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So hatte sich Susan Ophoven ihren Neustart als Schreibcoach auf Norderney nicht vorgestellt. Trotz Sonne, Strand und Meer machen ihr widerspenstige Handwerker, überambitionierte Kursteilnehmer und missgünstige Internetbewertungen das Leben schwer. Doch es kommt noch schlimmer. Als ihre Schwiegermutter mit Pfeil und Bogen erschossen wird, gerät sie unter Verdacht. Ist sie etwa das Opfer eines Komplotts? Oder hält sie den Inselpolizisten Martin Ziegler und die Kripo zum Narren? Noch während der ersten Ermittlungen wird der Bogen neu gespannt …
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Seitenzahl: 512
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Anja Eichbaum
Inselbrise
Kriminalroman
Mordssommer auf Norderney So hatte sich Susan Ophoven ihren Neustart auf Norderney nicht vorgestellt. Nach ihrer Scheidung lässt sie sich in einem renovierten Fischerhaus als Schreibcoach nieder. Doch trotz Sonne, Strand und Meer machen ihr widerspenstige Handwerker, überambitionierte Kursteilnehmer und missgünstige Internetbewertungen das Leben schwer. Aber es kommt noch schlimmer. Als ihre Schwiegermutter mit Pfeil und Bogen erschossen wird, gerät sie unter Verdacht. Susan weist alle Schuld von sich. Ist sie womöglich nur das Opfer eines Komplotts, das ihr Ex-Mann gegen sie angezettelt hat? Oder hält sie mit ihrem Robin-Hood-Kostüm den Inselpolizisten Martin Ziegler und die Kripo vollständig zum Narren? Marthe Dirkens und ihre Sommergäste im Tea-Time-Hostel werden unweigerlich in das Geschehen hineingezogen. Droht etwa neue Gefahr? Tatsächlich! Noch während die ersten Ermittlungen laufen, wird der Bogen neu gespannt ...
Anja Eichbaum stammt aus dem Rheinland, wo sie bis heute mit ihrer Familie lebt. Als Diplom-Sozialarbeiterin ist sie seit vielen Jahren leitend in der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Frühere biographische Stationen wie eine Krankenpflegeausbildung und ein „halbes“ Germanistikstudium bildeten Grundlage und Füllhorn zugleich für ihr literarisches Arbeiten. Aus ihrer Liebe zum Meer entstand ihr erster Norderney-Krimi, denn ihre Bücher verortet sie gerne dort, wo sie am liebsten selbst ist: am Strand mit einem Kaffee in der Hand.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Blickfang / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3104-8
Gefährlich ist’s, ein Mordgewehr zu tragen,
Und auf den Schützen fällt der Pfeil zurück.
Friedrich Schiller: Wilhelm Tell
Martin Ziegler, Dienststellenleiter Norderney
Anne Wagner, Ärztin
Ruth Keiser, Polizeipsychologin
Oskar Schirmeier, Journalist
Daniela Prinzen, geborene Rick
Frank Prinzen
Marthe Dirkens
Gert Schneyder, Mordkommission Aurich
Nicole Ennert, Olaf Maternus, Silke Habicht, Ronnie Heitbrink, Polizei Norderney
Susan Ophoven, Schreibcoach
Carsten Ophoven, Ex-Mann
Karina Ophoven, Ex-Schwiegermutter
Christoph Hiller, Kursteilnehmer
Vanessa Köhler, Kursteilnehmerin
Meike Liebs, Kursteilnehmerin
Heiner Rösberg, Kursteilnehmer
Sibylle Schmitz, Kursteilnehmerin
Klara Seibert, Kursteilnehmerin
Jutta Voigt, Kursteilnehmerin
Alexa Wahl, Kursteilnehmerin
Raymund Wolf, Kursteilnehmer
Helene Dannenberg, Autorin und Gast im Hostel
Maik, Nils und Vivi, Gäste im Hostel
Linda, Freundin von Susan
So wie du gestern gegangen bist
Ohne ein weiteres Wort
Nicht zu mir
Nicht zu dir
Erwartete ich
Nichts
Außer
Unheil, Unglück, Untergang.
Finsternis aber wich.
Ging über in Wärme und Röte und Feuer.
Als gäbe es einen Anfang
Neben Dir, außer dir.
Geradewegs an einem neuen Tag – für mich.
14.07. Norderney
Ruth Keiser atmete tief ein und ließ sich rückwärts in Oskars Arme fallen, während ihr Blick unverwandt auf die weißen Gebäude gerichtet war, die immer näher rückten. Die Silhouette der Insel war unverkennbar. Mit den hochragenden Kaiserbauten, der Mischung aus historischen und modernisierten Hausfassaden, dem hervorstechenden grünen Dach der Marienhöhe und den Flaggen, die vor der Milchbar wehten.
Weiter rechts zeigten der eckige Wasserturm und der schlanke Leuchtturm den Übergang zum weitgehend naturbelassenen Teil der Insel, auf den sie sich am meisten freute.
»Seltsam, oder?«, flüsterte Oskar in ihr Ohr.
»Was meinst du? So lange ist es doch gar nicht her, dass wir hier waren. Genau genommen keine fünf Wochen.«
»Als Trauzeugin musst du das natürlich wissen.«
»O ja!« Ruth lachte. »Martin hat mich ja verpflichtet, ihn jedes Jahr an den Hochzeitstag zu erinnern. An den 12. Juni im Badekarren. Wobei ich nicht glaube, dass er den Tag jemals vergessen wird. So vernarrt, wie er in Anne ist.«
»Ich kenne noch jemanden, der so vernarrt ist. Er wird sich aber wohl niemals ein Hochzeitsdatum merken dürfen.«
Ruth drehte sich herum und trommelte gespielt empört auf Oskars Brust. »Du. Hör endlich auf. Wir haben das schon tausendmal besprochen. Manchmal bist du wie ein Kind. Dem man den kleinen Finger reicht.«
»Oh, ich will gar nicht die ganze Hand. Nur den Ringfinger.«
»Schluss jetzt, Oskar Schirmeier. Auch nicht im Spaß.« Ruth versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. »Es sollte reichen, dass ich wegen dir nach Bonn gezogen bin. Dass wir zusammen unter einem Dach leben. Was ich schon nicht für möglich gehalten habe.«
»Siehst du! So könnte es doch auch mit der Heirat sein.«
»Nein.« Ihre Stimme klang fest. »Nicht verhandelbar. Eine Erfahrung im Leben reicht.«
Oskar erwiderte nichts, sondern beugte sich nach vorne, hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, während er ihr Gesicht mit seinen warmen Händen festhielt.
Sie seufzte und streckte ihm ihre Zungenspitze entgegen. Es war doch alles gut so, wie es war. Nahezu perfekt. Wenn es das überhaupt im Leben gab. Als sie sich von ihm löste und wieder der Insel zuwandte, ging das Schiff gerade in die berüchtigte Kurve. Oskar legte ihr seine Hände auf die Schultern, und sie griff danach, indem sie ihre Arme überkreuzte.
Heute war es windstill, und das Wasser lief ab, da hielt sich das Schaukeln leider in Grenzen. Nicht eine Alarmanlage auf dem Autodeck sprang an. Die Fähre fuhr so dicht am Weststrand entlang, dass Ruth das sommerliche Getümmel in Einzelheiten erkennen konnte: Kinder auf Schwimmtieren im seichten Wasser, die aufjauchzten, weil das Schiff einige Wellen auf der heute spiegelglatten Oberfläche produzierte. Familien in Strandkörben und auf ausgebreiteten Decken und Handtüchern. Rote, gelbe, blaue Eimer neben grünen Schaufeln. Burgen und Paläste, wohl muschelgeschmückt, wie es seit Kaiserzeiten in der Sommerfrische der Fall war.
Gleich würde der Kapitän dazu aufrufen, zu den Autos zurückzukehren, weil sie in den Hafen einlaufen würden. Schon sah Ruth den modernen Bau, das neue Willkommensportal der Insel. Links daneben fiel der überdachte Fahrradstellplatz ins Auge. Busse und Taxen standen bereit, die Ankommenden abzuholen. Alles war wie immer. So vertraut. Wie ein Nachhausekommen. Auch für Nichtinsulaner.
»Was ist seltsam?«, nahm sie die Frage auf, die Oskar ihr eben gestellt hatte. Wie so oft waren sie schnell vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen und hatten den Anfang des Gesprächs aus den Augen verloren.
»Na, dass Martin und Anne gar nicht zu Hause sind.«
Ruth schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht. Ich bin ja darauf eingestellt. Und habe mich bewusst dafür entschieden, trotzdem auf die Insel zu fahren. Ein paar Tage Urlaub, also wirklich Urlaub, das hatten wir hier noch nie.«
»Uui, lass das nicht Martin hören.«
»Wieso?«
»Du weißt doch, was er in deine Worte hineininterpretieren würde. Von wegen: jedes Mal eine Mordermittlung, sobald du ihn besuchst. Nur wenn er fort ist, hast du nichts zu befürchten.«
»So ein Quatsch.« Ruth drehte sich zu ihm um und nahm ihren Rucksack von der Bank. Sie kramte ihre Sonnenbrille hervor. »Vor vier Wochen ist auch nichts passiert.«
»Zum Glück. Martins Nervosität während der Trauung sprach für sich.«
»Er war nervös, weil er Angst hatte, dass Anne im letzten Moment abspringt.«
»Das auch, ja.«
»Obwohl die Therapie ihm schon hilft, finde ich.«
»Das musst du als Psychologin doch sagen, um euren Berufsstand zu verteidigen, meine liebe Ruth.«
»Als wenn wir das nötig hätten. Im Gegensatz zu euch journalistischen Wortverdrehern.«
»Holla! Verdammt dünnes Eis.«
»Stimmt. Entschuldige. Das sollte man wohl nicht einmal mehr im Spaß sagen. Ausgenommen da, wo es angebracht ist. Bei dir jedenfalls nicht, das weiß ich doch.«
»Akzeptiert.« Er streckte die Hand aus. »Soll ich deinen Rucksack nehmen?«
»Nein, nicht nötig. Mir fehlt etwas, wenn ich ihn nicht auf dem Rücken habe.«
»Soso. Der Rucksack fehlt dir, Martin nicht.«
»Mensch, Oskar, jetzt lass mal gut sein.« Sie steuerte die steile Treppe an, die vom Oberdeck runter zu den Autos und in den Fahrgastraum führte. »Pass lieber auf, dass du nicht fällst. Und im Übrigen, zwei Sachen noch.«
»Ja?« Er grinste sie mit einem unverschämt entwaffnenden Lächeln an.
»Erstens kommt Martin in ein paar Tagen zurück, wie du weißt, und wir haben durchaus eine gemeinsame Zeit auf der Insel.«
»Und zweitens?«
»Musst du nicht an seiner Stelle eine pessimistische Unkenrolle einnehmen. Alles ist gut, Oskar. Du und ich, wir haben Urlaub. Martin und Anne sind in Flitterwochen. Und alle Verbrecher dieser Welt haben sich eine Auszeit genommen. Einverstanden?«
»Wie könnte ich anders, als dir in jedem Wort zuzustimmen.« Er zog sie zu sich heran. Überhörte das Gemurre der Passagiere, denen sie den Weg blockierten. »Willkommen auf unserer Lieblingsinsel.«
»Vielen Dank. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.«
»Auch so«, brummte der Mann in seinem weißen Overall. Er war von den Malern der wortkargste gewesen. Derjenige, der von den anderen den ganzen Tag mit dummen Sprüchen traktiert worden war. Der die Hilfsjobs hatte machen müssen und in der Mittagspause das Opfer derber Witze geworden war, zu denen er nur verständnislos gelächelt hatte.
Susan Ophoven hatte sich abwenden müssen, als er dabei seine braun verfärbten Zähne entblößte. Einer der oberen Schneidezähne fehlte komplett. Auch wenn sie wusste, dass Zahnersatz etwas war, dass sich bei Weitem nicht jeder leisten konnte, ekelte sie sich vor dem Anblick des Mannes. Trotz ihres Mitleids.
Jetzt, nachdem er das Haus verlassen hatte, bestimmt eine halbe Stunde später als seine Kollegen, die lachend zum Feierabendbier aufgebrochen waren und ihn mit dem Firmenwagen an der Fähre erwarteten, überfiel sie das schlechte Gewissen, nicht Stellung bezogen zu haben. Nicht mit einem einzigen Wort gegen dieses Ausgrenzen und Erniedrigen eines Menschen vorgegangen zu sein.
Sie war die Hausherrin, die Auftraggeberin, die Geldgeberin. Wer, wenn nicht sie, hätte die Möglichkeit einzuschreiten?
Sie seufzte und drehte den Schlüssel im Schloss. Wie um sicherzugehen, dass die Außenwelt draußen blieb. Wenigstens für die nächsten Stunden. Bis morgen früh die Maler ein letztes Mal anrücken würden. Dann wäre auch die Gelegenheit, ihrem Unmut Luft zu machen. Vielleicht, indem sie das Trinkgeld entsprechend aufteilte. Mit ein paar deutlichen Worten. Wenn sicher war, dass ihr Einmischen keine persönlichen Folgen für sie hatte.
Sie hatte vor dem Umbau des Hauses über die ganzen Handwerksgeschichten gelacht. Sie für Nonsens aus alten Klamaukzeiten gehalten. Doch jedes Gewerk war ihr mit Hohn und männlicher Arroganz gegenübergetreten. Spätestens dann, wenn sie merkten, dass es außer ihr keinen Bauherrn gab.
Jede noch so harmlose Nachfrage, jeder Einwand und jede Bitte um Veränderung rächten sich. Anzügliches Grinsen, unterstellte Inkompetenz, komplettes Ignorieren wechselten sich ab mit einem langsameren Arbeitstempo, verbummelten Materialien, handwerklichen Fehlern.
Sie hatte keine Lust auf schräg gepinselte Abschlusskanten oder fleckige Wände. Beides wäre die wahrscheinliche Folge, würde sie sich nur mit einem Wort einmischen. So blieb ihr nur, das Ende der Arbeiten abzuwarten.
»Selbst schuld«, murmelte sie. Sie hätte den Bewertungen im Internet trauen sollen. Billig war in dem Fall nicht nur der Preis, sondern auch die Professionalität. Allerdings hatte sie gar keine Wahl gehabt. Die meisten Handwerksbetriebe, vor allem die auf der Insel, waren auf Monate ausgebucht. Und lagen durchweg über ihrem Budget, das langsam, aber sicher zu einem kümmerlichen Haufen zusammenschmolz.
Ihr einziges Kapital war dieses alte Fischerhaus. Das sie aus der Ehe hatte retten können. Plus der Abfindung, die sie komplett in die weitere Modernisierung und Aufstockung gesteckt hatte. Ab jetzt gab es kein Netz mehr, keinen doppelten Boden. Nach all den Jahren der Sicherheit. Mit 42 stand sie wieder am Anfang.
Sie zog das Haargummi aus ihrem streng zurückgekämmten Haar. Sie hatte sich angewöhnt, im Beisein der Arbeiter so wenig feminin wie möglich aufzutreten. Kein Lippenstift, keine Wimperntusche, dafür dunkel nachgezogene Augenbrauen, die ihr beim Hochheben etwas Martialisches verliehen, und der straffe Zopf am Hinterkopf.
Sie öffnete den Gürtel ihrer Jeans, streifte sie an den verschwitzen Beinen entlang nach unten. Knöpfte das langärmelige weiße Blusenhemd auf, während sie die Terrassentür weit aufriss, und genoss den sanften Luftzug auf der Haut.
Zeit für einen Szenenwechsel. Sie nahm die kalte Mineralwasserflasche aus dem Kühlschrank und setzte sie an den Mund. Holte ihren Laptop aus der Ledertasche und positionierte ihn nach dem Einschalten so auf dem Gartentisch, dass sie nicht in die tiefer sinkende Sonne sehen musste.
Dann lief sie nach oben ins Schlafzimmer, riss das Hemd vom Körper, schmiss es achtlos auf den Boden, streifte das Sommerkleid über. Legte einen Hauch von karamellfarbenem Lippenstift auf, der zu den gleichfarbigen Strähnchen in der dunkelbraunen Tönung passte. Sie bürstete das Haar durch, während sie sich vor dem Schminktisch drehte. Das hatte ihre neue Friseurin klasse hinbekommen.
Eine lohnenswerte Investition. Ob sie von der Steuer absetzbar war? Sie würde das prüfen. Denn ab jetzt zählte jeder erwirtschaftete Euro. Von nun an war ihr persönlicher Einsatz gefragt.
Das Fischerhaus – ihr Grundkapital. Wie sie selbst. Mit all ihren Ressourcen und Fähigkeiten. Aussehen. Charme. Menschenkenntnis. Empathie. Ehrgeiz. Mehr brauchte es nicht.
»Ich weiß ja nicht, mein Kind, ob das so richtig ist. Auf Dauer wird das doch alles zu viel.«
»Ach was«, lachte Daniela Prinzen die Bedenken von Marthe Dirkens weg. »Es ist der perfekte Ausgleich zu den Aufgaben im Hostel. Ich hatte zwischendurch fast vergessen, wie gerne ich Friseurin bin. Dass ich diesen Beruf damals aus Leidenschaft gewählt habe.«
Marthe Dirkens wackelte mit dem Kopf, während sie mit kleinen Trippelschritten das Geschirr von der Küche ins Esszimmer trug. Daniela sah ihr belustigt hinterher. Sie konnte die Einwände der alten Pensionswirtin verstehen. Aber seit sie mit ihrem Mann Frank das Haus in der Gartenstraße übernommen und in ein Hostel umgewandelt hatte, waren die Abläufe einfacher geworden und auf mehrere Schultern verteilt. Mit der vielen freien Zeit während des Tages war sie immer schlechter zurechtgekommen. Mit zunehmender Routine hatte sich die Situation für sie weiter zugespitzt. Ihre Laune war stetig in den Keller gerutscht, sie litt unter Heimweh nach dem Rheinland und vermisste die Leichtigkeit des Lebens. Dass sie eine Teilzeitstelle in ihrem alten Beruf antreten konnte, war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen. Zumal ihnen das geringe, aber gesicherte Einkommen, die Sozialversicherung und, nicht zu vergessen, die Trinkgelder wie eine Wohltat vorkamen. Frank hatte zwar einen krisensicheren Job auf dem Festland, ein touristischer Betrieb wie ihr Hostel jedoch brachte viele Unwägbarkeiten mit sich. Dass Marthe Dirkens sich nur an den Nebenkosten beteiligte, war selbstverständlich. Schließlich hatte sie Wohnrecht auf Lebenszeit in ihrer Dachgeschosswohnung, in die sie sich samt ihrem »Giftschrank« mit den Whiskeyflaschen zurückgezogen hatte. Ihr Angebot, das Haus inklusive des Pensionsbetriebs auf Rentenbasis zu übernehmen, war großzügig genug angesichts der niedrigen Raten, die Marthe selbst vorgeschlagen hatte. Ein Hauskauf auf Norderney wäre aufgrund der utopischen Preisentwicklung der letzten Jahre ansonsten niemals möglich gewesen.
»Im Übrigen nehmen Sie mir ja auch die halbe Arbeit ab«, nahm Daniela den Faden auf, als Marthe wieder in die Küche gedackelt kam.
»Ach Kind, da geht es mir wie dir. Der Tag wird sonst zu lang, wenn ich nichts zu tun habe. Es kann doch nicht sein, dass ich mit gefalteten Händen auf den Tod warte. Da greife ich dir lieber unter die Arme. Und sammle Schritte auf meiner Fitnessuhr.« Sie hob ihr Handgelenk, an dem sie seit ihrem Geburtstag einen Aktivitätstracker trug. »Obwohl du es ablehnst, mich endlich Marthe zu nennen. Frau Dirkens hier, Frau Dirkens da! Ich kann es nicht mehr hören. Das ist Altersdiskriminierung.«
»Was?« Daniela ließ das Handtuch, mit dem sie die Saftgläser polierte, sinken. »Nicht Ihr Ernst, Frau Dirkens.«
»Da, schon wieder.«
»Aber Sie wissen doch, warum. Ich bekomme es einfach nicht über die Lippen. Weil ich es von Kind an so gewohnt bin. Es hört sich für mich falsch und künstlich an.« Daniela warf das Geschirrtuch beiseite, stellte das Glas zurück und nahm Marthe in den Arm. »Das ändert doch nichts, aber auch gar nichts daran, dass Sie neben Frank der wichtigste Mensch in meinem Leben sind.«
»Papperlapapp.« Marthe drehte sich verlegen aus Danielas Armen. »Wenn das so wäre, würdest du mir nicht ständig das Fleisch verbieten, mich nicht ewig an die Medikamente erinnern und vor allem nicht dauernd Ausreden finden, mit mir einen Tee zu nehmen.«
Daniela lachte schallend auf. »Letzteres liegt daran, dass ich bei Ihrem Whiskeykonsum nicht mithalten kann. Tee trinke ich mit Ihnen jederzeit, aber dann bitte ohne Zutat aus Ihrem Giftschrank.«
»Das ist Medizin. Schau mich an. 80 Jahre – und kein bisschen weise. Das macht die heilsame Wirkung des Getränks. Glücklicherweise verstehen andere das besser als du. Oskar wird mir ein paar Flaschen aus Bonn mitbringen.«
»Ein paar Flaschen?«
»Na ja, reg dich nicht gleich auf. Zwei oder drei bestimmt. Ich will sie ja mit ihm verkosten. Sehr, sehr schade, dass sie nicht bei dir absteigen. Oskar ist so ein feiner, gebildeter Mensch.«
»Muss in der Familie liegen«, brummte Daniela.
»Stimmt.« Frau Dirkens lächelte spitzbübisch. »So wie deine Eltern. Gott hab sie selig. Sie waren immer so feine Gäste. Damals, als du ein kleines Mädchen warst.«
»Ähm, ja.«
»Jetzt schau nicht so. Dich schließe ich da ein. Oskar und du, da merkt man gleich, dass ihr aus einem Stall kommt.«
Daniela war es ein Rätsel, was Marthe Dirkens damit meinte, denn unterschiedlicher als sie und ihr Cousin konnte kaum jemand sein. Sah man mal von den dunklen Haaren und den braunen Augen ab.
»Dann ist ja gut«, ließ sie es trotzdem stehen. »Dass die beiden nicht bei uns absteigen, kann ich nachvollziehen. Unsere Zielgruppe im Hostel ist doch eine andere. Jünger und flippiger. Surfer. Hipster. Studenten. So was halt.«
»Ausnahmen bestätigen die Regel, aber das Thema lassen wir lieber. Vielleicht hast du recht. Ruth jedoch wirst du kaum als angepasst bezeichnen.«
»Stimmt.« Daniela stellte das letzte Glas auf das Tablett und trug es ins Wohnzimmer hinüber. »Trotzdem passt sie besser in eines der trendigen Wellnesshotels. Das ist okay so.«
»Komm, ein bisschen enttäuscht bist du doch. Das höre ich 1000 Meilen gegen den Wind. Kann ich nachvollziehen. Würde mir nicht anders gehen. Ich würde dir ja gerne ein abendliches Trösterchen anbieten, aber …«
Daniela drehte sich um. Da stand sie, die alte Dame. Mit dem weißen Haar, aus dem sich eine lila Haarsträhne frech hervorhob. Mit einem Brillengestell im gleichen Farbton. Gab sich verständnisvoll, aber wie sie sich nun nach vorne auf die Zehenspitzen hob und die Nase in die Luft hielt, zeigte sie so viel Sehnsucht und Erwartung, dass Daniela gar nicht anders konnte. »Überredet. Wieder einmal.« Sie deutete mit Daumen und Zeigefinger eine Fingerhutgröße an. »Aber nur einen wönzigen Schlock«, ahmte sie die Stimme von Professor Crey aus dem Rühmann-Film DieFeuerzangenbowle nach.
Susan starrte auf den hellen Bildschirm. Sie hatte an der Homepage herumgewerkelt. Das angeblich so einfache Baukastensystem zum Selbsterstellen raubte ihr den letzten Nerv. Wahrscheinlich war es falsch, dass sie gerade jetzt anfing zu sparen. Die Webseite würde ihre Visitenkarte sein. Und damit darüber entscheiden, ob die zahlungswilligen Kunden sich auf ihre Angebote einließen. Die Aktivitäten auf Social Media fielen ihr leicht, weil sie darin erfahrener war. Obwohl sie sich auch dazu hatte belehren lassen müssen. Zu heterogen kam ihr Instagram-Profil rüber, der Content war uneindeutig, da sie Privates mit einfließen ließ, sie zeigte zu wenig Interaktion mit den Followern. Darüber hinaus würde sie vom statischen Posting mehr zu bewegten Bildern wechseln müssen, Reels und Vlogs, am besten kombiniert mit einem TikTok-Kanal.
In Momenten wie diesen war sie ernüchtert. Mutlos. Wütend über ihre Situation. Fakt war, dass die Kosten der Marketing-Coachings das dafür vorgesehene Budget schon deutlich überschritten hatten, weil sie auf jede Verunsicherung hin gleich ein weiteres Seminar gebucht hatte.
Die Workshops hatten sie auf ihre eigene Geschäftsidee gebracht. Nachdem es zuerst darum gegangen war, sich als zukünftige Schriftstellerin zu etablieren, entstand daraus nach und nach die Idee, sich als Schreibtrainerin den Unterhalt zu sichern. Es hatte etwas gedauert, bis sie verstanden hatte, dass die Anbieter von Schreibseminaren keineswegs immer erfolgreiche Autoren waren. Die wenigsten von ihnen konnten nennenswerte Veröffentlichungen vorweisen. Eigentlich waren sie nur eines: Lehrer. Manche gut, andere schlecht. Wie im wahren Schulleben. Wie überall.
Dass es unter ihnen Menschen gab, die, statt das Handwerk weiterzugeben, sich selbst erhöhten, während sie die ersten Schreibversuche ihrer Kursteilnehmer verrissen, hatte Susan zu Beginn einen Schock versetzt. Fast hätte sie ihre Ambitionen verworfen, das Vorhaben hingeschmissen, die alten Träume beerdigt. Dabei war die Idee, ein Buch über ihre Ehe und Scheidung zu schreiben, das, was sie durch die letzten Monate getragen hatte. Die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Mit allem und allen abzurechnen.
Glücklicherweise ließ sie sich nie lange unterbuttern. Fand immer ein Zipfelchen Hoffnung, an das sie sich klammerte. Machte sich auf die Suche nach Alternativen. Es hatte sie Zeit gekostet. Vor allem aber Geld, das sie nicht mehr hatte.
Was für ein Glück, dass sie vorerst eine Kooperation mit einer Bildungsagentur in ihrer Heimatstadt abschließen konnte. Dadurch wurden ihr Akquise und Verwaltung abgenommen, sodass sie für die eigenen Pläne Zeit gewann und weitere Erfahrungen sammeln konnte. Die ersten digitalen Wochenendkurse waren gut gebucht gewesen, derzeit lief ein einwöchiger Kurs am späten Vormittag. Wofür Menschen doch ihre Zeit und Urlaubstage nutzen.
Das Blinken des Cursors nervte sie. Sie sollte eine Pause einlegen. Eine Kleinigkeit essen. Seit sie getrennt lebte, musste sie sich an regelmäßige Mahlzeiten erinnern lassen. Oft war es zu lästig und zu aufwendig. Alleine am Esstisch zu sitzen betonte ihre Einsamkeit mehr, als es an manchen Tagen erträglich war. Nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie das Essen zu oft durch eine Flasche Wein am Abend ersetzt hatte, verzichtete sie komplett auf Alkohol. Zumindest im Moment. Für einen Monat. Dry July. Gute Vorsätze funktionierten auch in der Jahresmitte. Bisher.
Susan stand auf, ließ aber den Laptop aufgeklappt. So schnell gab sie nicht auf. Das Ziel vor Augen war abgesteckt, der Traum von der Autorenkarriere so greifbar wie nie. Wenn alles im Leben etwas Gutes hatte, wie es die Kalendersprüche gerne suggerierten, dann musste sie diese Chance nutzen.
Auf den Trümmern ihrer Ehe aufbauen. Aus den Ruinen auferstehen.
Hastig kehrte sie zum MacBook zurück. Tippte die beiden Gedanken ein. Sie standen nicht nur für ihren Neuanfang auf Norderney und ihre Selbstständigkeit, sondern bildeten ebenso die Grundlage des Romans, den sie schreiben würde. Die Prämisse. Eine auf autobiografischen Fakten basierende Handlung. Die sie so abstrahieren würde, dass nur einer sich getroffen fühlen würde, während sie allen anderen einen ausgefeilten Thrillerplot zur Unterhaltung bot.
Wie das handwerklich ging, lernte sie.
Was es an Ambiente brauchte, hatte sie.
Alles, was im Moment geschah, war die Basis ihres neuen Lebens.
Sie klickte zurück zur Homepage.
Susan Ophoven.
Autorin, Lektorin, Schreibcoach.
Online-Seminare.
Präsenz-Kurse auf Norderney (in Planung).
Zufrieden lehnte sie sich zurück. Hoffte, dass Carsten sie googelte. Dass er sah, wie sie aufstand. Siegessicher. Sein Geld nutzte, um wie Phönix aus der Asche aufzuerstehen. Ein waidwundes Reh, das sich nicht geschlagen gab. Oder so ähnlich.
15.07. Italien, Gardasee
Martin Ziegler legte die Hand über die Augen und schaute hinaus auf den See. Schon am frühen Morgen blendete ihn das glitzernde Wasser.
Er liebte die Nordsee, keine Frage. Sonst hätte er sich nicht freiwillig nach Norderney versetzen lassen. Er mochte es, dass das Meer im Norden unberechenbar war, genau wie die Jahreszeiten. Rau und spröde. Mit einem Himmel, der sich nicht entscheiden wollte: in der einen Minute grau und regenverhangen, in der nächsten mit dem blauesten Gewölbe, das auf Gottes Erden vorstellbar war. Regenschauer waren schneller vorbei, als die überstürzte Flucht ins Trockene dauerte. Erfahrene Gäste wussten das: Sie kauerten sich in den Strandkorb, bis der Wind das Wetterunbill fortgeblasen hatte, und nahmen danach ungerührt das Strand- und Badeleben wieder auf.
Er mochte diese Unberechenbarkeit, weil sie dem menschlichen Dasein entsprach. Wenn er eines in seinem Polizistenleben gelernt hatte, dann das: Es gab nichts, was es nicht gab. Wer Dinge und Ereignisse von vorneherein abtat und ausschloss, wurde nie ein guter Ermittler.
Und das hatte er immer werden wollen. Jemand, der gründlich arbeitete, der sich den Zwängen des Polizeidienstes dann entgegenstellte, wenn es Menschenschicksale betraf, der Beamtentum und Verwaltung nur so lange akzeptierte, wie sie nicht in Trägheit und Sparzwang ausarteten.
Vielleicht war er deswegen zunehmend an den Rahmenbedingungen gescheitert, seine Flucht nach Norderney – als solche sah er sie heute – nur ein Davonlaufen gewesen. Nicht die Kapitalverbrechen waren ihm gefolgt, sondern seine Zweifel und Ängste. Dass es zu einer Häufung von Verbrechen auf der Insel seit seinem Amtsantritt gekommen war, lag nicht an ihm. Der Strukturwandel hatte vor Ostfriesland nicht Halt gemacht. Im Gegenteil. Die ostfriesischen Inseln, allen voran Norderney, waren in den letzten zehn Jahren einem Wandel unterworfen, den keiner so hätte voraussehen können. Mehr Gäste, mehr Geld, mehr Investitionen. Luxussanierung und Verdrängung der Einheimischen. Fehlende Fachkräfte in Kombination mit Konkurrenzdruck.
Norderney als die Miniaturausgabe aller Schwierigkeiten, die das gesamte Land betrafen. Und mittendrin Martin Ziegler, der nie gelernt hatte, Probleme auszusitzen, kleinzureden, wegzuschauen. Tee trinken und abwarten war einfach nicht sein Leitmotiv. Möglicherweise war das der entscheidendste Fehler. Zumindest für einen Dienststellenleiter in Ostfriesland.
Er griff zu der Sonnencreme, die er auf dem kleinen Balkontisch abgestellt hatte, schüttelte die Flasche.
Zwei kühle Arme schoben sich von hinten um ihn herum. Die Hände berührten seinen Bauch. Ein Finger kitzelte seinen Nabel. Anne legte ihren Kopf an seinen Rücken, küsste ein Muttermal auf seinem Schulterblatt, von dem sie behauptete, es sei herzförmig und sähe aus wie ein Tattoo.
»Soll ich dich eincremen?«, fragte sie, während sich ihre Hände abwärts bewegten.
Er stöhnte leise.
»Das ist keine Antwort«, gurrte es in seinem Rücken.
»Du machst mich wahnsinnig, das weißt du.«
»Immer noch?« Er hörte, wie sie ihre Stimme gespielt in die Höhe schraubte. »Dabei sind es doch schon exakt 33 Tage, die wir verheiratet sind.«
»Das wird sich nicht ändern, Anne. Nicht nach 333 Tagen, nicht nach 33 Monaten oder Jahren.«
»Das haben schon ganz andere gesagt. Ohne Beweise kann ich dir leider nicht glauben.«
Martin drehte sich zu ihr herum. Sie hatte das Top, das sie nachts trug, genauso abgestreift wie den Slip. Obwohl sie vor der Heirat mehrere Jahre zusammengelebt hatten, erschien ihm alles an ihr und mit ihr neu. Aufregender. Sinnlicher.
Er griff ihr in die braunen Haare, tauchte in ihre Augen hinein.
»Was machst du mit mir?«
»Ich?« Sie lachte selbst über den spitzen Ton. »Das bin nicht ich. Das ist der Süden. Die Wärme. Das grandiose Essen. Der herrliche Wein. Der ewig blaue Himmel. Das Mittelmeer. Und jetzt der Gardasee. Ich bin nicht schuld, mein Lieber. Sondern das alles. Das Land, die Leute und die Liebe. La dolce vita in Bella Italia.«
»Das Land, in dem aus jedem norddeutschen Inselpolizisten ein Casanova wird, meinst du?« Martin schob Anne rückwärts zu dem ausladenden Boxspringbett.
»Ein Casanova, der auch dann noch einer ist, wenn er nach Norderney zurückkehrt. Der aber nur Augen hat für die Frau, die ihn über alles liebt. Einverstanden? Bester Ehemann. Lieblingsmensch. Herzensbrecher.«
Martin lachte. Leise. In sich hinein. Womit bloß hatte er solch ein Glück verdient?
Norderney
»So.« Daniela klappte die Tür der Spülmaschine zu und stellte das Programm an. »Das wäre geschafft. Abreisen haben wir heute nicht, deswegen ist kein Bettenwechsel nötig. Sind Sie sicher, dass Sie die Bäder alleine schaffen? Sonst machen wir das noch eben zusammen.«
»Nichts da.« Marthe Dirkens stemmte die Hände in die Hüften und wollte wohl überzeugend klingen, aber Daniela hörte einen enttäuschten Unterton.
»Wirklich, kein Problem«, wiederholte sie deshalb ihr Angebot. »Ich muss erst um 12 Uhr im Salon sein.«
»Du tust mir einen größeren Gefallen, wenn du dich etwas ausruhst, Kind. Du kannst doch nicht in einem durcharbeiten.«
»Ach nein. Alles, was man mit Freude macht, fühlt sich nicht wie Arbeit an. Ich bin viel ausgeglichener. Die wenigen Stunden vergehen wie im Flug.«
»Eine halbe Stelle, mein Kind. Und du wirst nicht jünger.«
Daniela prustete los. »Na, da dank ich für. Ein Kompliment am frühen Morgen vertreibt Falten und Sorgen.«
»Mach dich nur lustig über mich alte Frau. Meine Erfahrungen spielen anscheinend keine Rolle mehr. So ist das mit den zunehmenden Lebensjahren. Es wird einsam um einen herum.«
Daniela pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Heute Abend nach Feierabend würde ihr die Chefin einen neuen Schnitt und Farbe verpassen. Die ersten grauen Strähnen verstecken. Die im schwarzen Haar nun einmal früher sichtbar wurden als bei den Blonden und Brünetten. »Wenn ich Sie nicht ernst nähme, würde das mit uns beiden doch gar nicht klappen. Und Alter hin oder her: Mit 80 so fit zu sein wie Sie, muss ich erst einmal schaffen. Die Hälfte davon ist das nächste Etappenziel.«
»Hach, blutjung.« Marthe Dirkens summte ein paar Takte vor sich hin.
»Das Lied kenne ich«, grinste Daniela. »Brings singen das auch. Bei uns im Rheinland. Man müsste nochmal 20 sein. Aber ich sehe das nicht so. Ich möchte nicht mehr so jung sein. Selbst das Verliebtsein war zu jeder anderen Zeit besser.«
»Oh, was gäbe ich da noch mal drum. Mein Seliger.« Marthe fasste sich dramatisch ans Herz, wandte sich ab und ließ sie perplex stehen.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie checkte, dass sie wieder einmal auf das ganz große Theater reingefallen war. Marthe Dirkens strengte es nicht an, die Bäder zu putzen. Sie würde sich mit Händen und Füßen wehren, würde Daniela jetzt das Putzzeug holen. In Wirklichkeit benötigte die alte Dame sogar eine Aufgabe. Sie brauchte die Struktur, die Anerkennung und letztendlich auch die Bewegung. In den letzten Monaten hatte es bange Momente gegeben, als es den Verdacht auf eine dementielle Erkrankung oder einen raumfordernden Prozess gab. Erste Untersuchungen hatten keine eindeutigen Befunde erbracht, und Marthes oft originelles und skurriles Verhalten hatten sie mit zu großer Sorge falsch interpretiert. Glücklicherweise hatte es zuletzt Entwarnung gegeben. Eine altersmäßige Vergesslichkeit ging einher mit Gefühlen der Langeweile, so lautete kurzgefasst das Ergebnis, das sie alle hatte aufatmen lassen.
Seitdem stand Beschäftigungstherapie noch mehr im Fokus als schon zuvor. Nur – das reichte nicht. Es war die Unterhaltung, die fehlte. Die Ansprache, die Gemeinschaft. Sie stellte die Kaffeemaschine wieder an. Es war zu befürchten, dass Marthe darüber die Nase rümpfte, weil sie schon am Morgen am liebsten von ihrer speziellen Teezeremonie Gebrauch machte, doch da stieg Daniela aus. Glücklicherweise war die neue Hausärztin, die sich schräg gegenüber in der Gartenstraße niedergelassen hatte, in allem mit ihr einer Meinung: keine strengen Verbote, aber Alkohol nur in Maßen. Egal, ob mit 20, 40 oder 80.
Daniela bereitete zwei Milchkaffee zu und trug diese hinaus auf die Terrasse. Dann rief sie nach Frau Dirkens, die schon begonnen hatte, das Gemeinschaftsbadezimmer sauberzumachen. »So viel Zeit muss sein«, sagte sie und ging nicht darauf ein, dass Marthes Verhalten streng genommen immer wieder unter emotionale Erpressung fiel. Frank schimpfte, wie oft Daniela sich davon beeinflussen ließ. Aber Frau Dirkens hatte nicht unrecht. Mit 80 wurde es einsam. Sie selbst konnte es nicht leisten, zur permanenten Gesellschafterin der alten Dame zu werden. Auch wenn sie ihr fast alles zu verdanken hatte. Es mussten auf Dauer andere Lösungen her. Nur was?
»Du und dein Kaffee«, murrte Marthe erwartungsgemäß, als sie sich an den Gartentisch setzte. »Ein ordentlicher Tee …«
»… ist keineswegs gesünder«, fiel sie ihr ins Wort. »Jedenfalls nicht mit untergemischtem Whiskey.«
»Du musst es ja wissen.«
Daniela drehte den Kopf, damit Marthe ihr Grinsen nicht sah. Ohne dass diese das letzte Wort behielt, ging es nicht.
Da kam ihr eine Idee. »Oskar«, sagte sie.
»Hä?«, machte Frau Dirkens. »Was ist mit ihm?«
»Er ist doch gestern angereist. Mit Ruth.«
»Nichts Neues. Ich hätte wirklich erwartet, dass die beiden bei dir absteigen.«
»Ach, Frau Dirkens, das hatten wir doch schon. Alles ist gut so. Aber wir könnten nachfragen, ob die beiden sich nicht von Ihnen ein paar Besonderheiten der Insel erklären lassen wollen. Was meinen Sie? Wäre das eine Idee? Hätten Sie Lust?«
Marthe schwieg. Trank mit spitzen Lippen ihren Kaffee, ein wenig Milchschaum blieb am Mundwinkel kleben. Dann sah sie Daniela mit funkelnden Augen an. »Verstehe ich das richtig? Du hast keine Lust auf meine Gesellschaft und gehst stattdessen lieber arbeiten, willst aber deinem Cousin die Aufgabe, mich zu unterhalten, ans Bein binden, ja? Na, dann viel Spaß! Ich freue mich schon jetzt auf sein Gesicht.«
Daniela, die gerade die Kaffeetasse zum Mund führte, ließ diese wieder sinken. Sie setzte zu einer Antwort an, schüttelte hilflos den Kopf. Es fiel ihr nichts ein. Außer der Erkenntnis, dass Marthe zielsicher ins Schwarze getroffen hatte.
Susan Ophoven nahm die Checkliste zu Hilfe. Wer hätte gedacht, dass sich der Wirrwarr aus beruflichen Bausteinen, den sie in ihrem Leben durchschritten hatte, eines Tages so auszahlen würde. Ein Lebenslauf, der jeden Karrierecoach ins Schwitzen brachte, weil sich ein plausibler roter Faden nur mit einer Menge Fantasie herstellen ließ, hatte bei ihr zu einer Ansammlung von Fähigkeiten und Ressourcen geführt, aus der sie sich nun nach Belieben bedienen konnte.
Büromanagement, ein Job, den sie »learning by doing« in der Steuerkanzlei eines Bekannten übernommen hatte, erleichterte ihr die Organisation ihrer Selbstständigkeit ungemein. Sie hatte die Inhalte ihrer Seminarblöcke thematisch in Power-Point-Präsentationen zusammengefasst. Ihrem kreativen Talent, mit dem sie früher im Leistungskurs Kunst gepunktet hatte, fiel es leicht, ein ansprechendes Design zu entwickeln, das den Vergleich mit professionellen Vorlagen nicht scheuen musste. Indem sie es auf Homepage, Flyer und Visitenkarten übertrug, gab sie ihrer Sichtbarkeit einen unverwechselbaren, individuellen Akzent.
Inspirieren ließ sie sich dabei von den Einflüssen, die ihr begegneten. Im wahren Leben wie in der digitalen Welt fremder Websites und Social-Media-Accounts. Im beruflichen Kontext wie in ihren privaten Kontakten. Bei Nachbarn, Freundinnen und Liebhabern. Sie war eine »Pflückerin«, jemand, der sich im Vorbeigehen an den gelungensten Früchten bediente. Sie empfand das als legitim. Denn schließlich gab sie allem eine eigene Note, optimierte und verbesserte Angebote, deren Potenziale bisher in der Durchschnittlichkeit verborgen geblieben waren.
Solche Gedanken behielt sie allerdings für sich. Sie hatte in der erst kurzen Zeit ihrer Selbstständigkeit gelernt, ihre Dienste näher mit der eigenen Person zu verknüpfen, so als sei jede ihrer Handlungen aus einer Notwendigkeit geboren, die tief in ihr verankert lag. Trotzdem hatte eine Teilnehmerin ihres ersten Kursangebots sie direkt des Ideendiebstahls bezichtigt und dies in einer Internet-Rezension dokumentiert. Als Mogelpackung empfände sie ihre Kurse, ein – Zitat: »zusammengeklaubter Inhalt aus Ratgebern und Selbsthilfebüchern, ohne eine einzige Quellenangabe«. Zitat Ende.
Diese Bewertung war eine Folge dessen gewesen, dass die Frau sich von Anfang an als Störenfriedin gezeigt hatte. Mit permanenten Zwischenfragen, die die übrigen Kursabsolventen verunsicherten oder bei den Schreibaufgaben aus dem Flow brachten, mit zeitraubenden Diskussionen um das vermittelte Handwerkszeug, Kritik an den Inhalten generell, der Lehrmethode und nicht zuletzt an der angeblich fehlenden Expertise von Susan. Was, objektiv gesehen, zutraf. Sie konnte keine eigene Veröffentlichung vorweisen außer einer Kurzgeschichte, die das Produkt eines Seminars war, das sie selbst besucht hatte. Für teures Geld.
Die Streitgespräche hatten das Klima des gesamten Kurses vergiftet, und so sah Susan nur die eine Möglichkeit, die Dame zur virtuellen Tür des Workshops zu begleiten. Ein Rausschmiss, der mit der Zurückerstattung der Kosten verbunden war. Ein Preis, den sie gerne zahlte.
Wäre bloß dieser Racheakt auf Google nicht erfolgt. Sie hatte versucht, eine Löschung zu beantragen, dies war genauso wenig gelungen, wie diese Neiderin mit der Drohung, einen Anwalt einzuschalten, zu beeindrucken.
Am schlimmsten war, dass es Wasser auf die Mühlen von Carsten goss. Er hatte sich mit solch einer Freude und Genugtuung am Telefon geäußert, dass ihr schlecht geworden war. Das Ausmaß seines Hasses, seiner Verachtung schien so unfassbar groß, dass sie ihn bis jetzt in Verdacht hatte, mit dieser unsäglichen Frau unter einer Decke zu stecken. Sie ärgerte sich, dass sie ihm gegenüber in den vermeintlich guten Zeiten ihrer Ehe den Begriff der »Pflückerin« verwendet hatte. In diesem Anruf hatte er sich darüber lustig gemacht, sie des »Mundraubes« beschuldigt und den Vorwurf der Teilnehmerin aufgegriffen, dass nichts in ihren Kursen auf eigenem Können und Wissen basiere.
An erfolgreichen Tagen konnte sie die Angriffe beiseiteschieben. An dünnhäutigen wie heute switchte sie gefühlsmäßig zwischen Wut, Enttäuschung und Selbstvorwürfen.
Dann war es wichtig, sich auf das Erreichte zu besinnen. Auf die Erfolge. Darauf, dass es Menschen gab, für die sie wertvoll war.
Und deswegen war es vernünftig, die Checkliste zu haben. Sich nicht von Vorwürfen, Emotionen, Stimmungen und Hormonen treiben zu lassen. Sondern professionell an den Zielen festzuhalten. Das einzige Mittel, die Neider, zu denen Carsten gehörte, in Schach zu halten. Und dafür würde sie alles tun. Wirklich alles.
»Herrlich, oder?« Ruth tupfte mit dem Handtuch ihre triefenden Haare trocken. »Auch wenn ich danach aussehe wie ein begossener Pudel.«
Oskar nahm sie in den Arm, strich ihr eine Locke aus der Stirn. »Du bist schön. Wunderschön. Muss ich dir das wirklich immer wieder sagen?«
»Hey!« Sie schlug mit dem Handtuch gegen seinen Oberarm. »Du willst mir doch nicht unterstellen, dass ich nach Komplimenten angle?«
»Die einen sagen so, die anderen so«, antwortete er lachend, nahm ihr das Handtuch ab, um sich selbst abzutrocknen.
Ruth lachte. »Du bist so was von hinterhältig und auf den eigenen Vorteil bedacht, Oskar Schirmeier. Wie konnte ich bloß auf dich hereinfallen?«
»Es muss an der Insel liegen, an der guten Luft, dem leckeren Essen und den betörenden Drinks.«
»Vor allen an Letzteren, das wird es sein. Als wenn ich außer Wein etwas anrühren würde.«
»Solltest du aber, solltest du. Ich befürchte, um einen Cocktailabend mit Daniela werden wir nicht herumkommen.«
»Jaja, und der gepimpte Tee von Marthe Dirkens, ich weiß. Gut, dass wir nicht im Hostel wohnen. Noch besser, dass Daniela deswegen nicht sauer ist.«
»Nein, ist sie nicht. Sie ist eben die Großmut in Person. Liegt übrigens in der Familie.«
Ruth hatte mittlerweile das Handtuch zurückerobert und hängte es über den Strandkorb zum Trocknen. »Wie sollte es anders sein? Schließlich hältst du es ja auch schon eine ganze Weile mit mir aus.« Sie stutzte, während sie in der Korbtasche nach ihrer Sonnenbrille suchte. »Ach herrje, ich höre mich ja wirklich so an, als wäre ich auf ständige Bestätigung aus. So ist es nicht gemeint, Oskar. Das weißt du.«
»Klar weiß ich das. Es ist sicher die Erinnerung daran, dass es hier auf der Insel zwischen uns gefunkt hat. Komisch, es fühlt sich immer noch neu an. Für mich jedenfalls.«
Ruth setzte sich auf die blau-weiß gestreifte Sitzbank des Strandkorbs und klappte das Tischchen herunter. »Für mich auch.« Sie fuhr sich durch die Haare. »Fast trocken«, murmelte sie.
»Und nichts mehr von Pudel. Dank deiner Lockenpracht. Bei mir übrigens auch, aber aus gegenteiligen Gründen.« Er legte die Hand auf seinen Kopf. »Nicht mehr viel da.«
»Macht dich weiser. Und ein klitzekleines bisschen älter. Wogegen ich nichts einzuwenden habe, wie du weißt.« Die fünf Jahre Altersunterschied zwischen ihnen fielen keinem auf, und es ging niemanden etwas an, trotzdem war es ihr manchmal unangenehm, dass er jünger war als sie selbst. »Aber sag mal, kann das eigentlich sein, dass ich schon wieder Hunger habe?«
Oskar grinste. »Lass mich mal überlegen. Wir sind früh aufgestanden. Zum Frühstück gab es Vollkornbrötchen, ein mit mir geteiltes Croissant, Rührei, Lachs, zwei Cappuccini für jeden.«
»Okay, ich habe es kapiert, hinzu kamen noch Wassermelone, Erdbeeren und Joghurt. Du hast recht, ich habe keinen Hunger.«
»Oh, da hast du mich vollkommen falsch verstanden. Ich finde unbedingt, dass es Zeit für eine kleine Zwischenmahlzeit ist. Oder eine erfrischende Weinschorle, ein frisches Bier?« Er zeigte zu den Bars am Nordstrand.
»Nichts da. Es ist noch keine 11 Uhr. Du brauchst nicht zu glauben, dass ich mich von dir in dein ungesundes Journalistenleben ziehen lasse. Den Alkohol gibt es frühestens zum Sonnenuntergang. Mal ganz davon abgesehen, meinst du, wir bekommen einen Platz? Ich habe wenig Lust, mir etwas überzuziehen, nur um dort vergeblich in der Warteschlange zu stehen.«
Oskar stellte sich auf die Zehenspitzen und legte die Hand über die Augen. »Keine Schlange zu sehen. Ich kann aber auch einfach mal losziehen und die Lage peilen. Ich schicke dir eine Nachricht, sobald ich einen Platz habe, okay?«
Ruth verdrehte die Augen. »Du Unruhegeist. Ich hasse es, dass ich mittlerweile selbst am Strand ein Handy benutze. Aber mach du nur. Ich wollte sowieso etwas lesen.«
»Ach ja, der Nachschub von deiner Autorenfreundin. Die ich immer noch nicht kennenlernen durfte. Ich muss mich wohl einmal für ein Interview bei ihr anmelden.«
»Mach das. Das wird sie freuen. Eine gute Idee. Gerade jetzt, wo ihr neues Buch erschienen ist. Es wird dich interessieren. Eine Story rund um das Phänomen Reborn Babys, liest sich sehr spannend.«
»Ah.« Oskar legte den Kopf schräg und sah sie merkwürdig an. »Du stehst nicht zufällig in der Danksagung? Als Informantin?«
»Ich?« Ruth lachte. »Wo denkst du hin? Alles der Fantasie von Helene entsprungen.«
»Jaja, wer es glaubt. Ich werde der Dame mal auf den Zahn fühlen. Du weißt, mit älteren Damen kann ich gut.«
»Was?« Ruth zog die Brille herunter. »Zuerst überschüttest du mich mit Komplimenten, und jetzt bin ich eine ältere Dame?« Sie rutschte in die Mitte des Strandkorbs. »Du brauchst nicht glauben, dass hier noch Platz für dich ist, Oskar Schirmeier.«
»Oh Gott«, er lachte so sehr, dass er sich nach vorne beugen musste und keine Luft mehr bekam. »Marthe«, keuchte er dabei, »ich rede doch von Marthe Dirkens und nicht von dir.«
Ruth hörte ihn noch kichern, als er zwischen den nächsten Strandkörben hindurch aus ihrem Blickfeld verschwand.
Susan hatte es geschafft, ein weiteres Kapitel zu verfassen, ohne nur einen einzigen Blick auf ihren Instagramkanal und auf YouTube zu werfen. Es war keine dumme Idee gewesen, Social-Media-Abstinenz ihrer Checkliste hinzuzufügen. Wobei sie genau wusste, dass neue Gewohnheiten Zeit brauchten. Sechs Wochen, sagten Wissenschaftler – oder wer auch immer. Sie fand diesen Satz so einprägsam, dass sie ihn gerne an den Anfang ihrer Workshops setzte und ihm das erste Kapitel ihres Schreibratgebers widmen würde, den sie neben dem Roman über ihre Ehe schreiben würde. Für sich selbst war sie nicht so überzeugt, denn schlechte Angewohnheiten kehrten wie ein Bumerang zurück, sobald sie diese von sich warf. Auch nach sechs Wochen. Doch ein weiterer Grundsatz, der ihr in ihrem Leben begegnet war, half ihr über diese Zweifel hinweg: Niemand muss das, was er lehrt, selbst perfekt beherrschen. Sonst könnte kein Schüler seinen Meister überholen. Sie war dafür zuständig, das Handwerk auszubilden, die Grundlagen mitzugeben. Weshalb sie auch den Vorwurf der fehlenden Veröffentlichungen ungerührt an sich abprallen lassen konnte.
Nun ja, ungerührt war nicht das richtige Wort. Sie ärgerte sich. Nicht direkt wegen des Angriffs als über die Verzerrung der Gesamtbewertung. In der schnelllebigen Zeit zählten Sterne mehr als Aussagen und blinkten sich unmittelbar in das Konsumverhalten potenzieller Kunden.
Es war nicht zu ändern, sie würde die Teilnehmer des Kurses, der heute begann, darum bitten, ein positives Feedback nicht zu vergessen. Und wenn sie erst so weit war, das Angebot vor Ort stattfinden zu lassen, würde alles besser werden. In dieser herrlichen Umgebung würde so viel mehr in ihre Schreibworkshops einfließen als nur die Vermittlung der Grundlagen und Techniken.
Sie hob den Stapel von Büchern an, die sie mit der aufgeschlagenen Seite nach unten abgelegt hatte, um sich beim Schreiben Anregung und Inspiration zu holen. Zuunterst lag eine weitere Checkliste. Was zu tun war, bevor sie die ersten Schreiberlinge hier empfangen konnte.
Vor allem würde es um die Gestaltung der Räume gehen. Im Moment hatte sie sich provisorisch eingerichtet, mit dem, was Carsten ihr zugestanden hatte aus ihrem gemeinsamen Hausstand. Viel war es nicht gewesen. Aber sie hatte keine Energie verschleudert, sich auf solch einem Nebenschauplatz auszutoben. Sollte er doch das Gefühl haben, ihr überlegen zu sein. Sie setzte Prioritäten. Für die kämpfte sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Waffen.
Carsten brauchte sich nicht in Sicherheit zu wiegen. Sie war noch lange nicht am Ziel angelangt. Das Fischerhaus und der Umbau stellten zwar das Herzstück dar, mit dem sie ihr neues Leben aufbaute. Aber den Unterhalt ihrer Lebenskosten, der ihr rechtlich nicht zustand, und einen soliden Grundstock an »Spielgeld«, das ihr gewisse Freiräume einräumte, würde sie noch erstreiten.
Sie wischte mit der Hand einen Krümel vom Papier, das vor ihr lag. Ein großer Teil der Checkliste war mittlerweile erledigt. Nun konnte sie bald hinter die Malerarbeiten einen Haken setzen. Es waren nur kleine Nachbesserungen nötig sowie das Einsammeln der Materialien. Vor allem das Vlies, das die alten abgeschliffenen Holzböden schützte, musste abtransportiert werden. Es war ja noch schöner, dass die Anstreicherfirma von ihr erwartet hatte, selbst die Entsorgung in die Hand zu nehmen. Als wenn das einer bei Carsten gewagt hätte. Sie würde das entsprechend in der Internet-Rezension würdigen, wie man mit ihr als Auftraggeberin umgesprungen war.
Jetzt war es Zeit, sich gedanklich der Zukunft zuwenden. Sie tippte mit dem Finger auf die Posten »Möbelkauf« und »Dekoration«. Das war es, worauf sie sich am meisten freute. Vollkommen happy war sie über den Tisch, an dem sie saß. Aus Treibholz gefertigt, bis zu zwölf Menschen konnten daran Platz finden. Er war vor ein paar Tagen geliefert worden. Er sollte das Meer- und Inselfeeling von Anfang an transportieren und bildete das Herzstück des großen Ess- und Wohnbereichs. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie ihren privaten Wohnraum für ihr Angebot öffnen wollte. Und war schnell zu der festen Überzeugung gekommen: unbedingt.
Denn was bot sich mehr an, als ihr Haus als Co-Working-Space zur Verfügung zu stellen. Im Zuge des trendigen Homeoffice und der Flexibilisierung des Arbeitslebens sprang sie zur rechten Zeit auf einen Zug auf, der sich gerade erst in Bewegung setzte. Einige Räume würde sie als Gästezimmer bereitstellen und mit anderen Gastgebern von Norderney eine Kooperation eingehen. Das war’s. Sie würde Träume verkaufen. Den Traum vom Leben am Meer, dem Rückzug auf eine Insel, dem Erfolg als Autor.
Bingo. Here she was!
Zufrieden klickte sie ihren Browser an. Sie würde nun das Netz nach Ideen für die Einrichtung der Schlafräume durchforsten.
Vorher aber einen schnellen Blick auf ihre Internet-Rezensionen werfen. Sie tippte ihren Namen ein. Auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sich der Status verändert hatte. Als das Suchergebnis sichtbar wurde, spürte sie, wie etwas in ihrem Gesicht verrutschte. Herunter sank, schwer wurde. Sie griff nach ihrem Wasserglas. Und warf es um.
Ruth hatte das Buch aufgeschlagen, aber nur, um einen Finger dazwischenzustecken. Sie atmete tief durch. So stimmig ihre Beziehung zu Oskar war, und zwar mehr, als sie jemals erwartet hatte, fehlten ihr manchmal die Momente des Alleinseins. Seitdem sie vor über 20 Jahren aus der Ehe mit Michael geflohen war und dabei auch ihre Tochter zurückgelassen hatte, war sie keine enge Partnerschaft mehr eingegangen.
Ich bin mir genug, hatte sie oft geantwortet, wenn andere gefragt hatten. Sie war damit durchwegs auf Unverständnis gestoßen, und daran konnten selbst ihre beruflichen Erfolge als Juristin bei der Polizei und das darauf aufbauende Psychologiestudium nichts ändern.
Es war ihr meistens egal, was andere dachten. Sie brauchte keine Anerkennung von fremden Menschen. Sie fand es unangemessen, dass Außenstehende von ihr eine Rechtfertigung für ihre Lebensentscheidungen erwarteten.
Nicht dass sie es sich jemals leicht gemacht hatte, selbst wenn das von außen so wirken konnte. In ihrer Ausbildung als Psychologin hatte sie sich den Fragen durchaus gestellt. Warum sie aus dem traditionellen Familienbild ausscherte. Ob sie eine Rabenmutter war. Was das bedeutete, dass sie ihr Kind zurückgelassen hatte. In erster Linie für Lisa-Marie, aber auch für sich. Und was das alles mit ihrer eigenen Sozialisation, ihrem eigenen Elternhaus zu tun hatte.
Fakt war, sie und ihr Ex-Mann hatten einen Weg gefunden, der nicht üblich war, aber für alle Beteiligten am wenigsten verletzend. Sie hatten auf der Erwachsenenebene ihre Bedürfnisse benennen können und gemeinsam nach Lösungen gesucht. Michael war traurig und verletzt gewesen, keine Frage. Trotzdem hatte er sich immer bemüht, ihre Argumente nachzuvollziehen. Hatte nie zu unlauteren Mitteln gegriffen, um sie zu erpressen. Und vor allem, und darauf waren sie zu Recht beide stolz, hatten sie niemals versucht, den Konflikt über ihr Kind auszutragen.
Dass Lisa-Marie bei Michael geblieben war, hatte rein pragmatische Gründe. Ruth hatte sich voll und ganz ihrer Karriere mit einem erneuten Studiengang gewidmet, während er in Haus und Beruf blieb und ihrer Tochter dadurch Freunde, Schule und Hobbys erhielt. Lisa-Marie, mittlerweile längst erwachsen und mit ihrem Studium am Bodensee fast fertig, wäre wie jedes Kind am liebsten in der vollständigen Familie groß geworden. Aber je älter sie wurde, desto mehr Verständnis hatte sie aufgebracht. Heute war sie ihnen dankbar, dass sie die Trennung so konfliktfrei bewältigt hatten. Im Gegensatz zu den Rosenkriegen bei den Eltern von Freunden und Kommilitonen, die nicht selten mit Kontaktabbrüchen zu einem Elternteil einhergingen.
Das Pling ihres Handys riss sie aus den Gedanken.
»Hab einen Platz gefunden und jemanden, den du kennst. Kommst du?«
Genau das war das Thema. Jahrelang galt sie als Einzelgängerin, die – zumindest in ihrer Freizeit – selbstbestimmt durch den Tag ging. Sich von niemandem etwas sagen ließ und immer zuerst auf sich und ihren Bauch hörte. Hart an der Grenze zum Egoismus, das konnte sein, und es war mit den Jahren durchaus eher mehr geworden.
Aber es gehörte für sie existenziell zum Leben. Weil es ihr guttat. Ihr und ihrer psychischen Gesundheit. Allein mit sich selber sein. Nicht jederzeit verfügbar. Gegen den Strom der Schnelllebigkeit und des Konsums.
Achtsam. Sorgsam. Fokussiert.
Dann kam das Handy in ihr Leben.
Und Oskar.
Ein Smartphone.
Das Zusammenleben auf Probe.
Ein Haus in Bonn. Für sie beide.
Ein Urlaub auf Norderney.
Sie schaute zwischen den Strandkörben hindurch auf die Weite des Strandes. Hörte die aufbrandenden Wellen der beginnenden Flut. Sah zu den kreischenden Möwen in der Luft, die nur darauf warteten, im passenden Augenblick fette Fischbrötchenbeute zu machen. Registrierte den unverschämt blauen Himmel, der so tat, als wäre hier oben der Süden.
Ihre Zehen krallten sich in den warmen Sand.
Mit einem Seufzer klappte sie das Buch zu.
War es das, was sie gewollt hatte?
Sie musste sich etwas einfallen lassen.
Susan Ophoven tigerte ruhelos durch das Haus. Gleich würde sie den digitalen Kurs moderieren müssen. Egal, wie es in ihrem Inneren aussah. Gute Miene machen. Motivierend wirken. In Großaufnahme. Erstklassig ausgeleuchtet. Zum ersten Mal verfluchte sie die Technik, für die sie in den letzten Wochen so viel Zeit und Mühe investiert hatte. Die Business-Seminare, die sie selbst besucht hatte, hatten das Geld verschlungen, das als sichere Investition geplant gewesen war. Etwas, das sich mühelos wieder einspielen ließ, wenn sie sich erst einmal etabliert hätte. Nur dass sich die Kosten mittlerweile wie böse Geister vervielfältigten, die nicht mehr auf ihre Meisterin hören wollten. Vielleicht, weil sie keine solche war? Sondern nur der Lehrling, dem das Handwerk entglitt?
Sie hatte einen Screenshot gemacht. Dass es gleich vier schlechte Bewertungen waren, die neu dazugekommen waren, verursachte einen Schockmoment und dann grenzenlose Wut. Eines war unumstößlich sicher: Diese Rezensionen kamen von Fake-Accounts. Waren manipuliert. Sowohl in ihrer Anzahl als auch inhaltlich. Hatten anscheinend nur ein Ziel: sie zu vernichten.
Sie starrte auf die Seite. Alle mit Nicknames getarnt, ein Zuordnen zu Kursteilnehmern war unmöglich. Sie hatte sicherheitshalber die gespeicherten Teilnehmerlisten abgeglichen. Auch wenn sie diese nach Datenschutzverordnung schon gelöscht haben müsste, war sie froh, damit jetzt einen Beweis zu haben.
Sie überlegte. Machte es Sinn, ihren Anwalt einzuschalten? Sie war sich nicht sicher, ob er eine gute Wahl gewesen war. Angeblich eine Koryphäe und überregional bekannt, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass er sich für männliche Klienten weiter aus dem Fenster lehnte, deutlicher anstrengte, mehr herausholte.
Verdammt. Alles, was sie anpackte, fraß ein Loch in ihr Budget, raubte ihre Ressourcen, trieb sie auf ihre letzten, die eisernen Reserven zu.
Sie war sich immer sicherer, dass Carsten hinter den Aktionen steckte. Weil er es nicht aushielt, wie sie ein neues Leben aufbaute. Weil er ihr nicht das Schwarze unter dem Fingernagel gönnte. Und weil sie ihm einen Teil seines Besitzes, seines Vermögens genommen hatte. Unverdient, wie er fand. Schadensersatz und Schmerzensgeld für jedes Jahr ihrer Ehe, hielt sie dagegen.
Die Internet-Bewertung war eine Katastrophe. Leider ließ sich nur der geringste Teil der echten Absolventen dazu bewegen, ein öffentliches Feedback zu hinterlassen. In den persönlichen Reflexionsrunden bekam sie fast nur Positives zu hören. Warum, verdammt, ließ sich das nicht nach außen transportieren?
Es war, als hätte diese eine Störenfriedin etwas in Gang gesetzt, was sie nicht mehr aufhalten konnte. Ob sie mit Carsten gemeinsame Sache machte? Ob er sie angeheuert hatte? Unter drei war mittlerweile der Durchschnittswert der Internet-Rezensionen gesunken. Und dabei stand sie doch erst im Begriff, mit ihrem Angebot durchzustarten.
Ihr Handywecker klingelte. In einer Viertelstunde begann der digitale Kurs der Bildungsagentur in Köln, mit der sie zusammenarbeitete. Sie huschte ins Bad, um die Haare durchzukämmen, die Lippen blassrosa nachzuziehen, die Wimpern aufzubürsten, die Wangen mit hellem Rouge aufzufrischen. Die richtige Präsenz am Bildschirm war nicht zu unterschätzen. Sie prüfte ihr Aussehen im Spiegel. Zufrieden war sie selten mit sich, aber immerhin gelang es ihr, sowohl ihren Frust als ihre Müdigkeit zu überschminken.
Sie steckte ihre Ohrringe fest, streifte die maritimen Stapelringe über und entschied sich in letzter Sekunde für ein anderes Halstuch, das den nordischen Charakter ihres Styles, den sie sich seit ihrem Umzug nach Norderney zugelegt hatte, deutlicher unterstrich. Auch wenn ihre Teilnehmer sie nur sitzend erlebten, brauchte sie selbst das stimmige Gefühl, das sie mit der Kleidung verband. In jeder Hinsicht in Rolle kommen, hatte die Dozentin des Workshops es genannt, den sie selbst besucht hatte. Diese musste es als Schauspielerin wissen. Und hatte es ihnen vorgelebt. Das Verhältnis vom Bildschirm zu sichtbarem Oberkörper und Kopf. Ausgelotet bezogen auf Licht und Hintergrund. Sich dessen bewusst sein, was man transportieren wollte.
Susan schloss die Terrassentür. Setzte sich in Position. Drückte den Startknopf. Einen echten, einen imaginären. Den des Computers und ihren eigenen.
Die Fenster ploppten auf. Genau wie ihre Professionalität.
»Nicole«, sagte Ruth und hoffte, dass es nicht zu matt klang. »Wie schön, dass wir uns treffen.«
»Ja, Oskar hat mich aufgegabelt. Ich selbst bin mal wieder blind durch die Gegend gelaufen.«
»Das soll ich glauben?« Ruth lachte.
»Klar doch. Bin ja nicht im Dienst. Sobald ich die Polizeiuniform ausgezogen habe, klappe ich die Augen zu. Besonders wenn ich mich an den touristischen Hotspots bewege.«
Ruth zog eine Augenbraue hoch.
»Das ist eher Eigenschutz«, schob Nicole schnell hinterher. »So ein Abkapseln von Alarmbereitschaft, Schichtdienst, Teamarbeit. Da ich aber keine Lust habe, mich zu Hause einzuigeln, hab ich ein eigenes System entwickelt, mittendrin und doch für mich zu sein.«
»Klappt aber nur so lange, wie dich keiner anspricht.« Oskar legte die Hände zusammen und verbeugte sich vor ihr. »Mea culpa.«
»Alles gut.« Nicole deutete neben sich auf die freien Stühle. »Setzt euch doch.«
Ruth zögerte, sah Oskar eindringlich an. »Ich weiß nicht, wir haben ja den Strandkorb.«
»Der läuft nicht weg. Ihr müsst meine Worte nicht auf euch beziehen. Die Insulaner haben kapiert, dass ich in der Freizeit Ruhe brauche, die Touris erkennen mich ohne Uniform nicht, also alles kein Problem. Finde ich cool, dass ihr auf der Insel seid. Hätte ich gar nicht mit gerechnet, wo doch Martin und Anne noch unterwegs sind.«
»Ja, das ist auch für uns ungewohnt.« Ruth zog einen Stuhl hervor und setzte sich auf die Kante. Oskar blieb hinter ihr stehen.
»Sorry, bitte entspannt euch.« Nicole winkte dem jungen Kellner. »Ihr stört mich wirklich nicht. Sonst würde ich es sagen.«
»Du frühstückst doch.«
»Aber ich bin fast fertig. Jetzt erzählt endlich, was ihr hier macht.«
Ruth rutschte auf dem Stuhl nach hinten, lehnte sich an. Oskar ließ sich neben ihr nieder.
Der herbeigewunkene Kellner nahm mit Schwung Nicoles Teller weg.
»Hey, Mory, lass stehen. Du sollst nicht abräumen, sondern eine Bestellung aufnehmen.«
»Ach sorry, war ich wieder zu schnell.« Er schob seine herumgedrehte Baseballkappe nach vorne und kratzte sich im Nacken.
»Dazu sage ich jetzt nichts«, frotzelte Nicole und bestellte nach einem fragenden Blick in die Runde drei Latte macchiato.
»Schnell ist er immer nur, wenn es nicht passt«, erklärte sie kurz darauf. »Aber dafür ist er ein Netter. Einer der Studenten, die nur in der Saison hier sind. Und jeden Tag zehn Stunden runterreißen. Die wissen, was sie für ihr Geld tun. Wenn dann einer den Job trotzdem mit guter Laune macht, merken es auch die Gäste. Da ist es ziemlich egal, wenn mal nicht alles perfekt läuft.«
»Stimmt. Meine Tochter hat während des Studiums unter ähnlichen Bedingungen gekellnert«, antwortete Ruth. »Am Bodensee.«
»Ui, auch eine schöne Ecke. Da werden Martin und Anne ihre letzte Station machen. In Konstanz.«
»Genau. Und Lisa-Marie zum Essen treffen. Martin kennt sie von Kind auf.«
Nicole nickte. »Stimmt, ihr kennt euch echt lange. Anfangs habe ich immer gedacht, aus euch wird ein Paar. Oder ihr seid eins, hängt es aber nicht an die große Glocke.« Sie schielte zu Oskar. »Hoffe, dass ich nichts Falsches sage.«
Dieser grinste breit. »Ich habe das Gleiche vermutet. Glücklicherweise hat mich das nicht abgehalten, es zu überprüfen.«
»Blödsinn. Anne war doch schon mit Martin zusammen, als wir beide uns kennenlernten.«
»Na ja, da siehst du mal, dass es trotzdem Fragen aufwirft. Aufgeworfen hat, muss ich besser sagen.« Er legte eine Hand auf ihren Oberschenkel.
Sie zuckte zurück. Sie mochte solche Berührungen in der Öffentlichkeit nicht. Schnell wandte sie sich an Nicole: »Wie läuft es denn auf der Insel? Ich hoffe, es ist endlich etwas Ruhe eingekehrt.«
Diese zuckte mit den Achseln. »Böse Zungen sagen: Ohne Martin Ziegler gibt’s keinen Mord auf der Insel.«
»Was?« Ruths sonst so laute Stimme brachte das Wort nur krächzend heraus.
Auch Oskar beugte sich unruhig nach vorne. »So wird über Martin auf der Insel gesprochen? Wer macht denn so was?«
Nicole nahm schweigend die drei Kaffeegläser entgegen und stellte sie auf den Tisch. »Danke, Mory.« Sie wartete, bis der Kellner verschwunden war. »Ach, man darf das nicht so ernst nehmen. Norderney ist offiziell zwar eine Stadt, aber es ist doch alles eher so wie auf dem Land. Jeder weiß etwas über den anderen zu sagen. Einiges ist liebevolles Gefrotzel, manchmal schwingt auch Neid mit, und dann gibt es noch die Halbwahrheiten.«
»Aber Martin ist doch nicht schuld an den Verbrechen. Es ist schon schlimm genug, dass er sich selbst ständig hinterfragt und Vorwürfe macht. Ich bin heilfroh, dass es ihm zuletzt endlich besser ging. Und die Flitterwochen werden das ihrige dazu beitragen. Wenn er jetzt wieder mit solchen Sprüchen konfrontiert wird …« Ruth brach hilflos ab.
»So ist das nun mal im Polizeileben. Man muss etwas aushalten können.« Nicole klang nicht so überzeugt, wie es ihre Worte vermuten ließen.
»Hey, ich bin oder war auch Polizistin. Persönliche Angriffe sind selbst bei uns langsam aus der Mode. Und werden endlich als das bezeichnet, was sie wirklich sind. Nämlich Mobbing.«
»Phhhh.« Nicole stieß nur einen Pfeifton aus.
»Wer sagt es denn konkret?« Oskar klang ruhig und sachlich. Ruth war ihm dankbar dafür.
Nicole rührte verlegen in ihrem Latte macchiato. »Mal der eine, mal der andere.«
»Jemand aus den eigenen Reihen? Einer der Kollegen?« Seine Stimme war noch leiser geworden.
Der Löffel klirrte gegen das Glas. Nicole blickte hoch. Verzog die Nase und den Mund. Dann weiteten sich ihre Augen. »Ach, guckt mal«, rief sie laut. Stand auf und winkte. »Frau Dirkens, hier! Schauen Sie doch mal, wen ich verhaftet habe!«
Die neue Gruppe war nicht stimmig, das hatte sie schon bei der Vorstellungsrunde und den Warmschreibübungen gespürt.
Heute war die Stimmung noch angespannter. Anfangs dachte Susan, es läge an ihrer eigenen Unausgeglichenheit. Dem Ärger, der Wut. Den Sorgen wegen der Zukunft. Wer auch immer hinter den schlechten Rezensionen steckte, das war jemand, der die Absicht hatte, ihr zu schaden. Mit jämmerlichen Fake-Accounts. Keiner ihrer Kurse war so miserabel, wie der- oder diejenige es den Leuten weismachen wollte.
Trotzdem hatte es Auswirkungen. Schon die Begrüßung gelang ihr nicht so locker, lustig und souverän, wie sie es von sich kannte.
Ihre Stimme hatte einen vibrierenden Unterton gehabt, wie bei Vortragenden mit Lampenfieber. Sie hatte ihr Sprechen verlangsamt, tiefer ein- und ausgeatmet, die Sache aber nicht in den Griff bekommen, sodass sie schließlich mit Räuspern und Schniefen auf eine Erkältung hingewiesen hatte, die ihr das Reden erschwere.
Es ärgerte sie. Denn jetzt trat ja quasi das ein, was die Bewertungen im Internet behauptet hatten. Wie selbsterfüllende Prophezeiungen. Sie würde sich unbedingt vor dem nächsten Slot besser erden müssen.