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Eine Frau wird vermisst. Von Beruf ist sie Fitnesscoach, ihr Arbeitsplatz ein Wellnesshotel auf Sylt. Kriminalrat Tomas Jung wird beauftragt, sie zu finden. Bald schon türmen sich Fragen auf. Warum vermisst sie nur der Manager des Hotels, aber nicht ihre Familie, ihre Freunde, ihre Nachbarn? Führt sie ein Doppelleben? Zusammen mit Charlotte Bakkens, einer jungen Kriminalkommissarin, arbeitet Jung daran, Licht in das Dunkel zu bringen. Sie stehen vor Rätseln. Bis Jung sich an seinen Lieblingsplatz erinnert ….
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Seitenzahl: 262
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Reinhard Pelte
Inselroulette
Der sechste Fall für Kommissar Jung
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © chhtm / photocase.com
ISBN 978-3-8392-4360-2
Für Talli
»Brown Sugar«
Rolling Stones
Karte
Prolog
Im Mai
Thomas Jung
Freitag, der 13.
Vermisst
Anfang
Die Insulaner
Nickels
Spurensuche
Samstagvormittag, der 21.
Samstagnachmittag, der 21.
Helen Ehrenberg
Kein Tag wie jeder andere
Montag, der 23.
Dienstag, der 24.
Schluss
Epilog
Er war sorgfältig frisiert. Die Wirbel in seinem dichten Haarschopf waren mit Gel gebändigt, der Nacken kurz geschoren. Nicht ein einziges Härchen fiel störend über den Kragen seines blütenweißen Hemdes. Nase und Ohren waren ebenso haarlos wie die Wangen. Ein perfekt getrimmter Schnauzer über einer sinnlichen, fast weibischen Oberlippe machte ihn interessant. Als er sich plötzlich zurücklehnte, glaubte sie, ein Hauch von Davidoffs The Game wehe über den Tisch.
Sie sah auf seine Hände. Kräftig, nicht grob. Lange Finger, die Nägel manikürt. Sie passten zu ihm. Das linke Handgelenk zierte eine PanoGraph. Die schneeweißen Manschetten, geknöpft mit goldgefassten Lapislazuli, lugten rechts wie links absolut korrekt aus den Ärmeln seines schwarzen Dinnerjackets. Der Anblick dieses Mannes gab ihr ein Gefühl von Lebendigkeit, von Klasse, von unausgeschöpften Möglichkeiten.
Ihr gefielen Menschen, die sich sorgfältig kleideten, die einen Sinn für die richtige Garderobe besaßen. Die Tagestouristen, die sich nicht scheuten, das Casino in Straßenklamotten zu betreten, verachtete sie. Auch die von der Casinoleitung ins Leben gerufene, allwöchentliche Ladiesnight war ihr zuwider. Nichts als Weibergetue und überflüssiges Getuschel. Vergeudete Zeit.
Wenn sie Langeweile hatte, kam es vor, dass sie sich in längst vergangene Zeiten zurückfantasierte, als die Damen und Herren noch in Equipagen vorfuhren, die Männer den Zylinder lüfteten, wenn sie den Frauen aus der Kalesche halfen, und unternehmungslustig den Spazierstock schwangen, während ihre Begleiterinnen in bodenlangen Abendmänteln majestätisch über den roten Teppich glitten. Ihr Gegenüber hätte auch damals eine exzellente Figur abgegeben.
Seine Finger spielten mit einem Jeton. Die Steine lagen, in mehreren Säulen übereinandergestapelt, vor ihm auf dem Tisch. Wie eine Armee hatte er sie nach Farbe und Größe zwischen seinen Unterarmen aufgestellt. Als hätte er eine Strategie, die ihn von Erfolg zu Erfolg und schließlich zum triumphalen Sieg führen sollte.
»Faites vos jeux, Mesdames et Messieurs.«
Der Croupier war der beste von allen. Seine Stimme war sanft, dennoch kraftvoll und von schicksalhafter Unerbittlichkeit. Nichts erregte sie so wie der Klang dieser Stimme.
»Rien ne va plus.«
Das Klackern der in dem Kessel hüpfenden Kugel erstarb langsam. Schließlich verstummte jedes Geräusch.
»Treize, noir, impair, manque.«
Sie hatte es gewusst. Der Croupier führte den Rechen über den grünen Filz. Seine Geschmeidigkeit verriet Hingabe und Jahrelange Praxis. Er sortierte die Jetons und schob ihr den Gewinn in einem sauber gestapelten Päckchen zu. Sie lächelte.
Die Hände auf der anderen Seite ruhten regungslos auf dem Tisch.
»Mesdames et Messieurs, faites vos jeux.«
Ihr Gegenüber annoncierte mit leiser Stimme: »Carré 23 – 27.« Der gesetzte Betrag setzte sie in Erstaunen. Der Croupier folgte ungerührt der Anweisung. Sie glaubte, dem Schicksal auf die Finger zu schauen, und fasste Mut. Das Ausmaß ihrer Verwegenheit war ihr fremd, aber sie begrüßte das Neue wie einen Schatz, nach dem sie lange gesucht und den sie nun endlich gefunden hatte.
»Rien ne va plus.«
Nichts erreichte ihr Ohr, einzig das unrhythmische Klack, Klick, Klackklack der Kugel im Kessel. Ihr Blick war starr auf die regungslos daliegenden Hände ihres Gegenübers geheftet. Bis die Kugel zur Ruhe gekommen war. Stille. Unendliche Stille.
»Treize, noir, impair, manque.«
Sie wusste nicht, wie ihr geschah und was sie empfand. Ihr Zustand hatte keinen Namen. Bilder schossen ihr durch den Kopf: Spanien im Frühling, Wärme, ein Glas Wein zu zweit abends auf der Terrasse, eine im Meer versinkende Sonne, Bücher, die sie lesen wollte und die sich zu Hause ungelesen stapelten.
Als sie aus ihren Träumen erwachte und aufsah, war der Mann verschwunden. Was hatte ihn davongetrieben? Angst, Verrat, Untreue!
Sie blieb, wo sie war. Sie konnte nicht anders. Später ergriff sie Müdigkeit. Sehr viel später war sie am Ende. Als sie ging, bedankte sie sich bei dem Croupier mit ihrem letzten Tausender.
Der anbrechende Tag tauchte die leeren Straßen in einen zwielichtigen Dämmer. Daheim angekommen warf sie sich, wie sie war, aufs Bett und fiel in einen bleiernen Schlaf. Abends, kurz vor Sonnenuntergang, wachte sie auf. In der Küche schaltete sie den Kaffeeautomaten an und wartete. Als der Becher voll war, setzte sie sich an den Küchentresen und trank in kleinen Schlucken. Ziemlich scheiße das alles, dachte sie. Du musst etwas ändern, flüsterte eine Stimme tief in ihrem Inneren.
»Wie wäre es morgen früh? Ich …«
»Das geht nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Absolut gar nicht. Da jogge ich. Jeden Freitag um Punkt acht. Das solltest du eigentlich wissen.«
»Muss das denn sein? Ich hätte …«
»Du hättest das ebenso nötig wie ich«, unterbrach sie ihn erneut. Ihre Häme tröpfelte ihm ins Gemüt wie Gift.
»Wirklich unbedingt?«, versuchte er es noch einmal.
»Es muss sein.« Es klang, als mache sie ein für alle Mal klar, was wichtig sei und was nicht.
»Wo denn?«
»Oben im Norden, in der Westerheide. Weißt du überhaupt noch, wo das ist?«
»Natürlich weiß ich das. Aber es ist wirklich wichtig! Könntest du uns zuliebe nicht eine Ausnahme machen? Mein Terminplan ist dicht gepackt und …«
»Nein. Kann ich nicht. Ich brauche meine Runde genauso wie du deinen Terminkalender. Das verstehst du doch wohl, oder?«
»Natürlich verstehe ich das. Aber wir müssen reden. Wenn nichts passiert, dann gehen die Lichter aus. Übrigens auch für dich, meine Liebe.«
Sie lachte.
»Mein Schicksal kannst du getrost mir überlassen, Schatz«, flötete sie. »Mir geht es blendend. Mein Bankdirektor sagt das auch.«
Er war kurz davor, das Handy gegen die Wand zu knallen.
»Du brauchst gar nicht so zu schnaufen. Das nützt dir auch nichts. Du hast es so gewollt. Jetzt hast du, was du wolltest.«
»Damals, das waren andere Zeiten. Ich brauche Geld. Und zwar jetzt! Vorübergehend. Die Krise auf den Märkten dauert nicht ewig. Es ist doch bei dir nur gebunkert. Ich habe es verdient. Eigentlich gehört es mir, das weißt du ganz genau.«
»Ich weiß nur, dass ich alleinige Vollmacht habe. Eigentümerin des Hauses bin ich auch. Das waren deine Ideen, mein Lieber, nicht meine.«
»Aber deswegen …«
»Doch. Genau deswegen bist du jetzt draußen. Du könntest mich bitten. Das ist aber auch alles.«
Er presste das Handy gegen die Brust und biss sich auf die Lippe.
»Okay«, stöhnte er. »Dann bitte ich dich eben.«
»Um was?«, fragte sie süffisant.
»Um Hilfe.«
»Du willst also Geld von mir.«
»Was denn sonst?«
»Natürlich. Wie konnte ich das nur vergessen?«
»Bitte werd nicht auch noch zynisch. Unsere Lage ist ernst genug.«
»Unsere? Du meinst deine.«
»Okay, meinetwegen. Aber sei dir nicht so sicher.«
»Willst du mir drohen?«, lachte sie.
»Nein. Ganz und gar nicht. Aber eine Lösung …«
»Was willst du?«, unterbrach sie ihn barsch. »Werd doch mal konkret! Das ist doch dein Lieblingsspruch, nicht wahr?«
Ihre Worte schnürten ihm die Kehle zu. Es entstand eine Pause.
»Ich bitte dich um alles, was auf dem Konto liegt«, presste er schließlich heraus.
»Du bist nicht ganz bei Trost«, höhnte sie. »Selbst wenn ich wollte.«
»Was?«, schrie er. »Wo ist das Geld geblieben?«
»Das geht dich nichts an. Ich …«
»Was soll das? Natürlich geht mich das was an. Es ist mein Geld. Ich habe es …«
»Es steht dir nicht mehr zur Verfügung. Kapier das endlich.«
»Du lügst. So viel kannst du allein gar nicht ausgeben. Was hast du mit dem Geld gemacht?«
»Ich lüge nicht. Ganz im Gegensatz zu dir, mein Lieber. Du mit deinen Bankgeheimnissen. Und dein scheiß Terminkalender. Nichts als Lügen und Weibergeschichten. Glaubst du, ich bin blöd?«
»Was soll das denn jetzt? Schnappst du völlig über? Das ist doch totaler Quatsch.«
»Quatsch? Vielleicht für dich. Für mich nicht.«
»Seien wir doch vernünftig. Ich bitte dich«, flehte er.
»Gut. Ich bin vernünftig. Von mir kriegst du nichts. Basta! Sonst noch was?«
»Wo hast du das Geld?«, beharrte er zu wissen.
»Ich habe es genutzt«, erwiderte sie süffisant.
»Genutzt? Wofür denn?«
»Das geht dich nichts an.«
Er rang nach Worten.
»Wir sind doch … Wir haben doch gemeinsame …«
»Du faselst wirres Zeugs. Was soll das?«
Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Dein Bankdirektor: Was sagt er?«
»Er sagt, dass ich mir überhaupt keine Sorgen zu machen brauche. Und für alle Fälle ist ja noch das Haus da. Sylt ist einfach meine Lebensversicherung«, kicherte sie.
Er überlegte fieberhaft.
»Ich würde mich auch erkenntlich zeigen«, sagte er schließlich.
»Erkenntlich? Wie meinst du das?«
»Ich meine, wir könnten einen Deal machen.«
»Einen Deal? Du hast sie wohl nicht alle.«
»Ich gebe dir, was du willst. Wenn ich …«
»Was könntest du mir denn geben, das ich nicht schon habe? Lass dich mal untersuchen! Anscheinend hast du’s nötig.«
Der Schmerz brachte ihn zur Besinnung. Er verstummte. Er schloss die Augen. Das Handy glitt ihm aus der Hand.
Liebe, Vertrauen, Anerkennung! Hatte es das jemals gegeben? Ihre Worte schrillten ihm in den Ohren: Mein Schicksal kannst du getrost mir überlassen. Was hatte sie damit gemeint? Die Lage konnte aus heiterem Himmel kompliziert werden. In seinem Job passierte das hin und wieder. Er hatte vorausgeplant und für Sicherheit gesorgt. Ihm schien das sehr vernünftig gehandelt. Damals.
Warum beschuldigte sie ihn? War es nicht genau umgekehrt? Sie hatte Geheimnisse. Sie war dauernd irgendwo unterwegs. Sie wollte unbedingt auf Sylt leben, anstatt in Hamburg. Sie hatte ihn geradezu in eine Affäre getrieben. Wie konnte sie überhaupt davon wissen? Nicht von ihr. Das war nicht möglich. Sie war ein ganz anderer Typ. Ungewöhnlich, leise und überhaupt nicht eitel. Sie redete kein dummes Zeug. Seit Kurzem ging ihm allerdings ihre Drängelei auf den Zeiger. Das war altmodisch und das Einzige, was ihn störte. Er vertraute ihr. Jedenfalls bis jetzt.
Nichts war mehr so, wie es einmal gewesen war, dachte er bitter. Alles hatte sich verändert. Zu seinen Ungunsten. Das war ungerecht und absolut unakzeptabel. Niemals würde er bereit sein, kampflos das Feld zu räumen. Nein, nein und nochmals nein.
Ich habe es genutzt. Was hatte sie damit gemeint? Er würde das herausfinden. Auf seine Kontakte konnte er sich verlassen. Sie funktionierten. Umgekehrt war er auch schon mal nützlich gewesen. Ihm kam der Gedanke, ein paar Tage auf Sylt zu verbringen.
Er hob die Teetasse, hielt aber jäh in der Bewegung inne. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzhaften Grimasse.
»Wie hat deine kleine Praktikantin, diese Charlotte aus Kiel, dich noch genannt? Wehleidig? Hab ich das richtig in Erinnerung?«, frotzelte Svenja.
»Ja, ja, schon gut«, erwiderte Jung.
»War da nicht noch was? Nun red’ schon, Tomi. Sei ehrlich!«
»Altmodischer Tugendbold mit zu viel saurer Moral«, brummte er.
»Wie recht sie hat«, lachte sie herzhaft.
Es schien ihm, als mache es ihr Freude, ihn verletzt zu sehen. Ihn durchzuckte der Gedanke an Trennung. Er hatte dieses makabre Geplänkel satt. Er witterte dahinter Abgründe, deren tödlicher Ernst ihm Angst machte. Gegen die Mächte, die da tobten, hatte er keine Chance: völlig sinnlos, nur verschwendete Zeit. Charlotte hatte die Ansicht vertreten, auch sein Sexleben müsse problematisch sein. Sie konnte nicht wissen, wovon sie sprach. Ein lautloses Lachen schüttelte ihn. Er sollte lieber Golf spielen, fiel ihm ein.
*
Warum fühlte sich sein Leben so anders an als früher? Nach der überstandenen Messerattacke in Québec drängte sich ihm diese Frage immer öfter auf. Lieber hätte er Urlaub gemacht und einen seiner Lieblingsplätze aufgesucht. In der Vergangenheit hatte das immer geholfen.
Neulich hatte er im Mitteilungsblatt der Polizeigewerkschaft gelesen, dass ein Krimiautor irgendwo im Ruhrpott von den Beamten eines Morddezernats zum Ehrenkommissar ernannt worden war. Er hatte den Kriminalroman gekauft und gelesen. Bis zur letzten Seite. Danach hatte er nur mit dem Kopf geschüttelt. Welcher Teufel hatte die Kollegen da geritten?
Der zornige Held von der Polizei war, wie das Klischee es verlangte, von Frau und Kindern verlassen worden. Er hatte ein Problem mit Alkohol und Vorgesetzten, aber das Herz auf dem rechten Fleck. Unter lauter Trotteln und Speichelleckern stach er einsam hervor durch »gesunden Menschenverstand« und einer Courage, die Jung eher als gefährliche Verwegenheit bezeichnet hätte. Er hauste in einem kaputten Apartment, in dem er ab und zu Damenbesuch aus dem Milieu empfing. Grell geschminkte Weiber, die ihr goldenes Herz hinter einem schrillen Outfit versteckten. Für sie würde es auf der Welt niemals so viel Gewalt und Dreck geben, als dass ihnen ihr angeklebter Mutterwitz und der Glaube an das irgendwo lauernde Gute und Schöne abhandenkamen. Und natürlich hofften sie alle irgendwie, in den Armen des Helden vor Anker gehen zu können.
Rolling home, rolling home to dear oldshit. Was hatte das mit der Arbeit einer Mordkommission zu tun, fragte sich Jung. Auch nur im Entferntesten? Was wollten die Kollegen mit der Auszeichnung dieses Krimischreibers zum Ausdruck bringen? Ermittler mussten in das Bergwerk menschlicher Abgründe einfahren, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Und jedes Mal kamen sie gezeichneter zurück als das Mal davor. Das musste einfach so sein, weil es unausweichlich war. Und wenn man nicht beizeiten damit aufhörte, wurde man krank oder invalid, sogar mit einem gewaltsamen Tod musste man immer rechnen. Er selbst war in Québec dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen.
Jung hegte inzwischen den entsetzlichen Verdacht, dass seine Arbeit ihn vorzeitig verschliss und langsam aber gründlich zermürbte. Seinen Kollegen musste es ähnlich gehen. Den Ehrenkommissar brauchten sie allein aus einem einzigen Grund: den Raubbau zu beschönigen und sich selbst zu bescheißen. Als wäre alles nur halb so schlimm und eigentlich ganz normal. Merkten sie nicht, dass sie ehrten, was sie von Berufs wegen bekämpften und wofür sie sogar ihr Leben aufs Spiel setzten? Was musste denn noch passieren, bis sie das begriffen? War es nicht so? Oder wurde er einfach alt und sah alles nur Schwarz in Schwarz?
Insgeheim gab er zu, dass er sich von finsteren Mächten umstellt sah. Wo er auch hinblickte, überall Schönfärberei, Vorteilnahme, Ausbeutung, Verdrängung, Lügen, Manipulation, gezielte Fehlinformationen, Heuchelei, Durchstechereien, Betrug, Terror und zu allem Überfluss auch noch ein scheinheiliger Bundespräsident, um den sich die Staatsanwaltschaft kümmerte. Infotainment empfand er als eine perfide Verarschung der Öffentlichkeit. Es ging allein um Zerstreuung und Ablenkung, stöhnte er. Immer lauter und ermüdender, immer schneller und banaler, immer widerwärtiger und gewalttätiger. Und die Wirkung war genau so, wie ihre Auftraggeber es brauchten. Sie scheffelten Geld mit vollen Händen. Ihre Gier war unersättlich. Medien und Unterhaltungsindustrie lieferten, was der Markt verlangte. Geld und Quoten, shoppen und ficken. Immer die gleichen dämlichen Ausreden und Entschuldigungen. Aufklärung, Verantwortung, Wahrhaftigkeit? Fehlanzeige!
Jung packte Ekel, wenn er daran dachte. Seine Abscheu wurde von Mal zu Mal größer. Er machte sich Vorwürfe, dass er die da oben, die Mächtigen, die Reichen, zu verachten begann. Das brachte ihn ins Schleudern. Aber zum Glück hielt das nicht lange an. Irgendwann hatte er sich wieder gefangen und atmete durch.
Letztendlich, so sagte er sich, lief alles auf die Frage hinaus, wer stärker war: die Verbrechensbekämpfung oder das Verbrechen. Wer hält am meisten aus, wer hält am längsten durch. Jung fühlte sich hoffnungslos unterlegen, mutterseelenallein, wie ein vom Aussterben bedrohtes Tier. Nachts überfielen ihn Albträume, aus denen er schweißgebadet aufschreckte. Mutlosigkeit und Angst machten ihn müde und schwerfällig. Gern hätte er andere Gründe für seinen Zustand gefunden.
Natürlich wurde er älter. Scheiße, fluchte er lautlos. Er wünschte sich einen Hebel, um Herz und Hirn nach Belieben an- oder abzuschalten. Beruhige dich, raunte er sich zu, werd endlich vernünftig.
Zugegeben, in letzter Zeit hatten ihn Zweifel befallen. Je tiefer er in seinen Grübeleien und Gefühlen versank, desto stärker regte sich in ihm der Gedanke, dass es womöglich ganz allein auf ihn selbst ankam. Jeder Mensch, ob er wollte oder nicht, trug Verantwortung, egal wo und wie er lebte. Das allein machte den Unterschied zwischen Mensch und Tier aus. Davor gab es einfach kein Entrinnen. Nicht die anderen und auch nicht der Kapitalismus, der Kommunismus, der Islamismus und was noch alles an Begründungen für den Zustand der Welt und für das Unbehagen daran herhalten musste. Jeder einzelne Mensch hielt den Schlüssel in der Hand dafür, wie er sich fühlte, ob er sich überflüssig oder nützlich machte, ob er gut gelaunt den Tag verbrachte oder übellaunig durch die Gegend irrte. Er allein und nicht die anderen. Auch nicht die, die er von Berufs wegen jagte, die ihm zu schaffen machten und Probleme bereiteten. Aber auch nicht die, deren Nähe er suchte, auf die er sich freute und die ihn aufheiterten. Alle zusammen saßen sie in einem Boot.
Vom 12. auf den 13., nach ein paar Tagen mit Bauchgrimmen und schlechter Laune, hatte Tomas Jung eine Nacht voller Träume. Er hatte keine genaue Erinnerung daran, nur ein Gefühl, als hätte sich ihm die Lösung aller Rätsel offenbart. Einzig und allein das Datum hatte sich klar und unauslöschlich in sein Gedächtnis eingegraben. Am Morgen danach war sein Bauchgrimmen verschwunden.
*
Tomas Jung stand vom Frühstückstisch auf.
»Es wird Zeit für mich«, murmelte er und sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun.
*
Um die gleiche Zeit wurde Bente Friedrichsen, 32, Fitnesscoach, wohnhaft in Keitum auf Sylt, als vermisst gemeldet. Der Geschäftsführer eines Wellnesshotels im Norden der Insel hatte sie das letzte Mal vor vier Tagen gesehen. Als sie in der Folgezeit nicht zur Arbeit erschien, hatte er versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Seine Bemühungen blieben erfolglos. Schließlich schaltete er die Polizei ein.
Irgendetwas stimmte nicht. Als sie noch klein war, hatte ihr Vater einmal erzählt, dass sich die Seeleute früher geweigert hatten, an diesem Tag auszulaufen. Aber sie war nicht abergläubisch.
Sie stellte den Motor ab und sah nach draußen. Strammer Wind, tiefe Wolken und drohender Regen. Sollte sie überhaupt aussteigen? Sie griff nach dem grauen Schal auf dem Nebensitz. Sie steckte die Nase in die weiche Wolle und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Dann schlang sie ihn um den Hals und stieg aus.
Eigentlich müsste sie guter Laune sein. Stattdessen quälte sie Unruhe. Warum? Am Wetter konnte es nicht liegen. Den ständigen Wechsel waren sie an der Küste gewohnt. Insbesondere auf den Inseln. Gestern noch hatte die Sonne von einem blauen Himmel geschienen. Vormittags hatte sich eine Brise eingestellt, die im Sommer die Hitze angenehm von der Haut fächelt und abends wieder einschläft. Der Rhythmus eines perfekten Sommertages. Die kuschelige Nacht, die dem Tag gefolgt war, kam allerdings seltener vor. Sie hatte den lauen Abend in vollen Zügen genossen.
In der Früh hatte sie der Wind aus dem Schlaf geholt. Sie hörte ihn, wie er über das Dach strich und das Reet zum Sprechen brachte: Nordseewetter. Sie kannte das seit frühester Kindheit. Kein Grund zur Besorgnis.
Wie immer war ihr innerer Wecker pünktlich um halb sieben angesprungen. Sie hatte, wie sie es liebte, ausgiebig geduscht und nicht lange vor dem Spiegel gestanden.
Sie hatte absolut keinen Grund, nervös zu sein.
Für das Frühstück hatte sie sich Zeit genommen. Ein heiliges Ritual. Gemischte Beeren mit Pistazienquark, natürlich gesüßt mit Ahornsirup, nicht mit raffiniertem Zucker. Und kein Kaffee. Kaffee zum Frühstück brachte nur das Säure-Basen-Verhältnis durcheinander und belastete die Energiequellen. Heißes Ingwerwasser oder Früchtetees waren der perfekte Start in einen perfekten Tag. Laufen gehörte dazu. Einzig und allein höhere Gewalt hätte sie davon abbringen können. Nur ein Mann fehlte noch zu ihrem Glück. Aber auch das würde sich über kurz oder lang erledigt haben.
Also: Was war nur los?
Sie hatte ihre Schuhe sorgfältig zugeschnürt und die Haustür hinter sich geschlossen. Danach war sie am Watt entlang zu ihrer Bekannten gelaufen. Heute war ihr gemeinsamer Vormittag. Wie immer freitags. Sie fuhren mit dem Auto raus in den Norden und drehten im Schutz der Dünen ihre Runde. Um diese Zeit waren sie dort unter sich, noch ungestört von den vielen Urlaubern.
*
Am Anfang war sie ihr Fitnesscoach gewesen, gegen Bezahlung. Das Leben, das ihre Freundin geführt hatte, war ungesund. Unreine Haut, Augenringe, stumpfe Haare, schlapper Muskeltonus, leichtes Übergewicht und eine Figur zum Weinen. Die Spuren waren tief und nicht zu übersehen gewesen. Zuerst hatte sie vermutet, dass sie trank oder Tabletten nahm. Am Geld konnte es nicht liegen. Davon war mehr als genug da. Das sah man. Aber sie hatte nicht weiter gefragt. Schließlich wurde sie nicht als Therapeutin bezahlt, sondern als Personal Trainer.
Später hatte sie Claus, den Mann ihrer Klientin, kennengelernt. Einen deutschen George Clooney. Dass er verheiratet war, störte sie nicht. Es machte ihn interessanter. Es war ihr ein Rätsel, was er an seiner Frau fand. Die verdiente ihn eigentlich gar nicht.
Er trug gerne teure Kleidung und modische Schals. Sein gepflegtes Äußeres fand sie ungemein attraktiv. Geschmack und Stil machten sie an, insbesondere bei Männern. Sie malte sich aus, wie schön es sein würde, mit ihm shoppen zu gehen.
Ihr Engagement war größer als sonst. Ihre Klientin folgte den Anweisungen mit großer Disziplin. Sie war verblüfft, aber auch erfreut, wie erfolgreich das Training war. Das Selbstbewusstsein und die Eigenständigkeit ihrer Klientin wurden immer größer. Die neue Kurzhaarfrisur stand ihr viel besser. Ihre Kleidung wurde modisch, jugendlich und teuer. Sie verfolgte das mit gemischten Gefühlen. Einerseits machte es sie stolz, andererseits befremdete es sie.
Nur die merkwürdige Unruhe, die ihre Klientin ausstrahlte, war mit ihrer Verwandlung nicht verschwunden. Woran lag das? Soweit sie das beurteilen konnte, ernährte sie sich gesund, sie rauchte nicht, trank nicht und nahm auch keine Pillen.
Wenig später wurde sie als Coach nicht mehr gebraucht. Aber als nette Begleiterin, ohne Bezahlung. Sie liefen freitags zusammen, tranken hinterher eine Tasse Tee und plauderten ein wenig. Kontrolle konnte nie schaden. Ein schlechtes Gewissen hatte sie nicht.
*
Auch dass sie heute allein unterwegs war, konnte nicht wirklich als Grund gelten. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Laufpartnerin ausfiel. Vielleicht hatte sie ihre Tage? Sie hatte sie zurück ins Haus geschickt. Sie müsse ins Bett. Ausruhen und schlafen. Eine Wärmflasche und ein paar Tropfen rescueremedy1würden nützlich sein. Laufen käme in ihrem Zustand nicht infrage.
*
Sie schloss den Wagen ab, zog den Reißverschluss hoch und die Kapuze über den Kopf. Auf dem Parkplatz stand außer ihrem nur noch ein einziges Fahrzeug. Ein schwarzer, alter japanischer Typ. Hässlich. Den hatte sie noch nie hier gesehen. Saß da jemand hinterm Steuer, oder täuschte sie sich?
Eigentlich war alles so, wie es sein sollte. Nach den Dehnübungen war sie warm. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Es war alles so, wie es sein sollte.
Nach zehn Minuten hatte sie in der Regel ihren Rhythmus gefunden und atmete gleichmäßig. Ihr Lauf war flüssig, ohne Anstrengung, die reine Freude an der Bewegung. Sie hätte ihre Uhr danach stellen können. Sie checkte die Zeit. Acht Minuten. Sie lief zu schnell. Sie sah sich um. Der Wind quälte den Strandhafer und trieb Sand vor sich her. Wie mit feinen Nadeln stach er auf der Haut. Sie zog die Ärmel über die Hände. Zum Glück hatte sie den Schal. Sie beugte den Kopf und sog den Duft ein. Als sie ihn wieder hob, bemerkte sie eine flüchtige Bewegung in den Dünen. Was war das? Bilder schossen ihr durch den Kopf. Bilder aus ›Die fünfte Frau‹, einem Krimi, den sie neulich im Fernsehen verfolgt hatte.
Jetzt war sie an der Schutzhütte. Der Unterstand war leer. Bis hierhin war ihr noch kein Mensch begegnet. Von der Straße wehten Autogeräusche herüber. Wie immer, beruhigte sie sich.
Nach 15 Minuten sollte sich eigentlich einstellen, was ihr Lehrer als wahres Geheimnis des richtigen Laufens bezeichnet hatte: Sie laufen leicht, locker, lächelnd. Ihr war nicht zum Lächeln.
Im Dünengras lag der Kadaver einer Möwe. Von Aasfressern übel zugerichtet. Sie stolperte. Sie sah sich um und konnte nicht erkennen, worüber. Wann war ihr das jemals zuvor passiert?
25 Minuten waren um. Gewöhnlich ging es ihr dann so, als könne sie bis ans Ende der Welt weiterlaufen. Sie sah auf die Uhr. Wo blieb die Euphorie?
Akzeptiere, was dein Körper dir sagen will, redete sie sich ein. Heute ist nicht sein Tag. Er hat einfach keine Lust. Lauf zurück und mach Schluss.
Vor ihr kam die Schutzhütte wieder in Sicht. Danach war es nicht mehr weit. Sie steigerte das Tempo. Als sie den Unterstand passierte, registrierte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Wie vorhin. Sie zuckte zusammen. Die Angst überschwemmte sie wie eine Flutwelle.
1 Notfalltropfen
Das Spritzwasser von der Straße verschmierte die Frontscheibe. Er fluchte leise und drückte den Hebel der Scheibenwaschanlage. Was für ein Wetter? Alles andere, nur kein Sommer. Der schien im April stattgefunden zu haben. Der Wonnemonat danach war allein für Landwirte erfreulich. Mai kühl und nass füllt dem Bauern Scheune und Fass. Sie freuten sich zu früh. Im Juni, Juli und jetzt auch im August konnte von Sonne und Wärme keine Rede sein. Mit Ausnahme der letzten Woche. Eine der seltenen mit ein paar sonnigen Tagen. Aber sonst? Von einigen spärlichen Unterbrechungen abgesehen, nichts als Regen, Wolken und Wind. Mein Gott, stöhnte er, waren das etwa die Vorboten des viel beschworenen Klimawandels? Er schüttelte unwillig den Kopf und trat aufs Gas.
Lastete er dem Wetter an, wofür es eigentlich gar nichts konnte? Auch früher waren die Sommer hier oben im Norden dann und wann trostlos gewesen. In Wahrheit war er einfach nur übellaunig, gestand er sich ein. Insbesondere seit dem japanischen Inferno ließen ihn seine Beklemmungen nicht mehr los. Cara hatte in Japan eine Wohnung gefunden und einen Job angetreten, als der Supergau von Fukushima ihre Hoffnungen jäh zunichtemachte. Während eines der schweren Nachbeben tobte, hatte er seine Tochter am Telefon gehabt. Als die Verbindung abbrach, musste er fürchten, ihre Stimme zum letzten Mal gehört zu haben. Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er konnte nichts tun. In seiner Hilflosigkeit telefonierte er mit Botschaften, Konsulaten, dem Auswärtigen Amt und Fluggesellschaften. Er schickte SMSs mit Infos, Telefonnummern, E-Mail-Adressen von Hilfsorganisationen und sorgte für Kredit auf ihrem VISA-Konto. Als sie den Empfang quittierte, atmete er auf. Aber nur vorübergehend. In der Folgezeit eskalierten die Horrornachrichten und wurden immer bedrückender.
Am Ende gelang Cara die Flucht aus dem Wahnsinn. Nach einer Odyssee um die halbe Welt hatte Jung sie am Hamburger Flughafen in die Arme geschlossen. Er war dankbar, dass Clemens sich angeboten hatte, ihn zu begleiten und sie zurück nach Hause zu chauffieren. In Neumünster war Cara eingeschlafen. Als sie zu Hause angekommen waren, musste er sie gewaltsam wecken. Seitdem hielt Jung eine Mischung aus Wut und Angst gefangen. Die Phasen voller Dankbarkeit und Erleichterung änderten daran nichts.
*
Seinen Weg zur Bezirkskriminalinspektion auf Norderhofenden hätte er inzwischen im Schlaf gefunden. Die Vertrautheit beruhigte ihn. Flensburgs Verkehr war problemlos. Nur die dänischen Autofahrer sorgten gelegentlich für Aufregung.
»Moin, Petersen«, begrüßte er den Wachhabenden am Aufgang zum Treppenhaus.
»Moin, Herr Oberrat. Wie geht’s der Schulter?«
»Gut. Wird schon wieder.«
»Hauptsache, Sie können Auto fahren.«
»Finden Sie? Es gibt da auch noch ein paar andere Kleinigkeiten, für die ich meinen Arm brauche.«
Sie lachten, und Tomas Jung verschwand im Treppenaufgang zu seinem Büro.
Er schloss die Tür hinter sich, öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. Es lag lange zurück, dass er sich über die armselige Ausstattung seines Arbeitszimmers aufgeregt hatte. Inzwischen hatte er schätzen gelernt, sich hier besser konzentrieren zu können als irgendwo sonst. Allein auf den Blick aus dem Fenster hätte er nicht freiwillig verzichten mögen. Sogar heute. Unter dem grauen Himmel lag das Wasser im Hafenbecken wie flüssiges Blei. Der Mastenwald am Ostufer verschwamm im Dunst. Weiter draußen, am Harniskai, ragten die riesigen Silos der Raiffeisengenossenschaft in den trüben Himmel. Der spitze Turm von St. Jürgen, hoch oben über dem Ostufer, war gerade noch auszumachen. Aber man musste schon wissen, wo er zu finden war.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seiner Andacht. Normalerweise wartete er stumm, bis der Besucher die Tür geöffnet hatte. In aller Regel kannte er seine Besucher, und sie kannten ihn und seine Gewohnheiten. Es klopfte noch einmal.
»Ja«, rief er laut.
Sein Chef betrat den Raum und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. Tomas Jung stutzte. Das erlebte er zum ersten Mal, seit er in Flensburg seine Arbeit aufgenommen hatte. Nur bei seiner Ernennung zum Leiter des S-Kommissariats, dem Dezernat für unaufgeklärte Kapitalverbrechen, hatte es eine Ausnahme gegeben.
»Moin, Jung. Wie geht’s der Schulter?«, begrüßte ihn der Leitende. Die Anteilnahme in seiner Stimme machte Jung unsicher. Zugleich amüsierte es ihn, dass Holtgreve zu den gleichen Worten griff wie vorhin Petersen. Nur ohne Titel. Er wiederholte seine Antwort.
»Darf ich mich setzen?«
»Bitte«, erwiderte Jung verwundert. Es war nicht Holtgreves Art, um etwas zu bitten.
»Was führt Sie zu mir?«, kam Jung zur Sache.
»Zuallererst will ich mich nach Ihrer Genesung erkundigen. Als wir hörten, was passiert war, befürchteten wir schon das Schlimmste. Schrecklich. Sie haben uns ganz schön Angst eingejagt, Jung.«
»Tut mir leid. Es geht mir gut. Danke der Nachfrage.«
»Der Mann wird übrigens demnächst vor Gericht kommen.«
»Und wie lautet die Anklage?«, fragte Tomas Jung skeptisch.
»Mord und versuchter Mord.«
»Hat er ein Geständnis abgelegt?«
»Nein. Er schweigt wie ein Grab.«
»Ein guter Strafverteidiger könnte die Anklage auseinandernehmen wie …«
»Er hat keinen Anwalt«, unterbrach ihn Holtgreve.
»Was?«
»Er wird pflichtverteidigt. Einen eigenen Verteidiger hat er abgelehnt.«
Tomas Jung lehnte sich zurück und starrte gegen die Decke. Er wollte sich nicht weiter dazu äußern.
»Was sagen die Ärzte?«, kam Holtgreve zurück zum Ausgangspunkt.
»Nichts«, erwiderte Jung lakonisch.
»Nichts?«
»Ich gehe nicht mehr hin. Ich glaube, es läuft auch so. Ich habe ein gutes Gefühl.«
»Na schön. Aber seien Sie vorsichtig und überlasten Sie sich nicht.«
»Zurzeit sehe ich nicht, dass ich in Gefahr bin«, erwiderte Jung und lächelte versonnen.
Holtgreve lachte. Tomas Jung konnte sich nicht erinnern, ihn jemals zuvor auf diese Art lachen gehört zu haben.
»Haben Sie etwas für mich?«, fragte er vorsichtig.
»Ja. Das ist mein zweiter Punkt.« Holtgreve machte eine Pause und sah Jung zweifelnd in die Augen.
»Ich würde mich über Arbeit freuen«, kam Jung ihm entgegen.
»Schon gut. Das glaube ich Ihnen gerne.« Holtgreve schwieg, als müsse er sich sammeln.
»Wie lange arbeiten wir eigentlich schon zusammen?«, fragte er unvermittelt.
Hatten sie überhaupt jemals zusammengearbeitet?, überlegte Tomas Jung. Laut sagte er:
»Ich habe die Jahre nicht gezählt. Aber es müssen viele sein.«
»Richtig. Höchste Zeit, dass wir zumDuübergehen, oder?«
Tomas Jung wollte spontan Nein sagen, bremste sich aber rechtzeitig und antwortete:
»Okay. Ich heiße Tomas.«
»Henning«, erwiderte Holtgreve und reichte ihm die Hand über den Schreibtisch. Das zweite Mal an einem einzigen Tag nach Jahren körperloser Unverbindlichkeit. Was war nur in seinen Chef gefahren?
»Wir müssen das begießen«, fuhr Holtgreve munter fort und sah auf die Uhr. »Noch ein bisschen zu früh. Ich hol dich zum Mittagessen ab. Okay?«
»Gern«, antwortete Jung, ohne eine Miene zu verziehen. Auf was durfte er sich noch gefasst machen?
»Bevor ich dich mit etwas Neuem betraue, habe ich eine Bitte. Ich brauche für den Innenminister einen detaillierten Bericht über die Ereignisse in Québec. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass einer meiner Leute im Dienst sein Leben verliert.«
»Fast.«
»Ja. Natürlich. Entschuldigung.«
»Kein Problem. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Noch etwas?«
»Nein«, erwiderte Holtgreve fahrig. »Wir besprechen alles Weitere später. Bis dann.«
*