Inklusive Schulentwicklung in der beruflichen Bildung - Nicole Riemer-Trepohl - E-Book

Inklusive Schulentwicklung in der beruflichen Bildung E-Book

Nicole Riemer-Trepohl

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Beschreibung

Bei der vorliegenden Einzelfallstudie (case study) geht es um die Analyse, Durchführung und Auswertung eines Inklusionsfalls an einer Berufsschule. Die Schülerin weist eine Autismus-Spektrum-Störung auf und hat bereits an vorhergehenden Schulen massive Schwierigkeiten im System der Schule erfahren. Diese Schwierigkeiten - bedingt durch ihr Störungsbild - setzten sich an der Berufsschule fort. Die soziale Interaktion (über mehrere Stunden hinweg in einem Klassenverband) war für die Schülerin nicht zu bewerkstelligen. Somit stiegen die Fehlzeiten, und es drohte ein Ausbildungsabbruch. Hiervon wurde folgende Forschungsfrage abgeleitet: "Was kann im Lehr-Lern-Prozess konkret verändert werden, sodass die Berufsausbildung aufgrund der Erscheinungsformen der Autismus-Spektrum-Störung nicht zum Abbruch der Ausbildung, sondern zum Gelingen führt?" Die konkrete praktische Umsetzung an der Schule wurde im Rahmen eines inklusiven Schulentwicklungsprozesses wissenschaftlich begleitet. Am Ende konnte die oben genannte Frage mithilfe eines eigenen, selbst entwickelten Ermöglichungsmodells, das die inhaltliche Essenz der vorliegenden Arbeit widerspiegelt, positiv beantwortet werden. Als theoretische Basis wurden hierfür theoretische Konstrukte wie das Mehrebenenmodell nach Heimlich et al. (2018) und der Prozess nach Erbring (2021) herangezogen. Qualitative Methoden wie die Grounded Theory, die Aktionsforschung und die Einzelfallstudie dienten dazu, die Daten im Einzelfall zu erheben und im Lehr-Lern-Prozess der Schülerin Änderungen vorzunehmen, um eine Entlastung der Schülerin in Bezug auf das berufliche System zu ermöglichen. Das Ergebnis zeigt, dass die Ausbildung auch nach anfänglichen schwerwiegenden Problematiken doch noch erfolgreich abgeschlossen werden kann, wenn eine Haltung der Inklusion und sozialen Teilhabe mittels Einzelbegleitung und Antidiskriminierung implementiert werden: Es ist durchaus möglich, "das Ruder noch herumzureißen". Das hier entwickelte Modell könnte auch in anderen Feldern angewendet werden, z.B. im Arbeitsmarkt in den jeweiligen Betrieben, wo es durch gewisse Abwandlungen umgesetzt werden kann. Ob eine solche Generalisierung des entwickelten Modells tatsächlich gegeben ist, müssen weitere Forschungen zeigen.

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Inhalt

Abstract/Zusammenfassung

1. Einleitung

2. Theorie und Forschungsstand

2.1 Autismus-Spektrum-Störung (ASS

)

2.1.1 Diagnostik

2.1.2 Symptomatik

2.1.3 Komorbiditäten

2.2 Inklusion

2.2.1 Historie des Inklusionsbegriffs

2.2.2 Definition „Inklusion“ im schulischen Kontext in Bayern

2.3 Inklusive Schulentwicklung

2.3.1 Definition „inklusive Schulentwicklung“

2.3.2. Index für Inklusion

2.3.3. Prozess der Schulentwicklung

2.3.4 Mehrebenenmodell der inklusiven Schulentwicklung

2.3.5 U-Prozess in der inklusiven Schulentwicklung

2.4 Zielsetzung und Forschungsfragen

3. Methode

3.1 Fallstudien

3.1.1 Einsatzgebiete

3.1.2 Definition

3.1.3 Einzelfallbeschreibung und -gewinnung

3.2 Aktionsforschung

3.3 Grounded Theory (GT

)

3.3.1 Kodierparadigma in Anlehnung an Strauss und Corbin

3.3.2 Theoretische Vorannahmen

3.3.3 Datensammlung

3.3.3.1 Analysen des Istzustands

3.3.3.2 Abschlussinterview

3.3.3.2 Katamnese

3.4 Untersuchungsinstrumente

3.5 Gütekriterien

4. Ergebnisse

4.1 Dokumentensichtung

4.1.1 Informationen aus dem Befund von 2013

4.1.2 Stellungnahme des MSD A von 2013

4.1.3 Schreiben vom Ministerialbeauftragten

4.1.4 Informationen aus der Stellungnahme der Klinik von 2020

4.1.5 Informationen aus der Schülerakte

4.1.6 Stellungnahme des MSD A

4.1.7 Informationen aus der Stellungnahme der Psychotherapeutin

4.1.8 Aktueller Stand an der Berufsschule 2020/2021

4.1.9 Schulische Fördermaßnahmen an der Berufsschule

4.1.10 Einzelinklusionsstunden

4.2 Gespräche mit der Schülerin und der Familie

4.3 Phasenmodell „Unterrichtszeitanpassung“

4.4 Gespräche mit der Klassenleitung/Schule

4.5 E-Mail-Kommunikation

4.6 Klassengespräch: Klassenintervention im Juni 2021 – eine Doppelstunde

4.7 Beobachtungen im Zeitraum der Erhebung (2021–2022

)

4.8 Berufsbeschulung der Einzelfallstudie

4.9 Katamnese

5 Erkenntnisgewinn und Diskussion

5.1. Übertragung des Theoriekonstrukts auf den Fall

5.2 Übertragung des Mehrebenenmodells auf den Einzelfall

5.3 Übertragung des U-Prozesses auf den Einzelfall

5.4 Aktionsforschung und die Anwendung auf die Einzelfallstudie

5.5 Anwendung der Grounded Theory (GT) auf den Einzelfall bzw. die Einzelfallstudie

5.5.1 Verbindung von Theoriemodellen und Aktionsforschung

5.5.2 Entwurf einer Theorie

5.6 Entwicklung eines inklusiven Schulentwicklungsprozesses aus den Einzelfallerkenntnissen

5.7 Arbeitsmarkt

5.8 Integration versus Inklusion

5.9 Beantwortung der Forschungsfragen

6. Fazit

Literatur

Anhang

A.1 Interviewfragen

A.2 E-Mail-Kommunikation mit den Hauptakteur*innen

A.3 Checkliste für die Selbstbeurteilung von Studien auf ethische Unbedenklichkeit

Abbildungen und Tabellen

Abbildungsverzeichnis

1

Autismus-Spektrum-Störung in der ICD-11

2

Beteiligte bei einer inklusiven Beschulung

3

Entwicklung der Zahl der Auszubildenden von 1992 bis 2019

4

Mehrebenenmodell

5

Inklusive Schulentwicklung im speziellen Einzelfall als U-Prozess

6

Kodiervorgang beim vorliegenden Einzelfall

7

Kreise der Betroffenheit bei der vorliegenden Einzelfallstudie

8

Ableitung des Prozesses für inklusive Schulentwicklung

Tabellenverzeichnis

1

Verteilung der Schüler*innen nach Förderschwerpunkten

2

Entstehung einer Einzelfallstudie

3

Gütekriterien für die vorliegende qualitative Fallstudie

4

Zusammenfassung der Gespräche

5

Anwesenheitsplanung im Unterricht – 1. Blockwoche

6

Anwesenheitsplanung im Unterricht – 2. Blockwoche

7

Anwesenheitsplanung im Unterricht – 3. Blockwoche

8

Anzahl der Kontakte über E-Mail und Personen

9

Gelingens- und Misslingensfaktoren für den vorliegenden Einzelfall

10

Unterschiede zwischen Integration und Inklusion

Abstract/Zusammenfassung

Zusammenfassung

Bei der vorliegenden Einzelfallstudie (case study) geht es um die Analyse, Durchführung und Auswertung eines Inklusionsfalls an einer Berufsschule. Die Schülerin weist eine Autismus-Spektrum-Störung auf und hat bereits an vorhergehenden Schulen massive Schwierigkeiten im System der Schule erfahren. Diese Schwierigkeiten – bedingt durch ihr Störungsbild – setzten sich an der Berufsschule fort. Die soziale Interaktion (über mehrere Stunden hinweg in einem Klassenverband) war für die Schülerin nicht zu bewerkstelligen. Somit stiegen die Fehlzeiten, und es drohte ein Ausbildungsabbruch.

Hiervon wurde folgende Forschungsfrage abgeleitet: „Was kann im Lehr-Lern-Prozess konkret verändert werden, sodass die Berufsausbildung aufgrund der Erscheinungsformen der Autismus-Spektrum-Störung nicht zum Abbruch der Ausbildung, sondern zum Gelingen führt?“

Die konkrete praktische Umsetzung an der Schule wurde im Rahmen eines inklusiven Schulentwicklungsprozesses wissenschaftlich begleitet. Am Ende konnte die oben genannte Frage mithilfe eines eigenen, selbst entwickelten Ermöglichungsmodells, das die inhaltliche Essenz der vorliegenden Arbeit widerspiegelt, positiv beantwortet werden.

Als theoretische Basis wurden hierfür theoretische Konstrukte wie das Mehrebenenmodell nach Heimlich et al. (2018) und der Prozess nach Erbring (2021) herangezogen. Qualitative Methoden wie die Grounded Theory, die Aktionsforschung und die Einzelfallstudie dienten dazu, die Daten im Einzelfall zu erheben und im Lehr-Lern-Prozess der Schülerin Änderungen vorzunehmen, um eine Entlastung der Schülerin in Bezug auf das berufliche System zu ermöglichen.

Das Ergebnis zeigt, dass die Ausbildung auch nach anfänglichen schwerwiegenden Problematiken doch noch erfolgreich abgeschlossen werden kann, wenn eine Haltung der Inklusion und sozialen Teilhabe mittels Einzelbegleitung und Antidiskriminierung implementiert werden: Es ist durchaus möglich, „das Ruder noch herumzureißen“.

Das hier entwickelte Modell könnte auch in anderen Feldern angewendet werden, z.B. im Arbeitsmarkt in den jeweiligen Betrieben, wo es durch gewisse Abwandlungen umgesetzt werden kann. Ob eine solche Generalisierung des entwickelten Modells tatsächlich gegeben ist, müssen weitere Forschungen zeigen.

Abstract

This case study is about the analysis, implementation and evaluation of an inclusion case at a vocational school. The student has an autism spectrum disorder and has already experienced massive difficulties in the school system at previous schools. These difficulties – caused by her disorder – continued at the vocational school. The social interaction (over several hours in a class) was not manageable for the student. As a result, absenteeism increased and there was a risk of dropping out of training.

From this, the following research question was derived: "What can be concretely changed in the teaching-learning process so that the vocational training does not lead to the termination of the training due to the manifestations of the autism spectrum disorder, but to success?"

The concrete practical implementation at the school was scientifically accompanied as part of an inclusive school development process. In the end, the above question could be answered positively with the help of a self-developed enabling model that reflects the essence of the content of the present work.

Theoretical constructs such as the multi-level model according to Heimlich et al. (2018) and the process according to Erbring (2021). Qualitative methods such as grounded theory, action research and case studies were used to collect data on a case-by-case basis and to make changes to the student's teaching-learning process in order to relieve the student in relation to the professional system.

The result shows that even after initial serious problems the training can still be successfully completed if an attitude of inclusion and social participation is implemented by means of individual support and anti-discrimination: It is quite possible "to still take the helm to tear around".

The model developed here could also be used in other fields, e.g. in the labor market in the respective companies, where it can be implemented with certain modifications. Further research must show whether such a generalization of the developed model is actually given.

1. Einleitung

In Deutschland darf oder muss jedes Kind mit spätestens 6 Jahren in eine Grundschule gehen (vgl. Deutscher Bundestag, 2019; Schneider & Toyka-Seid, 2023). In Bayern ist dies im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) Art. 35 geregelt. „Wer die altersmäßigen Voraussetzungen erfüllt und in Bayern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder in einem Berufsausbildungsverhältnis oder einem Beschäftigungsverhältnis steht, unterliegt der Schulpflicht“ (Art. 35 Satz 1 BayEUG). Vorher können Eltern ihre Kinder in eine Betreuung geben, müssen es aber nicht. In Deutschland gibt es eine Schulpflicht und keine Bildungspflicht. Der Bildungsort ist dadurch fest am Ort der Schule verortet. Vor der Einschulung wird die kindliche Entwicklung bei der Schuleingangsuntersuchung überprüft. Dies soll einen guten Schulstart für die Kinder gewährleisten. Dabei werden Seh- und Hörvermögen, Gewicht, Größe, Gleichgewichtssinn sowie motorische und emotionale Fähigkeiten untersucht, des Weiteren die Sprachentwicklung und das Sozialverhalten des Kindes (Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, 2022).

Eine Untersuchung auf Autismus-Spektrum-Störung (ASS) erfolgt nicht. Mit der Schulzeit beginnt für die meisten Autist*innen ein Leidensweg. Die Klassenräume sind häufig mit mehr als 25 Kindern gefüllt. Die Klassen der Berufsfachschulen müssen z.B. in Bayern bis zu 32 Schüler*innen aufnehmen, bevor eine Teilung stattfinden kann (§ 7 BSO der Schulordnung für die Berufsschulen in Bayern – Berufsschulordnung). Wann Klassen geteilt werden, ist Ländersache und wird in Ländergesetzen geregelt. Die Kultusministerkonferenz (KMK) fasst dies zusammen (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister, 2019).

Bei großen Klassen nimmt die Reizüberflutung1 nicht ab. Die „Wahrnehmung bezeichnet die Aufnahme von Reizen aus der Außenwelt, die über Sinne wie Sehen, Hören, Schmecken und Tasten aufgenommen, verarbeitet und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden“ (UPK, o.J., S. 2). Ein Zurückziehen ist sehr schwierig. Die „normal“ ausgebildeten Lehrkräfte sind nicht für spezielle Störungsbilder wie Autismus-Spektrum-Störung geschult bzw. ausgebildet. Im Studium haben nicht alle Lehrkräfte Psychologie als weitere Vertiefung studiert. Die Folgen können Ausgrenzung und Überforderung wegen Unverständnis sein. Häufig erfolgt keine Inklusion, sondern eine Exklusion in ein Förderzentrum für Lernen, Sprache und Verhalten. Obwohl nach aktueller Auffassung die kognitiven Fähigkeiten bei Schüler*innen mit Autismus-Spektrum-Störung nicht zwangsläufig so sehr eingeschränkt sind (Haider et al., 2023a, S. 58–71; 2023b, S. 323–342), dass dem Unterricht an allgemeinbildenden Schulen nicht gefolgt werden kann, ist eine Separierung gegeben. Nach dem Bayerischen Landesamt für Statistik (2022, S. 10) hat sich die Zahl der Schüler*innen, die in einem Förderzentrum unterrichtet werden, seit 2006/2007 kaum verändert (von 59.496 Schüler*innen 2006/2007 zu 55.488 Schüler*innen 2021/2022; vgl. auch Bayerisches Landesamt für Statistik, 2011, 2018).

In der vorliegenden Studie wird ein Thema der Inklusionsdebatte näher betrachtet: das Störungsbild der Autismus-Spektrum-Störung im Kontext beruflicher Bildung. Damit soll beispielhaft aufgezeigt werden, wie Störungsbilder aus Ressourcengründen nicht aufgenommen werden.

Der Begriff Autismus, von Eugen Bleuler 1911 (S. 52–55, 304 f.) eingeführt als Bezeichnung für die Symptomatik der Selbstbezogenheit in der Schizophrenie, wurde in den 1930er- und 1940er-Jahren unabhängig voneinander durch drei Pionier*innen in Unterscheidung zur Schizophrenie zu einem Syndrom ausformuliert: die russische Kinder- und Jugendpsychiaterin Grunja Evimovna Suchareva (1930/2009), den österreichischen Kinderarzt Asperger (1943/1944) sowie den austro-amerikanischen Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1943). Gemeinsam war allen die Beschreibung der Versunkenheit in sich selbst in Kombination mit motorischen, emotionalen, kognitiven und sozialen Besonderheiten (Überblick bei Theunissen, 2021, S. 15–41).

2016 wurde Autismus in die S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aufgenommen. Die S3-Leitlinie für den Diagnostik-Teil (AWMF, 2016) ist abgelaufen und wird derzeit (Frühjahr 2024) überarbeitet, für den Therapie-Teil wurde sie 2021 veröffentlicht (AWMF, 2021).2 Ende 2022 ergab der Suchbegriff „Autismus“ bei Google 9.910.000 Treffer.3 Zu diesem Zeitpunkt wurden bei Google Scholar für „Autismus-Spektrum-Störung“ 8.490 Hits angezeigt. Die Anzahl der Treffer unterstreicht die Bedeutsamkeit dieses Störungsbildes. Für „Inklusion“ wurden Ende 2022 bei Google 66.100.000 Ergebnisse gefunden, für „Inklusion in Berufsschulen“ bei Google 326.000 und bei Google Scholar 4.080. Bei der kombinierten Suche wurden für „Autismus und Inklusion“ 3.290 sowie für „Autismus und Berufsschule“ nur noch 632 Hits erzielt. Für ein Störungsbild und die Integration in eine berufliche Teilhabe waren Ende 2022 bei der Suche über Google wesentlich weniger Treffer zu erzielen als bei einer additiven Suche einzelner Bestandteile. Eine relative Ähnlichkeit zeigt sich aktuell (am 26.04.2024) auch bei der Suche über die Metasuchmaschine eTools (etools.ch): Für „Inklusion“ liefert sie 8.695.455, für „Inklusion und Berufsschule“ 34.304, für „Autismus“ 290.399, für „Autismus und Schule“ 105.877, für „Autismus-Spektrum-Störung“ 49.235 Ergebnisse. Angesichts der hohen Trefferzahl für das Störungsbild drängt sich die Frage auf, wie häufig es auftritt.

Vllasaliu et al. (2019) gehen von einer Zahl von 1% der Bevölkerung aus, die eine leichte Form aufweisen und im Alltag wenig bis gar nicht auffallen, bis hin zu sehr schweren Formen, bei denen die Möglichkeit zur sozialen Teilhabe schwer beeinträchtigt ist. Habermann und Kißler (2022) führen aus, „dass das Wissen über diese tiefgreifende Entwicklungsstörung in der Gesellschaft noch Mangelware ist und vielen Menschen nicht klar zu seien [sic] scheint, was unter Autismus tatsächlich zu verstehen ist“ (S. 1). Durch die Unwissenheit können Vorurteile, Diskriminierungen und Ausgrenzungen entstehen, die Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) im Alltag und gerade in der Berufsschule trifft und für sie eine große Herausforderung darstellt.

In den letzten Jahren ist im Gesamtkontext der Teilhabe der Begriff der Inklusion generell und speziell an Berufsschulen aufgekommen. Dabei stellt eine zentrale Idee der Inklusion dar, dass Menschen nicht exkludiert werden, sondern in allen Lebensbereichen selbstbestimmt zusammen – d.h. behinderte und nicht behinderte Menschen – leben, lernen und arbeiten (BSMAS, 2017). Die vorhandenen Strukturen sind auf die Behinderungen bzw. Störungen der Menschen anzupassen. „Inklusion geht weiter: Menschen mit Behinderung können von Anfang an am sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben. Und zwar: selbstbestimmt, gleichberechtigt und uneingeschränkt“ (ebd., S. [3]; vgl. auch Felder, 2024).

Diese grundlegenden Gedanken und Überlegungen führten zur Idee zu der vorliegenden Arbeit. Dabei wird zuerst in das Störungsbild der Autismus-Spektrum-Störung eingeführt. Für eine erfolgreiche Umsetzung einer Integration/Inklusion bzw. einer sozialen Teilhabe ist die theoretische Auseinandersetzung um diese Begriffe im Kontext Schule wichtig und wird in der vorliegenden Arbeit thematisiert. Um die Inklusion in Berufsschulen umsetzen zu können, bedarf es einer speziellen Schulentwicklung, sodass Möglichkeiten der inklusiven Schulentwicklung in dieser Studie vorgestellt werden.

Auf das Fallbeispiel einer Schüler*in mit Autismus-Spektrum-Störung werden die in der Theorie vorgestellten inklusiven Schulentwicklungsprozesse übertragen und angewandt. Somit werden theoretische Konstrukte auf die Praxis – nämlich den Einzelfall – übertragen und dabei analysiert, ob die praktische Umsetzung für diesen Einzelfall Erfolg versprechend gewesen ist. Die Überprüfung wird mithilfe von qualitativen Forschungsmethoden durchgeführt: „Qualitative Forschungsmethoden haben sich in ihrer großen Vielfalt in der Gesundheitsförderung und Gesundheitsforschung in den letzten Jahren fest etabliert … . Aufgrund ihrer Prinzipien ... sind qualitative Forschungsmethoden prädestiniert dafür, ein vertieftes Verständnis für das Ineinandergreifen von Krankheit, Gesundheit und Lebensführung zu erlangen“ (Ohlbrecht, 2021, S. 381). Dieses Ineinandergreifen soll an einem Einzelfall mit qualitativen Methoden erläutert werden. Daraus werden Folgerungen aufgezeigt und diskutiert, ob diese auf andere Einzelfälle angewandt werden können. Bei den qualitativen Forschungsmethoden handelt es sich um eine ganze Reihe von Methoden, die je nach Untersuchungsgegenstand angepasst und auf eine Auswahl reduziert werden. Ohlbrecht (2021, S. 384 f.) zeigt für qualitative Methoden in der Gesundheits- und Präventionsforschung folgende Perspektiven auf:

Mögliche Randgruppen werden analysiert.

Minderheiten wie z.B. chronisch Kranke können durch die qualitativen Ansätze eine Stimme bekommen, und Versorgungslücken können möglicherweise geschlossen werden.

Die Kontextualität kann durch diese Methoden mitberücksichtigt werden. Damit versteht sich die Forschung als Feld- und Praxisforschung.

Die Betroffenen sollen in die Forschung partizipativ eingebunden werden („nothing about us without us“) – ein Ansatz, der auf die Behindertenrechtsbewegung zurückgeht (Schneider & Waldtschmidt, 2007).

Diese angegebenen Perspektiven waren ausschlaggebend für die Entscheidung, bei der vorliegenden Studie einen qualitativen Ansatz und eine qualitative Methodik zu verwenden. Wichtig sind sind neben dem partizipativen Aspekt des Mitwirkens der Schüler*in mit Autismus-Spektrum-Störung aber auch die weiteren Teilnehmenden wie z.B. die Klassenleitung.

Die wissenschaftlichen Methoden, die zum Einsatz kommen, sollen die Verbindung des Störungsbildes der Schüler*innen und den Lebensweltbezug Berufsschule analysieren und verändern. Alle Lebensweltbereiche und weitere Störungsbilder können hier nicht aufgezeigt werden, da die Ressourcen hierfür nicht ausreichen. Bedingt durch den Einzelfall wurde das Störungsbild Autismus-Spektrum-Störung herausgegriffen. Bei diesem Einzelfall schien Handlungsbedarf zu bestehen, sodass sich eine wissenschaftliche Begleitung eignete. An diesem Störungsbild soll in einer Einzelfallstudie ein möglicher Inklusionsprozess dargestellt und in der Folge ein inklusiver Schulentwicklungsprozess analysiert und dabei diskutiert werden, ob dieser auf andere Inklusionsfälle übertragbar wäre. Dabei sollen für Berufsschulen mögliche Gelingens- und Misslingensfaktoren aufgezeigt bzw. abgeleitet werden.

Um eine wissenschaftliche Überprüfbarkeit zu schaffen, wird ein Theoriemodell der Inklusion bei einer Auszubildenden in einer Berufsschule angewandt und abschließend ausgewertet.