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Kriminalrat Tomas Jung, Leiter und einziger Mitarbeiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizeiinspektion Nord in Flensburg, hat es mit einem zehn Jahre zurückliegenden Fall zu tun: Damals verschwand ein junges Mädchen auf dem Weg vom elterlichen Hof nach Husum spurlos. Ihre Familie ist nach dem tragischen Ereignis auseinandergebrochen. Die Mutter bereits verstorben, Vater und Bruder ausgewandert. Mit Akribie und dem ihm eigenen Instinkt macht sich Jung an die Ermittlungen. Während eine Schneekatastrophe über Schleswig-Holstein hereinbricht, stößt er endlich auf die ersehnte heiße Spur …
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Seitenzahl: 255
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Reinhard Pelte
Inselbeichte
Der dritte Fall für Kommissar Jung
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2011–Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: Icehouse / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3612-3
Für Nadja und Nils
›Paint it Black‹
Rolling Stones
Jung klappte seinen Laptop zu. Das Einschnappen in den Verschluss machte das satte, elegante Geräusch, das nur eine perfekte, industrielle Fertigung hervorzubringen vermag. Der Klang gefiel ihm. Er hatte eine Aktennotiz geschrieben. Vor Kurzem war er von einer Wehrübung bei der Marine zurückgekehrt. Er hatte in Afrika erfolgreich das unerklärliche Verschwinden eines Mariners von Bord seines Schiffes aufgeklärt1. Dabei war er auf die Fährte zweier Männer gestoßen, die vor Jahren spurlos aus Deutschland verschwunden waren. Die Polizei vermutete damals, sie seien Opfer krimineller Gewalt geworden. Als ihre Ermittlungen ins Leere liefen, war der Fall bei Jung gelandet, dem Leiter des Dezernats für unaufgeklärte Kapitalverbrechen bei der Polizei-Inspektion Nord in Flensburg.
Das Telefon klingelte. Jungs Telefon klingelte selten. Seine Abteilung war aus dem Fokus des aktuellen, hektischen Tagesgeschehens gerückt, und manchmal hatte er das unangenehme Gefühl, als gehöre er gar nicht mehr dazu. Verstärkt wurde sein Einzelkämpferdasein dadurch, dass außer ihm kein weiterer Kollege seiner Abteilung angehörte. Er war Führer und Geführter in Personalunion. Manchmal, wenn er darüber ins Grübeln kam, lachte er herzhaft und beglückwünschte sich dazu, wie es ihm absichtslos, aber gerade deswegen umso wirkungsvoller gelungen war, seinen Chef dazu zu bewegen, ihn in diese komfortable Lage zu versetzen. Denn was nach außen wie eine Anerkennung aussah, war nach innen nur der Ausdruck stiller Missbilligung gewesen, die sein Chef nie laut zu artikulieren gewagt hätte.
Jung nahm den Hörer auf und meldete sich. »Jung, Polizei-Inspektion Nord.«
»Holtgreve. Kommen Sie mal hoch, Jung. Ich hab hier was.« Sein Chef bediente sich einer sehr eigenen, unverwechselbaren Sprache.
»Ich bin sofort bei Ihnen«, antwortete Jung.
Er verließ sein Büro im ersten Stock und betrat das Treppenhaus. Die Polizei-Inspektion war in einem alten, herrschaftlichen Gebäude aus der Gründerzeit untergebracht. Die Straßenfront war prächtig mit Steinmetzarbeiten, hübschen Balkonen und aufwendigen Simsen dekoriert. Die Zimmer waren geräumig und hell, die hohen Decken stuckverziert, das Treppenhaus breit und hoch. Jung erklomm die Teppichetage, wo Holtgreves Bürosuite lag. Die Etage hatte ihren Namen von den Bewohnern der unteren Etagen erhalten, deren Büros ohne Teppiche auskommen mussten. Die Holzdielen waren im Laufe der Jahre arg verschlissen worden. Als Holtgreve Jungs Schritte auf dem Flur vernahm, rief er ihn zu sich herein. Seine Tür stand die meiste Zeit offen, und Jung hatte stets das Gefühl, als hocke sein Chef den ganzen Tag mit gespitzten Ohren hinter seinem Schreibtisch, um auch ja nichts zu verpassen, nicht einmal das flüchtigste Rascheln einer imaginären Maus in den Wänden des alten Gemäuers. Holtgreve las in einem Papier, das er, die Ellenbogen auf die Schreibunterlage gestützt, vor sich in den Händen hielt.
»Setzen Sie sich«, brummte der Leitende ohne aufzusehen.
»Guten Morgen Herr Holtgreve. Danke«, begrüßte Jung seinen Chef.
Er setzte sich auf den Besucherstuhl, dessen Sitzfläche deutlich unter der Sitzhöhe des Chefsessels lag, und lehnte sich, die Beine übereinandergeschlagen, entspannt aber doch erwartungsvoll zurück.
»Wehrübung gut überstanden?«, begann Holtgreve in seiner eigentümlich verstümmelten Diktion. Jung merkte seinem Chef an, dass er sich unwohl fühlte und der Rolle, die höhere Mächte ihm hier aufgezwungen hatten, lieber aus dem Weg gegangen wäre. Jung hatte er als Schuldigen für seine Kalamität ausgemacht.
»Ja, danke der Nachfrage«, erwiderte Jung leutselig.
»Sehen gut aus. Glückwunsch«, rang Holtgreve sich mühsam ab und sah seinem Gegenüber jetzt in die Augen.
»Danke.« Jung wartete gespannt auf das, was kommen musste. Der Leitende hätte ihn niemals zu sich bestellt, nur um sich nach seinem Befinden zu erkundigen oder sein Aussehen zu loben.
»Post aus Kiel. Einsatzmedaille und Beförderung.« Der Leitende klang, als könne nicht wahr sein, was er zu verkünden hatte. Für ihn war das einfach nicht zu fassen.
»Für mich?«
»Ja«, japste sein Chef.
»Danke.«
Jung behielt seine Gefühle für sich, blieb einsilbig und verharrte in seiner Hab-Acht-Haltung.
»Einsatzmedaille. Wofür, Jung?«, rang sich der Leitende die Frage ab, die stellen zu müssen er nach eigenem Selbstverständnis nicht hätte gezwungen sein sollen, schon gar nicht an seinen Untergebenen.
»Ich war als Berichterstatter des Flottenchefs zum Einsatzstab des CTF2 150 am Horn von Afrika abkommandiert. Das muss wohl der Grund sein«, antwortete Jung wahrheitsgemäß.
»Der Flottenchef, so, so.« Holtgreve fuhr mit der Hand an seinen Krawattenknoten und zerrte nervös daran herum. Wie immer saß sein Binder perfekt gebunden und exakt mittig auf seinem blütenweißen Hemd und hätte einer Korrektur gar nicht bedurft. Er sah angestrengt aus dem Fenster, als wolle er dort etwas entdecken, was ihm helfen könnte zu verstehen, was hier vor sich ging. »Beförderung. Kommt überraschend«, bellte er mehr, als dass er sprach.
Holtgreve machte klar, dass der Polizeipräsident in Kiel seinen Statthalter in Flensburg nicht über die wahren Hintergründe von Jungs Arbeit in der Marine informiert hatte. Jung stellte sich unwissend.
»Wieso überraschend? Habe ich das nicht Ihrer Beurteilung und Anerkennung zu verdanken?«
»Gut. Ja. Richtig.«
Jung vermerkte amüsiert, dass sein Chef davor zurückschreckte, ungehemmt brutal zu lügen. Immerhin etwas.
»Aber nun zum Kern.« Holtgreve hatte sich einen Ruck gegeben und rettete sich ins Praktische. »Kiel wünscht, Beförderung und Verleihung zusammenzulegen.«
»Sie meinen, der Präsident kommt hierher?«
»Ja. Genau genommen ins Marineflottenkommando. Da gibt es die Medaille.«
»Warum im Flottenkommando?«
»Kiel will das so«, antwortete Holtgreve barsch.
Jung akzeptierte die Antwort. Er wusste ohnehin, dass sein Chef nicht in der Lage war, ihm näheren Aufschluss über die Sinnhaftigkeit dieser Entscheidung zu geben, denn er selbst wäre nie auf die Idee gekommen, danach zu fragen.
»Und wann soll das stattfinden?«, fragte Jung ruhig.
»Nächsten Mittwoch. Kiel wünscht, dass wir in größerer Zahl erscheinen. Haben Sie Wünsche, wen Sie dabei haben wollen?«
Jung war nun doch von seinem Chef überrascht. Diese Frage hätte er ihm nicht zugetraut. Er ließ sich nichts anmerken und antwortete: »Ja, Polizeiobermeister Petersen, im Übrigen ist es mir egal.«
»Petersen ist Mittlerer Dienst.« Holtgreve sah Jung unwillig, fast strafend an.
»Ist das eine ansteckende Krankheit?« Jung glaubte sich in der Position, diese unsittliche, ja freche Frage stellen zu dürfen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, die zu Mehrarbeit und Unbequemlichkeiten führen würden.
»Nein«, quälte sich Holtgreve. »Die Auszeichnung findet aber im Rahmen der Großen Lage statt. Kiel hat mir das signalisiert. Da sind ausschließlich Offiziere zugelassen. Petersen hat keinen entsprechenden Dienstgrad.«
»Dann geht er in Zivil. Dann sieht keiner, was er hat, oder besser, was er nicht hat.« Jungs Ironie war unüberhörbar. Er war mit seiner Antwort sehr zufrieden. Vor allem deswegen, weil sie ihm jetzt, im richtigen Moment, über die Lippen gekommen war, und nicht erst später, zu Hause im Bett, nach längerem Grübeln darüber, wie man eigentlich auf Unerträglichkeiten angemessen reagieren sollte.
»Okay, weil Sie es sind.« Holtgreve fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel. »Haben Sie mit der Arbeit an dem Fall des verschwundenen Mädchens begonnen?«, wechselte er abrupt das Thema.
»Ich werde mich sofort daran machen. Haben Sie sonst noch etwas für mich?«
»Nein. Sie können gehen.«
»Danke.«
Jung erhob sich und verließ beschwingt Holtgreves Büro. Er freute sich. Weder mit seiner Beförderung noch mit einer Auszeichnung hatte er gerechnet. Er hatte es im Laufe seiner Dienstjahre verlernt, auch nur daran zu denken, und wunderte sich darüber, dass ihm jetzt als Erstes durch den Kopf ging, wie viel mehr er verdienen würde. Er musste Petersen danach fragen. Der kannte die Gehaltstabellen aller Dienstgradgruppen in- und auswendig und würde ihm aus dem Stehgreif sagen können, was den Unterschied zwischen Rat und Oberrat ausmachte, wenn auch nur brutto und nicht netto. Obwohl Netto das eigentlich Interessantere war.
Zurück in seinem Büro schloss Jung die Tür hinter sich und setzte sich an seinen Schreibtisch. In den Augen seiner Frau Svenja war sein Schreibtisch schäbig. Sie hatte ihn des Öfteren gefragt, wie er es aushielte, so zu arbeiten. Neben einem Aktenschrank, einem Aktenbock, seinem Bürosessel mit verstellbarer Sitz- und Rückenlehne und einem Besucherstuhl war der Schreibtisch das einzige Möbelstück in Jungs Büro. Die spärliche und in vielen Jahren abgenutzte Möblierung ließ den Arbeitsraum leer und karg erscheinen. Es hätte nicht gepasst, Bilderschmuck oder andere dekorative Elemente darin unterzubringen. Früher hatte Jung sich über die armselige Ausstattung aufgeregt, heute schätzte er es, sich ohne Ablenkung auf seine Arbeit konzentrieren zu können.
Die Akte auf seinem Schreibtisch war dick, jedenfalls gemessen an den Akten, die unaufgeklärte Kapitalverbrechen üblicherweise nach sich ziehen. Er las sie in einem Zug durch, und als er danach auf seine Uhr schaute, war mehr Zeit verstrichen, als sein Gefühl ihm weismachen wollte. Der Ordner enthielt die Ermittlungsergebnisse im Fall eines spurlos verschwundenen 11-jährigen Mädchens aus Nordfriesland. Der Fall lag zehn Jahre zurück. Jetzt standen sie kurz vor dem Jahreswechsel 2006/2007. Ganz besondere Umstände mussten für die lange Zeit dazwischen verantwortlich sein.
Das Mädchen war mittags mit dem Fahrrad vom elterlichen Hof ins nahe gelegene Husum zu ihrem Klavierlehrer gefahren und dort nicht angekommen. Sie und ihr Fahrrad wurden niemals gefunden. Ungewöhnlich, ja beunruhigend einzigartig war die Tatsache, dass Jungs Kollegen niemanden hatten ausfindig machen können, der das Mädchen nach dem Verlassen des elterlichen Hofes noch einmal gesehen hatte. Ihr älterer Bruder war der Letzte gewesen, der beobachtet hatte, wie sie auf ihrem Fahrrad die Auffahrt hinunter auf die Straße rollte. Danach schien sie wie vom Erdboden verschluckt zu sein, so, als hätte es sie nie gegeben.
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