Ins Herz getroffen - Rolf Sellin - E-Book

Ins Herz getroffen E-Book

Rolf Sellin

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  • Herausgeber: Kösel
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Spitze Bemerkungen, ausbleibender Dank oder Nichtbeachtung können ebenso ins Herz treffen wie eine unerwartete Kündigung oder die scharfen Worte in einer Auseinandersetzung. Auch wenn wir äußerlich weiter funktionieren: Seelisch sind wir verletzt. Wenn wir den Schmerz dieser Verletzung übergehen, bleibt er unterschwellig erhalten. Nur Schmerz, der beachtet wird, kann sich auch wieder auflösen. Erst wenn wir ihn annehmen, werden wir wieder frei für andere, positivere Gefühle.

Rolf Sellin, Experte für Hochsensibilität und Bestsellerautor, zeigt, wie wir den Mut fassen können, hinzuschauen und zu erkennen, was genau in uns verletzt wurde. Wie wir unsere Verletzungen versorgen, an ihnen wachsen und sie sogar heilen können. Er bietet mit seinen zahlreichen Methoden konkrete Anleitungen zur Selbsthilfe bei seelischem Schmerz.

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Seitenzahl: 259

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Das Buch

Ein Leben ohne seelische Verletzungen und Schmerz gibt es nicht. Im Umgang mit anderen Menschen erfährt jeder von uns Verletzungen – viele kleinere, aber auch tiefe und lang anhaltende. Nur der Schmerz, der angenommen und gefühlt, also wahrgenommen wird, kann sich auch wieder auflösen. Dieses Buch hilft Ihnen, seelische Verletzungen wahrzunehmen und zu erkennen, welche Auswirkungen sie auf Ihr Leben haben. Sie erfahren, wie Sie mit erprobten und wirksamen Methoden frische Verletzungen und sogar Narben, die Sie schon lange mit sich herumtragen, versorgen können. Darüber hinaus gibt der Autor viele Anregungen, wie Sie möglichen zukünftigen Verletzungen besser begegnen. Ein Buch, mit dem Sie aktiv zu Ihrer Heilung beitragen.

Der Autor

Rolf Sellin, geboren 1948, ursprünglich Dipl.-Ing. Architekt, ist Experte für Hochsensibilität und Bestsellerautor. Der Heilpraktiker für Psychotherapie gründete und leitet das HSP-Institut in Stuttgart, wo er Psychotherapeuten und Pädagogen für den Umgang mit Hochsensiblen fortbildet. Seine wirkungsvollen Methoden zur Zentrierung, zur Abgrenzung sowie zur Annahme und Auflösung von Schmerz setzen bei dem aktiven Umgang mit der Wahrnehmung an.

www.hsp-institut.de

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © 2016 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/Vilor | BildNR. 249220543

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-18465-0V002

www.koesel.de

Inhalt

Ein anderer Umgang mit Verletzungen

Vom Leid zur Freiheit. Warum ich dieses Buch schrieb

Leiden ist höchst individuell

Wissenschaftlich oder pragmatisch?

Seelischer Schmerz in einer vom rationalen Denken bestimmten Zeit

Gefühle – wichtig zur Orientierung im Leben

Gefühle und seelischer Schmerz

Kollisionen – wie es zu seelischen Verletzungen kommt

Schmerz – Teil eines uralten Regelsystems der Natur

Zwischen Nestwärme und Brudermord

Je näher der andere, desto tiefer die Verletzung

Die erneute Begegnung mit einer verletzenden Person

Der Moment der Verletzung

Stress im Erleben

Das Herz – Ort des seelischen Schmerzes

Schutz suchen – und was manches Kind findet

Unser Grundmuster im Umgang mit Schmerz

Vorsicht, Leidensgefahr! So nutzen Sie die Methoden, ohne sich zu schaden

Erste Hilfe für sich selbst – an Ort und Stelle und sofort!

Die Fakten nicht vom Tisch wischen

Nicht nicht reagieren! Eine einfache Formel für alle Fälle

Abstand gewinnen

Sich selbst körperliche Nähe geben

Den Schmerz zeigen?

Helfen Gespräche immer?

Die Verletzung begrenzen: Was blieb heil und unversehrt?

So helfen Sie sich, wenn Sie Zeit dafür finden

Rückzug oder Nähe suchen?

Zu sich stehen

Das Bedürfnis, sich mitzuteilen

Mutig hinschauen – Erkenntnisse gewinnen

Informationen und Erkenntnisse aus einer Verletzung gewinnen

Die Szene im Nachhinein verändern – neues Verhalten lernen

»Trancen« – Schmerz mit Verspätung

Die Trance entlarven, schwächen und auflösen

Prophylaxe – der Trance zuvorkommen

Unverheilte Wunden wirken

Wie sich das Alte ständig erneuert

Wie aus Verletzungen Erfahrungen werden

Eine neue Sichtweise – eine andere Geschichte

Geschichten räumlich und zeitlich verorten

Erzählen – den Schmerz der Vergangenheit in Sprache bannen

Seelische Verletzungen als Einweihung

Sich und seine »Kerbe« heilen

Immer in dieselbe Kerbe?

Werte – Orientierung und Kraftquelle zugleich

Das Herz wieder öffnen und weiten

Unzerstörtes und Unzerstörbares

Vergebung und Entwicklung

Schuld und Vergebung

Vergebung befreit

Verletzung, Schmerz und Schuld – Anstöße zur Entwicklung

Hinter der Angst und hinter dem Schmerz

Hinter dem seelischen Schmerz

Beständiger Anstoß

Dank

Literaturempfehlungen

Ein anderer Umgang mit Verletzungen

Dieses Buch nicht zu schreiben, wäre für mich so etwas wie unterlassene Hilfeleistung gewesen. Es gibt so viel seelischen Schmerz in der Welt, und ich habe über die Jahre und Jahrzehnte Methoden und Wege erarbeitet, auf heilsame Art damit umzugehen. Wie Sie von diesem Buch profitieren können, möchte ich Ihnen zunächst anhand eines Fallbeispiels mitten aus dem Alltag illustrieren. Bevor die Protagonistin Ilona die hier vorgestellten Methoden kannte, erging es ihr immer wieder wie in der folgenden Situation:

Vorher

Der Besuch der Schwägerin ließ sich nicht länger hinausschieben und ausladen konnte Ilona die Schwester ihres Mannes auch nicht. Brigitte gehörte schließlich zu seinen engsten Verwandten. Und ihm mutete sie ja auch den Besuch ihrer Mutter zu. Er machte immer eine gute Figur dabei und ließ es an formaler Höflichkeit nicht fehlen, sodass trotz der vielen kleinen Spitzen und Anspielungen seiner Schwiegermutter auch diese Tage stets harmonisch zu Ende gingen. Das konnte Ilona von den Besuchen ihrer Schwägerin nicht gerade sagen! Immer wieder hatte sie sich von Brigittes Äußerungen provoziert gefühlt und gereizt darauf geantwortet, was ihre Schwägerin zu nur noch mehr Anspielungen und Sticheleien veranlasste, die Ilona dann wiederum empfindlich trafen. Ihre Reaktion darauf machte dann alles nur noch schlimmer. Am Ende war meist sie diejenige, die zuerst gegen den guten Ton verstieß. Und dann musste sie sich dafür auch noch entschuldigen. Manchmal bekam sie sogar eine Migräne, sodass sie sich zurückziehen musste, ehe es überhaupt zu einer Eskalation kam. Doch selbst wenn sie auf diese Weise das Feld räumte, wusste die Schwägerin das zu nutzen, indem sie zum Beispiel auf die allgemeine gute Gesundheit in ihrer eigenen Familie verwies und obendrein allerlei besserwisserische Ratschläge anbrachte. Um Ilona müsse sie sich ja richtig Sorgen machen, sagte sie, und sah sie dabei mitleidig an, was in Ilonas Ohren nur heißen konnte, dass ihr Bruder eine bessere Frau verdient hätte. Also waren wohl ihre Gene schlecht und sie als Person nicht akzeptabel.

Hatte Ilona sich zurückgezogen, übernahm die Schwägerin die Regie im Haushalt, räumte zuerst einmal die Küche um und bereitete sogar die Mahlzeiten zu, was Ilona jedes Mal als demütigend empfand. An den seelischen Verletzungen von Brigittes Besuch vom vergangenen Weihnachtsfest trug sie noch heute. Wenn sie daran dachte, krampfte sich alles in ihr zusammen.

Der erneute Besuch der Schwägerin stand also direkt bevor. Ilona hatte die letzten drei Abende mit Putzen und Aufräumen verbracht, hatte versucht, ihr Gewicht wenigstens ein wenig zu reduzieren, sich in Form zu bringen und auch so gesund zu kochen wie die Schwägerin. Sie war noch nicht ganz fertig mit dem Herrichten der Küche und noch außer Atem, da klingelte es auch schon. Und es fing gleich gefährlich an: Brigitte schaute sie wieder einmal besorgt an und fragte, ob es ihr denn auch wirklich gut ginge, sie mache so einen abgespannten Eindruck. Und schon drängte sie Ilona ihre angelesenen Ratschläge auf und ließ sie nicht mehr zu Wort kommen. Sie machte sich auch sofort anheischig, zu helfen, und nahm ihr beim Decken des Tisches das Heft aus der Hand, entschied sich zur Feier ihres Besuches stillschweigend für das kostbare Geschirr, obwohl das nicht in die Spülmaschine durfte und damit mehr Arbeit machte. Sie hieß Ilona, sich einmal ruhig hinzusetzen, während sie die Geschirrteile kritisch betrachtete, als wolle sie Staub aus den Tassen pusten. Ilona kochte vor Wut und Schmerz. »Dir zahle ich es heim!«, dachte sie zuerst, dann wieder, dass sie unbedingt Ruhe und Haltung bewahren müsse … Das gelang ihr bis zum Sonntag um 12 Uhr 10. Das Fass lief über und sie versetzte der Schwägerin ihrerseits mit einer Bemerkung einen Schlag an deren schwächste Stelle. Gleich darauf setzte ihre Migräne ein. Ilona fühlte sich elend, verletzt und schuldig zugleich.

Nachher

Ilona war nun mit den Methoden aus diesem Buch vertraut, und das nächste Zusammentreffen mit Brigitte sollte anders werden. Mehrere Male hatte Ilona aus einer inneren Distanz heraus betrachtet, wie die Besuche ihrer Schwägerin bisher stets verlaufen waren. Sie hatte feste Muster erkennen und unterscheiden können, auf welche Spitzen sie am intensivsten reagierte. Sie hatte ihre »Kerbe« entdeckt, ihre empfindlichste Stelle, auf die ihre Schwägerin ihre feinen kleinen Nadelstiche zu lenken pflegte, die auf Unbeteiligte ganz harmlos wirken mochten. Diese Erkenntnisse hatten sie Überwindung und einigen Mut gekostet, doch danach hatte sie sich leichter gefühlt, und nun konnte sie einigermaßen gelassen dem nächsten Besuch entgegensehen. Sie wusste sich jetzt selbst zu helfen. Sie war in der Lage, auf ihre »Kerbe« aufzupassen und sich selbst das zukommen zu lassen, was heilsam auf sie wirkte. Sie hatte auch entdeckt, dass sie sich früher in Erwartung neuer Verletzungen bereits im Vorfeld wie angegriffen gefühlt hatte. Jetzt konnte sie aus einer inneren Distanz heraus erkennen, was tatsächlich ablief: Wenn sie sich nämlich verletzt fühlte und sich wegduckte, wirkte das wie ein Zeichen von Schwäche, das von ihrer Schwägerin als Einladung verstanden wurde, nach ihrem Gutdünken in Ilonas Haus zu schalten und zu walten. Ilonas innere Haltung hatte also einen Einfluss darauf, ob sie verletzt wurde oder nicht und wie tief eine Verletzung sie traf.

Selbstverständlich konnte sie nicht damit rechnen, dass sich ihre Schwägerin ändern würde. Sie würde weiter versuchen, sie zu treffen. Also bereitete sich Ilona gut auf den Besuch vor. Sie schrieb sich sogar einen kleinen Spickzettel mit den hilfreichsten Methoden, die sie in kleinen Skizzen und mit Abkürzungen verklausuliert notierte. Sie wollte diese Techniken in Brigittes Gegenwart unbemerkt anwenden. Einen weiteren Zettel hatte sie dort hingelegt, wo sie ihre Medikamente, zum Beispiel gegen ihre Migräne, aufbewahrte. Darauf standen die Maßnahmen, die sie ergreifen wollte, wenn die Angriffe sie tatsächlich verletzt haben sollten. Entscheidend war, der Schwägerin in einer einigermaßen starken und ausgeruhten Verfassung gegenüberzutreten. Das war wichtiger, als bis zum letzten Moment das Haus in einen Zustand zu bringen, an dem ihre Schwägerin nichts auszusetzen haben würde – das schaffte sie sowieso nicht.

In ihrem Lieblingssessel erwartete sie also den Besuch und versuchte einigermaßen entspannt zu bleiben. Es klingelte, ein schneller Blick auf ihren Spickzettel, und so gestärkt öffnete Ilona die Tür. Die übliche Umarmung absolvierte sie mit einer gewissen inneren Distanz. Sie musste in sich hineinlächeln: Sie hatte gerade erkannt, dass etwas entscheidend anders war. Früher wollte sie tatsächlich von ihrer Schwägerin akzeptiert und vielleicht sogar geliebt werden. Sie hatte versucht, in ihr die Schwester zu finden, die sie sich immer gewünscht hatte. Jetzt begrüßte sie einfach nur die Schwester ihres Mannes und konnte sie so annehmen, wie sie nun einmal war. Sie konnte sogar so etwas wie Neugierde in sich entdecken. In den kommenden Tagen würde sie eine Menge über sich selbst erfahren. Und sie fühlte sich fast schon freudig bereit dafür!

Vom Leid zur Freiheit. Warum ich dieses Buch schrieb

Offen gestanden war meine Kindheit als Pfarrerssohn ein wenig anders als die der meisten meiner Altersgenossen. Themen wie Leid und Schmerz, Tod und Trauer waren kein Tabu und gehörten bei uns wie selbstverständlich zum Alltag. Meine Eltern unterhielten sich auch in Anwesenheit von uns Kindern über Schicksale, Leidenswege und Seelennöte, so wie die Eltern der Bauernkinder vor ihnen die Probleme mit einer zu frühen Aussaat, den Ausbruch der Maul- und Klauen-Seuche im Nachbardorf oder das bevorstehende Kalben bei Tisch besprachen. Ebenso schütteten Gemeindemitglieder ihr Herz über familiäre Streitereien und seelische Verletzungen und ihren Schmerz darüber vor ihrem Seelsorger aus, auch wenn ich zum Beispiel auf einem Spaziergang dabei war. Damals, ich bin 1948 geboren, bedrückte sehr viel tiefes seelisches Leid die Menschen. Die Gräuel von Nazizeit und Krieg, von Vertreibung und Gefangenschaft hatten seelische Wunden gerissen, die in den Fünfzigerjahren längst nicht alle verheilt waren. Auch das beengte Zusammenleben von Einheimischen und Vertriebenen barg viele Möglichkeiten, einander zu nahe zu treten, sich gegenseitig zu verletzen oder manchmal vielleicht auch nur, sich zurückgesetzt und verletzt zu fühlen.

In dem Pfarrhaus im Dorf an der Zonengrenze lebte nicht nur unsere Familie, es war bis in die letzte Bodenkammer auch von Vertriebenen und Flüchtlingen bewohnt. Spielte ich bei gutem Wetter im Garten, so besuchte ich bei Regen lieber die Mitbewohner. Ich erfuhr viel über sie. War Frau F. ganz verbittert, obwohl sie vor Kurzem Familienmitglieder durch den Suchdienst wiedergefunden hatte und bald zu ihnen ziehen wollte, so war die Witwe S., deren Mann gefallen und deren Sohn auf der Flucht an Kälte und Entbehrung gestorben war, die Güte in Person. Zu ihr ging ich besonders gern. Sie sang Lieder mit mir und konnte lustige Geschichten erzählen. Sie freute sich an allem, obwohl sie in ihrem Zimmerchen kaum das Nötigste besaß. Merkte man der einen Person das schwere Leid nicht einmal an, so konnte eine andere über nichts anderes sprechen als darüber, was ihr angetan worden war oder was sie verloren hatte. Auch das gab es: Menschen, die nie direkt über ihr schweres Schicksal sprachen, deren Stimme jedoch schmerzlich und bitter danach klang.

Als kleiner Junge nahm ich all das in mir auf. Auch ich selbst machte meine Erfahrungen mit seelischen Verletzungen und dem Schmerz – mit Verletzungen, die ich erleiden musste, ebenso wie mit solchen, die ich anderen zugefügt habe.

Leiden ist höchst individuell

Wenn ich es heute mit Abstand betrachte, dann kann ich einige Erkenntnisse aus der damaligen Zeit, die sich später weiter ausformen und klären sollten, so zusammenfassen: Es gibt wohl niemanden, der nicht in irgendeiner Weise von seelischen Verletzungen, Schmerz und Leid betroffen ist – das liegt auf der Hand. Es gibt auch kein objektives Maß für die Schwere oder Tiefe von seelischen Verletzungen. Ebenso besteht nicht einmal ein schlüssiger oder gar messbarer Zusammenhang zwischen der Verletzung und dem Leiden unter dem Schmerz. Die Schwere und Tiefe einer seelischen Verletzung allein sagt nicht unbedingt etwas aus über das Ausmaß des Schmerzes, den der Betroffene erlebt. So kann ein vergleichsweise geringer Anlass einen Menschen tief treffen, während ein gravierendes Ereignis unter Umständen zu einem als geringer empfundenen Schmerz führen kann. Wer zum Beispiel von einer relativ kleinen seelischen Verletzung überrascht wird und starken Schmerz verspürt, kann mit einer tiefen Verletzung vielleicht ganz überlegen und geradezu weise umgehen. Ebenso kann ein und derselbe Mensch die eine seelische Verletzung schnell überwinden, während eine andere ihm länger nachgeht. Auch ist die Belastbarkeit einem Menschen nicht anzusehen. So kann eine Person, die von anderen als stark und stabil eingeschätzt wird, unter Umständen von einer seelischen Verletzung nachhaltiger getroffen werden als ein Mensch, der zuvor als besonders verletzlich und wenig belastbar galt.

Seelische Verletzungen können auch auf Dauer unterschiedliche Auswirkungen haben. Haben die schmerzlichen Ereignisse bei der einen Person tiefe Narben oder immer noch offene Wunden hinterlassen, so sind bei der anderen vielleicht nicht einmal Spuren davon zu erkennen. Durchlebt sie der eine und kann sie dann hinter sich lassen, so unterdrückt ein anderer Mensch seinen Schmerz, um Stärke zu zeigen, und bleibt sein Leben lang von ihm bestimmt. Landet der eine in der Verbitterung oder zieht mit seiner offen gehaltenen Wunde noch mehr Verletzungen und Leid auf sich, so entwickelt ein anderer Mensch gerade durch das Erleben von seelischem Schmerz Menschlichkeit und Güte.

Mit anderen Worten: Wir haben auch als Opfer von seelischen Verletzungen Einfluss darauf, wie tief der Schmerz uns trifft, wie er auf uns wirkt und in welchem Maße wir unter ihm leiden. Mag dieser Spielraum zunächst vielleicht klein erscheinen, mit unserem Umgang damit stellen wir dennoch die Weichen dafür, wie wir Verletzungen und Schmerz aktuell erleben und vor allem, wie und ob sie in uns auf Dauer fortwirken. Wir entscheiden mit unserer Reaktion, ob sich der Schmerz auflösen darf oder ob wir ihn übergehen und bewahren oder gar verstärken, sodass er uns lähmen und blockieren kann. Wir entscheiden, ob wir die Gelegenheit ergreifen, an dem Leid zu wachsen. Von diesen Einflussmöglichkeiten handelt dieses Buch. Es möchte Sie zu der inneren Freiheit führen, bewusst mit dem Schmerz umzugehen, denn so stellen Sie Ihrer immer vorhandenen Verletzlichkeit etwas gegenüber: Wachheit und Verantwortung, Fürsorge für sich selbst und Heilung.

Wissenschaftlich oder pragmatisch?

Vielleicht stellen Sie bereits an dieser Stelle die Frage nach der Wissenschaftlichkeit. Aus dem, was ich über seelische Verletzungen und Schmerz selbst erlebt und durch Menschen aus Fleisch und Blut erfahren habe, weiß ich, dass sich diese Thematik wissenschaftlichen Untersuchungen, so wie sie derzeit betrieben werden, weitgehend entzieht: Schmerz ist nicht nur nicht quantifizierbar und kann nicht in Statistiken erfasst werden, eine einzelne seelische Verletzung kann auch nicht isoliert von den seelischen Leiden, die ein Mensch bereits zuvor erlitten hat, betrachtet werden. Ebenso wäre eine seelische Verletzung unter Versuchsbedingungen nicht gleichzusetzen mit einer, wie sie uns im Leben trifft. Die Wissenschaft verfügt also über kein passendes Instrumentarium für diesen wichtigen Bereich des Lebens.

Mein Ansatz ist daher rein pragmatisch: Ich habe seelische Verletzungen erlitten und ebenso habe ich andere verletzt. Ich kenne mich aus auf dem Feld und habe Methoden entwickelt, damit in konstruktiver Weise umzugehen, die mir und später meinen Klienten deutlich erkennbar geholfen haben. Da ich von meinem Studium her Architekt und Ingenieur war und meine psychologischen Aus- und Fortbildungen erst später im Laufe des Lebens absolviert habe, ist meine Herangehensweise anders als die vieler Psychologen. Darin liegt eine Chance. Für mich zählen weniger die anerkannten Lehrmeinungen therapeutischer Schulen, weniger das langwierige Deuten und Mutmaßen, sondern die pragmatische Veränderung des Umgangs eines Menschen mit sich selbst, mit seiner Wahrnehmung und Reizverarbeitung, die zu einer konkreten Veränderung des Schmerzes und zu einer Klärung und Entwicklung des Betroffenen führen. Meine Methoden setzen bei der Wahrnehmung an. Sie sind einfach, effektiv und können allein und selbstständig angewendet werden. Sie bieten Ihnen erprobte Hilfe zur Selbsthilfe.

Wenn Sie sich wissenschaftlich bestätigte, statistisch abgesicherte und auf dieser Basis vielleicht auch noch umsetzbare Aussagen erhoffen, muss ich Sie enttäuschen und wünsche Ihnen viel Geduld beim Warten. Wenn Sie schon zu Lebzeiten konkrete Hilfe finden und sich entwickeln möchten, wünsche ich Ihnen den Mut, sich den hier vorgestellten Erkenntnissen auszusetzen, Experimentierfreude beim Anwenden der Methoden und fortan einen heilsamen Umgang mit seelischem Schmerz.

Seelischer Schmerz in einer vom rationalen Denken bestimmten Zeit

Unsere westliche Kultur ist seit den alten Griechen geprägt von der Vorstellung eines Gegensatzes von Geist und Materie. Während der Geist bei dieser Betrachtungsweise als männlich verstanden wird, entfällt auf die Materie und damit auch auf den Körper die Zuordnung zum Weiblichen. In einer patriarchalen Tradition wird der Geist als höher bewertet als der Körper, der folglich als weniger wert und teilweise sogar als suspekt betrachtet wird: »Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach« und ähnliche Formulierungen geben dieser Einstellung Ausdruck. So kommt es dazu, dass der Körper zum Untergebenen und manchmal auch zum Sklaven des Kopfes gemacht wird.

Der Mensch ist jedoch »Kopf« und »Körper«. Und zweifellos ist er darüber hinaus noch mehr: Er ist auch »Herz«. Gefühle fallen bei der vom Dualismus zwischen Geist und Körper bestimmten Betrachtungsweise sogar ganz unter den Tisch. Gefühle sind nicht fassbar. Lässt sich das Denken durch die Gesetzmäßigkeiten der Logik einschätzen und regulieren, so ist das dem Kopf bei Gefühlen kaum möglich. Auch kann ein Gedanke sprachlich meist direkt und ohne große Verluste anderen mitgeteilt werden, weil wir zum großen Teil sprachlich denken. Gedanken können leicht nachvollzogen und diskutiert werden. Bei Gefühlen ist das schwieriger. Sie entziehen sich auch der Logik des Entweder-oder. Sie können zum Beispiel zwiespältig sein. Direkt können wir sie anderen eigentlich wiederum nur durch Gefühle vermitteln, die für viele nicht greifbar sind. Wir können sie zwar in Worte kleiden, in Sprache übersetzen, doch sind das dann tatsächlich noch unsere Gefühle?

Gefühle werden Kindern zugestanden und ihren Müttern, somit auch Frauen generell, denn das ist offensichtlich: Ohne Gefühle und Einfühlung ist die Fürsorge für Kinder nicht möglich. Ebenso wie im Reich der Säugetiere sind auch bei uns Menschen nur Gefühle in der Lage, Bedürfnisse nach seelischer Wärme und Geborgenheit wahrzunehmen, nur sie können diese Gefühlsqualitäten erzeugen und vermitteln. Doch selbst da können Gefühle zweischneidig sein: Mutter und Kind sind im Fühlen zunächst geradezu eins. Die Symbiose zwischen Mutter und Kind ist in den ersten Monaten des Kindes vorgegeben und sinnvoll, später kann sie gefährlich werden, wenn das seelische Abnabeln nicht gelingt. Gefühle sind machtvoll und vielen Menschen deshalb auch nicht ganz geheuer, sodass einige sich sogar in einem Abwehrkampf befinden, in dem sie die Gefühle abwerten und häufig genug auch leugnen, um frei sein und ihre eigenen Wege gehen zu können. Aber auch wenn wir sie verleugnen oder abstreiten, es gibt sie dennoch, und sie entfalten ihre Wirkung. Selbst in die scheinbar so rationale Abwehr der Gefühlswelt durch den Geist mischt sich die Angst vor Gefühlen und bestätigt am Ende auch nur wieder die Macht der Gefühle, denn diese Angst gehört wiederum zu ihnen!

Wenn es um seelische Verletzungen geht, sind unsere Gefühle betroffen. Sie befinden sich allein schon durch die geschilderte Situation in einer defensiven Position. Man könnte sagen, sie sind durch Abwertung und Nichtbeachtung bereits verletzt. Entsprechend kann es leicht passieren, dass sie aus ihrer schon vorhandenen Verletztheit heraus reagieren.

Gefühle – wichtig zur Orientierung im Leben

Neben den Reizen, die unsere »fünf Sinne« (es sind tatsächlich sehr viel mehr!) uns vermitteln, gibt es weitere Informationen, die wir aufnehmen und die bei der Orientierung und Steuerung unseres Lebensschiffes ebenfalls wichtig sind: Es sind die Wahrnehmung über den Körper und die Wahrnehmung über unsere Gefühle. Der Körper informiert uns über unsere Befindlichkeit, über unser Wohlergehen im Zusammenhang mit unserer materiellen Existenz. Die Gefühle geben uns Nachricht über unseren Zustand in Bezug auf unsere soziale Existenz: Gehören wir dazu? Fühlen wir uns wertgeschätzt von den anderen? Lieben wir sie und werden wir von ihnen geliebt? Und natürlich über unsere Gefühlslage: Sind wir glücklich? Und was alles fehlt uns zu unserem Glück?

Die Gefühle schwingen mit bei allem, was wir erleben, sie reagieren wie Oszillatoren und teilen sich uns mit. Über unsere Gefühle stehen wir darüber hinaus in ständigem Austausch mit anderen Menschen und unserer Umgebung, denn sie nehmen nicht nur Eindrücke auf, sie strahlen auch aus auf die anderen, die uns begegnen, sie stellen Resonanz zu ihnen her. Sie sind passiv und aktiv, mit ihnen wirken wir mit an der Atmosphäre, in der wir dann leben.

Zensierte Gefühle – eingeschränkte Wahrnehmung

Werden die Gefühle, die wir aufnehmen können (oder könnten), von uns selbst beachtet, wertgeschätzt und tatsächlich wahrgenommen? Kommen sie in unserem Leben zur Geltung oder kommen sie zu kurz und werden abgetan? Werden sie von unserem Denken unterdrückt und geschurigelt?

Es ist ein kolossales Missverständnis, wenn Gefühle nicht als Kompetenz geachtet, sondern bekämpft werden. Gewissermaßen ist es so ähnlich, als wollte ein Kapitän Zensur über sein Echolot ausüben und ihm verbieten, Tiefen und Untiefen anzuzeigen, wenn sie ihm nicht gefallen, oder wenn der Radarschirm der Flugsicherung bestimmte Flugzeuge nicht darstellen dürfte. Gefühle sind eben auch Wahrnehmung und damit wichtiger Bestandteil unseres Sinnessystems und unserer Intelligenz. Erst durch das sich ergänzende Zusammenwirken unseres Denkens, unserer Gefühle und unseres Körpers gelingen Selbstregulation in unserem inneren System und Orientierung im Leben. Das Denken allein ist nicht in der Lage, uns glücklich zu machen. Dafür brauchen wir den Kontakt zu unserer körperlichen Befindlichkeit und zu unseren Gefühlen.

Gefühle und Emotionen

Um gleich einigen Missverständnissen zu begegnen: Es geht nicht um ein Entweder-oder. Es geht nicht darum, an die Stelle des Denkens die Gefühle zu setzen. Und es geht auch nicht darum, dass wir wie junge Hunde allen Gefühlen, die wir in uns wahrnehmen, sofort folgen und ihnen spontan Ausdruck verleihen.

Sehr oft werden Gefühle auch mit Emotionen verwechselt, der Sprachgebrauch ist hier ein wenig unklar. So verwenden manche den Begriff »Gefühl« für die eher stillen oder gar sentimentalen Gefühle und »Emotionen« für die starken und mächtigen Gefühle. Gewiss, die starken Gefühle drängen stärker zum Ausdruck als die sanfteren, doch »Emotion« meint eigentlich den Ausdruck von Gefühlen. Gefühle sind demnach die Stimmungen und Schwingungen, die wir in uns wahrnehmen, Emotionen sind die Gefühle, die wir ausdrücken und nach außen zeigen. Gefühle in Emotionen zu verwandeln, geschieht in der Kindheit zunächst noch ganz von selbst. Wenn wir heranwachsen, lernen wir zu unterscheiden: Was drücken wir aus, was behalten wir für uns selbst?

Wir kommunizieren nicht nur mit Worten, sondern auch direkt mit Gefühlen und selbstverständlich mit Emotionen. Damit rufen wir wiederum in anderen Gefühle und vielleicht auch Emotionen hervor. Gefühle wie Ärger können sich dann in unerwünschter Weise aufschaukeln, was zu noch mehr Ärger und dem Entstehen von noch ganz anderen Gefühlen beitragen kann. Bewusster Umgang mit Gefühlen kann bedeuten, die Gefühle, die da sind, wahrzunehmen, zu registrieren, ohne sie gleich als Emotion auszudrücken. An dieser Stelle beginnen bei vielen Menschen die Probleme. Der eine hat verlernt, seine Gefühle überhaupt wahrzunehmen. Er hat den Kontakt zu diesem Sensorium ganz verloren. Der andere bewertet seine Gefühle und nimmt nur die angenehmen oder erwünschten wahr, gewissermaßen übt er eine innere Zensur aus. Die störenden, die jedoch sehr wichtig sein können, übergeht er, bis sie so mächtig und nicht mehr regulierbar geworden sind, dass sie die Herrschaft über ihn übernehmen. Das jedoch nimmt er dann meist als Bestätigung für seine Haltung, die Gefühle in sich zu unterdrücken und zu bekämpfen.

Gefühle und seelischer Schmerz

Da Gefühle in unserer Gesellschaft zu kurz kommen, gibt es auch keine entwickelte Gefühlskultur, und so hat der Einzelne oft keinen ausreichenden Zugang zu seinen Gefühlen. Er weiß auch nicht, mit Gefühlen wie seelischem Schmerz umzugehen. Die Intelligenz und die Fähigkeiten der Gefühle durften sich nicht entwickeln, oft sind sie kindlich geblieben oder stellen sich übertrieben als Sentimentalitäten dar. Dieses Übergehen der eigenen Gefühle bringt auch einen unübersehbaren Vorteil, jedenfalls zunächst: Wir müssen unseren eigenen Schmerz nicht wahrnehmen. Sucht der eine ganz im rationalen Denken seine Zuflucht, so wendet sich ein anderer lieber den Gefühlen und dem Schmerz der anderen zu. Das gilt zum einen als edel und fürsorglich, zum anderen ermöglicht es eine Haltung der Überlegenheit.

Seelischer und körperlicher Schmerz

Seelischer und körperlicher Schmerz liegen sehr eng beieinander. Körperlicher Schmerz hat immer eine seelische Komponente und seelischer Schmerz ist immer mit körperlichen Erscheinungen verbunden. Daher kann ein Mensch, der über seinen seelischen Schmerz ständig hinweggeht, den körperlichen Anteil umso mehr spüren, weil diese Art von Schmerz allgemein beachtet und einer medizinischen Behandlung für wertgehalten wird. Mehr und mehr wird sich die Seele dann in körperlichem Schmerz ausdrücken. Da auch dieser Schmerz nicht als Information erkannt wird, sondern als zu bekämpfendes Symptom, kann es auf diese Weise zu einer Verselbstständigung und Verstärkung des Schmerzes kommen. Dann ist es höchste Zeit, sich der seelischen Komponente und dem Schmerz auf der Gefühlsebene zuzuwenden.

Kollisionen – wie es zu seelischen Verletzungen kommt

Eine körperliche Verletzung entsteht durch das Aufeinandertreffen eines Körpers mit harter Materie: Ich passe nicht auf und falle, mein Knie stößt auf die Kante einer Steintreppe. Sie war schon vor meinem Fall da. Ich hätte mit ihr rechnen müssen. Ein Schneeball trifft mich am Kopf. Volltreffer? Ein kleiner Junge feixt, der Schneeball hatte eigentlich ihm gegolten. Ich drehe mich nach dem Werfer um, und jetzt lachen wir zu dritt. Ebenso kann nukleare Strahlung – Materieteilchen – auf meinen Körper treffen. Damit habe ich vielleicht nicht gerechnet, weil ich sie nicht sehen kann, obwohl ich weiß, dass sie zu meiner Umwelt gehört. Ich kann mir die Hand an der heißen Herdplatte verbrennen. Ich kann mir beim Zwiebelschneiden in den Finger schneiden. In diesen Fällen treffen Materie, Strahlung oder heiße Temperatur auf meinen verletzlichen Körper – ganz ohne Absicht.

Ich kann auch durch eine andere Person verletzt werden. Jemand gibt mir einen Nasenstüber, weil er eine alte Rechnung mit mir begleichen möchte, mich nicht leiden kann oder mir das Portemonnaie wegnehmen will. Ich kann absichtlich angegriffen und dabei verletzt werden oder aus Versehen. Ein Passant tritt mir im Gedränge auf die Füße. Vielleicht hat er auch nur den Druck weitergegeben, den andere auf ihn ausgeübt haben.

Ähnlich ist es mit seelischen Verletzungen: Dazu braucht es nicht einmal eine andere Person. Ich nehme etwas wahr, das mir missfällt und eine entsprechende Reaktion meiner Gefühle hervorruft. Es hat mich getroffen. Mit den seelischen Verletzungen ist es dadurch komplizierter, dass sie nicht unbedingt von anderen wahrgenommen werden können, auch sind weder Wunden noch Narben zu sehen. Vielleicht können andere das Verletzende aus meiner Reaktion schließen. Vielleicht bemühe ich mich auch, nicht zu zeigen, wie tief mich etwas gekränkt hat. Andererseits tangiert mich etwas, das anderen verletzend erscheinen mag, vielleicht gar nicht, weil mir der besondere Humor des »Angreifers« schon vertraut ist. Möglich ist auch, dass ich eine Verletzung überhaupt nicht erkenne, weil ich das Demütigende an einer Bemerkung gar nicht verstanden habe. Oder ich spüre sie erst viel später. Ebenso könnte ich die Äußerung einer anderen Person als verletzend erleben, obwohl sie gar nicht die Absicht hatte, mir wehzutun, und andere darin auch gar kein Anzeichen davon erkennen würden.

Neben den aktiven seelischen Verletzungen gibt es die passiven, die deshalb auch nicht zu sehen sind: Ein Dank oder Anerkennung kommen nicht. Wer zum Beispiel Wertschätzung oder Gegenliebe erwartet hatte, wird enttäuscht, wenn sie trotz aller seiner Bemühungen ausbleiben. Auch hier kollidiert etwas: Das Bild, das ein Mensch sich gemacht hatte, stößt auf die Welt, wie sie ist, oder auf Mitmenschen, deren Reaktion er anders eingeschätzt hatte. Er hat sich getäuscht. Vielleicht wollte ihn auch tatsächlich ein anderer Mensch täuschen, dem er vertraut hatte. Doch dann war auch er es, der sich in dessen Person getäuscht hat. Wer hat ihn also verletzt?

Seelische Verletzungen sind objektiv nicht fassbar. Wen wundert es da, dass sie so oft übergangen, schöngeredet, geleugnet und abgestritten werden, da sie doch nicht objektiv, zum Beispiel mit einem Beweisfoto oder einer medizinischen Untersuchung, nachgewiesen werden können. Genauso kann eine seelische Verletzung aufgebauscht oder sogar vorgetäuscht werden, weil jemand daraus den einen oder anderen Vorteil ziehen möchte – vorgebliche seelische Betroffenheit als Mittel der Manipulation.

Schmerz – Teil eines uralten Regelsystems der Natur

Versetzen Sie sich in die Situation eines Einzellers im Meer. So einfach dieses kleine Wesen ist, so ist es doch schon perfekt für sein Überleben ausgerüstet. Sein Sinnessystem sorgt dafür, dass es sich dort aufhält, wo es genügend Nahrung findet. Es meidet zu hohe Temperaturen im Wasser ebenso wie zu niedrige. Die passende Umgebung wird durch Wohlbefinden belohnt. So orientiert sich das kleine Lebewesen im großen weiten Meer.

Ähnlich bei uns: Auch wir streben zum Angenehmen, suchen Lust und meiden den Schmerz. Wir könnten Schmerz aber auch als Information verstehen, das verändert sein Erleben. Doch es scheint so, als hätte sich das Empfinden von Schmerz davon entfernt und verselbstständigt. Auch wenn unsere Lebenssituation in der Überfluss- und Informationsgesellschaft viel komplizierter geworden ist: Noch immer belohnt uns die Natur nach diesem alten einfachen Prinzip mit Wohlergehen, wenn wir uns im Sinne des Überlebens vorteilhaft verhalten, und signalisiert uns durch Schmerz und Unwohlsein, dass uns etwas nicht guttut und wir es meiden sollten.

Seit es Gefühle gibt

Eins kennt der Einzeller allem Anschein nach noch nicht: Gefühle. Erst seit es Tiere gibt, die ihren Nachwuchs lebend zur Welt bringen und ihn säugen, wärmen, schützen, füttern und aufs Leben vorbereiten, also bemuttern, sind die Gefühle hinzugekommen. Gefühle dienen einem Individuum zur Regulierung des Umgangs mit anderen, zuallererst der Koordination zwischen Tiermutter und ihren Jungen. Ihre Gefühle teilen ihr mit, ob es ihnen gut geht, welche Bedürfnisse sie haben und wie sie am besten für sie sorgen kann. Wenn sie leiden, dann leidet auch sie. Geht es ihnen gut, dann ist auch sie glücklich und zufrieden.