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Öland brennt. Eine Serie von Brandstiftungen und brutalen Morden erschüttert Öland. In den Augen der meisten gibt es nur einen Verdächtigen: Jorma Brolin, Tischler, Hufschmied und Ölands unumstritten stärkster Mann, den hier jeder fürchtet. Doch der Polizei mangelt es an Beweisen. Die schöne Anwältin Alasca Rosengren übernimmt widerwillig Jormas Verteidigung. Auch sie hat etwas zu verbergen und verstrickt sich immer mehr in sein Netz aus Lügen und geschickter Manipulation. Eine Geschichte von Liebe, Schuld, Gier und der Sehnsucht nach Heimat. Sylvia B. Lindström, die seit vielen Jahrzehnten auf Öland lebt, erzählt eine Geschichte von Liebe, Schuld, Gier und der Sehnsucht nach Heimat.
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Seitenzahl: 418
Öland brennt
Eine Serie von Brandstiftungen und brutalen Morden erschüttert Öland. In den Augen der meisten gibt es nur einen Verdächtigen: Jorma Brolin, Tischler, Hufschmied und Ölands unumstritten stärkster Mann, den hier jeder fürchtet. Doch Polizei mangelt es an Beweisen. Die schöne Anwältin Alasca Rosengren übernimmt widerwillig Jormas Verteidigung. Auch sie hat etwas zu verbergen und verstrickt sich immer mehr in sein Netz aus Lügen und geschickter Manipulation. Eine Geschichte von Eine Serie von Brandstiftungen und brutalen Morden erschüttert Öland. In den Augen der meisten gibt es nur einen Verdächtigen: Jorma Brolin, Tischler, Hufschmied und Ölands unumstritten stärkster Mann, den hier jeder fürchtet. Doch Polizei mangelt es an Beweisen. Die schöne Anwältin Alasca Rosengren übernimmt widerwillig Jormas Verteidigung. Auch sie hat etwas zu verbergen und verstrickt sich immer mehr in sein Netz aus Lügen und geschickter Manipulation. Eine Geschichte von Liebe, Schuld, Gier und der Sehnsucht nach Heimat.
Sylvia B. Lindström
Inselfeuer
Ein Öland-Krimi
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Nichts
Gefährliche Geheimnisse
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Rabenschwärze
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
Muttersöhne
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
Schattenspieler
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
Unschuld
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Alles
Über Sylvia B. Lindström
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Für Louise
mit Dank für Freundschaft
und all die langen Gespräche
Nichts konnte ihn zum Reden bringen. Mit Polizisten plauderte man nicht. Das war sein oberstes Gebot, das erste, was er seine Schützlinge stets lehrte. Im Polizeiverhör war Reden stets ein Risiko. Er selbst verhörte niemanden. Stattdessen hörte er beharrlich zu. War Seelsorger, Beichtvater, Mentor und Verteidiger. Das brachte ihm Probleme ein. Seit es auf Öland wieder brannte, wusste die Polizei wie gewöhnlich zu wenig, und Stellan wusste wieder einmal zu viel.
Zehn Jahre nach Harald Nelssons Tod ging erneut die Angst im Norden Ölands um. Wer damals beim Prozess die Polizeifotos der verkohlten Leiche gesehen hatte, der konnte diesen Anblick kaum jemals vergessen. Mangel an Beweisen. Das Gericht hatte den Angeklagten frei gesprochen. Auf Nordöland sah man die Sache anders. Doch niemand konnte ewig in der Vergangenheit leben, und allmählich begann Gras über die Geschichte zu wachsen. Dann hatte es erneut gebrannt. Zuerst eine Scheune. Danach ein Lagerschuppen. Zuletzt ein neu gebauter Schweinestall. Am Abend zuvor hatte der Bauer die ersten Sauen in die neuen Abferkelboxen gebracht. Sie waren nicht mehr zu retten gewesen. Ihre nächtlichen Schreie in Todesangst hatten wie menschliche Stimmen und zugleich wie eine Warnung geklungen, das Vergangene nicht zu vergessen. Denn die Gefahr war keinesfalls gebannt. Die Fotos der verkohlten Schweinekadaver im Ölandsblatt sprachen ihre eigene Sprache: Der Feuertod war grausam und qualvoll.
»Ich bin unschuldig, Balkan. Ehrlich. Ich hab nichts getan.« Stellan seufzte. Der Text war ihm inzwischen allzu gut bekannt. Schuld und Unschuld bedingten einander. Gut und Böse waren ineinander verwoben. Das Menschsein war beklagenswert und Trauer der Schatten der Liebe.
Stellan B. Qvist: Ließ sein Licht an beiden Seiten brennen. Hatte das meiste bereits gehört. Wunderte sich immer weniger. Verurteilte niemanden. Verteidigte die Opfer in den Tätern. Nicht die Taten. Die waren oft abscheulich. Wer in der Klemme steckte, für den war Qvist stets da. Bürozeit: vierundzwanzig Stunden täglich. Das Untersuchungsgefängnis von Kalmar war sein zweites Zuhause. Seinen Stammklienten war das bekannt. Er urteilte nicht. War stets um sie besorgt und wollte ihr Bestes. War einer von ihnen und lebte für sie.
Als Mensch konnte er wagemutig sein, als Anwalt listig und verschlagen. Als Mann hingegen war er zaghaft. Schwieg an der falschen Stelle. Kuschte. Gab nichts preis.
Der Frau, die er liebte, hatte er die Wahrheit niemals anvertraut. Das schien ihm ein zu großes Wagnis zu sein. Er hatte das Kunststück vollbracht, sich gegen alle Vernunft in sie zu verlieben. Wenn er liebte, dann liebte er sehr. Das konnte jedoch niemand wissen. Folgerichtig hatte er eine andere geheiratet. Eine, die (wie die meisten Frauen) Geld begehrte und ihn oft herzlos behandelte.
Schweigen war Gold. Liebe war Trauer, und er sah ein: Gold und Liebe hatten eben einen hohen Preis.
STORM13 hatte seinen Rechner heruntergefahren und rückte sich in seinem Schreibtischstuhl zurecht. Er hatte alles bestens eingefädelt. Nur selten bekam man im Leben zweimal fast dieselbe Chance. Die Thermoskanne auf dem Schreibtisch war mit heißem Glögg gefüllt. Zwei Becher und eine Schale mit Mandeln und schwarzen Rosinen standen bereit. Adventsduft im September. Sein eigenes, privates Weihnachten begann in dieser klaren Vollmondnacht. Er hielt den Atem an und lauschte. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer hatte er nur angelehnt, damit er ihre Schritte hören konnte.
»Komm nur herein! Genier dich nicht!«
Er spürte, wie sie leise und zögernd sein halb erleuchtetes Zimmer betrat. Er drehte sich kaum zu ihr um. Er wollte möglichst gleichmütig wirken.
»Bravo, du bist also beim Friseur gewesen! Nimm dir einen Stuhl und setz dich zu mir!«
Sie nickte verlegen.
»Braves Kind. Der hier ist deiner.« Er reichte ihr den warmen, zusammengefalteten Tausendkronenschein, den er bereits eine Weile lang in seiner Hand gehalten hatte.
»Aber … ich habe doch schon …«
»Unsinn, Kleines. Der erste Schein war für den Friseur. Blond steht dir besser, das wusste ich. Der zweite Tausender ist für dich. Damit du siehst, es lohnt sich, wenn man ein braves Mädchen ist.« Sein selbstzufriedenes Lachen klang wie das Meckern einer Ziege, doch das Mädchen stimmte nicht mit ein. »Zier dich nicht! Es trifft ja schließlich keinen Armen!«
»Danke«, sagte sie und griff rasch nach dem Schein. Dann saß sie stumm da. Er gab sich Mühe, nicht enttäuscht zu sein. Vermutlich war sie so einsilbig, weil sie schüchtern war. Sie war ja noch so jung.
Er legte seine große, fleischige Hand mit den braunen Altersflecken auf ihren schmalen, festen Oberschenkel. Er hatte einmal schöne Hände gehabt. Das war lange her. Seine Hände waren inzwischen aufgeschwemmt und unförmig wie sein Körper. Dafür hatte er andere Vorzüge, die ein junges Mädchen zu schätzen wissen sollte.
»Trinkst du Glögg?«
»Äähh!« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich weiß nicht recht.« Dass sie nicht nur zugeknöpft, sondern offenbar auch schlecht erzogen war, begann ihn zu irritieren.
»Ach, was. Probier’s! Ist fast kein Alkohol drin.« Er schenkte ihr mit leicht zitternder Hand einen Becher ein. »Komm schon! Wenigstens ein paar Schlucke. Es ist lieb von dir, dass du mir helfen willst mit diesem Internet. Für deine Generation ist das alles so leicht und selbstverständlich.«
»Ja, das ist wirklich nicht so schwer«, sagte sie.
»Sagst du, Mädchen!« Er tätschelte ihr leicht die Hand, stellte den Computer an und prostete ihr zu. Sie nippte vorsichtig. Sicher mäkelte sie zu Hause auch am Essen herum. Damals. Die Löwin. Seine Löwin. Die hatte wirklich Stil gehabt und war nicht nur in diesem Punkt von anderem Kaliber. Doch das war lange her. Man konnte nicht alles haben, und es war ungerecht, die erste Klasse mit der zweiten zu vergleichen.
»Komm schon, Mädchen.« Er bemühte sich um einen leichten und jovialen Ton. »Süßes für ein süßes Ding. Und zum Glögg gehört’s nun mal dazu. Da ist ja Google. Und nun gib bitte ein: Flashback/Nordöland/wie lange geht die Angst noch um? Hast du das?« Sie tippte hurtig wie eine Sekretärin. Den jungen Leuten lag dieses neue Medium wirklich im Blut. Sein Computer war langsam, ein älteres Modell. Während sie warteten, kauerte sie wieder stumm auf ihrem Stuhl. Im Profil betrachtet sah sie immer etwas mürrisch aus. Sie lächelte selten. Er wusste nicht, ob sie verstört oder einfach nur träge und maulfaul war. Vermutlich war es eine Kombination aus beidem. Furcht und etwas Taschengeld würden sie irgendwann schon in seine Arme treiben.
»Flashback. Na bitte, gut gemacht. Das klappt ja prima. Lass uns ein bisschen gemeinsam lesen. Das hier geht uns ja schließlich alle etwas an. Auch dich und mich.« Er rückte etwas näher an sie heran. »Hast du Angst?«
»Nein«, sagte sie mit belegter Stimme.
»Brauchst du auch nicht. Du hast ja mich. Sieh mal. SPINNE hat sich ausgelassen. Und Rock ’n’ Roll ist eingeloggt. Und da! Ein Beitrag von STORM13. Der scheint immer gut informiert zu sein. Hör mal, was er schreibt.« Dann begann er, ihr mit gewichtiger Stimme vorzulesen, was er kurz zuvor in Gedanken an sie verfasst hatte: »Auf Nordöland lebt es sich gefährlich, und wer nicht aufpasst, der wird eines Tages auf dem Scheiterhaufen enden. So lange sich der Täter auf freiem Fuß befindet, sind alle in Gefahr. Der letzte Brand hat uns gezeigt: Er schreckt vor nichts zurück. Schweine, heißt es, sind horizontale Menschen. (Oder– wem das besser gefällt: Menschen sind senkrechte Schweine.) Nicht nur die Todesschreie, auch die Organe von Mensch und Schwein sind einander ungeheuer ähnlich. Eine Schweineniere lässt sich in einen Menschenkörper transplantieren. Das Sozialverhalten, die tägliche Toilette und vor allem das Verhalten beim Vorspiel zur Paarung und beim Sexualakt beweisen: das Schwein ist außerordentlich menschlich. Oder ist der Mensch ein Schwein? Nordöländer! Seid auf der Hut. Es wird schlimmer kommen!«
An jenem frühen Morgen, an dem Jorma Brolins kompakte Gestalt unerwartet in der Öffnung der Stalltür erschien und diese vollständig ausfüllte, stand Alasca Rosengren bei ihren Pferden und dachte an den Tod. Die beiden alten Stuten hatten müde Augen, ihr Fell war mittlerweile stumpf. Auf ihre Senkrücken passte kein Sattel mehr. Die Fuchsstute Rosanne und die braune Bella, die Fohlen ihrer Kindheit, waren inzwischen beide fünfundzwanzig Jahre alt. Alasca ritt sie nicht mehr. Solange ihr Lebenswille ungebrochen war, sollten die beiden Pferde ihr Gnadenbrot bei ihr in Ormöga bekommen.
Wo waren all die Jahre? Nun war ihre Großmutter mit achtundneunzig Jahren die älteste Bewohnerin des Dorfes. Sie hütete all die Geheimnisse von gestern, an die sich außer ihr längst niemand mehr erinnern konnte. Kristian war zwölf und würde demnächst schon niemandes Kind mehr sein. Sie verstand das nicht, vor allem, da sie sich selber noch nicht recht erwachsen fühlte. Das war bislang kaum notwendig gewesen. Hier, in Ormöga, hatte ihre Großmutter sich immer um alles Praktische gekümmert. Das Leben, das ihr in ihrem beruflichen Alltag so viel raue Wirklichkeit vor Augen führte, hatte sich seit ihrer Rückkehr ins Dorf fast wieder in die vertraute Welt ihrer Kindheit verwandelt, in der ihre Großmutter am Küchenfenster stand, ihr morgens nachwinkte und abends in der Küche mit dem Essen auf sie wartete. Im Alvar, das das graue Dorf umgab, war die heilige Stille noch immer dieselbe, der Himmel noch genauso mächtig. Am Ufer des Sundes blieb man immer klein. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Das, was sie nicht erinnern wollte, hatte sie verdrängt, und was sich nicht verdrängen ließ, spornte sie nun beruflich an.
Die Stalltür klemmte, und Jorma Brolin schloss sie mit einem heftigen Ruck. Die Stuten zuckten zusammen.
»Mojn«, murmelte er, stand da mit halboffenem Mund wie bestellt und nicht abgeholt und blickte zu Boden. Sein voluminöser Körper umhüllte ihn wie eine wattierte Montur, in der er sich nur langsam und unbeholfen bewegen konnte. Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Sein kahler weißer Kopf ragte nackt und fremd aus den blauen Arbeitskleidern und der dunkelblauen Daunenweste. Als er jung war, hatte er weißblondes, dünnes Haar gehabt, doch er war wie sein Vater Alrik zeitig kahl geworden, was ihm ein brutales Aussehen verlieh. Seine Haut war selbst im Sommer blass. Die kleinen, farblosen Augen lagen tief in seinem Schädel und verbargen sich dicht beieinander. Wer ihn nicht kannte, hätte sich leicht vor ihm fürchten können, und auch allen, die ihn kannten, machte er allmählich wieder Angst.
Drei Brände im Laufe des vergangenen Jahres sprachen ihre eigene Sprache. Brandursache unbekannt, hieß es laut Polizei. Doch damit speiste man die Leute hier nicht ab. Denn dass Nordöland den Festlandpolizisten allzu abgelegen und der Weg dorthin zu lang erschien, das war allgemein bekannt.
Alasca und ihre Großmutter bildeten, was die Vorverurteilung Jorma Brolins betraf, eine Ausnahme im Dorf und seiner näheren Umgebung. Borghild schenkte Gerede niemals Glauben. Sie hatte Jorma aufwachsen sehen und nannte ihn noch immer einen armen Jungen. »Ein Kind, das niemand liebt, muss in die Irre gehen«, konnte sie sagen, wenn von Jorma die Rede war, ohne näher zu erklären, was unter dieser Irre zu verstehen war. Alasca schien es oft, als ob ihre Großmutter einzig aus Anstand Jormas Partei ergriff. Was Borghild wirklich von ihm hielt, war schwer zusagen. Jorma benahm sich ihnen gegenüber immer fair, doch vielleicht war es gerade das: Je mehr Mühe er sich gab, desto schwerer war es, ihn zu mögen.
Er war immer so gewesen: seiner Natur nach überall im Wege, einen Raum einnehmend, der ihm auf dieser Welt nicht zuzustehen schien. In seiner Nähe war es niemals völlig still. Man hörte ihn stets atmen; ein leises, dennoch aufdringliches, nasales Schnaufen. Er konnte nichts dafür. Dennoch war es ein irritierendes Geräusch. Die aufdringlichen Atemzüge eines korpulenten Menschen. Seine einhundertzwanzig Kilo verteilten sich auf eine Körperlänge von knapp einem Meter achtzig; ein guter Teil davon als reine Muskelmasse. Er war ohne jede Frage Ölands stärkster Mann.
»Alles so wie’s sein soll?«, murmelte er, und beide wussten, dass er kein Talent für Smalltalk hatte. Außerdem war es dafür zu früh. Kaum fünf Uhr. Um diese Zeit machte man keine Stippvisiten. Die frühen Morgenstunden im Pferdestall waren für Alasca ein friedvoller Start in einen neuen Tag mit aufreibenden Gerichtsverhandlungen oder Polizeiverhören, bei denen weinende Frauen und verstörte Kinder mit ihrem Beistand rechneten.
Jorma war noch nie unangemeldet bei ihr vorbeigekommen. Bei den Dorfnachbarn konnte das durchaus geschehen. Da tauchte er mit seinem Werkzeugkoffer auf, redete stockend belangloses Zeug, das niemanden interessierte, bis man vorgab, etwas Dringenderes erledigen zu müssen. Aber er ließ sich nicht so leicht abwimmeln. Und etwas stand ja schließlich immer an. Er hobelte also eine klemmende Tür ab oder setzte irgendein Fenster ein. Er war ein guter und geschickter Tischler und in der Arbeit flinker und behänder, als man es ihm auf den ersten Blick zutraute.
Im Dorf war man dennoch seit langem vorsichtig geworden, ihm größere Tischleraufträge zu erteilen. Da war zum einen diese alte Sache. Und zum anderen hatte er bereits allzu viele Schulden abzuarbeiten. Vorschüsse für kommende Aufträge, wie er sie nannte. Nach jedem neuen Brand war er stets der erste, der sich als Tischler und Zimmermann für den Wiederaufbau anbot. Es war gefährlich, nein zu sagen, und schien kaum weniger riskant, ihn arbeiten zu lassen. Er war fleißig, das war sein ganzes Kapital. Geld hatte er nie. Es rann ihm offenbar durch die Finger, noch ehe er es in der Hand gehalten hatte. Dafür hatte Yvonne seit jeher gesorgt.
»Die Zähne«, sagte er, nickte in Richtung der beiden alten Pferde und sah an ihr vorbei. »Wohl bald mal wieder an der Zeit?«
Jorma raspelte jedes Frühjahr die Zähne der Stuten. Früher, als sie noch geritten wurden, hatte er sie auch beschlagen. Doch nun brauchten sie keine Eisen mehr.
»Das eilt nicht. Mitte März.« Alasca bemühte sich um einen unangestrengten Ton. »Wie jedes Jahr.«
»Ja, so.« Er streckte seine Hand nach Bella, dem ruhigeren der beiden Pferde, aus und klopfte ihr abwesend den Hals. »Irgendwann ist Schluss mit lustig. Keine Pläne für ein neues, junges Pferd?«
»Kaum. Zu viel Arbeit und zu wenig Zeit. Als Kind habe ich ja von einem schwarzen Hengst geträumt, mit dem ich über das Alvar galoppiere. Aber daraus wird wohl erst was, wenn ich irgendwann im Rentenalter bin!«
»Ja, so«, machte er erneut. »Träume. Kenn ich. Von Yvonne. In ihrem Fall ist es ein Whirlpool. Und ein Fitnessraum. Frauen wollen immer schlank und fit sein, nehm ich an.«
Alasca schwieg. Er hatte sich in voller Breite vor ihr aufgebaut und starrte sie mit seinen kalten, kleinen Augen an. Sie wäre ihn gern losgeworden.
»Ich dachte – an ein bisschen Vorschuss«, brachte er zwischen den Zähnen hervor. »Für alles, was in Zukunft noch so ansteht … Den Rest zahl ich dann, wenn ich kann, zurück.«
Alasca zog einen zerknitterten Fünfhundertkronenschein aus der Tasche ihrer Jeans. Er griff danach und ließ ihn augenblicklich in seiner Westentasche verschwinden. Dann schüttelte er seinen Kopf.
»Reicht leider nicht.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte sie leicht irritiert.
Er räusperte sich und trat ein wenig auf der Stelle. »Ich bräuchte eine Summe mit ein paar Nullen mehr am Schluss.«
»Fünfzigtausend? Das kann nicht dein Ernst sein!«
Er zuckte schleppend mit den Achseln.
»Jorma«, sagte sie. »Hör mal, das ist leider ausgeschlossen. So viel Geld verdiene ich nicht.«
»Aber Balkan, der ist reich. Das weiß ich!«, wandte er ein und verbesserte sich rasch. »Ich meine Stellan. Qvist. Den Anwalt. Der mich damals verteidigt hat. In dieser dummen Sache, an der ich unschuldig war. Der war jedenfalls mächtig gut bei Kasse.«
»Mag sein.« Alaska tat einen Schritt zurück. Sein Gesicht war nackt und blank, und seine weiße Stirn glänzte im kalten Licht des Stalles. Was dachte sich Borghild nur? Dieser Mann war kaum ein »armes Kind«; er wirkte eher wie ein in die Enge getriebenes Tier. Es war sonderbar, dass er nun selbst das Thema ansprach, das er bislang nie auch nur mit einem Wort erwähnt hatte. Nur die anderen redeten davon, selbstverständlich nie in seiner Gegenwart.
Als Jorma vor zehn Jahren verhaftet worden war, war der mutmaßliche Mord an Harald Nelsson in der Gegend Thema Nummer eins gewesen. Harald war in seinem Haus verbrannt. Jeder wusste, dass er, wie so viele alte Leute, der Ölandsbank nicht traute und sein Bargeld unter der Matratze aufbewahrte. Manche hatten von einer halben Million geredet, manche von bedeutend mehr. Für die meisten hatte kein Zweifel daran bestanden, dass Jorma schuldig war. Er war bei Harald ein- und ausgegangen und wusste, wo das Bargeld lag. Er hatte kurz zuvor geheiratet, wollte bauen, glaubte, Haralds Hof zu erben. Dass für seine Schuld lediglich Indizien sprachen, es jedoch keine Beweise gab, hatte damals im Dorf niemanden interessiert. Stellan Qvist hatte als Verteidiger ein relativ leichtes Spiel gehabt. Das Gericht hatte Jorma freigesprochen. Es mangelte an technischen Beweisen. Schuldig, lautete das Urteil auf Nordöland. Jorma wusste das. Er musste merken, wie die Gespräche stets verstummten, sobald er in die Nähe kam. Viele im Dorf schlossen seitdem abends ihre Türen ab.
»Damals fuhr Qvist einen Ferrari, er hat mich einmal mitgenommen. Nun fährt er Porsche, soviel ich weiß. Und seine Villa in Borgholm – direkt am Wasser. Auch nicht direkt ’ne Wellblechhütte. Du hast, was das betrifft, wohl einen anderen Stil. Nach außen hin bescheidener. Aber ihr seid ja beide Anwälte, tut ja ungefähr das gleiche, er und du.«
»Qvist ist Strafverteidiger, ich fast immer Anwältin der Nebenklage. Das ist ein himmelweiter Unterschied«, sagte sie betont geduldig. »Als Strafverteidiger kann man berühmt und vermögend werden. In meinem Fach ist das bei weitem nicht der Fall.«
»Begreif ich nicht«, sagte er dumpf.
»Ganz einfach: Qvist vertritt vor Gericht die Täter, ich die Opfer. An der Seite des Staatsanwaltes. Schadensersatzforderungen haben nicht denselben Nimbus wie die Arbeit eines Strafverteidigers. Und werden oft auch schlechter bezahlt.«
»Die Opfer vertrittst du?«, fragte er verständnislos. Sein Atem rasselte ein wenig schneller.
»Wenn du so willst, vertrete ich die Guten, Qvist die Bösen. Das ist immer spektakulärer«, erklärte sie und begriff zu spät, was sie damit angedeutet hatte.
»Ich war unschuldig!«, stieß er ärgerlich hervor. »Ich wurde von allem freigesprochen. Hatte nichts getan.«
»Natürlich«, sagte sie. »Ich weiß. Außerdem ist Stellan ein geschickter Anwalt. Und auf seine Art ein guter Mensch.«
»Davon hab ich keine Ahnung«, sagte Jorma und wandte sich abrupt zum Gehen. »Hab dich jedenfalls verstanden. Alles klar. Ganz wie du willst.«
Er riss mit einem harten Ruck die Tür auf und verschwand dann draußen in der Dunkelheit.
Morgenstund hat Gold im Mund. Das war für Borghild immer so gewesen. Obwohl sie nichts mehr dazu zwang, stand sie noch immer gern in aller Frühe auf. Während sie Kaffee kochte, sah sie zu Alascas Annex hinüber. Auch dort brannte zu dieser Zeit für gewöhnlich bereits Licht. Den Kaffee trank sie in der guten Stube im abgewetzten Ohrensessel, ihrem Stammplatz seit ewiger Zeit.
Sie nahm einen ersten Schluck, den besten des ganzen Tages, stellte dann die Tasse auf den Schemel neben dem Sessel ab und lehnte sich zurück. Zu dieser frühen Stunde konnte sie zuweilen wieder seine Stimme hören. Sie war noch immer jung. »Das schönste Mädchen Ölands«, hörte sie ihn sagen, »… wird das schönste Mädchen Ölands sein.« War sie damit gemeint?
Ihr Leben verwandelte sich langsam in einen Traum. Womöglich bewegte sich die Zeit in einem großen Kreis. Wer der Erschöpfung trotzte und nicht mutlos wurde, kam am Ende wieder dort an, wo alles begonnen hatte. Sie liebte ihn. Das war letztlich das, woran sie sich am besten erinnern konnte.
»Karl?«
Sein Gesicht schwebte nun über ihrem. Seine dunklen Augen waren wie immer wach und sein Lächeln verschmitzt und freundlich.
»Aber Mormor! Bist du wieder eingeschlafen? Hier kommt dein neues Ölandsblatt!« Er warf ihr die Zeitung in den Schoß. Sie setzte sich auf, und nun erinnerte sie sich: Das Ölandsblatt erschien noch immer dreimal in der Woche. Dienstags, donnerstags und samstags. Das Gehäuse der Zeit, in dem sie sich verfangen hatte, ruckelte, und alles fiel an seinen angestammten Platz.
Es war Dienstag, und es war September 2007. Kristian nannte sie Mormor, Großmutter, obwohl sie seine Urgroßmutter war. Sie war sein Lebensmensch, und einzig das verpflichtete sie noch der Gegenwart. Zudem mochte es bald an der Zeit sein, dass er sich auf den Weg zur Schule machte.
Sie erhob sich aus dem Sessel.
Früher war sie schlank gewesen, seit ein paar Jahren eher mager. Doch ihr Körper hatte noch immer Spannkraft, und auf ihre Art war sie sogar recht flink. Kristians roter Apfel lag auf dem Küchentisch bereit. Sie hatte ihn, wie stets, am Vorabend sorgsam poliert. Seit einiger Zeit aßen die Kinder Frühstück in der Schule. Sie gab ihm dennoch als Symbol ihrer Fürsorge jeden Morgen etwas Essbares mit auf den Weg. Sie strich ihm über sein dunkles, leicht gewelltes Haar, und er umarmte sie flüchtig. Obwohl er für sein Alter klein war, würde er ihr sehr bald über den Kopf gewachsen sein.
»Mach’s gut, mein Lieber. Und versuch, so gut es geht, ein braves Kind zu sein!«
Er lachte. »Gleichfalls, Mormor. Immer!« Und schon war er aus der Tür. Am geöffneten Küchenfenster sah sie ihm wie jeden Morgen nach, bis er sich auf halbem Weg zum Tor noch einmal zu ihr umdrehte, ein paar Schritte rückwärts ging und in übertrieben großer Geste beide Arme schwenkte. Sie winkte zurück und fühlte den obligatorischen Stich im Herzen. Alles war, wie es sein sollte.
Kristian Rosengren zählte die Schritte. Siebenhundertdreiunddreißig Schritte waren es. Die Straße beschrieb eine leichte Kurve. Ab Schritt Nummer dreihundertzwanzig sah er: Sie war bereits dort.
Er hoffte stets, dass sie vor ihm an der Haltestelle stand. Dann würde sie froh sein, ihn zu sehen. War er hingegen zuerst da, so zeigte sie nie ihre Freude auf dieselbe Art. Aber wenn sie eine kurze Zeitlang dort gestanden und sich vermutlich gelangweilt hatte, lächelte sie ihn an. Jedenfalls bildete er sich das ein.
Seit sie blond war, sah sie ein paar Jahre älter aus. Ihre Beine waren lang und schlank. Wenn sie hochhackige Stiefel trug, überragte sie ihn fast um einen Kopf. Sie hatte sich den Look ihrer Mutter zugelegt: blondierte, lange Haare, enge Jeans, eine taillenkurze Lederjacke und hochhackige Stiefel mit langem Schaft. Beide, Mutter und Tochter, kauten Kaugummi. Yvonne Brolin begann für dieses Outfit eindeutig zu alt zu werden; Nadine war mit ihren knapp dreizehn Jahren eigentlich dafür zu jung. Dennoch stand es ihr. Kristian kannte auf ganz Öland kein hübscheres Mädchen.
»Hör dir das an!« Sie wies auf die andere Straßenseite, wo eine Kuh mit gesenktem Kopf hinter dem Stacheldraht stand. Ihr heiseres Brüllen schwoll an und überschlug sich, sie verstummte kurz, hob dann erneut zu brüllen an.
Åkesson hatte am gestrigen Tag alle Kühe an den Schlachter verkauft. Dieses letzte, einsame Tier war beim Verladen entkommen und durch ein morsches Weidetor ins Alvar entflohen. Der Fahrer des Viehwagens hatte keine Zeit gehabt. Als Åkesson seine letzte Kuh wieder eingefangen und auf die Hauskoppel zurückgetrieben hatte, war er bereits losgefahren. Das hatte der Kuh vorläufig das Leben gerettet und ihr zugleich auch ihre Einsamkeit beschert.
Åkesson gab wie so viele nun die Landwirtschaft auf. Borghild fand, dass die Entwicklung traurig war. Öland hatte so lange von Landwirtschaft und Fischerei gelebt. Fortan würde nur noch der Tourismus bleiben.
Nadine spuckte ihren Kaugummi aus und schnippte ihn in Richtung des klagenden Tieres.
»Blöde Kuh!« Sie kicherte. »Krilleboy. Bring du das blöde Tier zur Ruhe!«
»Gern«, erwiderte er höflich. »Wenn ich nur wüsste, wie.«
»Du bist doch mutig und ein Kerl!« Sie machte einen Schmollmund. Er war sicher, sie konnte seine Gedanken lesen, wusste, wie er stets an ihren Lippen hing. »Ein Mann muss mutig sein. Nicht wie mein Alter, denn der ist ein Schlappschwanz und ein richtiger Pantoffelheld. Und ich hab seine blauen Augen und sein Kinn geerbt. Das ist soooo eklig!«
»Dein Vater?«, fragte er ein wenig tölpelhaft.
»Ach, vergiss es.« Sie schüttelte ihr helles, langes Haar. »Schwamm drüber. Mach lieber was! Wirf der alten Kuh ganz einfach was an ihren Kopf! Shoot, Baby!«
Er konnte ihr nicht widerstehen, zumal er wusste, dass die kostbaren Minuten bald zu Ende waren. Er holte also aus. Borghilds Apfel traf die Kuh am Hals. Sie sprang entsetzt beiseite. Der Apfel rollte in den Mist. Kristian errötete vor Stolz und auch aus Scham. Doch Nadine war bereits wieder gelangweilt.
»Krille«, sagte sie, »du spinnst!«, und wandte sich dann um, da der Motor des Schulbusses von weitem zu hören war.
Kristian seufzte leise. Das furchtsame Entzücken war vorbei. So war es jeden Morgen. Sie würde wie immer vor ihm einsteigen und sich in die letzte Reihe setzen. Er nahm wie immer direkt hinter dem Fahrer Platz. In der Schule würde er für sie dann jemand sein, den sie gerade so vom Sehen kannte …
Die Post kam um zwölf. Jorma hasste den Anblick des gelben Golfs, auf den er dennoch wartete. Er wollte es hinter sich bringen, wie immer gern der erste sein, der den Postschuppen betrat. Tagsüber stand die Tür zum Schuppen offen. Hier befand sich Ormögas Zentrum für Klatsch und Gerede aller Art.
Er sah sich um. Von Weitem näherte sich bereits Persson auf seinem alten Damenfahrrad. Auch Åkessons Traktor würde bald auftauchen. Die beiden alten Junggesellen trafen sich jeden Mittag hier und waren klatschsüchtig wie Waschweiber. Vor allem Persson war immer auf neue Gerüchte aus. Jorma musste sich beeilen.
Er schloss seinen Postkasten auf und sortierte mit bebenden Händen. Drei Umschläge ließ er in seiner geräumigen Westentasche verschwinden. Die restliche Post legte er in den Kasten zurück und verließ rasch den Schuppen. Yvonne würde wie immer auf dem Weg von Kalmar am späten Nachmittag die restliche, harmlose Post mit nach Hause nehmen. Es war sonderbar, dass sie in all den Jahren nichts von seiner Vorauswahl bemerkt hatte. Vielleicht, dachte er manchmal, wusste sie im Grunde alles. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Ihr Wissen bedeutete zugleich auch ihre Billigung. Frauen waren so. Man wurde nicht aus ihnen klug. Besser, man machte gute Miene zum bösen Spiel und fragte nicht zu viel.
Das Haus, das er vor zehn Jahren gebaut hatte, lag ein wenig außerhalb im Norden des Dorfes. Es war Ormögas modernstes Haus, ein weißes, zweigeschossiges Steinhaus mit vorgebauter Veranda und einer bombastischen Balustrade. Er hatte eigentlich ein Holzhaus bauen wollen, aber Yvonne hatte ein Steinhaus gewollt. Und so hatte er eben gemauert. Ein paar Jahre zuvor hatte er Helge Jakobsson, dem alten Maurer aus dem Nachbardorf, bei der Arbeit über die Schulter gesehen und dabei das Notwendigste gelernt. Die etwa fünfzig Meter lange Auffahrt war mit hellem Kies belegt. Das schmiedeeiserne Tor zur Dorfstraße hin ließ sich via Fernbedienung öffnen und schließen. So etwas hatte in der Gegend außer Jorma niemand.
Das Anwesen sah ordentlich und aufgeräumt aus. Der Kies war stets geharkt, das Herbstlaub vom Rasen aufgesammelt. Der einzige Schandfleck des Grundstücks war der Hühnerstall. Hier herrschte nicht dieselbe Ordnung, und das hatte seinen guten Grund. Das hier war einzig Jormas Domäne.
Als er die Stalltür öffnete, schlug ihm ein scharfer Gestank entgegen. In einer dunklen Ecke raschelte es. Ratten. Es war Herbst. Der Gedanke an die Ratten beruhigte ihn. Er hatte kaum jemals etwas anderes gegen sie unternommen als ein handbemaltes Schild »Vorsicht Rattengift« von außen an die Tür zu nageln. Yvonne war allergisch gegen Federstaub und Vogelmilben, und sie fürchtete sich geradezu hysterisch vor Ratten und Mäusen. Der Stall war daher sicherer als jeder Safe. Sie würde ihn niemals betreten. Er warf die ungeöffneten Briefe in eine blaue Plastiktonne und füllte aus der benachbarten Tonne gleichen Aussehens eine Schaufel mit Futter nach. Die Hennen flatterten von ihren Stangen herab, sobald er die Drahtgittertür öffnete. Er streute ihnen hastig etwas Futter hin und verließ den Stall, ehe die schlechte Luft seine Kopfschmerzen noch verschlimmerte. Der harte Puls in seinen Schläfen pochte bereits erbarmungslos.
Draußen fischte er sein Handy aus der Westentasche und befühlte Alascas Fünfhunderkronenschein. Zwölf Uhr dreißig. Die Fahrt nach Borgholm würde vierzig Minuten dauern. Er konnte auf dem Hinweg bei Britt-Marie in Alböke vorbeifahren und auf dem Rückweg sein Glück bei Ann in Klinta versuchen. Weiber, dachte er. Die eine affig und die andere geizig. Er hasste diese Abhängigkeit von ihren Launen und von ihrer wechselhaften Gunst.
Jorma startete den blauen Kastenwagen. Als er sich der Ausfahrt näherte, drückte er erneut die Fernbedienung. Das metallisch glänzende Tor federte gehorsam zur Seite. Doch das Spiel bereitete ihm nicht die gewohnte Genugtuung. Er war zu nervös. Während der Wagen über die Dorfstraße ruckelte, lauschte er dem Klappern der Werkzeuge im Laderaum: Außer der Schrotflinte für die Kaninchenjagd lagen dort Schneidezange, Raspeln, Hufmesser, Hauklinge und Klopfschlegel. Auch eine Schachtel mit Hufnägeln und ein paar Hufeisen hatte er stets dabei. Für den Fall, dass der Anruf eines Pferdebesitzers kam und ein verlorenes Eisen dringend zu ersetzen war. Man konnte ihn immer anrufen. Jorma Brolin war ständig auf dem Sprung.
Er fuhr an Åkessons Hof vorbei, wo eine einzige Kuh auf der Hauskoppel dicht an der Straße lag. Bei Persson stand das große, schwarze Tor zum Atelier nun offen. Der ehemalige Stall war im rechten Winkel zu den anderen Nebengebäuden errichtet. Persson hatte die Blechdächer vor einigen Jahren wieder mit Reet decken lassen. Åkessons Traktor stand quer auf dem Gästeparkplatz, Perssons Damenrad lehnte an der Steinmauer. Vermutlich saßen die beiden Männer nun im Atelier an einem der Fenster und gafften hinaus. Jorma zwang sich, geradeaus zu blicken. Sicher zerrissen sie sich ihre Mäuler. Über ihn. Darüber, wieviel er im Dorf wem wie lange schon schuldete. Und über Yvonne, die so gut aussah und dennoch mit einem wie ihm zusammen war. Bei diesem Thema würde Persson dann verweilen. Er war ein Lustgreis. In seinem Kopf drehte sich alles um Frauen.
Sanders Hof war der letzte im Dorf, und er sah stets verlassen aus. Selbst an sehr trüben Tagen brannte bei den Sanders niemals Licht. Dazu waren sie zu geizig. Er warf im Vorbeifahren einen schuldbewussten Blick auf die Eingangstreppe zum Wohnhaus. Dort hatte die neue Veranda entstehen sollen, groß und protzig und so billig wie möglich. Größer noch als seine eigene Veranda. Er hatte versprochen, sie im Spätsommer zu bauen. Sanders Vorschuss war jedoch bereits verbraucht, und er jagte deshalb immer neuen Jobs nach. Vielleicht war das dumm, dachte er. Sander hatte immer Bargeld. Seine Hosentaschen beutelten sich von den vielen Scheinen aus. Neue Vorschüsse waren bislang bei ihm selten ein Problem gewesen. Teils weil er Angst vor Jorma hatte, und teils weil er sie sich teuer genug verzinsen ließ. Fünfundzwanzig Prozent. Das bedeutete, dass Jorma von Sander nur hundertzwanzig statt hundertfünfzig Kronen in der Stunde bekam, natürlich schwarz. Sander »verkaufte« Jormas Tischlerstunden oft an Sommergäste in seiner Ferienhaussiedlung. Den Sommerhausbesitzern stellte er dann den doppelten Stundenlohn in Rechnung und verdiente so, ohne einen Finger zu rühren, an jeder Arbeitsstunde mehr als Jorma selbst. Darüber konnte Sander sich dann mächtig freuen. Wie man sich bettet, so liegt man, war eine seiner Lieblingsredensarten. Er gab sie in Jormas Gegenwart gern zum Besten. Jorma gab wütend Gas.
Er schaltete das Autoradio ein. Die Sprecherstimme störte ihn. Er wechselte den Sender. Love, love. Die Stimme der Sängerin vibrierte und heizte seinen Unmut an. Es war immer dasselbe. Yvonne redete ihn immer dann mit Liebling an, wenn sie etwas besonders Kostspieliges von ihm wollte.
Die Landstraße 136 war leer. Zum bevorstehenden Erntefest am Wochenende wurden noch einmal Tausende von Besuchern erwartet. Danach dann Stille für den Rest des Jahres. Stille und Dunkelheit.
Mit der Stille verhielt es sich so: Wer zu viel redete, der hatte etwas zu verbergen. Wer schwieg, der tat so, als sei er zum Reden zu stolz. Er selbst hatte viel zu verbergen und redete dennoch wenig. Er war nicht stolz. Eher verklemmt. Und es mangelte ihm an Zuhörern.
Vor Stille hatte er Respekt. Im Alvar begegnete er ihr selten unbewaffnet. Besser, man schulterte seine Flinte und schoss. Karnickel waren auf der Insel eine Sommerplage. Die Sommergäste hatten sie eingeschleppt. Setzten sie im Alvar aus, wenn sie wieder in die Städte zogen und die Kinder das lebende Spielzeug leid waren. Doch Karnickel waren hier nicht heimisch, und die dünne Erdschicht ließ natürlich keine Bauten zu. Die Viecher vermehrten sich dennoch. Am besten gefielen sie ihm, wenn sie im trockenen Gras auf der Seite lagen und nicht mehr mit den Hinterbeinen zuckten. In ihren schwarzen, blinden Augen ein Splitter von Ölands Himmel.
Der Sommer war vorbei. Das alles war für dieses Jahr nun überstanden: der Lärm um nichts. Die aufgesetzte Heiterkeit. Verdrießliches Familienglück ringsum mit quengelnden, verwöhnten Kindern. Das aggressive Fleisch der Frauen, für die er doch ein Niemand war. Nun gehörte die Landstraße wieder ihm.
Blassgraues Weideland. Aschgrauer Himmel. Kahle, schwarze Bäume streckten ihre dürren Äste aus. Ein paar Jungtiere hinterm Stacheldraht am Straßenrand. Ein paar schmutzige und dick bepelzte Schafe. Ansonsten plattes, tristes Land. Öland im Herbst. Nur grauer Alltag, nichts Besonderes. Wer Unterhaltung suchte, war hier fehl am Platz.
Kurz hinter der Abfahrt nach Alböke bog er in einen schmalen Schotterweg ein. Von weitem leuchtete der weiße Holzzaun. Die Lage war günstig. Britt-Maries Jeep stand auf dem Hof, der Volvo ihres Mannes fehlte.
»Welche Sorte Strohballen? Wie viele Kürbisse? Du musst dich endlich entscheiden!« Lennart Åkesson hatte widerwillig die blauen Filzpantoffeln angezogen, die für Besucher des Ateliers an der Eingangstür bereitlagen. Der Künstler wollte, dass man diese heiligen Räume nicht mit Straßenschuhen betrat. Den Bildern an den Wänden schenkte Åkesson wie immer keinen Blick. Alles, was ihn interessierte, war, wie die Hofeinfahrten und Plätze für das bevorstehende Erntefest dekoriert werden sollten: mit Kürbissen und Stroh. In Sachen Stroh hatte er große Rundballen oder kleine, rechteckige anzubieten. Doch Persson hatte andere Probleme.
Er hatte mehrere Nächte mit dem Hängen der Herbstausstellung und der neuen Auswahl alter Werke zugebracht. Landschaftsaquarelle in gedämpften Farben; die Art von Bildern, die sein Publikum von ihm erwartete. Er hatte im Laufe seines Lebens hunderte solcher Bilder gemalt. Ölands Landschaft mochte eintönig sein, doch für ihn war sie ein dankbares und vor allem lukratives Motiv. Beim Hängen der Aquarelle hatte er an andere Gemälde gedacht und auch an ein paar heimliche, rasch aufs Papier geworfene Skizzen nach schwarz-weißen Fotografien. Doch wenn er ehrlich war, dachte er vor allem an die, die er zu zeichnen unterlassen hatte.
Das Atelier war eine ehemalige Scheune, die Persson vor über fünfundzwanzig Jahren in eigener Regie ausgebaut und renoviert hatte. Davon erzählte er stets gern. Der alte Hof war eine Ruine gewesen, als er ihn erworben hatte. Jorma Brolins Tischlerarbeit erwähnte er so gut wie nie. Es war ja schließlich Schwarzarbeit gewesen, also nichts, worüber man große Worte machte. Die Räume waren nun bis zum Dachfirst eröffnet und hatten große Sprossenfenster mit genügend Patina, um das äußere Gesamtbild nicht zu stören. Aus der kalten, feuchten Scheune und dem stickigen Kuhstall war eine geräumige und helle Galerie für Perssons Landschaftsaquarelle entstanden.
Perssons Anwesen lag am südlichen Dorfrand. Die Dorfstraße machte danach eine scharfe Kurve und führte anschließend an Sanders Hof vorbei. Auf diese Weise hatte man von der Galerie einen freien Blick über das Alvar. Auch in den Fenstern sah man, jedenfalls bei Tage, die Motive seiner Kunst. Die Farben des Originals waren mit den Wasserfarben seiner Bilder durchaus vergleichbar. Doch die monotone Landschaft in den Fenstern hatte eine Aura, die seinen Gemälden fehlte. Er sah das durchaus, und in ehrlichen Augenblicken konnte er sich eingestehen: Ölands magisches Licht ließ sich nun einmal nicht kopieren.
Er malte nicht mehr sehr viel. Vom Frühsommer bis in den Anfang des Herbstes hinein saß er täglich in seinen Ausstellungsräumen auf einem harten Küchenstuhl und wartete auf kunstinteressierte Besucher, mit denen er gern ein Schwätzchen hielt. Er galt als offen und gesellig. Im Grunde hoffte er auf Frauen ohne männliche Begleitung. Er wusste, dass viele Frauen romantische Vorstellungen von Künstlern hatten und in ihm trotz seines Alters und seiner zunehmenden Gebrechen noch immer so etwas wie einen attraktiven Mann sahen. Sein Appetit auf Frauen war unvermindert. Während sie andächtig von Bild zu Bild wandelten, extra langsam, da sie sich von ihm beobachtet fühlten, stierte er auf ihre Hintern und Beine und taxierte ihre übrigen Körperformen. Manchmal, wenn ihm gefallen hatte, was er sah, verschenkte er ein paar Postkarten oder einen Druck. Das war ein angemessener Preis für eine jedenfalls in seinen Gedanken schlüpfrige Umarmung.
»Komm schon. Fünf Minuten hast du wohl!«, sagte er. Er schob Åkesson einen Klappstuhl hin, und der Bauer setzte sich ein wenig widerstrebend auf die Stuhlkante. »Zeit? Langeweile! Als Rentner wohl in Zukunft keine Mangelware.«
»Ach was«, sagte Persson ärgerlich. Er war sechs Jahre älter als Åkesson. Er streckte sich ein wenig, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Ein roter Fiat war von der Dorfstraße auf den Schotterweg abgebogen, der durch das Alvar zum Küstenweg führte. »Sieh einer an. Gunnel Brolin und Folke Lundgren. Unsere grauen Turteltauben auf dem Weg zum Schäferstündchen in Folkes Fischerhütte.«
»Grässlich«, sagte Åkesson.
»Je oller, je doller. Wann ist Gunnel eigentlich geboren?«, fragte Persson. Er war stets an Auskünften über das Dorf und seine Bewohner interessiert, um eingeweiht und einer von ihnen zu sein, und wusste doch, dass er gerade das nie werden würde. Öländer wurde man nämlich nicht. Man war es oder war es nicht. Vier Generation ohne einen einzigen Vorfahren vom Festland entschieden darüber. Auch wenn Persson bald dreißig Jahre lang hier gelebt und gemalt hatte, würde er in den Augen der anderen letztlich immer ein Stockholmer bleiben.
»Lass mich rechnen. Jorma ist Jahrgang sechzig. Gunnel war um die Fünfundzwanzig bei seiner Geburt. Bei Alriks Lebenswandel und dem vielen Alkohol, der floss, hatten die meisten eher mit Nachwuchs gerechnet. Alriks Frau war ja seit sieben Jahren tot, und solange lebten nur noch er und Gunnel zusammen. Auf dem Papier war er ihr Pflegevater. Aber wer Augen im Kopf hatte, für den war es offenkundig: Alriks Augen und sein kantiges Kinn. Gunnel hatte beides.«
»Was du nicht sagst!« Persson lebte sichtlich auf. »Wenn Alrik Nelsson wirklich Gunnels biologischer Vater war, dann wären also Jormas Vater und sein Großvater …«
»Ein und derselbe Mann«, ergänzte Åkesson. »Alrik Nelsson hoch zwei. Das erklärt so manches: Den kahlen Kopf. Die rohe Kraft. Und Gunnels Hass.«
»Sie hasst ihren Sohn«, sagte Persson bedächtig, denn das war auch ihm längst aufgefallen. Er lächelte ein wenig versonnen. Sieh an, die Dorfgeheimnisse! »Mutterhass«, hob er an, doch Åkesson war aufgestanden und wollte offenbar nicht weiter über dieses Thema reden. Es war immer wieder interessant zu beobachten, welche Memmen sie im Grunde waren, diese angeblich so harten Insulaner, und wie geflissentlich sie Unbehagliches verdrängten. Er machte einen neuen Versuch. »Und nun also der alte Folke Lundgren.«
»Das ist wirklich widerlich«, murmelte Åkesson. »Und Elsa Lundgren krebskrank zu Hause im Bett.«
»Gunnel ist wohl alles, was der sich im Bett noch leisten kann. Hübsche, junge Frauen kosten«, sagte Persson und musste abermals lächeln. »Apropos schöne Frauen. Da fährt sie!« Er wies zum Fenster. »Vermutlich auf dem Weg zu irgendeiner Gerichtsverhandlung. Ich habe sie neulich im Fernsehen gesehen.«
»Alasca Rosengren.« Lennart Åkesson verdrehte ein wenig die Augen und seufzte. »Ja, die. Da du offenbar über das Liebesleben hier im Dorf so einwandfrei im Bilde bist, verrat mir eins: Wieso hat unsere Alasca keinen Mann?«
»Die? Was wissen wir? Hat sie keinen, hat sie einen, hat sie viele? Oder allzu viele vielleicht?«
»Die nicht«, sagte Åkesson. »Nettes, ordentliches Mädchen. Gut erzogen. Immer so gewesen. Klug und tüchtig in der Schule. Borghilds ganzer Stolz. Höflich, liebenswürdig und korrekt.«
»Ja, ja«, machte Persson. »Aber immerhin hat auch sie ein uneheliches Kind. Und wo ist der Vater? Niemand von uns hat den je gesehen. Die offenbar Korrekten sind manchmal in aller Heimlichkeit die schlimmsten Schlampen. Genug davon. Ich nehm vier kleine Strohballen und zwei große, gelbe Kürbisse. Aber richtig runde, bitte. Nicht solche angedetschten Kümmerlinge wie im letzten Jahr. Von Fackeln und Windlichtern hab ich noch mindestens ein Dutzend übrig …«
»Mormor. Mir tut die arme Kuh so leid«, sagte Kristian. Es war geheuchelt, und er war sich dessen bewusst. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Nicht so sehr des Apfels wegen, den er am Morgen so achtlos weggeworfen hatte, sondern vielmehr deshalb, weil sein Gewissen ihn deswegen allzu wenig plagte. Wenn Liebe auf diese Art den Charakter verdarb, dann war er auf dem besten Wege, ein schlechter Mensch zu werden.
Borghild hatte ihm heiße Schokolade gekocht. Das war ihr Nach-der-Schule-Ritual. Selbst trank Borghild Kaffee, mindestens bereits die sechste Tasse an diesem Tag; ihr einziges Laster. Offenbar hatte sie ein starkes Herz. Aus dem Backofen duftete es nach Zimt-Hefegebäck. Borghild buk seit Jahren nicht mehr selbst, doch sie wärmte den Kuchen, den die Mitarbeiterin der ambulanten Altenpflege für sie einkaufte, stets im Ofen auf, bevor sie ihn Kristian servierte. Für solche Rituale hatte Kristians Mutter weder Sinn noch Zeit.
»Liebes Kind.« Sie legte ihre von einem blauen Adergeflecht durchzogene, magere Hand für einen Augenblick auf seine. Borghilds Hände waren immer kühl, im Sommer wie im Winter, und sie wogen so gut wie nichts. Mormors Federhände hatte er sie, als er klein war, genannt. Darüber, dass sie alt war, hatte er damals niemals nachgedacht.
»Der arme Lennart«, seufzte sie. »Die Ställe leer und er nun ganz allein auf seinem großen Hof.«
»Er hat doch noch die letzte Kuh«, sagte Kristian. »Also ist er auch nicht allein.« Doch Borghild hörte ihn nicht.
»Männer sind oft so einsam«, sagte sie mehr zu sich selbst.
Kristian lachte. »Typisch Mormor. Dir tun immer alle Menschen leid!«
»Unsinn! Keineswegs!« Sie war nun wieder ganz anwesend, legte den grauen Kopf etwas schief, so wie sie es immer tat, wenn sie guter Dinge war, und stand dann auf, um nach dem Kuchen im Herd zu sehen. »Du zum Beispiel tust mir nicht ein kleines bisschen leid! Du bist mein Prinz und deiner Mutter Augenstern, wie du sehr wohl wissen solltest. Guten Appetit, Herr Rosengren!« Sie legte ihm ein warmes Gebäck auf den Teller, goss sich eine halbe Tasse Kaffee nach, und er wechselte rasch das Thema.
»In Löttorp haben sie aus Rundballen einen riesigen Traktor gebaut. Und überall liegen Kürbisse. Ich habe dir mit meinem Handy ein Foto gemacht.« Er reichte ihr sein Telefon, und sie betrachtete lange und eingehend das Bild auf dem Display.
»Denk nur, was inzwischen alles möglich ist. So ein kleines Telefon ganz ohne Schnur! Kann man damit wohl auch Ferngespräche führen?«
»Kann man, Mormor. Wenn du willst bis nach Amerika!«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Fortschritt ist ein Segen. Das habe ich schon immer gesagt. Letztendlich entwickelt sich alles zum Besseren.«
»Haben die Dänen sich gemeldet?«
»Welche Dänen?«, fragte sie verwirrt.
»Aber Mormor!«, sagte er gespielt vorwurfsvoll. Doch sie wischte nur ein paar nicht vorhandene Krümel von der Wachstuchdecke, und Kristian entging nicht, dass sie wieder diesen flatternden Blick bekam.
»Lindy und Sanna mein ich, Mormor«, sagte er. »Sie kommen doch immer zum Erntefest.«
»Dann kommen sie wohl auch dieses Jahr.« Sie zuckte mit den Achseln. Es war sonderbar, dass sie sich nicht daran erinnern konnte, denn Lindy rief immer spätestens eine Woche bevor sie kamen an. »Iss nun deinen Kuchen, Junge, und mach deine Schularbeiten. Ich sitz ein bisschen hier bei dir und bin ganz still.«
Er nickte, zog sein schwarzes Schreibheft aus der Schultasche und stützte den Kopf in beide Hände. Er freute sich auf die Dänen. Ihr Sommerhaus in Sanders Siedlung war der behaglichste Ort, den er kannte. Sie hatten ihm ein bisschen Dänisch und er hatte ihnen genügend Schwedisch beigebracht, so dass sie sich inzwischen problemlos unterhalten konnten. Lindy machte viele Witze, und Sanna kochte hervorragend. Zum Erntefest nahmen sie ihn immer mit, wenn sie in der Kunstnacht über die Dörfer fuhren.
Er sah aus dem Augenwinkel, dass Borghild fast unbeweglich da saß. Sie betrachtete ihn auf ihre neue Art, ohne ihn zugleich richtig wahrzunehmen. Er versuchte zu verdrängen, wie unheimlich ihm das war.
»Mutproben. Kann man mutig werden, wenn man eigentlich nicht mutig ist? In einem hat X nicht recht: Ich bin kein Kerl. Ich weiß nicht, was ich bin. Gut? Böse? Wer ist Kristian R.?« schrieb er. Dann fiel ihm nichts mehr ein. Er hatte noch so viele Fragen. Doch für das, was er schreiben wollte, fehlten ihm die Worte, und zudem war Borghilds Küche dafür nicht der rechte Ort.
Alles war in Ordnung, redete er sich ein. Alles war wie früher. Doch er wusste, dass im Grunde gar nichts mehr in Ordnung und niemand mehr wie früher war, weder er noch sie.
Jormas Stimmung war düster, als er erneut im Kastenwagen saß. Britt-Marie war eine dumme Kuh. Die Sorte Frau, die sich mit Anfang fünfzig noch immer »Pferdemädchen« nannte und sich entsprechend kleidete, als wäre sie vierzehn. Er hatte ihr Gewäsch ganz umsonst gute zwanzig Minuten über sich ergehen lassen, ihr Gefasel von Pferdezucht und aktuellen Hengsten, von Cadento und Don Schufro und Briard, und wie sie alle hießen. Als er dann endlich kurz zu Wort gekommen war, hatte sie kaum zugehört, war nervös geworden und hatte nein gesagt. Noch mehr Geld könne sie ihm unmöglich leihen, ohne dass ihr Mann es merkte. Er war mit leeren Händen davongegangen.
Dieses Pseudo-Expertentum, das die sogenannte Pferdewelt durchsäuerte, war ihm zuwider. Von Britt-Marie wie von all den anderen Frauen, deren Pferde er beschlug, wollte er nur eins: ihr Geld. Diese Weiber hatten keine Ahnung von Pferden. Sie wussten nicht, was er bereits als Kind begriffen hatte. Damals war er täglich mit dem Rad zu Stures Pferdestall gefahren, in der Nachbarschaft von Harald Nelsson. Es war ein alter, dunkler Stall mit schlechter Luft gewesen, so einer, den die Behörden inzwischen für Pferdehaltung nicht mehr zulassen würden, allein deshalb, weil die Kaltblüter in Ständern angebunden waren. Heute mussten alle Pferde in Boxen stehen. Dort im Stall hatte er am liebsten weiter nichts getan als ganz still bei den schweren Arbeitspferden im Stroh zu hocken.
Sture war ein griesgrämiger, alter Besserwisser gewesen. Doch von Arbeitspferden und der Rückarbeit im Wald verstand er mehr als die meisten. Ab und zu hatte er damals mit seinen Pferden noch Aufträge im Böda-Wald gehabt. Darauf war er stolz gewesen, denn natürlich gab es Ende der sechziger Jahre auch auf Öland in der Forstarbeit längst moderne Maschinen. Doch mit denen kam man nicht überall hin. Das Holzrücken per Pferd erforderte zudem weniger Schneisen, sparte also Wald und Holz. Sture verlud Pferde und Gerätschaft an solchen Arbeitstagen auf seinen alten Lastwagen. Das Verladen ging zügig. Die Pferde waren es gewohnt. Sture brauchte keine Hilfe, und Jorma stand immer nur im Weg.
Sture duldete Jorma zwar im Stall, doch er nahm ihn niemals mit. Ein Brolin? Bis du etwa Gunnels Sohn? Wohnt ihr immer noch in Alriks baufälliger Hütte? Jorma hatte stumm genickt, und mehr hatte Sture nicht wissen wollen. Er interessierte sich grundsätzlich wenig für das Leben und die Belange anderer Menschen. Er hatte keine Frau und keine Kinder und lebte nur für seine Pferde. Wenn er guter Laune war, durfte Jorma ihm beim Striegeln helfen. Füttern durfte er hingegen nie.
Während Sture die Arbeitsgeschirre säuberte und einfettete, redete er ununterbrochen vom Holzrücken. Er sprach eher mit sich selbst, als dass er sich an den Jungen wandte. Als Erzähler war er seltsam unbegabt. Sein Redefluss war derart langweilig und monoton, dass der Junge ihm niemals richtig folgen konnte. Um den Alten nicht gegen sich aufzubringen, lernte er, an den richtigen Stellen zu nicken und so zu tun, als hörte er aufmerksam zu. Für die Nähe zu den Pferden hätte er erheblich mehr getan. Ihre Wärme, ihr süßlich-scharfer Geruch, ihre weichen, beweglichen Lippen, ihr warmer Atem dicht an seiner Wange– all das war gut. Doch es währte nur so lange, bis Sture das Licht löschte und ungeduldig an der Stalltür wartete. Feierabend. Ab mit dir nach Hause nun. Verschwinde!
Wenn Sture seine Pferde beschlug, hatte Jorma ihre Hufe aufgehalten und ihm bei der Arbeit zugesehen. Er hatte keine Rückenschmerzen bekommen, denn er war schon damals stark gewesen, stärker als die meisten. Durch bloßes Zusehen hatte er das meiste von dem gelernt, was er heute als Hufschmied konnte. Rein handwerklich hatte dann später Übung den Meister gemacht. Er war nie auf die Hufschmiedeschule gegangen und er hatte kein Examen, etwas, wonach seine Kunden selten fragten. Nach der neunjährigen Grundschule in Löttorp hatte er sofort zu arbeiten begonnen, er war ein Selfmade-Man und Hufschmied, wenn er als Tischler keine Arbeit oder Feierabend hatte.
In Borgholm parkte er den Wagen in einer Seitenstraße zur Storgata, die noch immer wie im Sommer für den Autoverkehr gesperrt war. Erst nach dem Erntefest würde endlich Schluss sein mit den unnötigen Zugeständnissen, die man den Sommergästen machte.