Inselaffäre - Anja Eichbaum - E-Book

Inselaffäre E-Book

Anja Eichbaum

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Beschreibung

Partystimmung auf Norderney. Ein Fotoshooting junger Cosplayer sorgt für Aufsehen. Nichts, worüber sich Inselpolizist Martin Ziegler Sorgen machen würde, wäre nicht zeitgleich die Hochzeit von Pensionsbesitzerin Daniela, bei der er Trauzeuge ist. Zum Glück ist auch die Polizeipsychologin Ruth Keiser eingeladen. Denn es gibt einen mysteriösen Todesfall im Schrebergarten. Dabei ahnt Martin noch nicht, dass dies erst der Auftakt zu viel Schlimmerem ist …

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Anja Eichbaum

Inselaffäre

Kriminalroman

Zum Buch

Für immer und ewig  Anfang Juni boomt die Partystimmung auf Norderney. Während die Feriengäste zum langen Wochenende auf die Insel strömen, laufen die Vorbereitungen für ein Fotoshooting junger Cosplayer auf Hochtouren. Die 16-jährige Milli freut sich auf das ungewöhnliche Treffen, bei dem sich alle in japanische Comic-Figuren verwandeln. Allerdings kämpft sie gleichzeitig gegen die Einwände ihrer überfürsorglichen Mutter. Unterdessen sieht der Inselpolizist Martin Ziegler mit Freude der Hochzeit von Pensionsbesitzerin Daniela entgegen. Er wird Trauzeuge sein und seine alte Freundin, die Polizeipsychologin Ruth Keiser, wiedertreffen. Doch noch bevor die Hochzeitsparty starten kann, gerät alles aus den Fugen. Der seltsame Todesfall eines Insulaners löst Rätselraten und Entsetzen aus. Dabei ist das erst der Auftakt zu einem Wochenende, an dem ein schreckliches Geschehen das andere ablöst. Martin Ziegler scheint heillos überfordert. Oder glauben das etwa nur die Kollegen von der Kripo aus Aurich?

 

Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein „halbes“ Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gerne dort, wo sie am liebsten selber ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand. Nach einem Ausflug ihrer Protagonisten an die Ostsee kehrt sie nun mit dem dritten Band auf die ostfriesische Nordsee-Insel zurück.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Letzte Hoffnung Meer (2019)

Inselcocktail (2017)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © WebWertig / Pixabay

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6274-0

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Personenregister

Polizeiwache Norderney:

Martin Ziegler, Dienststellenleiter

Olaf Maternus, Nicole Ennert, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink und Verstärker

Mordkommission Aurich:

Renate Lichterfeld

Hochzeit:

Daniela Rick

Frank Prinzen

Marthe Dirkens

Ruth Keiser

Anne Wagner

Oskar Schirmeier

Freundinnen: Jutta, Bibi und Kathrin

Ulf Martens, Fotograf

Norderneyer:

Hilmar Hansen

Anneliese Hansen (Witwe von Kai-Uwe Hansen)

Ingrid Folkerts

Johan Westermann

Cosplayer-Fotoshooting:

Melanie Stöcker, genannt Milli

Yvonne Stöcker, ihre Mutter

Emma, beste Freundin

Ben, bester Freund

Cosplayer aus Leer

Lehrer:

Sonja Mirschel

Steffen Bode

Babsi Körner

Frau Rabe, Schulleiterin

Verschiedene Ärzte, Jugendhilfemitarbeiter, Tennispartner und andere

Einladung

********

Nicht gesucht und doch gefunden!

 

Wir laufen ein

 

in den Hafen der Ehe

 

am Samstag, 2. Juni

 

10.00 Uhr kirchliche Trauung,

Sankt Ludgerus

 

14.00 Uhr standesamtliche Trauung,

Badekarren

 

anschließend

Beachparty Open End

 

Wir rechnen fest mit euch!

 

Daniela und Frank

********

Prolog

»Und, schön geworden?« Daniela wedelte mit der Einladungskarte, als müsste die Tinte trocknen.

»Kind, du musst schon stillhalten und mich auch in Ruhe lesen lassen. Was bist du denn bloß so hibbelig?«

Daniela grinste. »Kann schon sein. Es ist alles so aufregend. Es gibt noch so viel zu tun. Allein die Ankunft der Gäste. Hoffentlich klappt es so, wie wir uns das Ganze vorgestellt haben.«

»Das wird schon, mein Kind. Das wird schon. Lass du mal alle machen und kümmere dich nur um dich. Und um deinen Frank. Aber wie ich ihn kenne, bleibt er die Ruhe in Person.«

»Stimmt.« Daniela seufzte und ließ sich auf den Stuhl am Esstisch fallen. »Aber ich hätte gerne alles perfekt.« Sie schob die zartgelbe Einladungskarte über den Tisch. »Es ist doch mein großer Tag.«

Frau Dirkens lächelte fein, während sie sich erhob und sich zum Herd herumdrehte. »Da hast du ein wahres Wort gesprochen. Dein großer Tag. Es sollte aber euer großer Tag werden, nicht nur deiner.«

Daniela zuckte zusammen. »Aber das meine ich«, antwortete sie verlegen.

»Das weiß ich, mein Kind. Ich will dir nur sagen, mach dich nicht so verrückt, dass du nachher das Wesentlichste aus den Augen verlierst. Es ist euer Tag, und wirklich nur euer Tag. Der Rest ist schmückendes Beiwerk, Zierde, Publikum. Die Hauptpersonen seid ihr. Konzentriere dich darauf.« Frau Dirkens nahm die alte, rissige Kanne, in der sie den Tee gewöhnlich ziehen ließ, und füllte ihn in eine Servierkanne des ostfriesischen Geschirrs um.

Fast automatisch griff Daniela zu den Kluntjes auf dem Tisch und wartete darauf, dass Frau Dirkens ihr den Tee eingoss. Erst als die Zuckerstücke knacksten, antwortete sie nachdenklich: »Sie haben ja recht. Aber gerade, weil ich so glücklich bin, will ich, dass der Rest der Welt es sieht. Dass sich alle mitfreuen und ein wunderschönes Fest mit uns feiern.«

»Das kann ich verstehen, mein Kind. Wer, wenn nicht ich? Wo ich dich schon so lange kenne. Ich habe das Gefühl, stellvertretend für deine Eltern zu stehen.« Sie platzierte die Kanne auf dem bereitstehenden Stövchen und holte ein Kännchen mit Sahne aus dem Kühlschrank.

Daniela schluckte. Das war das Schlimmste. Etwas, an das sie gar nicht denken mochte. Etwas, das sie weit weg schob. Ihre Eltern lebten nicht mehr. Sie würden nicht da sein und sie würden mehr fehlen, als sie es sowieso schon taten. Daniela spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Schließlich waren sie es gewesen, mit denen sie als kleines Kind nach Norderney gekommen war. Das erste Mal, als Daniela sieben war. Und danach immer wieder. Fast jedes Jahr, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und nie waren sie woanders als bei Frau Dirkens abgestiegen, in der Pension, in der Daniela auch später noch, als sie alleine auf die Insel fuhr, bei jedem Aufenthalt ihre Kindheit wiedergefunden hatte.

Langsam ließ sie mit fast tränenblinden Augen die Sahne am Rand entlang in die Tasse laufen. Dass die Wölkchen aufstiegen, ahnte sie mehr, als dass sie es sah.

Frau Dirkens war hinter sie getreten und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß. Das wird ein schwerer Moment werden. Wie stolz dein Vater wäre, könnte er dich in die Kirche führen. Und deine Mutter erst.« Frau Dirkens hielt inne. »Sollen wir vielleicht? Als Erinnerung?« Ihr Blick ging in Richtung des alten Schrankes, der für das kleine Zimmer viel zu wuchtig schien.

Daniela wischte sich die Tränen weg und lachte. »Frau Dirkens. Wirklich. Aber warum eigentlich nicht? Bei uns im Rheinland machen wir es schließlich genauso. Nur nicht mit schottischem Whiskey.«

»Ja, dem Leben muss man etwas entgegensetzen können«, sinnierte Frau Dirkens, während sie in beide Tassen einen großzügigen Schluck der goldenen Flüssigkeit gab. »Wer wüsste das besser als ich.« Seufzend setzte sie sich Daniela gegenüber und nahm vorsichtig einen Schluck aus der dünnen Teetasse.

»Danke«, sagte Daniela mit rauer Stimme. Sie war sich sicher, dass Frau Dirkens verstand, was dieses Wort alles umfasste.

»Kind, ich habe zu danken. Wo wäre ich denn jetzt, wenn du nicht wärst? Du und dein Prinz. Ich bin so glücklich, dass ich in meinem Haus bleiben kann. Dass alles anders und doch vieles gleich geblieben ist.«

»Wirklich?« Daniela schaute sich in der Küche um, die wie eine Ferienwohnung mit einer kleinen Küchenzeile ausgestattet war. Alles war auf einen eher spartanischen Haushalt ausgelegt, aber so war es vollkommen ausreichend, betonte die alte Pensionswirtin immer wieder gerne. Den massiven Schrank hatten sie beim Umzug in die oberen Räume auseinandernehmen und oben zusammensetzen müssen, aber er war für Frau Dirkens genauso wichtig wie das Gemälde ihres verstorbenen Mannes, das Biedermeiersofa und die Stühle mit Korbgeflecht. Ähnlich wie die so vertraut tickende Wanduhr, die einem das paradoxe Gefühl gab, der Zeit enthoben zu sein. All das hatte seinen Platz hier oben in zwei Zimmern gefunden, die Frau Dirkens nun bewohnte, während die unteren Etagen das Domizil von Daniela und Frank geworden waren. Nur zu gerne hatten die beiden in den Vorschlag eingewilligt, das Haus auf Rentenbasis zu übernehmen.

»Das fragst du immer noch, Kind?« Frau Dirkens schüttelte den Kopf und zog gleichzeitig die Einladungskarte zu sich heran. »Dabei hättet ihr mich gar nicht glücklicher machen können. Wie schön das Haus wird, jetzt, wo ihr alles nach und nach renoviert. Es ist für alle ein Gewinn. Für mich. Für die Gäste. Und wie ich vermute, auch für euch?«

Daniela nickte. »Einfach perfekt.«

»Na also. Dann lass jetzt mal sehen.« Frau Dirkens nahm die Karte zwischen ihre Finger, wie um die Qualität des Papiers zu prüfen. Sie besah sich das Foto, das die Frisia-Fähre beim Einlaufen in den Norderneyer Hafen zeigte, und las dann andächtig Wort für Wort des Textes laut vor.

»Schön, mein Kind, wunderschön. Das hat Stil und ist doch etwas Besonderes. Konventionell, aber eigenwillig. Es wird übrigens meine erste katholische Trauung sein, die ich Nordlicht besuche.«

»Ja, was für ein Glück, dass für uns Rheinländer hier auf der Insel gleich doppelt gut gesorgt ist mit zwei katholischen Kirchen. Mehr Auswahl als zu Hause, könnte man meinen.«

»Siehst du, ich sag’s ja. Norderney hat eben für jeden etwas zu bieten.«

»Und das mit der Reihenfolge?«, wollte Daniela wissen.

»Du meinst, dass ihr erst kirchlich und danach standesamtlich heiratet? Ungewöhnlich, aber warum nicht? Wenn es rechtens ist.«

»Klar, das ist es seit einigen Jahren. Und uns gefällt es so besser. Von feierlich am Morgen zu lässig am Abend. Und weil ich das Heulen schon morgens erledigt haben möchte.« Daniela grinste schief.

»Ach Kindchen, du wirst sehen. Vor lauter Aufregung und Freude wirst du das Weinen ganz vergessen. Und wenn nicht: Ich stehe mit Taschentüchern bereit. Und einen Flachmann habe ich auch noch, von meinem Käpt’n, dem seligen. Da werde ich für den Notfall etwas abfüllen. Du musst dann nur sagen: ›Nachbarin, Euer Fläschchen!‹« Energisch schob Frau Dirkens ihre Tasse näher an die Kanne heran, um nachzuschenken. »Abgemacht?«

*

Mittwoch, 30. Mai

»Ihr habt sie ja nicht mehr alle!«

»Das sagt gerade der Richtige. Findest du nicht, Ingrid?«

Hilmar sah zwischen den beiden Frauen hin und her. Was für eine bescheuerte Idee war es gewesen, sich von den beiden zu einem gemeinsamen Abend überreden zu lassen. Was man nicht alles tat, wenn einem das Alter nach und nach alles nahm, das einmal wichtig gewesen war: die Arbeit und Begeisterung, Familienangehörige und Freunde, die Beweglichkeit, das Hören und Sehen, von anderen Dingen ganz zu schweigen. Natürlich war Ingrid der gleichen Meinung wie Anneliese, das erwartete er gar nicht anders. Auch wenn sie ihre Meinung nicht so herausdonnerte wie seine Schwägerin. Aber wie angstvoll Ingrid jetzt zu Anneliese schaute, das sagte ihm mehr als genug. Weiber! Nichts anderes hätte er erwarten dürfen.

Anneliese maulte schon wieder: »Wir haben die Spielregeln doch vorher noch einmal besprochen, und du hast dich mit allem einverstanden erklärt. War es nicht so, Ingrid?«

»Ach, komm. Vergiss es einfach. Du hast recht, wie du immer recht behalten hast. Damit hast du meinem Bruder und meiner Mutter schon das Leben schwer gemacht. Kein Wunder, dass …«

»Dass was?« Annelieses Stimme war schrill.

Hilmar winkte ab. Er wusste, dass es keinen Sinn machte, mit Anneliese zu diskutieren. Das hatte seinen Bruder letztendlich ins Grab gebracht. Da war er sich sicher. Und auch seine Mutter hatte unter ihrer Schwiegertochter immer nur zu leiden gehabt. Zumindest die ganzen letzten Jahre, in denen sie auf Pflege und Hilfe angewiesen war. Anneliese wusste immer alles besser, machte alles besser und hatte, wie man so treffend sagte, Haare auf den Zähnen.

»Lass gut sein. Scrabble ist wahrscheinlich nicht das richtige Spiel für mich. Euch beiden kann ich nicht das Wasser reichen.« Hilmar hoffte, dass es damit gut wäre und sie den Abend friedlich beenden könnten.

»Gibt’s denn überhaupt irgendetwas, was du gut kannst?«, keifte Anneliese stattdessen.

Aber das war nun selbst Ingrid zu viel, die missbilligend ihren Kopf schüttelte. Immerhin.

»Soll ich uns nicht lieber einen Tee einschenken? Und noch einen Korn?« Sie war aufgestanden und schon unterwegs, um die Flasche aus dem kleinen Kühlschrank zu holen.

Hilmar brummte genauso, wie Anneliese es tat, ließ sich aber dann doch mit beidem bedienen. Der Schnaps tat ihm gut und beruhigte seine Stimmung.

»Also, komm, Schwägerin, das mit deinem Scrabble hat ja nun mal nicht klappen wollen. Was haltet ihr beiden denn von einer Runde Skat? Weil du wissen wolltest, was ich richtig gut kann.« Hilmar blickte Anneliese siegessicher an. Damit hatte sie nicht gerechnet, dass er ihr Paroli bieten würde. Er schob sein Glas zu Ingrid, die gerade die Flasche zurückstellen wollte. »Schütte mir mal lieber noch einen ein. So gut hat er mir schon lange nicht mehr geschmeckt. Also, die Damen, nehmt ihr es mit mir auf?«

*

»Gehen wir noch einen trinken?«

Martin registrierte den irritierten Blick, den Anne ihm und dem Ehepaar, mit denen sie Tennis gespielt hatten, zuwarf.

»Ja, klar, müssen wir«, antwortete sie verwundert.

»Was heißt das denn? Wieso müssen wir?« Martin runzelte die Stirn.

»Weil wir noch mit Ronnie und Silke verabredet sind. An der Weststrandbar. Wir wollen noch einmal den Ablauf durchgehen.«

»Och nö.« Martin schaute zu seinem Freund, der sich lachend abwandte.

»Na dann, viel Spaß als Hochzeitsplaner, Martin. Wusste gar nicht, was für verborgene Talente du hast. Wir sehen uns nächste Woche, okay? Dann habt ihr alle den Kopf wieder frei.«

»Mensch, Martin, was ist denn los? Ich dachte, du machst das gerne für Frank und auch für Daniela. Den beiden tut unsere Unterstützung gut.«

»Ja, weiß ich. Aber mittlerweile kann ich das Wort Hochzeit schon nicht mehr hören. Und dabei ist es noch nicht einmal unsere eigene.«

Anne sah Martin von der Seite an. Sollte das etwa ein versteckter Hinweis sein? Eine Anspielung, ein Testballon oder sogar ein ironischer Einwurf? Aber Martin schien sich nichts bei seinen Worten gedacht zu haben, sondern nur an das Ereignis am Samstag zu denken.

»Ach komm. Das wird sicherlich ein schönes Fest. Am Strand. Die Vorhersage verspricht viel Sonne. Womit auch immer Daniela den Wettergott bestochen hat.« Anne lachte auf. »Ein perfekter Tag wartet auf uns.«

»Wer weiß das schon. Vielleicht brauche ich sogar noch einen Plan B.«

»Das heißt? Willst du kein Trauzeuge mehr sein?«

»Doch, natürlich. Klar. So etwas sagt man ja nicht drei Tage vor der Hochzeit ab. Ich meine nur dienstlich. Wenn das Wetter so wird, wie die Vorhersage es anzeigt, dann wird die Insel voll am Wochenende.«

»Was ja nicht ungewöhnlich ist im Juni. Am langen Fronleichnamswochenende. Das wussten wir doch. Und deine Kollegen auch. Sag nicht, du musst am Wochenende arbeiten.«

Martin holte sein Handy aus der Tennistasche und warf einen schnellen Blick aufs Display. »Nein, bisher nicht. Aber Nicole hat über Facebook mitbekommen, dass ein privates Event auf der Insel stattfinden soll, von dem wir noch nicht wissen, ob es uns beschäftigen wird.«

»Ein privates Event? Noch eine Hochzeit, oder was genau?«

»Ich bin mir nicht mehr sicher, wie das heißt. Irgend so eine Mode unter Jugendlichen.«

»Gothics?«

»Nein, Gothics nicht. Das wüsste ich. Das kenne ich ja noch unter dem Begriff Grufties.«

Anne lachte. »Oje, wenn die derzeitigen Gothics das hören würden, hättest du dich schon disqualifiziert. War es nicht bei uns früher schon total wichtig, trennscharf zwischen den einzelnen Richtungen zu unterscheiden?«

»Keine Ahnung. Ich habe nie wirklich zu etwas dazugehört.«

»Na, Metalfreaks wie in Wacken werden es wohl nicht sein?«

»Nein, natürlich nicht. Das, was Nicole meinte, ist irgendwie eine Mischung aus Fantasy und Elfen, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Ach echt? Du meinst bestimmt Mangas oder Animes? Wollen die hier eine Feen-Con machen?«

Martin richtete sich beim Aufschließen seines Fahrrads abrupt auf. »Mangas und Feen-Con? Woher weißt du so etwas?«

Anne zuckte die Achseln. »Freunde von mir besuchen seit Jahren regelmäßig diese Rollenspieltreffen, und die Feen-Con ist so etwas wie ein Jahrestreffen oder eine Messe. War es das, was Nicole gesagt hat?«

»Nein, ich glaube nicht. Eher das andere. Ich glaube, sie hat davon gesprochen. Mangas. Kennst du das ebenfalls?« Martin fühlte sich plötzlich sehr alt.

Anne nickte und gab ihm einen schnellen Kuss. »Ja, tue ich. Weil ich mal in Düsseldorf durch Zufall in den jährlichen Japantag geraten bin. Und da wimmelt es nur von Mangas.«

»Hört sich ganz schön gefährlich an.«

Anne lachte. »Wenn du wüsstest. Komm, ich zeige dir mal schnell ein paar Fotos, dann wirst du sehen, dass das etwas ziemlich Harmloses ist. Oft so ein Mädchending. Das Ganze hat sich aus japanischen Comics entwickelt, und das Ideal ist wohl, den gezeichneten Heldinnen aus den Büchern so ähnlich wie möglich zu werden.«

»Was du alles weißt. Ich komme mir manchmal ziemlich alt vor neben dir. Klar, sind auch zwölf Jahre zwischen uns.«

»Jetzt höre auf, den alten Mann zu geben. Mit 47 bist du das noch lange nicht. Mein Wissen ist ausschließlich angelesen. Habe ich damals nach der Invasion in Düsseldorf gegoogelt. Weil ich so verwundert war. Also, wenn es das ist, dann entspann dich. Das wird sicher friedlicher ablaufen, als wenn Headbanger und Kuttenträger auf die Insel kämen.«

»Na, da bin ich mir nicht so sicher. Nicole jedenfalls war alarmiert.«

»Wieso das denn? Sie ist doch sonst so souverän.«

»Irgendwelche Erfahrungen vom Festland. Sie macht sich Sorgen, dass damit eine neue Welle Drogenkriminalität nach Norderney schwappen könnte.«

»So wie an Pfingsten?«

»Na ja, das sind ja eher Einzelfälle. Weißt du ja. Delikte unter Alkohol sind immer noch in der Mehrzahl. Aber die Kollegen machen sich Sorgen um die Kids, die hier wohnen und die nach dem Wochenende die Insel nicht wieder verlassen.«

»Dass unsere heile Welt infiltriert wird?«

»Ja, ein bisschen schon. Schließlich sind wir von vielem noch verschont.«

»Stimmt. Ist ja auch ein weiter Weg bis zum europäischen Festland, wie die Frisia-Kapitäne gerne betonen.« Sie musste lachen. »Komm, hör auf dir Sorgen zu machen. Wegen ein paar Mangas auf der Insel, die privat feiern, musst du bestimmt nicht arbeiten am Wochenende. Lass uns lieber die Hochzeit planen. Also los! Wer zuletzt an der Weststrandbar ist, zahlt eine Runde!«

*

Sie griff sich in die Haare, als wären dort die Worte zu finden, die sie an ihre Tochter richten musste. Mehrfach öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder, ohne einen sinnvollen Anfang für all das, was sie sagen wollte, gefunden zu haben. Das Bild eines Fisches tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und wahrscheinlich war es das Stöhnen, das nun als Laut aus ihrer Kehle drang, das Melanie aufblicken ließ.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

Genervter konnte kein Tonfall sein. Gerade deswegen wäre es wichtig, klar und überzeugt zu antworten. Es gelang ihr nicht.

»Dann ist ja alles klar.« Milli schob das Pop-Socket ihres Handys mit einem warmen Surren zurück, stand auf und schob das Telefon in die hintere rechte Jeanstasche. »Ich bin dann mal weg.«

»Nein.« Yvonne erhob sich und machte einen Schritt auf die Tür zu. Sie zauderte. Blieb stehen. »Melanie, ich meine …«

»Jetzt nenn mich nicht auch noch Melanie. Du legst es aber heute Abend wirklich darauf an.«

»Milli, okay, Milli. Wir müssen noch einmal reden. Über das Wochenende. Das geht so alles nicht.«

»Reden nennst du das? Wenn du zu allem Nein sagst? Vergiss es. Alles, wirklich alles machst du kaputt. Dein Leben. Und mein Leben. Aber das hier, das hier am Wochenende, das lasse ich mir nicht kaputt machen. Egal, wie es dir damit geht. So etwas von egal.«

»Milli!« Sie wusste – ihre Therapeutin, die Berater, die Lehrer, alle hatten es oft genug gesagt –, dass sie jetzt Stärke und Autorität zeigen müsste. Dass Melanie das herausforderte. Dass Melanie nur nach einem Gegenüber schrie. Aber sie hörte in ihren Ohren, wie hilflos sie mit ihren Antworten klang.

»Wenn du es nämlich noch nicht kapiert hast: Ich habe auch ein Recht auf Leben. Und zwar auf eines, das Spaß macht. Ein Leben, in dem man Freunde hat, ausgeht, die Welt bereist. Und sich nicht auf eine Insel hockt und wartet, bis …«

Yvonne Stöcker sah, wie ihre Tochter sich auf die Lippen biss. Fragte sich, ob das Satzende, das ihr durch den Kopf ging, dasselbe war, das Melanie hatte sagen wollen: »… bis dass der Tod dich holt.« Sah, dass ihre Tochter fieberhaft nach etwas suchte, das den Satz versöhnlicher abschloss.

»Bis was?«, fragte sie tonlos.

»Bis dass du einsiehst, dass dir das hier nicht weiterhilft. Dass es nicht das ist, was du dir erhofft hast. Dass du mir etwas schuldig bist.«

»Du weißt, dass es Zeit braucht. Melanie, das geht nicht mit Gewalt.«

»Nenn – mich – nicht – Melanie!«

»Okay, Milli. Dass es Zeit braucht.«

»Glaube ich nicht.«

»Was soll das heißen?«

»Dass ich alt genug bin. Die Dinge in der Schule lerne. Du mir nichts mehr vormachen kannst. Ich weiß Bescheid.«

»Was weißt du?«

»Genug, um zu kapieren, dass sich auf die Art und Weise nie etwas ändern wird. An deinem Leben jedenfalls nicht.«

Yvonne sah, wie Melanie trotzig die Lippe nach vorn schob. So hatte sie es schon als kleines Kind gemacht.

»Kannst du mir sagen, warum du jetzt lächelst?« Aus Melanies Augen schossen Blitze vor Wut. Die dunkel geschminkten Augen betonten den Zorn in den blauen Augen kräftiger, als es für eine 16-Jährige gut war, fand Yvonne.

»Nichts. Gar nichts.« Yvonne presste die Lippen zusammen. Melanie jetzt mit Kindheitserinnerungen zu kommen, wäre grundfalsch. Das war ihr klar.

»Ich habe jedenfalls nicht vor, mich deinem Stillstand unterzuordnen. Alle sagen, dass ich das nicht muss.«

»Wer ist alle?« Sie ahnte es: Lehrer. Freunde. Die Frau vom Jugendamt.

»Alle halt. Ist doch egal. Willst du mich in ein Gespräch verwickeln, weil ich weg muss?«

»Du musst nicht weg.«

»Klar muss ich. Das Wochenende planen. Von alleine erledigt sich das nämlich nicht.«

»Aber genau darüber müssen wir reden.« Ihre Stimme – kraftlos. »Ich habe nicht zugestimmt, das weißt du genau.«

Yvonne hatte sich mit jedem Wort in kleinen Schritten zur Tür bewegt. Als wenn das etwas nützte. Als wenn sie Melanie dadurch halten könnte.

Diese stand nun bedrohlich nahe vor ihr. Klein und zart nur auf den ersten Blick. Sie strahlte gleichzeitig eine Energie und Kraft aus, von der Yvonne nie genau wusste, ob es die väterlichen Gene waren oder eine Reaktion auf das Leben mit ihr als Mutter. Das Einzige, was sie zunehmend spürte, war die Fremdheit zwischen ihnen. Fremd allein schon durch das Selbstbewusstsein, mit dem Melanie sich präsentierte. Sie konnte sich nicht erinnern, selbst jemals so gewesen zu sein. Bis heute wusste sie nicht, wie es war, wenn man mit dem eigenen Körper und dem eigenen Denken in Harmonie lebte. Sie wusste nicht, wie man sich in dieser Selbstzufriedenheit bewegte, fühlte, dachte, sprach. Die Tochter, ihr eigen Fleisch und Blut, so fremd.

»Mum! Es gibt nichts mehr zu reden. Ich habe das entschieden. Das Wochenende findet statt. Hier auf der Insel. Und bei mir. Hier in diesem Haus. Und jetzt lass mich. Lass mich einfach in Frieden.«

*

»Kannst du die Jacken aus dem Rucksack holen?« Anne stupste Martin an, der gerade an der Theke noch eine Runde Bier geholt hatte.

»Ist dir kalt?« Martin machte sofort ein schuldbewusstes Gesicht. »Sollen wir lieber gehen?«

Anne lächelte ihn an. »Quatsch. Ich habe gerade gesagt, dass ich noch ein Bier mittrinke. Jetzt sei nicht immer so besorgt.«

»Normalerweise beschweren sich Frauen eher darüber, dass wir Männer zu wenig fürsorglich sind«, warf Martins Kollege Ronnie ein.

»Wie man es macht, macht man es falsch«, grinste Martin.

»Du redest wahrscheinlich vom großgeschriebenen Mann, was?« Der Kollege stieß mit seinem Bierhumpen gegen Martins Glas. »Komm, lass uns lieber anstoßen.«

»Ihr Männer«, mischte sich nun Silke ein, eine der weiblichen Aufstockungspolizistinnen, die in den Saisonmonaten die Norderneyer Wache für jeweils einige Wochen verstärkten. »Wir sagen zu Hause ja: ›Immer schön durch den Schlüpper atmen.‹ Und das sollte auch für euch Männer gelten.«

»Jetzt hört auf zu frotzeln. Ich will nicht heim, sondern den Sonnenuntergang sehen. Und Danielas Hochzeit planen. Ist das nicht unglaublich, was wir gerade für ein Wetter haben? Und so etwas im Mai.«

»Na ja, in zwei Tagen ist Juni, nun übertreibe mal nicht«, warf Silke ein.

Anne lachte. Silkes rauem, aber ehrlichem Charme konnte sich keiner entziehen. Und sie brachte in die Hochzeitsvorbereitungen einen ganz eigenen Witz.

»Hast ja recht. Umso wichtiger, dass wir heute Abend mit der Planung fertig werden. Ist so weit alles klar?«

»Ich denke schon.« Ronnie tippte auf die Notizen, die vor ihm lagen. »Ich habe morgen Nachmittag frei und besorge alles, was wir noch brauchen. Ich muss sowieso aufs Festland.«

»Ich drucke die Liedtexte aus, die wir an alle für den gemeinsamen Hochzeitschor verteilen.« Anne grinste Silke an. »Toll, wie du gedichtet hast. Das wird den beiden gefallen.«

»Gut, dass ihr so viel Material zum Dichten über die beiden aus deren Heimatorten besorgt habt.«

»Stimmt«, bekräftigte Martin. »Über die kurze Zeit, die die beiden auf der Insel leben, hätten wir nicht so viele Strophen zusammenbekommen.«

»Genau 34. Kompliment, Silke. Das entspricht exakt dem Lebensalter der beiden. Daniela wird der Mund offen stehen bei dem, was wir alles über sie in Erfahrung gebracht haben.« Anne schaute Martin an. »Schon komisch. Dass wir so etwas wie das Hochzeitskomitee für die beiden sind, obwohl wir uns alle erst kurz kennen.«

»Aber die Verwandten und Freunde kommen auch?« Silke schaute verwirrt.

»Schon. Aber Danielas Eltern leben nicht mehr. Von ihrer Familie wird nur ein Cousin da sein. Ihre Freundin Jutta reist aus dem Ausland an und zwei weitere Freundinnen. Franks Bruder kommt, ein Kommilitone ist dabei und natürlich seine Eltern sowie eine Tante. Wer hätte denn da die Vorbereitungen koordinieren sollen?«

»Ich finde, das läuft alles genau richtig.« Martins Stimme klang tiefer als sonst, wie immer, wenn er von etwas sehr überzeugt sprach. »Daniela und Frank sind wirklich ein paar Nette. Die haben sich auf der Insel bisher von ihrer allerbesten Seite gezeigt.«

»Eine Unterkunft ist für alle Gäste gefunden?«, fragte Ronnie nach.

»Ja. Danke übrigens an euch, dass ihr euer Gästezimmer für die Tante zur Verfügung stellt.«

»Nicht dafür.« Ronnie winkte ab.

»Hast du denn das Brautkleid schon gesehen?« Silke beugte sich zu Anne hinüber.

»Ach Gott«, stöhnte Ronnie auf. »Frauen und Brautkleider. Meine zu Hause guckt jede Adelshochzeit. Wegen des Brautkleids, sagt sie. Und noch viel schlimmer: Diese Sendungen mit den Hochzeiten, die nachmittags laufen. Müssen wir auch Punkte vergeben?«

Silke verdrehte die Augen. »Männer. Denk daran: Immer locker bleiben – du weißt schon.«

»Ach, Silke, deine Sprüche werden wir vermissen, wenn du wieder nach Hause fährst. Aber weil du fragst: Ja.« Anne hob verschwörerisch den Finger an den Mund. »Ich durfte das Brautkleid schon sehen.«

»Und? Weiß, Schwarz, Rot, Pink? Bei Daniela kann ich mir alles vorstellen.«

Anne sah Silke vor Neugierde fast platzen. Hinter ihrer burschikosen Art zeigte sie eine Menge Emotionen. Trotzdem, ein wenig Frotzeln musste sein. Sie winkte Silke näher zu sich heran, machte eine melodramatische Pause, in der sie verschwörerisch nach rechts und links blickte, und flüsterte ihr dann ins Ohr: »Sorry. Schweigepflicht. Was ich jedoch weiß: Die Braut trägt einen Schlüpper!«

*

»Verlieren können, das ist eine Kunst. Eine Kunst, die du ja noch nie beherrscht hast.« Hilmar hob die Karten auf, die alle in die Tischmitte geworfen hatten, und schob sie zu einem akkuraten Päckchen zusammen.

Anneliese sah, wie unschlüssig er sie in der Hand hielt. Ob sich das Mischen noch mal lohnte, würde er trotz seiner Provokationen allein von ihrer Antwort abhängig machen. Anneliese triumphierte innerlich. Sie war ihnen allen schon immer überlegen gewesen.

»Halt einfach mal die Klappe, Hilmar. Du mochtest mich noch nie. Du nicht und eure Eltern genauso wenig.«

»Was redest du bloß für einen Stuss den ganzen lieben langen Tag.«

»Das ist kein Stuss. Kai-Uwe hat das übrigens sehr wohl gemerkt, dass ihr mit seiner Wahl nicht einverstanden wart. Willst du das nicht zugeben, nach all den Jahren, dass ihr ihn damals gefragt habt, was er für Flausen im Kopf hat. »Eine Städtische«, so habt ihr mich immer genannt.«

»Das warst du ja auch«, brummte Hilmar, ohne sie anzusehen. Stattdessen schob er Ingrid das leere Glas hin. Und Ingrid befüllte es natürlich ohne einen Hauch des Zögerns und Nachdenkens.

Ja, Ingrid, die wäre passender gewesen aus Sicht ihrer Schwiegereltern und aus Sicht ihres Schwagers. Wobei ihr Schwiegervater sie schon gemocht hatte. Es gab Zeichen des Einverständnisses, wenn seine Frau es nicht mitbekam.

»Eine Städtische zu sein, hörte sich an, als wäre ich eine Prostituierte.« Anneliese spie das Wort regelrecht aus.

Hilmar, der im Begriff stand, sich den Schnaps hinter die Binsen zu gießen, verharrte und knallte dann das volle Glas Korn auf den Tisch. Dass der Schnaps über seine Finger spritzte, schien ihn nicht zu stören. Aus zusammengekniffenen Augen sah er sie an. Auch Ingrid hatte einen spitzen Schrei losgelassen. Anneliese wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es war, als würden die beiden ein Stück Volkstheater aufführen. Aber für wen? Diese Bigotterie nahm ihnen heutzutage keiner mehr ab. In welchem Jahrhundert waren die beiden bloß stecken geblieben?

»Ja, da könnt ihr gucken und quieken. Es gibt noch andere Worte dafür, aber ich will es mal gut sein lassen. Nicht, dass ihr mir hier noch tot vom Stuhl fallt. Darum geht es mir gar nicht.« Anneliese versuchte, ihre Stimme etwas weniger angriffslustig klingen zu lassen. Sie wusste, dass sie andere Menschen schnell reizte.

»Worum geht es dir dann?« Hilmar schob das Glas erneut zu Ingrid.

Immerhin schaute diese erst Erlaubnis heischend zu ihr herüber. Anneliese nickte gnädig in ihre Richtung.

»Darum, dass du immer noch so tust, als wäre ich eine Plage für Kai-Uwe gewesen. Das war ich aber nicht. Es war die große Liebe, auch wenn ihr davon nichts wissen wolltet.«

»So, so, die große Liebe«, murmelte Hilmar. Leiser als zuvor. Anneliese witterte eine Chance.

»Nur, weil ich aus Oldenburg kam. Nur, weil ich etwas gelernt hatte. Das kanntet ihr hier auf der Insel ja nicht. Zumindest nicht von den Frauen, die hier geblieben sind.«

»Weil sie wussten, was sie an uns Männern haben. Dass wir für sie sorgen. Neumodischer Kram, dass auf einmal die Frauen alle arbeiten wollten.«

»Ach, Hilmar. Deswegen sind die Frauen auch alle hier auf der Insel geblieben, stimmt’s?«

»Bei mir war das so. Ich fand das komisch, dass alle auf einmal nach Hamburg oder Bremen wollten.« Ingrid war kaum zu verstehen, so leise redete sie vor sich hin. Aber Anneliese kannte das schon. Wenn Ingrid glaubte, Rückendeckung zu bekommen, fuhr sie diese altmodische Schiene. Dabei war sie früher viel zu ängstlich gewesen, um die Insel zu verlassen. Da nahm sie lieber in Kauf, ein Leben lang von anderen abhängig zu sein.

»Ist ja auch egal.« Hilmar begann, die Karten nun doch zu mischen.

Nachdem Anneliese ihren Ton etwas zurückgefahren hatte, schien er immerhin einlenken zu wollen. Das war bis vor einiger Zeit anders gewesen. Besonders nach ein paar Korn. Aber er war nicht mehr der Jüngste. Was man mehr als deutlich sah. Die aufgequollene Nase, die täglich dicker zu werden schien, war umrahmt von rot-violetten Wangen. Die Farbe des Mundes ging, sobald er redete, ins Bläuliche, während sich ein weißer Rand um seine Lippen bildete. Trotzdem versuchte er, immer Haltung zu wahren. Gerade gehen, gerade sitzen. Ein Stück von dem alten Marinesoldaten steckte nach wie vor in ihm und versuchte, den körperlichen Einschränkungen etwas entgegenzusetzen. Die Augen unter dem dicken schlohweißen Haar sprühten tatsächlich oft genug noch voller Energie. In solchen Augenblicken sah eine wie Ingrid sehnsuchtsvoll zu ihm, so wie am heutigen Abend auch.

Anneliese seufzte. Natürlich hatte er Frauen wie sie immer schlechtreden müssen, weil er Angst vor starken Gegenübern hatte. Aber so ein Mäuschen wie Ingrid, die genau dem entsprach, was er so entschieden forderte, die war ihm dann nicht gut genug. Für sie hatte er nur Geringschätzung und Mitleid übrig, wenn auch nicht so offenkundig wie die Abneigung, die er ihr, der »Städtischen«, gegenüber an den Tag legte.

»Also, noch eine Runde Skat?«, fragte Hilmar, nun anscheinend gewiss, dass der Streit abgewendet war.

»Ich weiß nicht«, ließ Ingrid vernehmen. »Können wir nicht etwas Einfacheres spielen? Mau-Mau oder Siebzehn und Vier vielleicht?«

Hilmar lehnte sich jovial zurück, und der alte Stuhl knarzte bedenklich unter seinem Gewicht. »Recht hast du, Ingrid. Es offen und ehrlich sagen, wenn etwas zu schwierig ist. Wenn das nur einmal alle könnten.«

Anneliese holte tief Luft. Wenn sie sich jetzt nicht irgendwie Luft verschaffte, würde der Abend in einem Unglück enden. Bei aller Liebe und Respekt zu Kai-Uwe und seiner Familie. Dann könnte sie für nichts mehr garantieren.

Sie griff nach der Flasche Schnaps. Nahm das Glas in die andere Hand. »Wisst ihr was? Spielt ihr beide eine Runde eurer Kinderspiele. Mit denen ihr euch so wohlfühlt und die eurem Horizont entsprechen. Ich brauche frische Luft. Mit Schnaps. Und draußen unter freiem Himmel habe ich mit Kai-Uwe ein ernstes Wörtchen über seine Familie zu reden. Warum er sich um Himmels willen einfach ins Jenseits aufgemacht hat, ohne seinen Bruder mitzunehmen.«

*

»Ob am Wochenende wirklich schon wieder so viel los sein wird? Ich hatte gehofft, nach Pfingsten können alle erst einmal durchatmen.« Nicole sah ihrem Kollegen dabei zu, wie er den Wasserkocher anstellte.

Olaf war schon ewig als Polizist auf seiner Heimatinsel tätig, dass Nicole immer ganz entspannt den Diensten mit ihm entgegensah. Als echter Ostfriese, der er war, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Schon gar nicht von den ganzen Veränderungen auf der Insel, die sich immer mehr in den Diskussionen über die Entwicklung von Norderney niederschlugen.

»Mir wird nicht bange vor dem, was du uns erzählst, Nicole. Kein Vergleich mit dem, was beim Weit-Sand-Fest auf der Insel los ist.«

Nicole versuchte, das aufkommende Grinsen zu unterdrücken. Olaf war schon süß. Jeder andere von ihnen würde sich nicht entblöden, den Namen des White-Sands-Festivals, das es nun schon etliche Jahre gab, so unverdrossen unenglisch auszusprechen. Aber so war Olaf. Echt. Authentisch. Nicht zu verbiegen.

»Aber das ist die letzten Jahre immer heftiger geworden. Was wir mittlerweile an Pfingsten an Kollegen auf die Insel bestellen, einschließlich der ganzen Drogenspürhunde, Mannomann, so habe ich mir das gar nicht vorgestellt, als ich hierhin gezogen bin.«

»Joa, das sind die neumodischen Entwicklungen auf der Insel.« Er zuckte die Schultern. »Kann man nichts dran machen. Es gibt genug, die sich darüber freuen.« Er hatte sich zu ihr herumgedreht und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Geld regiert die Welt, das ist hier nicht anders als in Neu Jork.«

Wieder musste Nicole sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten. Olaf Maternus war und blieb eine ganz besondere Marke. Sie war sich sicher, in ihm ein aussterbendes Exemplar einer besonderen Gattung angetroffen zu haben. Sie konnte sich jedenfalls nicht beschweren, sondern nur Gutes über ihn sagen: Er war zuverlässig und loyal, oft ziemlich lustig, ihr gegenüber immer respektvoll. Was wollte man mehr?

Mittlerweile hatte er die Teekanne mit Wasser aufgefüllt und trug sie zu dem winzigen Resopaltisch, den sie in ihrem Aufenthaltsraum stehen hatten.

Leise seufzend setzte er sich und schaute zu der Uhr über der Tür. Nicole verstand, dass er auf den Feierabend wartete.

»Aber wegen des Wochenendes würde ich mir mal keinen so großen Kopf machen«, griff er nun den Faden ihres Gesprächs wieder auf. »Was hast du gesagt, soll hier am Wochenende stattfinden?«

Nicole überlegte kurz, wie sie Olaf beschreiben sollte, was sie über Facebook erfahren hatte.

»Auch so etwas wie ein Festival, aber natürlich längst nicht so groß wie das von Pfingsten.«

»Und was wird da gefeiert – auf dem Fest«, er stockte, »Festival? Hat das was mit Sport und Musik zu tun?«

»Nein, nein, überhaupt nicht. Ganz anders. Die Leute sind viel jünger, oft noch minderjährig. Und das Ganze ist privat organisiert. Ich glaube nicht, dass mehr als 50 junge Leute kommen werden.«

»Na dann. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Ich weiß nicht. Auch wenn das Ganze keinen offiziellen Charakter hat. Das alles wird auf jeden Fall für Aufsehen sorgen.«

»Wieso? Weil die Leute so jung sind?«

»Nein, aber sie sind alle verkleidet.« Nicole schüttelte den Kopf, als Olaf etwas einwenden wollte. »Nicht wie an Karneval im Rheinland. Viel fantasievoller. Ich zeige dir gleich mal ein paar Bilder, weil man das gar nicht erklären kann.« Nicole begann, in ihrem Handy nach den entsprechenden Fotos zu suchen.

»Trotzdem. Hört sich nach Kinderkram an, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Vor allem wieder wegen der Drogen. Ich finde, wir haben da auf der Insel mittlerweile genug mit zu tun.«

»Das hat etwas miteinander zu tun, glaubst du?«

»Ja, glaube ich. Am liebsten würde ich Martin bitten, noch einmal die Kollegen mit den Drogenspürhunden anzufordern.«

»Wegen 50 Menschen, die zum Teil noch Kinder sind? Ich glaube nicht, dass uns das einer bewilligt. Und dann noch wegen einer privaten Geschichte. Nee, du, das wird nichts.«

Nicole nickte und blies anschließend in ihren Tee, während sie mit der rechten Hand immer noch nach Fotos scrollte. Kein ostfriesischer, sondern eine englische Mischung. Auch sie brauchten ab und an mal etwas Abwechslung.

»Hast wahrscheinlich recht, Olaf. Ist ja nur, weil alles zusammen kommt. Die Insel füllt sich schon wieder, weil morgen in Nordrhein-Westfalen ein Feiertag ist. Dann die Hochzeit von Daniela und Frank am Samstag. Und nun dieses Anime-Fest.«

»Das was?«

»So heißt das. Geht auf japanische Zeichentrickfilme zurück. Anime und Manga für die entsprechenden Comics.«

»Japanische Zeichentrickfiguren auf Norderney? Jetzt willst du mir aber einen vom Pferd erzählen.«

Nicole lachte. »Nein, Olaf, wirklich nicht. Hier, ich zeige dir mal die Bilder. Dann verstehst du, wovon ich rede.«

Sie beobachtete Olafs Gesicht, auf dem sich erst Neugierde, dann Erstaunen und zuletzt Zweifel ablesen ließen.

»Das glaube ich jetzt nicht. Weißt du was: Ich sage unserem Heimatverein Bescheid. Die sollen am Wochenende alle mal schön unsere friesischen Trachten anziehen. Da brauchen wir nicht so ein japanisches Trallala für. Was meinst du?«

Nicole stöhnte unter Lachen auf: »Mangas, Trachten, Kegelklubs und Hochzeitler. Na, das kann ja etwas geben!«

*

Donnerstag, 31. Mai

Nein, es war kein Déjà-vu, das Ruth Keiser hatte, als sie vom Deck des Schiffes in Richtung Norderney blickte.

Vieles war anders und manches war passiert, seit sie im vorletzten Herbst die Insel zu einer Fortbildungsmaßnahme besucht hatte.

Diesmal würden keine Herbststürme aufziehen, sie hatte keinen beruflichen Auftrag, und sie wusste schon jetzt, wen sie alles wiedersehen würde. Worauf sie sich freute, richtig freute.

Auch, wenn ihr etwas mulmig war bei dem Gedanken, Frank mit seiner Anne zu begegnen. Nach allem, was letzten Sommer an der Ostsee passiert war. Schließlich waren die beiden Zeugen der größten Krise gewesen, in der sie jemals gesteckt hatte. Eine Krise, wie selbst die damalige Scheidung von Michael sie nicht hatte auslösen können.

Aber das war vorbei. Sie hatte sich wieder gefangen. Wieder im Griff. Hatte alles verarbeitet und verstanden, was mit ihr los gewesen war. Warum sie so empfindlich und so empfänglich gewesen war. Sie hatte sich professionelle Hilfe geholt. Das war selbstverständlich für sie gewesen. Wenn nicht sie selbst ihrem eigenen Berufsstand vertraute, von wem sonst sollte man es dann verlangen können? Es war eine richtige Entscheidung gewesen. Sie fühlte sich stabil und ausgeglichen. Vor allem hatte sie ihre alte Gelassenheit wiedergefunden. Auch, was das Älterwerden betraf. Die 50 im nächsten Jahr war kein Schreckgespenst mehr. Aber das Beste war: Diesmal würde sie nur zum Feiern auf die Insel fahren. Kein Vortrag, kein Manuskript und diesmal ganz sicher kein Mord!

*

Johan Westermann war keiner, der sich schnell schrecken ließ. Schließlich war er ein Mann der Küste. Ein Ostfriese vom alten Schlag. Ostfriesen waren das Sinnbild für Ruhe und Gelassenheit. Weil das Meer, der Wind und das Wetter es sie hier oben auf der Insel so lehrte. Das musste man entweder akzeptieren oder gehen. Die meisten, die so alt waren wie er, hatten aus genau diesem Grund die Insel verlassen. Seine Generation war keine mehr, die die Dinge so annahm, wie sie nun einmal waren.

Ihm war es wichtiger gewesen, sich in vertrauten Bahnen zu bewegen. Die hatte er hier auf seiner Insel. Im wahrsten Sinne des Wortes. Vorgegebene Bahnen, in denen sich sein Leben vollzog. Wenn er Schicht hatte auf seiner Bömmelbahn, dann fuhr er die Strecke mit einem Gleichmut, den nicht alle Kollegen hatten. Ihm gefiel es. Jeden Tag derselbe Weg. Vom Rosengarten bis zum Inselosten und zurück. In der halbstündigen Pause an der Oase liebte er es, in den Himmel zu schauen und den Wolken beim Ziehen zuzusehen. Die Geschichten über die Insel, auf die die Gäste ganz begierig warteten, kamen ihm nie aus den Ohren heraus. So erzählte er sie jeden Tag aufs Neue. Immer etwas anders, mal lustiger, mal ernster, aber immer so, dass die Touristen das Wesentliche über den schönsten Ort der Welt erfuhren.

Und wenn er keine Schicht hatte, dann brachte ihn sein Fahrrad über die Insel. Vom Haus seiner Eltern zu seiner Schrebergartenparzelle, die das Leben auf der Insel erst recht perfekt machte. In der er noch mehr tun und lassen konnte als sonst. Und in der seine Nachbarn genauso dachten wie er selbst.

»Na, Johan, willst du nicht endlich dein Haus verkaufen und ganz in dein Schrebergartenhäuschen ziehen?«, hatte erst heute Morgen die Bäckersfrau gefragt. »Du weißt doch, dass ich jeden Tag gefragt werde, ob wer verkauft. Du glaubst nicht, was die Leute dir für dein handtuchschmales Haus zahlen würden.« Sie hatte die Stimme gesenkt, sich weiter über die Theke gebeugt und geflüstert: »Da ist wieder ein Promi dabei, der unbedingt ein Haus kaufen möchte. Na, soll ich dem mal einen Tipp geben? Du bist doch sowieso die meiste Zeit in deinem Garten im Schlickdreieck.«

Johan hatte nur schief gegrinst und dann abgewunken. Hatte sich die Tüte mit Brot geschnappt und war draußen auf sein Fahrrad gestiegen. Was die sich bloß alle dachten. Als wenn er das Haus seiner Mutter einfach so an Fremde verkaufte. Nee, nee. Er hatte sein Auskommen. Auch wenn die Leute sagten: »Mensch, Johan, da kannst du jetzt richtig gutes Geld mit machen, denk mal an später, an deine Rente.« Aber dann dachte er daran, dass er für sich genug hatte und er überhaupt gar nicht wüsste, wofür er denn mehr Geld gebrauchen könnte. Überhaupt: sich Gedanken zu machen über Dinge, von denen ein Ostfriese gar nicht wusste, ob sie überhaupt jemals eintreten würden, das war sein Ding so gar nicht. Das sollten mal die vom Festland machen und sie hier auf der Insel mit all dem Habenwollen in Ruhe lassen.

»He, Johan!«, rief ihm nun ein entgegenkommender Fahrradfahrer zu. Johan hob kurz die linke Hand und grüßte mit einem »He, Heimo!« zurück. Begegnungen wie diese machten Johan ruhig und zufrieden, und deswegen blieb er in seiner Freizeit gerne dort, wohin sich die Touristen nur selten verliefen. Als er von der Deichstraße in die Gartenanlage abbog, ließ er die Bömmelbahn und die Touristen weit hinter sich. Hier hatte nur derjenige einen Garten, der auf der Insel wohnte. Selbst wenn in den letzten Jahren der ein oder andere Zugezogene eine Parzelle erworben hatte, waren das Menschen, die sich bewusst für ein Leben auf der Insel entschieden hatten. Und die nicht nur zu Ferienzeiten die Wohnung nutzten, bei der sonst die Jalousien unten blieben oder eine Zimmervermittlung für Ganzjahresbetrieb sorgte. Johan stieg vom Rad ab und schob es am Eingang, von dem zwei Wege abgingen, in den Middel-Pad. Ein Stück vor dem Vereinshaus hatten sie vom Verein aus Bänke aufgestellt, auf denen Besucher ausruhen konnten. Aber selten genug verirrten sich Ortsfremde hierhin. Anders wollte er es gar nicht haben. Hier teilte sich der schmale Weg noch einmal. Seine Parzelle lag linker Hand am Klön-Pad. An einer der schmalsten Stellen und dort, wo die Stücke eher breiter als tief geschnitten waren und er sein Haus schon fast unterhalb der Deichstraße stehen hatte. Er mochte es, dass sein Gartenstück dadurch ein klein wenig besonders war. Und er bestand darauf, dass das einer der wenigen Orte auf der Welt war, wo sie anderen vormachten, wie man friedlich und gemeinsam nah beieinander leben konnte.

Heute Morgen lag noch alles in tiefster Ruhe. Erst ab dem späten Vormittag würde in den meisten Parzellen das Leben beginnen. Er hatte zumindest bisher noch niemandem in einem der Gärten gesehen, an denen er vorbeigekommen war.

Johan tastete in der Hosentasche nach seinem Schlüssel. Die Grundstücke waren alle nur schlecht gesichert. Dennoch gehörte es dazu: Eine Gartenpforte mit einem Schloss, und sei es nur symbolisch. Noch während er den Schlüssel suchte, fiel sein Blick auf das hölzerne Tor, auf dem ein geschnitzter Dreimaster mit vollen Segeln Johans Namen und die Nummer der Parzelle trug. Das Tor stand zwei Handbreit offen und war eindeutig nicht verschlossen.

Johans Hand verharrte in der Hosentasche. Nachdenklich schaute er auf die Tür. So spät war er doch gestern gar nicht los. Er überlegte. Gut, sie hatten gestern tatsächlich ein paar Bier getrunken. Zwei, drei Klare auch. Nichts, was einen Ostfriesen umhaute. Ja, es hatte schon mal Abende gegeben, da hatte er vergessen abzuschließen. Oder den Schlüssel nicht mehr ins Schloss bekommen. Das war letztendlich auch egal gewesen. Sie waren ja unter sich, hier in der Gartenanlage.

Aber gestern?

Er wusste es nicht. Und das war irgendwie seltsam. Oder auch nicht. Wie sollte man sich an Alltägliches erinnern? Das Besondere war doch das, was einem im Gedächtnis blieb. Trotzdem war Johan komisch zumute. Er drehte sich um, blickte über die Nachbarparzellen. Weit und breit war immer noch niemand zu sehen. Obwohl es so früh gar nicht mehr war. Irgendwo musste bestimmt schon einer sein, um die Beete zu pflegen, die Erdbeeren zu wässern oder einen Kaffee vor dem Holzhaus zu trinken. Seltsam, dieser Morgen. Obwohl die Möwen kreischten wie sonst und die Sonne ihren üblichen Lauf nahm.

Johan hatte den Schlüsselbund in der Hand, auch wenn er ihn nicht brauchte. Er schob das Tor mit dem Fuß etwas weiter auf. Bückte sich, als er durch den Rosenbogen ging, der den ganzen Eingangsbereich überspannte. Tastete mit der linken Hand nach seinem Pferdeschwanz, weil er Sorge hatte, sich in den Dornen zu verheddern. Ließ seine Augen hoch zur Deichstraße wandern, dann hinunter zu seiner kleinen Ranch, wie er das Gartenhaus gerne nannte. Das braune Dach hatte nur eine geringe Neigung, bis hinauf zu den Dachschindeln hatten die Kletterrosen die Macht übernommen und bedeckten die Holzfassade des Hauses nahezu komplett. Er mochte Rosen, auch wenn er Respekt vor ihnen hatte, und freute sich, dass sie in diesem Sommer so früh blühten.

Das, was er dann fast übersehen hätte, hob sich kaum von dem Laub der emporrankenden Blumen ab. Dabei war es ein so grotesker Anblick, selbst von hier aus, von seinem Platz nahe des Tores, dass Johan zögerte, nur einen Schritt weiterzugehen. Obwohl er Ostfriese war. Obwohl ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte.

Allein dieser Gedanke half ihm, die Beine in Bewegung zu bringen, die Füße voreinander zu setzen. Automatisch seine Bahnen zu laufen, wie jeden Tag den ausgetretenen Weg zur Hütte zu nehmen. Schritt für Schritt sich dem zu nähern, was seine Augen immer noch nicht glauben wollten.

Er blieb erst stehen, als er den Wasserspiegel in der Regentonne sehen konnte. Bis er sicher war, dass kein Mensch mehr leben konnte, dessen Kopf unter der Oberfläche steckte und dessen in die Luft ragende Beine nicht mehr zappelten. Hier konnte niemand mehr helfen. Auch er nicht.

*

Yvonne Stöcker stieg mit langsamen und bedächtigen Schritten die Treppe hoch, während sie gleichzeitig zusätzlichen Halt am Handlauf suchte. Wie eine alte Frau kam sie sich vor, alt, müde und krank, und alles zusammen war sie wohl auch. Zumindest in den Augen von Melanie. Es waren Momente wie diese, in denen sie der Wahrheit ins Gesicht schauen konnte. Momente, in denen Melanie außer Haus war und sie nicht in einen der vielen Kämpfe verwickelt waren. Momente, in denen sie sich von der Couch im Wohnzimmer oder von ihrem Stuhl in der Küche erhoben hatte und die körperlichen Einschränkungen mit voller Wucht spürte.

In Augenblicken wie diesen ging ihr alles gleichzeitig durch den Kopf. Erkenntnis, Sorge und Angst. Sie wusste dann, wie sehr sie sich selbst belogen hatte, all die ganzen letzten Jahre schon. Wie groß das Lügengebilde geworden war, das sie benötigte, um nur halbwegs durch das Leben zu kommen.

Am oberen Treppenabsatz blieb sie stehen, richtete den Rücken auf und atmete laut aus. Aus dem gegenüberliegenden Spiegel musterte sie die Frau, an der sie auf der Straße vorbeigelaufen wäre. Eine Unbekannte. Die nichts mit der Person zu tun hatte, die sie in ihrem Kopf noch immer heraufbeschwor. Dann, wenn sie in ihrem Stuhl saß. Auf der Couch lag. Wenn sie keinen Schmerz spürte und wenn sie vor keiner Herausforderung stand.

Von unten schrillte das Telefon. Yvonne ärgerte sich. Hätte sie doch das Mobilteil in die Hosentasche gesteckt. Bis sie unten wäre, hätte der Anrufer längst aufgelegt. Treppen hinabzugehen, bedeutete eine größere Herausforderung für sie, weil ihre Gangunsicherheit dabei noch stärker auffiel. Wie oft hatte sie schon die Stufe verfehlt. Und dann setzte jedes Mal die Angst ein.

Nun allerdings würde ihr das Nachdenken um den verpassten Anruf keine Ruhe lassen. Ob etwas mit Melanie war? Wenn nun die Schule angerufen hat? Melanie könnte einen Unfall gehabt haben oder Blinddarmschmerzen, vielleicht war sie in Ohnmacht gefallen. Alles Dinge, die ihr jeden Tag wie Schreckgespenster vor Augen standen, wenn ihre Tochter das Haus verließ. Jeden einzelnen Tag, wenn die Tür ins Schloss fiel. Und noch viel schlimmer, wenn das Telefon klingelte.

Yvonne Stöcker war auf dem Treppenabsatz stehen geblieben, als könnte sie sich im Spiegel beim Denken und Sorgenmachen zusehen. Nun seufzte sie, als sie sah, wie strähnig ihr die Haare auf die Schultern fielen. Wie müde ihre Augen aussahen und wie geschwollen die Lider waren. Sie ging noch weiter auf ihr Spiegelbild zu.

»Spieglein, Spieglein an der Wand«, seufzte sie, während sie ihren Kopf mit beiden Händen umfasste.

»Zwischen Wellen, Meer und Strand.

Schenk mir doch der Wünsche drei,

denn dann wär ich endlich frei.«

Yvonne legte eine Hand auf den Spiegel, wie um sich ihrer selbst zu versichern. Vorsichtig näherte sie ihre Lippen dem kalten Glas und gab sich mit gespitzten Lippen einen Kuss, während sie die Augen schloss.

Als würde die Strafe für diese Geste auf dem Fuße folgen, schrillte das Telefon erneut. Lauter und unnachgiebiger als je zuvor. Yvonne starrte sich mit schreckgeweiteten Augen an. Jetzt war sie sich sicher: Melanie war etwas passiert.

*

Ruth staunte nicht schlecht. Es hatte sich eine Menge getan auf der Insel. Das neue Hafenterminal war fertig und empfing die Besucher der Insel wie ein großes Raumschiff, das sich aus dem Weltraum auf die ostfriesische Insel verirrt hatte. Also ging es tatsächlich weiter mit der Modernisierung der Insel, von der Martin und Frau Dirkens schon beim letzten Mal erzählt hatten. Die Insel hatte sich aufgemacht, dem leicht modrigen Charme der 70er-Jahre des alten Jahrhunderts etwas entgegenzusetzen. Entweder stilvolle Bäderarchitektur oder moderne Luxussanierung. Jedenfalls weg von den Bausünden der Vergangenheit. Ruth war gespannt, ob der Fortschritt an der Stimmung auf der Insel ablesbar sein würde.

Interessiert nahm sie das neue Café Hygge in Augenschein. Das sah wirklich einladend aus. Vielleicht würde sie es in den nächsten Tagen einmal ausprobieren, dort zu sitzen und den Fähren beim An- und Ablegen zuzuschauen.

»Moin, junge Frau«, sprach sie einer der Frisia-Mitarbeiter an, dem sie mit ihrer ledernen Reisetasche und dem Rollkoffer wohl im Weg gestanden hatte. »Wenn Sie den Bus nehmen wollen, sollten Sie sich beeilen.« Er wies nach draußen, wo sich die Busse wie gewohnt nebeneinander aufgereiht hatten. Da sie mal wieder als Letzte von Bord ging, waren die meisten Passagiere auf die verschiedenen Linien verteilt, und sie sah, wie der erste Bus sich in Bewegung setzte.

Ruth lachte auf. »Prima, kaum auf der Insel, bin ich schon so tiefenentspannt, dass ich alles vertrödele. Macht nichts. Bei dem Wetter laufe ich gerne zu Fuß. Die Wege sind hier alle kurz.«

Der Mann mit der blauen Frisia-Kleidung schüttelte den Kopf: »Mit Gepäck könnten aber die Arme lang werden.«

»Glaube ich nicht.« Ruth zeigte auf ihren Koffer. »Alles, was schwer ist, liegt darin. Also alles kein Problem. Ist wirklich nicht so sehr weit.«

»Na dann!« Der Mann lächelte ihr freundlich zu. »Das mögen wir hier oben im Norden, wenn die Menschen nicht so zartbesaitet sind. Aber man weiß ja nie.«

»Stimmt.« Ruth nahm die Reisetasche vom Boden auf. »Ich werde mein Bestes geben. Die Taxifahrer da draußen mögen die Zartbesaiteten aber schon, oder?«, gab sie mit einem schelmischen Grinsen zurück.

»Gut gekontert, junge Frau. Da kann ich nur einen besonders schönen Aufenthalt wünschen.«

Ruth ließ den Rollkoffer noch einmal los, um zu winken. »Den werde ich haben. Einen ganz besonders schönen sogar. Mit dem Himmel voller Geigen, hoffe ich.«

*

Johan stieg am Onnen-Visser-Platz von seinem Fahrrad, schob es neben den Bücherschrank und versuchte den Schlüssel zu drehen, um die Spange des Fahrradschlosses nach unten zu drücken. Seine Hände zitterten so sehr, dass er mehrere Anläufe brauchte. Er schaute hinüber zum blau-weiß-gestreiften Seehund-Denkmal. Fernando sah wie immer in die andere Richtung, aber Johan kam es so vor, als ob er sich angewidert von ihm wegdrehte.

Die ganze Zeit hatte er überlegt, ob er nicht etwas gesehen haben könnte, was gar nicht da war. Ob er möglicherweise unter so etwas wie Halluzinationen litt. Mehrfach hatte er umkehren wollen, um noch einmal nachzuschauen. So wie er das manchmal tat, wenn er nicht genau wusste, ob er die Kaffeemaschine ausgestellt hatte.

Aber dann hatte er sich nicht wieder zurück in den Garten getraut. Obwohl er doch Ostfriese war.

»He, Johan«, rief es über den Platz hinweg. Johan drehte sich herum und versuchte, den vertrauen Gruß zu erwidern. Der Ton blieb ihm in der Kehle stecken. Er konnte noch nicht einmal sagen, wer ihn da gegrüßt hatte. Wo es niemand anders als ein Einheimischer sein konnte. Und die kannte er alle. Ob er wohl gerade verrückt wurde?

Mit wackeligen Knien ging er hinüber zum Eingang der Polizeistation. Ein junges Mädchen auf einem Leihfahrrad klingelte ihn beim Überqueren der Knyphausenstraße an. An jedem anderen Tag hätte er ihr dazu ein paar passende Worte hinterhergerufen.

»Moin, Johan.« Die junge Polizistin, die ihm auf sein Klingeln die Tür öffnete, schaute ihn neugierig an. Er mochte sie. Eine vom Festland, die für immer gekommen war, wie sie sagte, und die sich an die Regeln hielt. Das hieß nämlich zu akzeptieren, dass ein Bewohner der Insel niemals ein Insulaner wurde und wer eine Ferienwohnung besaß, war trotzdem noch lange kein Inselbewohner. Diese Unterschiede galt es sauber zu trennen. Und deswegen war die Anrede »Moin, Johan« vollkommen korrekt. Das immerhin fiel ihm auf. Also konnte es um seinen Verstand wohl nicht allzu schlimm stehen.

»Moin, Nicole. Ist der Chef da?«

»Nee, gerade nicht. Kann ich etwas tun? Du siehst ganz schön weiß um die Nase aus. Erst mal einen Tee?«

Johan nickte. Tee ging immer. Er folgte der Polizistin durch den Flur mit verschlossenen Türen zu einem hinteren Raum, in dem sich eine kleine Teeküche befand. Er nahm Platz und wartete darauf, dass der Wasserkocher zu brodeln begann. Immerhin hatte er nun Zeit, sich noch einmal zu überlegen, was er sagen wollte. Eigentlich wäre ihm Ziegler als Gegenüber lieber gewesen.

Nicole schob ihm einen Teepott über den Tisch herüber, als sie sich selber setzte. »Tut mir leid, nur Beuteltee.«

»Macht nichts.« Johan zog die Tasse am Henkel näher. »Wer ist denn sonst noch im Dienst?«

»Alle draußen. Wieso?« Nicole pustete in ihre Tasse.

»Keiner da? Gar keiner?« Er sah, dass Nicole aufsah. Dass sich ihr Blick veränderte. Irgendetwas zwischen Interesse und Argwohn.

»Doch. Ronnie ist vorne.«

»Ronnie. Aha. Kannst du den vielleicht mal dazuholen?«

»Johan, was ist los?« Nicole setzte sich aufrecht hin. Wahrscheinlich wollte sie amtlicher wirken, dachte Johan.

»Irgendetwas hast du auf dem Herzen. Was ist passiert? Hat dich einer beklaut? Oder dich beleidigt? Oder …« Sie stockte. Fragte dann mit strenger Stimme, so als säße ein Kind vor ihr: »Oder hast du etwas angestellt, Johan?«

Fast hätte Johan mit der Hand auf den Tisch gehauen. Das war ja wohl nicht wahr. Das musste er sich nicht fragen lassen. Von einer Frau. Von einer jüngeren Frau. Von einer jüngeren Frau vom Festland. Wo waren sie denn nur hingekommen hier auf der Insel?

Anscheinend hatte Nicole auf seinem Gesicht ablesen können, was er dachte. Jedenfalls schob sie nun den Stuhl zurück und sagte ruhig: »Moment. Ich hole Ronnie dazu.«

Als die beiden die Teeküche betraten, hatte sich Johan schon etwas beruhigt. Es gab Wichtigeres, er musste nur einen Weg finden, von seiner Entdeckung zu berichten. Viel lieber wäre ihm, er könnte es zeigen. Aber dafür brauchte er die richtigen Worte.

Er räusperte sich, trank noch einmal vom Tee ab und sagte dann schnell, damit es endlich aus ihm raus war: »Also, ich bin sicher, dass da nichts mehr zu machen ist. Nur noch die Beine gucken oben raus.«

*

Was zuerst?

Ruth stellte ihr Gepäck wie verabredet bei Anne und Martins Nachbarin unter. Sie würden sich erst später sehen, wenn die jeweiligen Dienste beendet waren. Ruth seufzte leise. Sie hatte keine Chance gehabt. Ein Hotel hatten die beiden kategorisch ausgeschlagen, diesmal musste und durfte sie ins Gästezimmer der neuen, gemeinsamen Wohnung. Aber sie freute sich darüber, so noch mehr Zeit miteinander verbringen zu können. Nun wollte sie unbedingt los, um ihre gewohnte Willkommensrunde über die Insel zu drehen. Sie würde sich treiben lassen und schauen, was sich alles verändert hatte.

Kluburlauber wären auch auf der Insel, hatte Martin sie etwas scherzhaft vorgewarnt. In Nordrhein-Westfalen war ein kirchlicher Feiertag, der vielen ein langes Wochenende ermöglichte.

»Für uns ist das schon fast Erholung nach dem Pfingstwochenende. Da war die Insel im Ausnahmezustand«, hatte Martin am Telefon berichtet.

Ruth war es egal, wie leer oder wie voll die Insel war. Sie würde schon zurechtkommen. Schließlich konnte sie sich in die ruhigeren Regionen zurückzuziehen. Spaziergänge an der Wattseite oder in den Dünen machen. Sie würde zum Leuchtturm fahren und von oben die Aussicht genießen. Zum Ostheller mit dem Fahrrad unterwegs sein und von dort durch die Salzwiesen marschieren. Vielleicht sogar tatsächlich bis zum Wrack. Mal sehen. So vieles, was es zu unternehmen gab.

Sie war zufrieden, dass sie entgegen ihrer ersten Absicht, nur über das Wochenende auf der Insel zu bleiben, ein paar Tage länger eingeplant hatte. Dass Anne und Martin sie in ihrem Gästezimmer beherbergen wollten, hatte sie anfangs geschreckt. Für Pärchen-Zeiten war sie nicht wirklich geeignet. Ruth lächelte. Sie gönnte den beiden ihr Glück aufrichtig, und über niemanden an Martins Seite hätte sie sich mehr freuen können als über Anne. Deswegen hatte sie schließlich doch eingewilligt.

Und dann gab es noch Daniela mit ihrem Frank. Ruth schmunzelte, als sie sich an die Einladung erinnerte. So eng war sie nun nicht mit den beiden, dass sie erwartet hätte, zur Hochzeit geladen zu werden. Obwohl sie lose Kontakt hielten nach den schrecklichen Herbsttagen, die sie zusammen auf der damals abgeschlossenen Insel erlebt hatten.

Daniela wollte wohl ihr Glück in die weite Welt schreien. Warum nicht, hatte Ruth gedacht, nachdem sie zuerst absagen wollte. Denn ganz kurz hatte sie ein Hauch von Wehmut gestreift. Das waren die seltenen Momente, in denen ihr ein Partner fehlte. Sie hatte es gar nicht erst zugelassen, den Gedanken zu vertiefen. Ihre gescheiterte Ehe, die ein oder andere Liebe in den letzten Jahren und die verhängnisvolle Affäre aus dem letzten Jahr reichten ihr als Erfahrungen durchaus. Sie war in einem Alter, in dem sie wusste, mit wem sie am besten auskam, mit wem sie am glücklichsten und am zufriedensten war: nämlich einzig und allein mit sich selbst.

»Frau Keiser! Frau Keiser, sind Sie es? Wie schön. Sie sind ja schon auf der Insel.«

Ruth schreckte auf und hob den Blick von ihren Füßen, die von den Wellen umspielt wurden.

Wie immer hatte Ruth den Weg zum Weststrand eingeschlagen. Sie liebte den Anblick, der sich ihr bot, wenn der helle Strand nahtlos überging in das im Sonnenlicht glitzernde Meer, auf dem fast immer gerade eine Frisia auf dem Weg von oder zur Insel unterwegs war. Juist lag vor ihr und das Festland zur linken Hand war weit weg. Unvorstellbar, dass sie eben noch dort gewesen war. Schuhe und Strümpfe hatte sie ausgezogen, um dann an