Gemeinde geschickt einzubringen wissen. Welche Folgen z. B. entsprechende Wohnkonzepte haben können, zeigen einige Maßnahmen der Deinstitutionalisierung aus dem westlichen Ausland auf, die als Top-down-Reformen unbedacht realisiert wurden und in vielerlei Hinsicht skandalös waren (vgl. Dalferth 1999; Theunissen 2013). Aber auch hierzulande gibt es Negativbeispiele, wenn beispielsweise anstelle einer Enthospitalisierung eine Umhospitalisierung betrieben wurde (vgl. Theunissen 2007).
Zudem scheint vielerorts die Vorstellung noch weit verbreitet zu sein, dass die Integration durch unterstütztes (sog. betreutes) Einzel-, Paar- oder Gruppenwohnen nur für behinderte Menschen mit einem relativ hohen Grad an Selbstständigkeit in Betracht zu ziehen sei. Menschen mit schweren (kognitiven) Beeinträchtigungen gehören demnach ins Heim, und bei einem hohen pflegerischen Assistenzbedarf werden zumindest von Kostenträgern Unterbringungsformen (Pflegeheime, Pflegegruppen bzw. eingestreute Pflegeplätze in Großeinrichtungen) unter der Regie der Pflegeversicherung favorisiert. Dass hier nahtlos an das eingangs skizzierte Zwei-Klassen-System angeknüpft wird, ist unschwer zu erkennen. Letztlich tritt eine Eingliederungspraxis in Kraft, die zwischen »integrationsfähigen« und »integrationsunfähigen« Personen differenziert und damit eine Selektion und Ausgrenzung betreibt. Dieser »Erblast« in Bereich der Behindertenpolitik und -hilfe (vgl. Theunissen 2012) begegnen wir gleichfalls in Bezug auf Werkstätten für behinderte Menschen, wo vor dem Hintergrund der Aufnahmebedingungen, die besser als Ausschlusskriterien bezeichnet werden sollten, zwischen »werkstattfähigen« und »arbeits- bzw. integrationsunfähigen« Personen unterschieden wird. Leider ist es mit dem SGB IX oder Bundesteilhabegesetz nicht gelungen, diese angesprochene Problematik grundlegend zu überwinden.
Die etymologische Bedeutung von Integration verweist auch auf ein Ergänzungsprinzip. Diesem wird in der Tat Rechnung getragen, wenn unter dem Etikett der gesellschaftlichen Integration Wohnformen wie das unterstützte (sog. betreute) Einzel-, Paar- oder Gruppenwohnen nicht als zeitgemäße Ablöse-, Nachfolge- und Regelsysteme, sondern nur als Alternativ- oder Ergänzungsangebote zu einem Wohnheim, einer Anstalt oder einer Komplexeinrichtung betrachtet werden. Gleichfalls gelten Werkstätten für behinderte Menschen als »Regelsysteme« und Außenarbeitsplätze, Außengruppen oder Formen unterstützter Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als additive Angebote. So wird am Behinderungsbild und an der davon abgeleiteten Notwendigkeit einer Besonderung festgehalten, was letztlich die Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen aufrechterhält.
All diese Probleme sind von Aktivistinnen und Aktivisten der Behindertenbewegungen und mittlerweile von großen Teilen der Fachwissenschaft, Elternorganisationen oder Fachorganisationen erkannt worden, weshalb es Bestrebungen gibt, sie durch eine Praxis der Inklusion zu überwinden. Was aber bedeutet Inklusion?
Der Begriff der Inklusion stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum, vor allem aus Nordamerika. Nicht selten wird er mit »Nicht-Aussonderung« oder »unmittelbare Zugehörigkeit« übersetzt oder in Verbindung gebracht. Um einen Zugang zu Vorstellungen zu finden, die mit dem Begriff der Inklusion einhergehen, macht es Sinn, das Statement der US-amerikanischen Organisation The Arc of New Jersey (1995) aufzugreifen (zit. und übersetzt nach Theunissen 2013, 16):
»Alle Menschen, mit oder ohne Behinderung, haben das Recht auf eine volle Zugehörigkeit in unterschiedlichsten Gemeinschaften.
Kinder mit intellektueller Behinderung sollten:
• in ihrer Familie leben
• sich in ihrer Persönlichkeit entfalten und lebendige Beziehungen innerhalb und außerhalb ihrer Familie pflegen können
• in ihrer Nachbarschaft, im Kindergarten wie auch in regulären Schulklassen mit nicht-behinderten Kindern gemeinsam spielen und lernen können
• an Gemeinschafts- oder Freizeitaktivitäten partizipieren können.
Erwachsene mit intellektueller Behinderung sollten Möglichkeiten haben:
• für eine größtmögliche Kontrolle ihres eigenen Lebens
• für Partnerschaften, Freundschaften oder Lebensgemeinschaften
• in einem eigenen Zuhause zu leben
• einer für sie bedeutungsvollen Arbeit nachgehen zu können, die angemessen bezahlt wird
• an Freizeitaktivitäten zu partizipieren und sich zu erfreuen
• ein spirituelles (religiöses) Leben zu pflegen.
Unterstützungsleistungen, die Menschen mit intellektueller Behinderung benötigen, sollten ihnen in ihrem eigenen Zuhause wie auch in den Gemeinschaften, wo sie leben, lernen, arbeiten und spielen, zusammen mit nicht behinderten Menschen angeboten werden.«
Dieses Statement, das etwa Mitte der 1990er Jahre formuliert wurde, kann als ein Empowerment-Zeugnis engagierter Eltern- und Behinderten-Bewegungen betrachtet werden und wird heute von breiten Teilen der US-amerikanischen Fachwelt gestützt. Den wohl entscheidenden Ausgangspunkt für Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit bildeten politische Aktionen und Initiativen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, die unter der Flagge des Empowerment vor nahezu 40 Jahren für Selbstbestimmung, rechtliche Gleichheit und Anerkennung behinderter Menschen als Bürger, für soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe kämpften (dazu Theunissen 2013). Neben der Einführung der Schulpflicht für alle, dem Recht behinderter Kinder auf »inclusive education« unter »least restrictive environments« (auf Erziehung und Bildung im allgemeinen Bildungssystem bzw. in Settings, die die geringsten Einschränkungen beinhalten) gilt der 1990 vom US-Kongress verabschiedete »The Americans with Disabilities Act« (ADA) als große Errungenschaft der Betroffenen-Bewegungen. Dieses Gesetz verbietet jede Form von Diskriminierung behinderter Menschen sowohl in öffentlichen Einrichtungen als auch im privaten Arbeits- und Dienstleistungsbereich.
Interessant ist die Frage nach der politischen und praktischen Bedeutung von Inklusion. Handelt es sich bei der Inklusion tatsächlich um eine Weiterentwicklung des Integrationsgedankens, um eine Antwort auf Schwächen oder Fehlentwicklungen der Integrationspraxis, um eine optimierte, von Problemen beseitigte Integration? Oder geht es bei der Inklusion gar um etwas völlig Neues? Oder handelt es sich – wie manche Kritiker behaupten – nur um einen euphemistischen Etikettenaustausch, um einen Modebegriff, der letztlich nichts anderes bedeutet als Integration?
Um Antworten zu finden, bietet es sich an, einige zentrale Aspekte herauszustellen, die unter Inklusion diskutiert werden:
Das Wort Inklusion stammt vom lateinischen Verb »includere« (einschließen) und wird mit dem Adjektiv »inclusivus« (eingeschlossen) sowie der Adverbform »inclusive« (einschließlich, inbegriffen) in Verbindung gebracht (Duden 1997, 306). Diese Wortbedeutung ist nicht unproblematisch, da ein »Eingeschlossensein« Zwänge und Einschränkungen beinhalten kann sowie Möglichkeiten, ja Rechte auf Selbstbestimmung, persönliche Freiheit oder Entscheidungen gefährdet. Um dies zu vermeiden, wurde in der UN-Behindertenrechtskonvention das Recht auf Inklusion (soziale Zugehörigkeit) mit dem Recht auf persönliche Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten (Autonomie) eng verschaltet (Bielefeldt 2006, 7). Vor diesem Hintergrund liegt der UN-Behindertenrechtskonvention das Verständnis einer Gesellschaft zugrunde, in der jeder Mensch das Recht hat, als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied anerkannt zu werden. Mit dieser Anerkennung geht zugleich das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben einher. Diese Rechte-Perspektive verpflichtet zugleich die Gesellschaft, dafür Sorge zu tragen, dass keine Aussonderung oder Benachteiligung von Menschen stattfindet und dass diejenigen, die hilfebedürftig sind, angemessene Unterstützung erfahren. Inklusion als unmittelbare Zugehörigkeit bezieht sich dabei nicht etwa nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern sie hat ebenso andere Gruppen im Blick, die allzu leicht marginalisiert, ausgegrenzt und benachteiligt werden, zum Beispiel Menschen mit psychischen Behinderungen, ältere Mitbürger, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
Vor diesem Hintergrund wird unter der Leitidee der Inklusion das Leben in einer multikulturellen Gesellschaft in den Blick genommen, in der die Verschiedenheit von Menschen und die Verwirklichung individueller Lebensentwürfe in einem sozial verträglichen Ganzen akzeptiert und unterstützt wird. Wir haben es hier mit einer Vision einer Gesellschaft zu tun, in der alle ihre Mitglieder in ihrem So-Sein wertgeschätzt werden, in der jeder als zugehörig betrachtet wird und sich sozial angenommen und wohlfühlen soll. Als erstrebenswert können unter diesem Blickwinkel Konzepte betrachtet werden, die ein Wohnen in Autonomie und ggf. mit Unterstützung in Mehrgenerationenwohnanlagen fördern. Ebenso hat hier die Bewegung Community Care (Schablon 2016) ihren Platz. Im Hinblick auf eine Teilhabe am Arbeitsleben spielen Ansätze der Unterstützten Beschäftigung (supported employment) oder auch das Konzept der Virtuellen Werkstatt die zentrale Rolle.
Die Vorstellung eines Lebens in Inklusion oder einer inklusiven Kultur ist an die Voraussetzung geknüpft, dass allen Mitgliedern einer Gesellschaft wichtige soziale und kulturelle Systeme (z. B. allgemeine Bildungseinrichtungen und Dienstleistungen, Arbeitsplätze in regulären Betrieben) verfügbar und zugänglich sein müssen. Wir haben es hier mit dem Leitprinzip der Barrierefreiheit zu tun, welches für ein Leben in Inklusion unabdingbar ist. Mit dem ADA in den USA, dem Antidiskriminierungsgrundsatz in unserem Grundgesetz, der Erarbeitung länderbezogener Antidiskriminierungsgesetze sowie dem allgemeinen Schutz vor Diskriminierung im Zivilrecht wurden die Weichen für eine Barrierefreiheit rechtlich kodifiziert. Nun kommt es darauf an, ihr auch tatsächlich Rechnung zu tragen.
Um Barrierefreiheit zu schaffen, müssen die Strukturen, Institutionen und Dienstleistungsagenturen der Gesellschaft so verändert werden, dass sie den Rechten, Interessen und Bedürfnissen aller Mitglieder einer Gesellschaft entsprechen können. Inklusion lenkt somit den Blick auf strukturelle oder institutionelle Veränderungen, um jedem Menschen die uneingeschränkte Partizipation an gesellschaftlichen Aktivitäten und Bezügen zu ermöglichen. Bei der Integration ging es hingegen primär um die Anpassung des Einzelnen an die Gesellschaft. Dieser Aspekt wird durch das Unterstützungsprinzip im Rahmen von Inklusion nicht gänzlich außer Kraft gesetzt. Allerdings wird er nicht isoliert betrachtet, sondern systemökologisch, in der Reflexion und im Zusammenhang von kontextuellen Bezügen, aufbereitet.
Durch diese Form gegenseitiger Anpassung gelingt es, Prozesse einer Selektion und Separation zu vermeiden. Folgerichtig ist dem Inklusionsparadigma der Begriff der »Integrationsunfähigkeit« fremd – unabhängig von der Schwere einer Beeinträchtigung oder Pflegebedürftigkeit gilt es, jedem Menschen Inklusion zu ermöglichen. Hierzu ist es unabdingbar, individuelle und soziale Ressourcen zu erschließen und zu nutzen.
Indem individuelle Ressourcen fokussiert werden, zum Beispiel Stärken, Potenziale, Fähigkeiten und Fertigkeiten, wird zugleich dem defizitorientierten Behinderungsbild, wie es im Konzept der Integration noch durchschimmert, eine unmissverständliche Absage erteilt. Stattdessen wird ein positives Menschenbild zugrunde gelegt, welches jeder Person Stärken zuschreibt, die es für ein Leben in Inklusion zu aktivieren und zu unterstützen gilt. Hierzu führen uns Smith, Belcher und Juhrs (2000) bemerkenswerte Ressourcen von Menschen mit Lernschwierigkeiten und/oder aus dem Autismus-Spektrum im Hinblick auf Möglichkeiten einer Unterstützten Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vor Augen, zum Beispiel exzellente Merkfähigkeiten, ritualisierte Handlungen mit hoher Präzision und Zuverlässigkeit u. a.
Ein Leben in Inklusion kann nur dann gedeihen, wenn neben den individuellen auch soziale Ressourcen ausfindig gemacht, mobilisiert und gewürdigt werden. Das Spektrum sozialer Ressourcen ist breit: Familienstrukturen, milieuspezifische Lebensformen, Bräuche, Traditionen, Freundeskreise, Bekanntschaften, Nachbarschaften, Bereitschaft für bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgertreffs, Bürgervereine, Kirchengemeinde, Tagesstätten, Assistenzzentralen, Serviceangebote, Ambulanzen, nichtbehinderte Arbeitskollegen, die als Mentoren fungieren etc. Aus dieser Vielfalt gilt es ein persönliches Netzwerk zu knüpfen. Eine prominente Rolle als soziale Ressource spielt hierbei auch die Verschiedenheit in der Gemeinschaft, indem zum Beispiel intergenerative und interpersonelle Potenziale, Lebenswelten und Gestaltungsformen für ein Leben in Inklusion gefördert und genutzt werden. Dies alles macht freilich nur dann Sinn, wenn soziale Ressourcen als valide und hilfreiche Unterstützungsangebote erlebt werden und wirksam sind. Soziale Ressourcen und heterogene Gemeinschaften sind nämlich nicht per se schützend, unterstützend und persönlichkeitsfördernd.
Um zu einem tragfähigen Netzwerk für ein Leben in Inklusion zu gelangen, bedarf es einer bürgerzentrierten Arbeit. Ihr Adressat sind in erster Linie Bürger, die für andere als informelle Unterstützer angesprochen werden sollen oder sich bereits mit ihren Stärken, Ressourcen und Kompetenzen als freiwillige Helfer anbieten. Eine wesentliche Aufgabe für die Behindertenhilfe bezieht sich auf die Sensibilisierung nichtbehinderter Bürger, Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen als Mitbürger zu akzeptieren und schätzen zu lernen (z. B. über bürgerzentrierte Aktionsprogramme wie »IncludCity« in Köln; www.includcity.de). Ein solches Programm kann, wie die Kontakthypothese belegt (Cloerkes 2001), am ehesten fruchtbar werden, wenn die Heterogenität in der Gemeinschaft, soziale Kontakte und ein gemeinsames Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen, verschiedener Herkunft oder unterschiedlichen Alters in qualitativer Hinsicht gefördert und letztendlich gelebt werden.
Es wäre ein eklatantes Missverständnis, Aufgaben der Netzwerkförderung und Bürgerzentrierung nur als Beiwerk oder Ergänzung eines Wohnkonzepts zu betrachten. Im Gegenteil: Ein Wohnen in Inklusion verlangt ein Konzept, das den Kontext, das Umfeld, Bezugs- und Umkreispersonen mit einbezieht. Das Scheitern mancher gut gemeinten Reformen oder Integrationsprojekte war gerade dem Fehlen einer Kontextorientierung geschuldet. Sie ist mit ein Garant dafür, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen informelle Unterstützung erfahren, wenn sie Hilfe benötigen, sich in ihrem sozialen Umfeld zurecht finden und wohlfühlen sowie am soziokulturellen Leben partizipieren können. In der Praxis der Inklusion findet die Kontextorientierung im Rahmen der Erstellung persönlicher Zukunfts- oder Lebensstilpläne (person-centered planning) Eingang (dazu Theunissen 2012), indem infrastrukturelle Bedingungen, Umweltbarrieren und Umfeldressourcen aufbereitet werden.
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein Leben in Inklusion die Zwei-Welten-Theorie obsolet werden lässt. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl an heterogenen Lebenswelten zu tun, die allesamt ein Ganzes bilden, welches Pluralität als Normalität betrachtet. Auf diese Weise gelingt es, eng gestrickte Anpassungszwänge zu vermeiden und ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Individualität und Bedürfnisbefriedigung zu erreichen – dies unter der Voraussetzung, dass persönliche Lebensentwürfe nicht in eine soziale Gleichgültigkeit, Verantwortungslosigkeit der Mitwelt gegenüber oder Asozialität entgleiten. Menschen- und Bürgerrechte können an dieser Stelle als regulatives Moment betrachtet werden, welches den Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben in Inklusion absteckt.
Werden Rechte auf Selbstbestimmung, Partizipation und Unterstützung zur Maxime von Inklusion erklärt, so hat dies Konsequenzen für ein zeitgemäßes Wohnen: Anstelle einer Top-down-Konzeption, die von Organisationen, Wohlfahrtsverbänden, Kostenträgern und Profis maßgeblich bestimmt wird, ist der Stimme von Betroffenen als Wegbereiter für Angebote Rechnung zu tragen. Da die Zahl derjenigen, die ein Leben in einem Heim oder in einer abseits gelegenen Institution ablehnt, stetig wächst, ist unschwer zu erahnen, dass zeitgemäße Wohnformen im Sinne von Inklusion nicht als additive Angebote betrachtet werden dürfen, sondern als bedarfs- und bedürfnisorientierte Regelsysteme definiert und implementiert werden müssen.
Im Prinzip gilt dies ebenso für die Teilhabe am Arbeitsleben, die sich im Sinne von Inklusion nicht durch eine große Werkstatt für behinderte Menschen bestimmen lässt. Stattdessen geht es um soziale Systeme, in denen behinderte und nichtbehinderte Menschen zusammenarbeiten, gemeinsam Arbeiten verrichten oder arbeitsteilig tätig sind und miteinander kooperieren.
Die vorausgegangenen Ausführungen lassen den Schluss zu, dass Inklusion weitaus mehr als eine bloße Fortführung oder Weiterentwicklung des Integrationsgedankens darstellt, vor allem dann, wenn er nur als Input-Prinzip oder Eingliederung praktiziert wird. Vielmehr haben wir es mit einer qualitativen Veränderung und Umstrukturierung der bisherigen Überlegungen im Lichte von Integration oder auch Normalisierung zu tun. Keineswegs handelt es sich um einen Etikettenschwindel oder nur um ein terminologisches Spiel, wenn Inklusion immer mehr zur Leitidee zeitgemäßer Behindertenarbeit wird – ohne dabei die Integration gänzlich außer Kraft zu setzen. Denn solange Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt werden, bedarf es ihrer Integration, die es dann in ein »Leben in Inklusion« zu überführen gilt.
Dieses wird mit dem zitierten Statement von The Arc of New Jersey angedeutet. In ähnlichen Bahnen bewegt sich auch die sogenannte Deklaration von Madrid, die im Rahmen eines europäischen Behindertenkongresses 2002 für das Europäische Jahr von Menschen mit Behinderungen 2003 erstellt wurde. Unmissverständlich wird jedem Menschen mit oder ohne Behinderung das Recht auf volle gesellschaftliche, ja uneingeschränkte Zugehörigkeit zugesprochen. Diese beginnt quasi mit der Geburt, und das bedeutet, dass eine Ausgrenzung aus gesellschaftlichen »Regelkontexten« erst gar nicht zugelassen werden darf. Dies kann dann zum Erfolg führen, wenn Menschen mit Behinderungen in ihrer vertrauten Lebenswelt das notwendige Maß an Unterstützung für eine erfolgreiche Individuation, Sozialisation und Partizipation am gesellschaftlichen Leben erhalten. Menschen mit Behinderungen als gleichwertige Bürger ihres Landes anzuerkennen und durch Inklusion und Empowerment sicher zu stellen, dass sie mit den gleichen Rechten wie nicht behinderte Bürger am gesellschaftlichen Leben partizipieren können, ist gleichfalls die Botschaft der Vereinten Nationen, die soeben mit der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen (2007) ein internationales Übereinkommen auf den Weg gebracht haben (dazu Bielefeldt 2006).
Alles in allem scheint somit die Leitidee der Inklusion eine verheißungsvolle Angelegenheit zu sein. Nichtsdestotrotz sollten wir auch eine kritische Betrachtung vornehmen, um der Gefahr eines Realitätsverlusts durch visionäres Denken vorzubeugen. Diesbezüglich möchten wir vier Probleme nennen, die zu einer kritischen Reflexion und steten Wachsamkeit gegenüber Fehlentwicklungen herausfordern.
Aussagen zur Inklusion als Leitidee der Behindertenarbeit lassen den Schluss zu, dass von der Vorstellung einer Gesellschaft ausgegangen wird, in der alle Menschen mit Lernschwierigkeiten und Behinderungen vollständig einbezogen und uneingeschränkt willkommen sind. Diese Vorstellung ist visionär; und es stellt sich die Frage, ob eine solche Gesellschaft überhaupt existiert oder erreicht werden kann. Aus soziologischer Sicht wird eine Gesellschaft häufig als funktional-differenziert beschrieben, welche aus Teilsystemen besteht, die in einem funktionalen Zusammenhang stehend reziprok miteinander kommunizieren. Diese verschiedenen Teilsysteme bilden relativ autonome Einheiten, die sich selbst Normen und Regeln auferlegen und zum Teil nur lose über staatliche Regulative (Gesetze, Vorschriften, Bürgerrechte) operieren und sozial kommunizieren. Genau an dieser Stelle gilt es zu fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Vorstellung einer »inklusiven Gesellschaft« ergeben. Wir sollten uns die Frage an einem Beispiel vor Augen führen: In einer mittelgroßen Gemeinde in den USA leben fünf Menschen mit Lernschwierigkeiten in einer Wohngemeinschaft. In der Gemeinde gibt es so gut wie keine allgemein öffentlichen Einrichtungen, stattdessen gibt es zwei Schwimmbäder, die von zwei privaten Organisationen unterhalten werden, zudem gibt es mehrere Sportcenter, die gleichfalls privat betrieben werden. Zudem stehen die meisten kulturellen Angebote unter der Regie von Organisationen. Um am soziokulturellen Leben partizipieren zu können, bedarf es der Mitgliedschaft in einer oder mehrerer Organisationen. Wird dem Einzelnen eine Mitgliedschaft verwehrt oder durch zu hohe Kosten unmöglich gemacht, sind die Möglichkeiten der Partizipation am gesellschaftlichen Leben in erheblichem Maße eingeschränkt. Anders gesagt: Je geringer die faktische Zugehörigkeit zu einer Organisation als Betreiber und Anbieter, desto geringer der Grad der gesellschaftlichen Inklusion. Durch die Zugehörigkeit in einem selbstorganisierten Zusammenschluss (People First) lässt sich dieser durch Teilsysteme erzeugte Exklusionseffekt nicht beseitigen, sondern allenfalls kompensieren. Inklusion ist somit nur »auf der Ebene der Teilsysteme möglich« (Kulig 2010, 53). Diese Analyse zeigt auf, dass die Vorstellung einer »inklusiven« Kultur und Gemeinde einer differenzierten Betrachtung bedarf und sich dem Problem der Exklusion durch Teilsysteme stellen muss. Der Behindertenarbeit oder Sozialen Arbeit kommt hierbei als eigenem Teilsystem eine Brückenfunktion zu, indem sie zwischen anderen Teilsystemen zu vermitteln hat, so dass letztlich ein größtmögliches Maß an Inklusion und Partizipation erreicht und Ausgrenzungs- oder Isolierungstendenzen vermieden werden können.
Dass das Thema der Inklusion nicht nur im Lager der Behindertenhilfe, sondern auch im Bereich der Politik immer mehr Zuspruch findet, ist ohne Zweifel sehr erfreulich. Leitgedanken und Forderungen wie die Selbstbestimmung behinderter Menschen und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im SGB IX oder Bundesteilhabegesetz sind ein Beleg dafür. Allerdings trägt die politische Aufgeschlossenheit ein Janusgesicht, wenn sie mit dem Interesse eng verknüpft ist, durch deinstitutionalisierte, häusliche Wohnformen als Alternative zum Leben im Heim Sozialausgaben einzusparen. Dieses Ziel ist nicht unredlich, aber es darf nicht zu Billiglösungen und zu Folgeerscheinungen führen wie einer Verelendung oder Verwahrlosung intellektuell und seelisch behinderter Menschen im Rahmen einer Ambulantisierung sowie einer Konzentration und Versorgung von Personen mit hohem Unterstützungsbedarf in stationären Sonderwelten. Solche Einrichtungen bergen – wie einst im Rahmen des Zwei-Klassen-Systems – die Gefahr, zu Stätten einer Dehumanisierung zu werden. Dadurch, dass nach wie vor der Ambulantisierung und der Bewilligung notwendiger Unterstützungsleistungen Grenzen gesetzt werden sowie Wohnangebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten und mehrfacher Behinderung nicht kontextbezogen gedacht, geplant, finanziert und implementiert werden, haben wir es mit einer dekapitierten Konzeption zu tun, die dem integrativen Input-Prinzip entspricht und Inklusion zu einer Leerformel gerinnen lässt. Diesem Problem würden wir gleichfalls im Bereich der Arbeit begegnen, wenn sich die Teilhabe am Arbeitsleben im Sinne von Inklusion nur auf »leistungsfähige« Menschen mit Behinderungen beschränken würde. Smith, Belcher und Juhrs (2000) führen uns bemerkenswerte Praxisbeispiele vor Augen, denen zu entnehmen ist, dass gleichfalls Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen oder autistische Personen mit Lernschwierigkeiten erfolgreich am allgemeinen Arbeitsleben partizipieren können. Diese Erkenntnis geht ebenso aus der aktuellen Studie über den Umgang mit Autismus in den USA (Theunissen 2014) hervor.
Nachdem vor einigen Jahren die Sozialpolitik den Markt für die Behindertenhilfe entdeckt hat, wird ein Prozess gefördert, der die bisherige selbstbezügliche und selbstgenügsame Wohlfahrtspflege durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ersetzen soll. Dabei gilt der Wettbewerb als Kernstück einer freien Marktwirtschaft. Ist ein Wettbewerb das Mittel und nicht bloßer Zweck, sollte er nicht grundsätzlich abgelehnt werden. Allerdings kann er diese Funktion zum Vorteil von Menschen mit Behinderungen nur dann erfüllen, wenn keine von Eigeninteressen bestimmten Wohn- oder Werkstattkonzepte und Handlungen dominieren, sondern wenn er Rahmenbedingungen, Regeln und der sozialen Kontrolle unterworfen ist, die Willkür, Selektion (Ausgrenzung schwerstbehinderter Menschen) und soziale Benachteiligung verhindern. Genau an dieser Stelle stoßen wir auf Probleme, die für eine Inklusion kontraproduktiv sind: Zum einen auf eine fehlende sozialpolitische Regulative (z. B. in Bezug auf Leitprinzipien und Grundsätze moderner Behindertenarbeit, Gruppengröße bis maximal sechs Plätze, regionale Versorgungsverpflichtung, Netzwerkarbeit, Abschaffung der Aufnahmekriterien für WfbM etc.) zugunsten einer Deregulierung, die Beliebigkeit und eine asoziale Autonomie für Dienstleistungsanbieter befördert. Neben dieser Fehlentwicklung, bei der das Marktprinzip bereits vielerorts durch private Billiganbieter aus dem Ruder geraten ist, mangelt es zum anderen häufig an einem Wettbewerb, so dass für Menschen mit Behinderungen keine Wahlmöglichkeiten bestehen. Vielmehr sind sie abhängig von dem, was in ihrem Umfeld angeboten wird. Etablierte Verbände versuchen solche Situationen nicht selten zu ihren Gunsten auszunutzen, um möglichst lange Macht und Einfluss aufrechtzuerhalten. Eine Vermarktung der Behindertenhilfe kann für eine Inklusion nur in Betracht gezogen werden, wenn sie an Grundsätzen moderner Behindertenarbeit gebunden wird, die vor allem durch das Empowerment-Konzept repräsentiert werden (Theunissen 2013; 2014).
Ein weiteres Problem, das der Inklusion im Wege steht und ihre Umsetzung erheblich erschwert, ist die Selbstverzweckung des Systems der Behindertenhilfe. Sie hat mit ihrem (omnipotenten) Anspruch bzw. der Vorstellung, für alle behinderten Menschen zuständig sein zu müssen, ein spezialisiertes und institutionalisiertes Besonderungs- und Sondersystem entwickelt und aufgebaut, welches inzwischen aus vielerlei Gründen auf Grenzen gestoßen ist. Während es für den Staat zu teuer geworden ist, beklagen Menschen mit Behinderungen vor allem seine subtilen Formen struktureller Gewalt und Fremdbestimmung, die Systemzwänge und die paternalistische Helferkultur. Für ein Leben in Inklusion ist vor allem die Wirkung, die das System der Behindertenhilfe in der Gesellschaft erzeugt, kontraproduktiv und problematisch, verleitet doch gerade das Vorhandensein spezialisierter Sondereinrichtungen die gesellschaftlichen Regelsysteme (z. B. allgemeine Betriebe, öffentliche Dienstleistungsagenturen, VHS, Vereine, Nachbarschaften etc.) dazu, sich nach dem Motto »dafür sind die ja da« (gemeint ist damit die Behindertenhilfe) aus der sozialen Verantwortung und aus Aufgaben herauszuhalten sowie soziale Kontakte und Unterstützung zu delegieren. Was wir benötigen, sind nicht etwa weitere Spezialangebote der Behindertenhilfe (wie z. B. medizinische Zentren für die Behandlung intellektuell behinderter Menschen im Erwachsenenalter oder spezielle Pflegeheime für ältere Menschen mit schweren Behinderungen), sondern angestrebt werden sollte der Abbau von Sondereinrichtungen zugunsten eines Dienstleistungssystems für alle Bürger einer eng umschriebenen Region. Um zu einem solchen System zu gelangen, müssen die derzeitigen Anbieter aus dem Bereich der Behindertenhilfe und des allgemeinen öffentlichen Dienstleistungssektors aufeinander zugehen und ein sogenanntes »cross-staff-learning« (d. h. gemeinsame Schulungen, Fortbildungen o. ä. mit gegenseitigem Informationsaustausch und Kompetenztransfer) in den Blick nehmen. Zudem bedarf es in zweifacher Hinsicht staatlicher Regulative: Zum einen muss das Thema der Behindertenarbeit wesentlich stärker als bisher (am besten verpflichtend) in allgemeinen Ausbildungscurricula (für Erzieher, Mediziner, Sozialarbeiter, Lehrer etc.) Eingang finden, zum anderen muss allgemeinen Dienstleistungsanbietern die Zuständigkeit für Belange behinderter Menschen übertragen werden, so dass auf Dauer inklusive Unterstützungssysteme spezielle Angebote aus der Behindertenhilfe ersetzen können.
Wenngleich es kritische Anmerkungen gibt, vermittelt das Paradigma der Inklusion eine verheißungsvolle Perspektive. Allerdings stellt sich die Implementierung vielerorts noch schwierig dar, zum einen, weil Inklusion häufig noch missverstanden wird (selbst in der Sonderpädagogik, wenn Inklusion als »Einbeziehung« statt »Zugehörigkeit« definiert wird) und längst noch nicht von Seiten der Politik und Behindertenhilfe den uneingeschränkten Zuspruch erfährt; zum anderen werden (und das betrifft zum Beispiel viele Bundesstaaten in den USA sowie einige andere hochentwickelte Länder wie Großbritannien oder Deutschland) notwendige Unterstützungsleistungen Menschen mit Behinderungen nur selten in vollem Umfang gewährt.
Um der Gefahr des Missbrauchs, einer schleichenden Reduzierung sozialstaatlicher Leistungen oder anderen Fehlentwicklungen vorzubeugen, ist es daher wichtig, Personen mit Behinderungen am besten in Gruppenzusammenschlüssen (z. B. People First) und in »kollaborativer Allianz« (Turnbull und Turnbull 1997) mit Angehörigen und aufgeschlossenen Organisationen so zu unterstützen und zu stärken, dass sie sich selbst als »kritische Experten in eigener Angelegenheit« politisch einbringen können. Genau an dieser Stelle hat das Empowerment-Konzept seinen Platz, welches behinderten Menschen und ihren Angehörigen unmissverständlich eine Stimme verleiht und ihr Recht auf gesellschaftliche Zugehörigkeit, Selbstbestimmung, Wahl- oder Entscheidungsfreiheit unterstreicht. Vor diesem Hintergrund können wir festhalten, dass Inklusion und Empowerment sich gegenseitig bedingen: Ohne Empowerment kann Inklusion nicht implementiert und sinnvoll gelebt werden, und ohne Inklusion gerinnt Empowerment zur Ideologie.
Der Begriff Empowerment wird zwar oft gebraucht, es ist aber unübersehbar, dass es kein allgemein akzeptiertes Verständnis von Empowerment gibt. Wir verstehen Empowerment als Wegweiser zu inklusiven Zielen und als Handlungskonzept für inkludierende Arbeit mit Menschen mit Behinderung.
Dem Begriff des Empowerment begegnen wir zum ersten Mal Ende der 1950er Jahre in US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen (civil rights movement) der schwarzen Minderheitsbevölkerung (black empowerment). Diese Bewegungen waren in der nachfolgenden Zeit inspirierend für andere Gruppen in gesellschaftlich marginaler Position, so zum Beispiel für Eltern behinderter Kinder, für die Independent-Living-Bewegung von Menschen mit Körper- oder Sinnesbehinderungen, für Selbstvertretungsgruppen (People First) von Menschen mit Lernschwierigkeiten (geistiger oder intellektueller Behinderung) oder für die Rechtebewegung autistischer Menschen.
Nicht selten wird Empowerment mit »Selbstbefähigung«, »Selbstermächtigung« oder »Selbstbemächtigung« übersetzt. Solche Begriffsbestimmungen greifen jedoch zu kurz und werden dem Anliegen nicht gerecht, welches wir mit Empowerment als Wegweiser zeitgemäßer, auf Inklusion gerichteter Behindertenarbeit verbinden. Dieses lässt sich durch vier Zugänge erfassen (ausführlich siehe Theunissen 2013):
1. Empowerment verweist auf individuelle Selbstverfügungskräfte, vorhandene Stärken oder Ressourcen, die es dem Einzelnen ermöglichen, eigene Lebensumstände zu kontrollieren, Probleme, Krisen oder Belastungssituationen aus eigener Kraft zu bewältigen sowie ein relativ autonomes Leben zu führen.
2. Empowerment wird mit einer politisch ausgerichteten Durchsetzungskraft verbunden, indem sich zum Beispiel Gruppen behinderter Menschen oder Eltern behinderter Kinder für einen Abbau an Benachteiligungen und Vorurteilen, für »Barrierefreiheit«, rechtliche Gleichstellung und Gerechtigkeit engagieren.
3. Empowerment steht im reflexiven Sinne für einen selbstbestimmten Lern- und Handlungsprozess, indem zum Beispiel behinderte Menschen oder Eltern behinderter Kinder ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, sich die dafür nötigen Kompetenzen aneignen, sich ihrer Kompetenzen bewusst werden und dabei soziale Ressourcen, u. a. auch selbstorganisierte Gruppenzusammenschlüsse, nutzen.
4. Empowerment wird auch im transitiven Sinne genutzt, indem zum Beispiel behinderte Menschen oder Angehörige angeregt, ermutigt und in die Lage versetzt werden, Vertrauen zu sich selbst und in ihre Fähigkeiten zu entwickeln, eigene (vielfach verschüttete) Stärken und Kompetenzen zur Selbstgestaltung und Kontrolle der Lebenswelt zu entdecken und zu nutzen. An dieser Stelle steht Empowerment für eine professionelle Praxis, die sich – konträr zur traditionellen Heilpädagogik – durch eine neue Kultur des Helfens auszeichnet.
Eine prominente Rolle spielt dabei die sogenannte Stärken-Perspektive, der die Annahme zugrunde liegt, dass es fruchtbarer ist, an dem anzusetzen, was jemand kann, als ihm (ständig) Probleme, Defizite, Fehlverhaltensweisen, Leistungsversagen o. ä. vor Augen zu führen. Die Stärken-Perspektive fokussiert als methodisches Instrument des Empowerment-Konzepts sowohl individuelle Stärken (Potentiale, Fähigkeiten, Talente etc.) als auch soziale Ressourcen, die sich vor allem auf die Verfügbarkeit einer Vertrauensperson und auf die Schaffung und Nutzung von »Enabling Niches« im Sinne schützender, haltgebender und entwicklungsfördernder Netzwerke (informeller Unterstützungssysteme) beziehen.
Des Weiteren fußt Empowerment als Konzept für eine inkludierende Zusammenarbeit von Behinderten und Nichtbehinderten auf einer Wertebasis, die bereits in der Anfangszeit der Empowerment-Bewegungen gültig war und deren Ausgangspunkt der Bruch mit der Denkfigur war, dass Menschen in gesellschaftlichen Randpositionen defizitär ausgestattet und deshalb versorgungsbedürftig seien. Darauf aufbauend wurden drei Grundwerte formuliert:
• Der erste Grundwert ist die Selbstbestimmung des Menschen, die im Empowerment-Konzept sozial vermessen wird.
• Der zweite Grundwert ist die »kollaborative und demokratische Partizipation« (Prilleltensky 1994, 360); er besagt, dass Menschen, die von Entscheidungen betroffen sind, ein Recht auf Anhörung, Mitsprache und Mitbestimmung haben.
• Der dritte Grundwert bezieht sich auf eine »faire und gerechte Verteilung von Ressourcen und Lasten in der Gesellschaft« (ebd., 306). In seinem Fokus stehen die Auseinandersetzung mit sozialer Benachteilung und Ausgrenzung gesellschaftlicher Gruppen sowie das Eintreten für soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Inklusion.
Von besonderer Bedeutung ist für uns der Grundwert der Partizipation, spielt er doch nicht nur im Empowerment-Konzept, sondern ebenso in der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen sowie als Teilhabe übersetzt im SGB IX oder Bundesteilhabegesetz eine prominente Rolle.
So hat sich die Behindertenrechtskonvention in ihrer Präambel (o) und mit Artikel 29 der »Partizipation am politischen und öffentlichen Leben« (z. B. gleichberechtigt wie andere durch Wahlrecht) sowie dem Empowerment-Gedanken verschrieben, der Menschen mit Behinderungen als »Experten in eigener Sache« eine Stimme verleiht und ihre aktive Mitwirkung an Entscheidungsprozessen über Konzepte der Behindertenpolitik sowie die Selbstvertretung zum Programm erklärt. Diesbezüglich heißt es im Artikel 29 (b), dass sich die Vertragsstaaten dazu verpflichten,
»aktiv ein Umfeld zu fördern, in dem Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten partizipieren können, und ihre Partizipation an den öffentlichen Angelegenheiten zu begünstigen, unter anderem
Partizipation in nichtstaatlichen Organisationen und Vereinigungen (…) und bei den Aktivitäten und der Verwaltung politischer Parteien;
Bildung von Organisationen von Menschen mit Behinderungen, die sie auf internationaler, nationaler, regionaler und lokaler Ebene vertreten, und den Beitritt zu solchen Organisationen« (übersetzt nach der Originalversion).
Wohl wissend, dass es Menschen mit Behinderungen gibt, die nicht als »empowered persons« für sich selber sprechen können, werden neben dem Prinzip der »politischen Partizipation« gleichfalls assistierende Hilfen und Bildungsprogramme eingefordert, die betroffene Menschen stärken und zu einem »Bewusstsein ihrer Würde und ihres Selbstwertes« (Artikel 24 [1a]) verhelfen sollen.
Soll im Sinne der Behindertenrechtskonvention die Partizipation behinderter Menschen gestärkt werden, müssen Dienstleister bereit sein, Menschen mit Lernschwierigkeiten als Entscheidungsträger zu akzeptieren und sie in dieser Rolle zu unterstützen (Vieweg 2011). Dabei gilt es zwischen einer bloßen Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft (community presence) und einer Teilhabe zu unterscheiden, bei der Betroffene als Konsumenten oder Mitbürger/innen eines Sozialraums durch aktive Beteiligung, kollaborative Mitwirkung, Anhörung und Mitbestimmung auf Aktivitäten, Bereiche und Entwicklungen im gesellschaftlichen Lebensraum Einfluss nehmen (community participation; citizen participation). Das betrifft mit Blick auf gesellschaftliche Inklusion vor allem die Ebene der individuellen Hilfeplanung im Sinne einer Person-zentrierten Planung (dazu Theunissen 2012), die Ebene regionaler bzw. sozialräumlicher Planung (z. B. parlamentarische Formen wie Behindertenbeirat; offene Beteiligungsformen wie Hearings; projektbezogene Partizipation wie Zukunftswerkstätten; Planung einer kommunalen Begegnungsstätte) und die Ebene der Kontrolle von Dienstleistungen (z. B. Nutzerkontrolle; Beteiligung Betroffener an Evaluations- und Forschungsprozessen).
Tatsache ist, dass dieser aktiven Partizipationskultur in der Behindertenarbeit längst noch nicht Rechnung getragen wird. Dabei wünscht sich gleichfalls der Bundesgesetzgeber mit dem SGB IX und Bundesteilhabegesetz eine Teilhabe behinderter Menschen im Gemeinwesen. Trotzdem dominiert nach wie vor eine Praxis, bei der Repräsentanten der Behindertenhilfe und der staatlichen Behörden für Menschen mit Lernschwierigkeiten (vor allem bei Personen mit hohem Unterstützungsbedarf) den Rahmen ihrer Partizipationsmöglichkeiten abstecken und Entscheidungen treffen. Dies ist eine Top-down Partizipation, der eine Bottom-up Partizipation im Sinne des Empowerments kontrapunktisch gegenübersteht (dazu Theunissen 2012; 2014). Leider ist diese Differenzierung weiten Teilen der hiesigen Behindertenpolitik und Behindertenhilfe noch fremd, weshalb der Teilhabebegriff oftmals zu einer bloßen Leerformel gerinnt.
Das Empowerment-Konzept, das sich im Bereich der Behindertenarbeit vor allem auf behinderte Menschen im Erwachsenenalter und Eltern behinderter Kinder bezieht, kommt auf vier Handlungsebenen zum Tragen, die in ihrer Verknüpfung eine gewinnbringende Synergiewirkung erzeugen. Diese vier Ebenen möchten wir mit Blick auf das Wohnen von Menschen mit Lernschwierigkeiten kurz skizzieren:
Die subjektzentrierte Ebene fokussiert in erster Linie Wege, die den Einzelnen zur Entdeckung individueller Stärke und zur Entwicklung neuer Lebenskräfte und Handlungskompetenzen (Bewältigungsmuster) anstiften sollen; oder anders gesagt: Es geht darum, Betroffene stark zu machen, eigene Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen und eigenständig zu bewältigen. Hierzu nutzt die Empowerment-Praxis Methoden wie z. B. die persönliche Zukunfts- oder Lebensstilplanung, die stärkenorientierte Biographiearbeit, soziales Kompetenztraining, Unterstützungsmanagement (Case Management) und Unterstützerkreise (circle of supports; circle of friends).
Zudem sind mit Blick auf ein selbstbestimmtes, möglichst eigenständig-verantwortliches Wohnen und Leben in einer Gemeinde sowie zur gesellschaftlichen Teilhabe spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten erforderlich, welche oftmals im Kindes- und Jugendalter bzw. in der Schulzeit (noch) nicht hinreichend erlernt wurden oder in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. Ein »skill building« oder »skill training« zählt deshalb zu einem wesentlichen Vehikel zum Empowerment und kann sich auf unterschiedlichste Fähigkeiten beziehen, zum Beispiel Wünsche äußern, Auswahl und Entscheidungen treffen, Probleme eigenständig lösen, sich in einer Gruppe behaupten, andere um Hilfe bitten, sich politisch äußern und einmischen etc.
Die Palette entsprechender Programme ist somit breit: Sie reicht von Angeboten in Unterstützter Kommunikation (vor allem für Personen mit verbalen Kommunikations- bzw. Mitteilungsschwierigkeiten), einem Curriculum zur selbstständigen Haushaltsführung und zum Umgang mit Geld über ein lebenspraktisches Training, Programme zur Förderung von Selbstbestimmungsfähigkeiten, ein Selbstsicherheits- oder Problemlösetraining bis hin zu einem Self-Advocacy-Curriculum und Programmen zur Gesundheitsförderung sowie zur Förderung eines umfeldbezogenen Verhaltens und Handelns in Gefahrensituationen (safety skills). Wie bedeutsam das gezielte Training (v.a. durch Rollenspiele) von Sozialverhalten (social skills) bei Menschen mit Lernschwierigkeiten im Hinblick auf ein gemeindeintegriertes Leben eingeschätzt werden kann, machen empirische Befunde deutlich: Je besser das Sozialverhalten, um so besser sind die sozialen Kontakte und um so größer ist die soziale Akzeptanz der nichtbehinderten Bevölkerung; zugleich sind Momente wie Langeweile, Unzufriedenheit oder Gefühle der Einsamkeit verringert, so dass dem »skill building« auch eine präventive Bedeutung im Hinblick auf psychische Probleme zukommt (Gesundheitsförderung).
Freilich lässt sich ein solches »skill building« nicht erzwingen, sondern die Kunst besteht darin, im Rahmen einer persönlichen Zukunfts- oder Lebensstilplanung subjektiv bedeutsame Lernfelder gemeinsam mit dem Betroffenen zu erschließen und ihn zum (Weiter-)Lernen zu motivieren. Das heißt, die Inhalte müssen vom Betroffenen selbst erwünscht sein bzw. als relevant betrachtet werden; ferner muss beim Betroffenen der Wunsch zum (Weiter-)Lernen vorhanden sein; und es sollte immer gemeinsam eine Prozess- oder Ergebnisevaluation erfolgen. Somit bedeutet Förderung im Sinne von Empowerment, jemanden in die Lage zu versetzen bzw. zu befähigen, aus sich selbst etwas zu machen – dies im Unterschied zur traditionellen heilpädagogischen Förderung, bei der es darum geht, aus einem behinderten Menschen etwas zu machen.
Das Arbeiten auf der subjektzentrierten Ebene kommt in zweifacher Hinsicht zum Tragen: Zum einen in Gestalt einer »integrierten« Unterstützung, indem individualisierte assistierende Hilfen die Alltagsarbeit durchdringen, so zum Beispiel im Rahmen der alltäglichen Unterstützung von Menschen mit schweren Entwicklungsbeeinträchtigungen, die in Wohngruppen leben; zum anderen als »additives« Angebot, zum Beispiel in Form einer Beratung, psychosozialen Einzelhilfe oder Trainingseinheit in der »regulären« Lebenswelt oder in speziellen (therapeutischen) Settings.
Wenngleich die Arbeit mit dem Einzelnen im Vordergrund steht, schließt die Subjektzentrierung kontextorientierte Maßnahmen nicht prinzipiell aus, da stets das Individuum in seiner Lebenswelt als Adressat der Empowerment-Praxis betrachtet wird. Insofern gehören auch die Erschließung eines individuellen Netzwerkes (Erstellung einer Netzwerkkarte und -analyse) sowie die Eruierung und die Nutzung von Umfeldstärken und bürgerzentrierten Ressourcen mit zum Bestandteil einer Einzelhilfe im Zusammenhang von Empowerment-Prozessen. Damit besteht zugleich ein enger Bezug zwischen Einzel- und Gemeinwesenarbeit.
Die gruppenbezogene Ebene ist gleichfalls vielschichtig. So zielt sie zum einen auf eine Förderung von vorhandenen Netzwerken behinderter Menschen im Nahbereich (Familien-, Freundes-, Nachbarschaftssystem), zum zweiten auf den Aufbau und die Entwicklung von Selbsthilfe-Initiativen, Selbstvertretungsgruppen und Kontaktstellen, zum dritten auf die Vernetzung solcher Systeme auf überregionaler Ebene.
Da sowohl Menschen mit Behinderungen, ihre Eltern und auch Mitarbeiter professioneller Systeme Adressaten von Empowerment sind, können unterschiedliche Interessen bei einem gleichgelagerten Anliegen (z. B. Unterstützung von Selbstbestimmung) kollidieren, so dass aus dem Empowerment-Blickwinkel häufig Vermittlungshilfen (bridge building) angezeigt sind, um Perspektiven für gegenseitiges Verständnis und ein konstruktives Miteinander zu eröffnen, den Blick für die Rechte eines Betroffenen zu gewinnen und den Weg für den Respekt vor seinem Lebensentwurf oder seiner Zukunftsplanung zu ebnen.