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Sylvia B. Lindström

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Beschreibung

Wie tief sind die Abgründe der Seele? Ein unbekannter Mann wird auf Öland Opfer eines brutalen Angriffs. Eine junge Frau stellt sich der Polizei, doch sie schweigt hartnäckig über ihr Motiv. Was also steckt hinter der Attacke? Allmählich kommt die Wahrheit über das Doppelleben eines sexsüchtigen Machtmenschen ans Licht, die selbst den hartgesottenen Strafverteidiger Stellan Qvist schockiert. Einmal mehr werden Qvist und die Opferanwältin Alasca Rosengren in einen komplizierten Fall verwickelt, den sie am Ende nur gemeinsam lösen können. Eine Geschichte über Macht, Sehnsucht und die Abgründe der Seele.

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Seitenzahl: 355

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Ähnliche


Über Sylvia Brandis Lindström

Sylvia Brandis Lindström, geboren in Hamburg, lebt seit 1992 auf Öland und arbeitet als Equitherapeutin mit Pferden. »Inselnacht« ist die Fortsetzung ihres ersten Kriminalromans »Inselfeuer«.

Informationen zum Buch

Wie tief sind die Abgründe der Seele?

Ein unbekannter Mann wird auf Öland Opfer eines brutalen Angriffs. Eine junge Frau stellt sich der Polizei, doch sie schweigt hartnäckig über ihr Motiv. Was also steckt hinter der Attacke? Allmählich kommt die Wahrheit über das Doppelleben eines sexsüchtigen Machtmenschen ans Licht, die selbst den hartgesottenen Strafverteidiger Stellan Qvist schockiert. Einmal mehr werden Qvist und die Opferanwältin Alasca Rosengren in einen komplizierten Fall verwickelt, den sie am Ende nur gemeinsam lösen können.

Eine Geschichte über Macht, Sehnsucht und die Abgründe der Seele.

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Sylvia B. Lindström

Inselnacht

Ein Öland-Krimi

Inhaltsübersicht

Über Sylvia Brandis Lindström

Informationen zum Buch

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Das Spiel ist aus

Dunkler Fall

Leben nach dem Tod

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Liebe und Lack

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Alte Zeiten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Flüchtige Erzeuger

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Fragezeichen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Das Spiel geht weiter

Lockvögel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Himmel und Hölle

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Inselnacht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Liebeslügen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Der heilige Eros

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Die Höhle des Löwen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Epilog

Impressum

»There is a crack in everythingThat’s how the light gets in…«

Leonard Cohen

Das Spiel ist aus

Das Spiel hatte den kleinen Mann zunehmend erregt. Mehr als er sich anfangs eingestehen wollte. Es war jener Kitzel der Macht, den vermutlich nur vollends auskosten konnte, wer selbst wusste, wie es war, unterdrückt zu werden. Schmach verjährte nie.

Macht war sein Eros und sein Antrieb, faszinierte und erregte ihn. Ihn gelüstete nach Unterwerfung und Kontrolle, nach Ehrerbietung, Respekt und nach der Befehlsgewalt des Mannes, eines kleinen Mannes, über eine Frau. Nichts war allerdings vergleichbar mit der Macht einer attraktiven Frau über einen Mann, der ihr verfallen war. Davon redete dieser Feminist wohlweislich nie. Denn die Herrschaft der Frauen über die Männer war subtiler und von anderer Natur. Ihm erschien sie unbarmherziger und strenger. Das hatte Viktoria ihn gelehrt.

In seinen Augen war Viktoria kein willenloses Opfer. Schöne Frauen waren immer grausam. Er hatte der Versuchung einfach nicht widerstehen können, sich ihre Macht für eine Weile anzueignen und dieses verbotene Spiel dann, so lange es währte, ungehemmt auszukosten. Doch damit war es nun vorbei.

Viktorias bedauerliches Ende bedeutete: Das Spiel war aus. Der kleine Mann wollte sich nicht gern in seinen eigenen Netzen verfangen. Das Leben ging weiter. Seines jedenfalls. Viktoria war nun ein Kapitel der Vergangenheit, und er wusch seine Hände in Unschuld.

Dunkler Fall

Der Inhaber von Miko-Web war jünger als erwartet, von kleinem Wuchs, sehr muskulös und schlecht rasiert. Er trug eine schwarze, abgewetzte Lederjacke und roch stark nach Zigarettenrauch. Der Auftrag konnte ihm nicht viel bedeuten. Mit einer geschlagenen halben Stunde Verspätung war er im Bahnhofscafé aufgetaucht, hatte sich nach einem nachlässigen Gruß zu Bertil an den Tisch gefläzt, einen doppelten Espresso bestellt und dann scheinbar gleichgültig gefragt: »Sie sind also Peter, nehme ich an?«

Bertil nickte. Ihm war spontan kein besserer Name eingefallen. Natürlich dachte er bei Peter an den Fotografen, jenen Unbekannten, den Viktoria ein paar Mal am Rande erwähnt hatte. Er hatte nie danach gefragt, welche Rolle dieser Peter ansonsten noch in ihrem Leben spielte. Er hatte es nicht wissen wollen.

»Also, Peter. Warum sind Sie hier?«

Bertil tat einen tiefen Atemzug und blickte auf seine Fingernägel. Bereits am Telefon hatte er sein Anliegen nicht näher erklären wollen. Sobald es alles auszusprechen galt, wurde ihm das Ganze peinlich. Er wusste nicht recht, wo er anfangen sollte, war verlegen und verklemmt. Zudem kränkte ihn die Teilnahmslosigkeit seines Gegenübers. Fast bereute er es, sich derart vertrauensvoll an Kari Mikonen gewandt zu haben, den er doch persönlich gar nicht kannte. Dieser arrogante junge Mann hier an seinem Tisch war ihm jedenfalls äußerst unsympathisch.

»Ich suche jemanden«, begann er zaghaft. Als Mikonen ihn noch immer mit leeren Augen ansah, hob Bertil die Aktentasche auf seine Knie und öffnete sie umständlich. Vielleicht konnte der Umschlag ihm Respekt verschaffen. Das Geld darin hatte er am Vortag bei der Bank in Svenljunga abgehoben. Die Kassiererin hatte ihn verwundert angesehen. Sie kannte seine Eltern und auch ihn seit langem. In seiner Familie war man in Sachen Geld stets vorsichtig gewesen. Doch die alten Zeiten waren nun vorbei. Alles war für ihn vorbei. Wozu sollte er jetzt noch sparen? Er riss den Umschlag auf, so dass die Scheine darin für sein Gegenüber sichtbar wurden, und Mikonen hob leicht die Brauen.

»Ich bezahle, was es kostet«, sagte Bertil. »Falls Sie etwas anderes dachten.«

Mikonen grinste sparsam und schüttelte sehr langsam seinen Kopf.

»Eine E-Mail-Adresse. Das ist alles, mehr habe ich leider nicht von ihr.«

Mikonen hob die kleine Tasse an den Mund, schlürfte provozierend laut seinen Mocca und setzte sie bedächtig wieder ab. »Ich bin kein Schnüffler, Peter«, sagte er. Sein melodiöses Finnland-Schwedisch passte nicht recht zu seiner rüpelhaften Art.

»Ich weiß«, versicherte Bertil. »Aber als Computerexperte könnten Sie es bestimmt für mich herausfinden. Ich habe Sie im Branchentelefonbuch gefunden. Ich wollte jemanden aus Stockholm. Auf dem Land kennt jeder jeden.«

Mikonen betrachtete Bertil nun beinahe mitleidsvoll. »Droht Ihnen jemand, ist es das? Dann sollten Sie lieber zur Polizei gehen.«

»Nein. Ich habe keine Angst.« Bertil errötete. »Ich bin nur … am Ende.«

»Aha.« Mikonen sah auf die Uhr. Bertil fühlte sich gekränkt und fasste endlich Mut. Mit verzweifelter Beherztheit entschloss er sich, die Karten endlich auf den Tisch zu legen. Hatte er sich nicht bereits genügend erniedrigt und lächerlich gemacht? Es spielte also keine Rolle mehr. »Es geht um eine Frau. Ich kenne nur ihren Vornamen. Ich will Sie mit der Geschichte nicht langweilen, doch sie hat mein Leben zerstört, und ich will wissen, wo sie sich befindet.«

»Frauen!«, sagte Mikonen nun in beinahe kameradschaftlichem Ton. »Hören Sie, Peter. Das wird nicht so leicht sein. Eine E-Mail-Adresse kann auf wen auch immer registriert sein. Um Namen und Wohnort zu ermitteln, müsste man schon so was wie eine gerichtliche Anordnung haben. Aber ich bin Webdesigner. Das da ist nicht mein Gebiet.«

Bertil starrte vor sich hin. Er merkte, wie ihm fast die Tränen kamen. »Ich hatte mich total auf Sie verlassen«, murmelte er. »Bitte, lassen Sie mich jetzt nicht im Stich. Ich habe sonst niemanden. Und ich bezahle ja.« Er streckte dem anderen den Zettel hin, auf dem er alles aufgeschrieben hatte, und nachdem der Finne einen Blick darauf geworfen hatte, veränderte sich etwas in seinem übernächtigten Gesicht. Sein Grinsen wurde süffisant, und er pfiff leise durch die Zähne. »Warum haben Sie nicht gleich gesagt, dass die E-Mail-Adresse an eine Domain gekoppelt ist? Das macht natürlich alles sehr viel leichter.«

»Domain?«

»Das hier.« Er schwenkte triumphierend Bertils Zettel. »Die Wortadresse für eine Website. Eine Weiterleitung zu einem Server. Ich nehme fünfhundert die Stunde. Fahrzeit rechnet natürlich mit. Drei Stunden im Vorschuss, oder sagen wir lieber vier …«

Bertil verzog keine Miene und blätterte die Scheine auf den Tisch.

»Bei Erfolg dann dasselbe noch mal. Gern bar auf die Hand.«

»Natürlich«, sagte Bertil. »Wann treffen wir uns wieder? Ich habe ein Hotel gebucht. Mein Zug zurück geht morgen früh halb neun.«

Der Finne beugte er sich vor und bedeckte andächtig mit seiner rechten Hand die beiden braunen Geldscheine. »Sagen wir – einundzwanzig Uhr im Löwenbräu am Fridhelmsplan.« Und als die Tausendkronenscheine in der Tasche seiner Lederjacke verschwunden waren, fügte er in vertraulichem Ton hinzu: »Am besten, du nimmst dir ein Taxi, Peter.«

Hotel Oden. Das Bettzeug war klamm, und aus dem Duschbad stank es nach Kloake. Bertil legte seinen Handkoffer auf die Gepäckablage und entfloh der trostlosen Zelle. Die Aktentasche nahm er mit. Neunhundertzwanzig Kronen für eine Nacht in Schwedens Hauptstadt, in der er mit Sicherheit kein Auge zumachen würde. Es war Wucher und dennoch eine vergleichsweise bescheidene Summe, wenn er daran dachte, was er Mikonen insgesamt bezahlen musste und was diese ganze Geschichte ihn bereits gekostet hatte. Und dabei ging es natürlich nicht um Geld.

Auf dem Bürgersteig trieb ihm eine Gruppe Halbstarker entgegen. Er drückte sich an eine Hauswand, um sie vorbeizulassen, lauschte ihren Stimmen und den sich entfernenden Schritten nach und begann, die Stadt aufrichtig zu hassen. Er passte nicht in eine Großstadt. Die ganze Geschichte passte nicht zu ihm. Er überlegte, aufzugeben und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Doch dazu war es zu spät. Er konnte sein altes Leben nicht wieder aufnehmen und so tun, als ob nichts geschehen war. Er dachte an das leere Haus. Der Auszug seiner Mutter war ein Alptraum gewesen. Als sie Wind davon bekommen hatte, dass es eine Frau in seinem Leben gab, hatte sie ihn vor die Alternative gestellt: entweder sie oder ich. Und Bertil war zum ersten Mal in dieser Frage nicht zu Kreuze gekrochen. Er hatte noch am selben Tag bei der Vorsteherin des Altersheimes in Hamra vorgesprochen, um Vivianne Kullman auf die dortige Warteliste setzen zu lassen. Das Glück, wenn man es so nennen wollte, war jedoch ausnahmsweise einmal auf seiner Seite gewesen: Durch einen Todesfall war gerade eine der an das Heim angeschlossenen Seniorenwohnungen freigeworden, und er hatte sie für seine Mutter reservieren lassen.

»Die Wohnung wurde erst kürzlich renoviert. Wenn sie es will, kann Ihre Mutter umgehend einziehen«, hatte die Vorsteherin ihn wissen lassen.

»Das will sie sehr gern.« Er hatte gewusst, dass diese Antwort eine Lüge war.

Vivianne hatte die Nachricht von der Wohnung beim Altersheim in Hamra schweigend und mit eisigem Blick entgegengenommen. Sie war auch in den folgenden Tagen ungerührt auf ihrem angestammten Platz vor dem Küchenherd sitzen geblieben, und er hatte selber alles für sie packen müssen: Kleider, Hausrat und persönliche Gegenstände. Die Möbel, auf die sie vermutlich Wert legte, hatte er ganz ohne Hilfe aus dem Haus geschleppt und dabei ungeahnte Kräfte entwickelt. Er hatte sie auf den Pferdehänger gezerrt, mit dem er sonst Kälber und Sauen transportierte. In Hamra hatte der Hausmeister des Altersheimes ihm beim Ausladen geholfen, und er hatte beklommen all die Umzugskisten ausgepackt, während seine Mutter zu Hause in der Küche vor dem Herd noch immer auf der Brennholzkiste saß, nichts aß, nichts trank und nicht mehr mit ihm redete. Er hatte sich davor gefürchtet, sie bei seiner Rückkehr auf ihrem Stammplatz tot vorzufinden. Aus reiner Bosheit noch vor ihrem Umzug zu sterben – so etwas war ihr zuzutrauen. Doch sie lebte, und als es so weit war, ließ sie sich willenlos von ihm die Stiefel anziehen, den Mantel über die Schultern legen und dann wie ein Tier, das man zur Schlachtbank führt, aus dem Haus geleiten. Sie würde ihm nie verzeihen. Ab sofort hatte Vivianne Kullman keinen Sohn, und Bertil hatte keine Mutter mehr. Er nahm das schuldbewusst, doch ohne Reue zur Kenntnis.

Was gefiel den Leuten nur an Stockholm? Er blickte in die erleuchteten Fenster der Lokale und der Bars, ging planlos weiter, fühlte sich vom Leben ausgeschlossen und verlor mit jedem Schritt ein wenig mehr den Mut. Er hatte noch allzu viel Zeit und musste dringend etwas trinken. Nach einem Bier und ein, zwei Wodkas würde es ihm besser gehen.

Aus der halb geöffneten Tür eines Bistros strömte nahrhafter Geruch nach Knoblauch und geschmolzenem Fett. »Zum Kranich«. Der Name war verheißungsvoll. Er betrat zögernd das Lokal, setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Bar und bestellte bei dem Mann hinterm Tresen ein großes Bier und einen Wodka. »Ich nehme an, Sie meinen mit Wodka Explorer?« Der kahlgeschorene Barkeeper bewegte beim Reden kaum den Mund und schenkte ihm ein. »Das ist nämlich der billigste.«

Bertil fühlte sich erniedrigt. Er trank hastig. Der Alkohol zeigte keine Wirkung. Er bestellte noch einmal dasselbe, schluckte krampfhaft und glaubte sich beobachtet. Doch niemand nahm von ihm Notiz. Der Barkeeper polierte verbissen seine Gläser. Ein aufmunterndes Gespräch war mit dem nicht zu beginnen. Vermutlich ärgerte er sich, weil er kein Trinkgeld bekommen hatte. Bertil befühlte das Wechselgeld in seiner Jackentasche. Vielleicht hätten zwanzig Kronen den Mann ein wenig freundlicher gestimmt. Vielleicht war das aber auch zu wenig, und er hatte die Gelegenheit ohnehin bereits verpasst. Er blieb noch eine Weile sitzen und starrte beklommen vor sich hin, bis es Zeit war, aufzubrechen, um das Treffen mit Mikonen nicht zu versäumen.

Das Löwenbräu am Fridhelmsplan war ganz im Stil einer deutschen Bierstube eingerichtet mit groben Holztischen und breiten, gehobelten Dielenbrettern. Die meisten Tische waren bereits besetzt. Bertil entdeckte Mikonen am Tresen mit einem übergroßen Bierkrug in der Hand. Der Mikonen der Nacht war eindeutig ein anderer als der des Tages.

»Da hinten ist ein freier Tisch. Setz dich schon mal, Peter. Ich komme sofort. Was willst du trinken?«

»Wodka«, sagte Bertil.

»Geht in Ordnung, Peter.« Mikonen feixte konspirativ. Von seiner Überheblichkeit war jetzt nichts mehr zu spüren. Und immerhin war auch er ganz offenbar kein Abstinenzler. Er kam bald mit Gläsern in beiden Händen an den Tisch und setzte sich zu Bertil. Er sah nun frischer und gesünder aus. Seine dunklen, leicht mandelförmigen Augen glänzten. Er hatte ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen. Es gab blonde, skandinavische Finnen und solche wie Mikonen mit Ahnen irgendwo im Osten. Aus denen wurde niemand richtig schlau. Mikonen hatte bei seinen Nachforschungen offenbar Erfolg gehabt. Bertil war sich plötzlich nicht mehr sicher, was er wollte. Wenn er wusste, wo sie war, würde ihn das auch zum Handeln zwingen.

»Prost! Auf die Frauen!« Mikonens wissender Blick war Bertil unbehaglich. Doch auch er erhob sein Glas, leerte es in einem Zug und lehnte sich in seinem harten Stuhl zurück. Die Stimmen um ihn herum verschmolzen zu einem akustischen Meer mit besänftigender Brandung, und die Geschehnisse der letzten Wochen rückten von ihm ab. Er überließ sich der beruhigenden Geräuschkulisse. Dieser Wodka würde an diesem Abend nicht sein letzter sein. So war das Leben auszuhalten. Am liebsten hätte er sich damit zufriedengegeben und den Anlass seiner Reise ganz verdrängt. Doch Mikonen ließ das nicht zu.

»Ich habe alles für dich aufgeschrieben: Personennummer, Vor- und Nachname, aktuelle Adresse und sogar ihre Handynummer. Offenbar ist sie kürzlich umgezogen. Nach Öland. So wie es aussieht, wohnt sie dort allein.«

»Warum Öland?«, fragte er verständnislos.

»Ich brauche meine Lesebrille.« Er merkte, wie Panik in ihm aufstieg. Auf einmal hätte er am liebsten alles rückgängig gemacht. Vielleicht war es am besten, die ganze Sache zu vergessen und nicht zu wissen, wo sie sich befand und wie er sie erreichen konnte. Doch Mikonen rückte näher an ihn heran und hielt lächelnd seine Hand auf. Es blieb ihm keine andere Wahl. Bertil seufzte, öffnete die Aktentasche und bezahlte, was er schuldig war.

Es war Freitagnacht. Für Bertil bedeutete das nichts. Doch Mikonen hatte sich überraschend erboten, ihm Kungsholmen zu zeigen. Oder vielmehr die Bars und Kneipen dort. Sie waren endgültig zu den stärkeren Getränken übergegangen.

»Einen Typen vom Lande wie dich trifft man hier nicht alle Tage«, stellte Mikonen grinsend fest, »du bist schon ein echtes Unikum!«, und obwohl er sich nicht sicher war, wie der andere das meinte, fühlte Bertil sich fast geschmeichelt. Fest stand: Er wollte jetzt nicht gern allein sein und noch weniger an seine Heimfahrt denken. Und dass Mikonen ihn als komischen Kauz ansah, spielte für ihn keine große Rolle.

»Hör mal, Peter. Was hattest du mit dieser Frau? Ausgerechnet du! Raus mit der Sprache! Ich komm einfach nicht darüber weg!« Sein rauer Husten ging in Lachen über. »Wenn ich mir alles recht zusammenreime …«

»Halt die Klappe. Es ist nicht so wie du denkst.«

Mikonen grinste nur bedeutungsvoll. »Komm schon, Peter.«

Aber der Ton war falsch, und Bertil wurde stur.

Sie tranken weiter. Bertils Zunge wurde immer schwerer. Mikonen war viel trinkfester als er. Das war kein Wunder, er war schließlich Finne. Die vertrugen alle viel. Mikonens Kommentare wurden mit jedem Glas anzüglicher. Machte er sich etwa auf Bertils Kosten lustig?

»All die schönen Frauen«, sang Kari Mikonen aus vollem Hals und drehte sich um seine eigene Achse. Er hatte eine volle, tiefe Stimme. »All die schönen, feuchten, warmen Lippen. Küss sie, bis der Himmel auf die Erde fällt!«

Bertil ballte in der Jackentasche seine Hand zur Faust.

Eines musste man Mikonen lassen: Er war spendabel. Sein erster Tausender war schon dahin. »Scheißegal. Um Mitternacht fängt mein Geburtstag an. Ich werde neunundzwanzig. Bald bin ich ein armer, halbseniler Mann wie du. Lebst du denn auf deinem Bauernhof wirklich ganz allein?«

»Nein«, sagte Bertil zunehmend gereizt. »Bis vor kurzem jedenfalls nicht.«

»Was denn? Hast du etwa doch eine Frau?«

»Nein«, sagte Bertil. »Hab ich nicht.«

»Letzte Bestellung«, mahnte der Wirt, und Mikonen beeilte sich zu sagen: »Noch mal dasselbe. Mein Kumpel hier bezahlt.«

Die Gläser waren leer. Mikonen warf sich seine schwarze Lederjacke über die Schultern. Er trug ein armloses Sportshirt und gab mit seinem Bizeps an. Draußen war es kalt. »In Söder gibt es ein paar Kneipen, die die ganze Nacht lang offen sind. Wir gehen zu Fuß. Die Västerbro sollte dir ja wohl bekannt sein.«

Bertil verstand nicht, warum Mikonen ihm verschwörerisch in die Seite boxte. »Deine kleine Hure in dem kurzen, roten Fummel. Das Foto wurde hier gemacht, mitten auf der Brücke. Glaube mir, ich habe genau hingesehen und gründlich recherchiert!«

Bertil schwankte. Er hatte gehofft, etwas frische Luft würde ihm wieder auf die Beine helfen. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Wirkung des Alkohols haute ihn nun fast um, und er taumelte hinter Mikonen her wie ein herrenloser Hund. Wenn der nur endlich seine Klappe hielte. Doch er stichelte ununterbrochen weiter. Mitten auf der Brücke blieb er plötzlich stehen und drehte sich zu Bertil um. »Scheiße. Zigaretten sind alle!«

»Dein Problem«, sagte Bertil dumpf. Als Nichtraucher kam in ihm ein wenig Schadenfreude auf. Doch Mikonen hatte bereits anderes im Sinn. »Genau hier hat sie posiert, die kleine Schlampe. Stockholm by night. Das Schloss. Das Stadthaus mit der Kuppel und links davon der Kaknästurm.«

»Na und?«, murmelte Bertil.

»Fast jeden Tag springt jemand hier ins Wasser und macht auf diese Weise Schluss. Begreifst du so was? Das müssen Kerle wie du sein, Weicheier, die sich von Frauen fertigmachen lassen.«

Sie standen einander nun gegenüber, und nicht nur der Alters-, sondern auch der Größenunterschied zwischen ihnen schien enorm. Mikonen wippte elastisch auf den Zehen. Er mochte klein sein, doch er war zugleich gelenkig und muskulös, und das wollte er Peter nun beweisen.

»Ich bin jedenfalls nicht so eine Heulsuse!« Dann saß er rittlings auf der Brüstung und hielt sich nur mit einer Hand fest. Mit der anderen gestikulierte er wild. »Höhenkoller, Wodka, Weiber – für mich alles kein Problem!«

»Hör auf«, murmelte Bertil. »Komm da runter!« Plötzlich verabscheute er den Finnen. Sein anfängliches Misstrauen war berechtigt gewesen. Der Hass presste ihm die Kehle zu. Doch Mikonen war nur in seine eigene Stimme verliebt und merkte nichts. »Mieleni minum tekevi. Das bedeutet: Werde von der Lust getrieben. Das solltest du wohl eigentlich kennen, Peter!«

Da passierte es. Mikonen stöhnte plötzlich auf. Offenbar war er bei weitem nicht so nüchtern, wie er sich den Anschein gab. Er strampelte mit seinen Beinen und streckte hilflos eine Hand nach Bertil aus. »Komm schon näher, du Idiot. Halt mich, ich muss kotzen!«

Bertil tat spontan einen raschen Schritt auf Mikonen zu, doch als dessen Hand sich hart in seine Schulter krallte, übermannte ihn ein zügelloser Zorn. Er riss sich heftig los und versetzte dem Finnen einen leichten Stoß. Der krümmte sich und schrie ihn wütend an, so dass Bertil ihn ein zweites Mal knuffte, dieses Mal ein wenig härter. Mikonen würgte. Aus seinem Mund kamen nur noch gutturale Laute. Der Boden bebte unter Bertils Füßen. Ein schwerer Lastzug donnerte an ihm vorbei. Er blinzelte, auch ihm war übel, und er begriff kaum, was er sah: Sehr sachte, fast wie in Zeitlupe, schaukelte der Körper seines Widersachers vor und zurück und glitt dann über das Geländer. Bertil trat näher an die Brüstung, beugte sich ungläubig vor und blickte in die schwarze Tiefe. Von Kari Mikonen war nichts mehr zu sehen.

Bertil war schlagartig stocknüchtern. Mechanisch hob er die Lederjacke hoch und warf sie über das Geländer, ihrem Eigentümer hinterher. In seinem Kopf sirrte ein hoher Ton. Dann setzte endlich der Lärm der Großstadt wieder ein. Von weitem drangen Stimmen an sein Ohr. Auf dem Gehsteig der Brücke näherten sich ein paar menschliche Gestalten. Bertil klemmte seine Aktentasche unter den Arm und rannte.

Leben nach dem Tod

1.

Viktoria ist tot. Ich lebe. So lautete der Wahlspruch ihres Neuanfangs, den sie beim Gehen unhörbar vor sich hersagte, rhythmisch, abgehackt und im Takt ihrer eigenen Schritte. Die Sonne war soeben aufgegangen. Marianne Hellberg schritt energisch aus und näherte sich dem Parkplatz am Ende des Dorfes, der um diese Zeit stets leer war. Die Urlaubssaison hatte noch nicht begonnen. Einzig das dänische Wohnmobil, das am Vorabend dort eingetroffen war, stand noch immer am selben Platz. Der Mann, der hinterm Steuer gesessen hatte, musste ein Naturfreund sein. Draußen waren es kaum sechs Grad Celsius, und es gab auf dem Parkplatz weder Wasser noch Strom. Vielleicht war er Ornithologe. Für die gab es um diese Jahreszeit auf Öland viel zu sehen, wenn sich auch die meisten Vogelfreunde eher im Süden der Insel aufhielten, um Zugvögel zu zählen und zu beobachten.

Als sie näher kam, sah sie den Mann in schlaffer Haltung hinterm Steuer seines Wagens sitzen. Den Kopf in beide Hände gestützt, blickte er ihr regungslos entgegen. Sie hob die Hand und lächelte dem Fremden zu. Er verzog keine Miene, sondern stierte sie nur an. Sie ging rasch weiter und versuchte, nicht darüber nachzugrübeln.

Seit sie in Eneklinta eingetroffen war, ging sie sehr viel spazieren. Oft brach sie schon im Morgengrauen auf. Das war neu für sie und ungewohnt, denn in Stockholm hatte sie stets den halben Vormittag verschlafen. Diese langen Spaziergänge hatten etwas Manisches. Im Hause war sie rastlos, schlief schlecht und konnte auch am Tage einfach nicht zur Ruhe kommen. Auch vom Gehen wurde sie nicht besonders müde. Aber immerhin schienen sich ihre Gedanken dabei zu ordnen, und dass ihr neues Mantra schließlich den Rhythmus ihres Atems annahm, gab ihr irgendwie Hoffnung und Halt. Viktoria ist tot. Ich lebe.

Öland war anziehend und unwirtlich zugleich und eher schroff als schön. Nun, im beginnenden Frühjahr, war die Insel jedenfalls noch sehr einsam. In den frühen Morgenstunden lag an windstillen Tagen wie diesem so etwas wie ein feierlicher Glanz über der unberührten Wasseroberfläche des Kalmarsunds. Ein heiliger Schimmer. Alles erschien ihr unschuldig und neu.

Das Land war platt und karg, der große Himmel darüber von einer grandiosen Strenge. Alvar nannte man diese für Öland typische Landschaft mit ihrer niedrigen Pflanzendecke aus Gräsern, Zwergsträuchern, Moosen und Flechten. In den Niederungen sammelte sich das Wasser. Etliche dieser Biotope trockneten wohl auch im Sommer nie ganz aus.

Eneklinta musste zu den schönsten Orten und Plätzen an der dramatischen Steilküste im Westen Ölands gehören. Man blickte im Süden bis nach Borgholm und konnte im Norden, wenn sie die Landkarte recht gedeutet hatte, den hellen Sandstrand von Byrum schimmern sehen. Am anderen Ufer des Sundes zeichnete sich je nach Wetterlage Smålands Küste mehr oder weniger deutlich in der Ferne ab.

Die meisten Häuser Eneklintas waren inzwischen Feriendomizile und zu dieser Jahreszeit noch nicht bewohnt. Johans gelbes Holzhaus lag in der ersten Reihe des idyllischen Küstenwegs. In dem sorgsam und mit Geschmack renovierten Haus fehlte es an nichts. Die behagliche, große Wohnküche war bei allem nostalgischen Flair dennoch modern und zweckmäßig ausgestattet, das Badezimmer mit den königsblauen und weißen Kacheln, der großen Eckbadewanne, Fußbodenheizung und indirekter, mit einem Dimmer versehenen Beleuchtung geradezu luxuriös.

Es war für sie eine Zwischenstation. Sie wollte hier nicht allzu lange bleiben. Ein paar Monate. Vielleicht ein halbes Jahr. Sie hatte genügend Bargeld, um sich den Sommer über Wasser zu halten und brauchte Johan keine Miete zu bezahlen. Das war hilfreich.

Sie wollte ihre Geschichte erzählen. Immerhin war sie ausgebildete Journalistin. Wie viel sie preisgeben sollte, wusste sie noch nicht. Vielleicht war die halbe Wahrheit bereits Sensation genug. Die ganze Wahrheit wäre ein Skandal. Wenn sie sie zum Besten gäbe, wäre ihr die Aufmerksamkeit der schwedischen Medien sicher. Man würde sie bestürmen, und sie wäre danach nicht mehr unbekannt und vermutlich nicht mehr arbeitslos. Doch was war das letztlich schon, die Wahrheit? Man konnte sie an die große Glocke hängen und dennoch unbehindert lügen, indem man Nebensachen zu Hauptsachen machte, den Blickwinkel verschob, Gefühle umdeutete und Fakten ausließ. Zudem fehlten ihr ein paar Beweise, die sie nicht beschaffen wollte. Und es mangelte ihr an Konzentration. Sie musste sich für diesen Neuanfang zunächst ein bisschen sammeln. Eines war ihr klar: Sie durfte diese Chance nicht vertun.

Die Gedächtnislücken machten ihr zu schaffen. An einiges erinnerte sie sich nur vage. An anderes hingegen mit erschreckender Präzision. Sie hatte ihren Körper verlassen. Natürlich war das eine Sinnestäuschung, ein überwältigendes und verstörendes Erlebnis. Sie erinnerte sich an eine einsame Trauer nach dem Verlust jeglichen Schmerzes, doch seltsamerweise nicht an Scham. Scham empfand sie eigentlich erst jetzt, im Nachhinein.

Auf dem Rückweg mied sie den Parkplatz, kletterte auf einem steilen, engen Pfad die Küste hinab und ging am steinigen Strand entlang. Sie begann zu laufen. Für ein paar Augenblicke empfand sie ein Gefühl von Freiheit. Doch ihr fehlte es an Kondition. Bald musste sie stehenbleiben und nach Atem ringen, und kaum fünfhundert Meter vom gelben Haus entfernt vibrierte in ihrer Jackentasche erneut das Handy, dessen Ton sie bereits abgestellt hatte.

Es fing also wieder an. Fest entschlossen, die Anrufe zu ignorieren, stand sie dennoch zitternd da, klappte das Handy auf und starrte wie gebannt auf die Ziffern im Display. Sie hatte Angst und noch mehr Angst vor ihrer Angst, die sie kopflos machte und dann Fehler begehen ließ. An die Ziffernfolge konnte sie sich nicht recht erinnern, was aber nichts besagte.

»Hallo?« Ihre Stimme klang heiser.

Schweigen am anderen Ende, wie gehabt. Sie hörte seine flachen, leicht erregten Atemzüge und bezwang sich. »Sagen Sie mir endlich, was Sie von mir wollen!«

Die Atemzüge wurden etwas heftiger.

Wütend schaltete sie ihr Handy aus. Sie hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass sich die Polizei auf Öland hauptsächlich durch ihre Abwesenheit auszeichnete. Die kleine Wache in Borgholm war lediglich montags besetzt. Ansonsten war die Polizei in Kalmar auch für Öland zuständig. Die Autofahrt vom Festland nach Eneklinta dauerte gute vierzig Minuten. Auf Hilfe in einer akuten, brenzligen Situation war also kaum zu hoffen. Sie war ganz auf sich allein gestellt. Vielleicht sollte sie sich einen Hund anschaffen?

Sie versuchte einmal mehr, ihre Lage zu analysieren. Niemand kannte ihren Wohnort, nicht einmal ihre Eltern. Sie hatten seit Jahren kaum noch Kontakt. Hier auf Öland lebte sie inkognito. Keiner der namenlosen Männer konnte sie hier ausfindig machen.

Peter hatte niemandem verraten, wer sie war und wie sie hieß. Das hatte er ihr jedenfalls versprochen. Und selbst er konnte sie nicht mehr erreichen. Sie benutzte eine neue E-Mail-Adresse, die er nicht kannte. Selbst wenn er sie in Versuchung führen wollte, würde ihm das nicht gelingen, da sie seine Mails nun nicht mehr las.

2.

Vereinsamung in der Großstadt war etwas anderes als Alleinsein auf dem Land. Auch in Stockholm hatte sie sich während der letzten beiden Jahre zunehmend isoliert. Die ständige Geräuschkulisse und der Strom gesichtsloser Passanten hatte sie dabei stets eingelullt und ihre Depressionen untermalt. Auf Öland war die Einsamkeit kompromisslos. Marianne konnte sich in Johans Haus verkriechen, doch sobald sie aus der Haustür trat, schlug ihr diese unerbittliche Stille entgegen und zwang sie zu unangenehmen Dialogen mit sich selbst. Sie sah einer Möwe nach, die scheinbar mühelos in Richtung Küste segelte. Ihr Schrei glich dem einer rolligen Katze. Überall war Sex.

Sie beschloss, für ein paar Stunden nach Borgholm zu entfliehen. Der Zentralort Nord-Ölands rechnete zwar mit seinen dreitausend Einwohnern nicht einmal als Kleinstadt. Doch es gab dort immerhin ein paar Geschäfte und ein Café, und um dieses Jahreszeit begann der Ort langsam aus seinem Winterschlaf zu erwachen. Einige Geschäfte in der Storgata hatten noch geschlossen, doch in der Boutique Lavendel wurden gerade die Schaufenster mit der neuen Frühlingsmode dekoriert, und auch beim Makler hingen neue Immobilienangebote aus. Ein Bummel durch Borgholm war schnell beendet: Eine weitere Boutique mit Damenmode, ein Sportgeschäft, ein Herrenausstatter, die Wettannahmestelle, das staatliche Systembolaget für alkoholische Getränke und immerhin eine Buchhandlung. Sie blätterte zerstreut in ein paar Neuerscheinungen und entdeckte auf einem Tisch mit Büchern zu herabgesetzten Preisen einen interessanten autobiographischen Roman. Dann beendete sie ihren Borgholmbummel wie immer in der Neuen Konditorei. Dieses trotz seines Namens alteingesessene Lokal war auf behagliche Weise altmodisch eingerichtet. Sie bestellte einen Cappuccino, wählte einen Zweiertisch und schlug das gerade erworbene Buch auf.

In dem Roman ging es um die zwanghafte Suche eines amerikanischen Erfolgsschriftstellers nach der Frau, der einen und einzigen und absoluten Liebe seines Lebens. Gleich auf den ersten Seiten bekannte sich der Schriftsteller dazu, seiner Natur nach ein Voyeur zu sein. Zwangsläufig und ungewollt hörte sie wieder jene geflüsterten Sätze, die sie nicht so leicht vergessen würde: Die meisten Männer sind Voyeure so wie ich. Das Auge ist unser erotisches Organ schlechthin. Wusstest du das wirklich nicht?

Nein, sie hatte damals vieles nicht gewusst, und sie hatte etliches gelernt, ohne es bis heute richtig zu verstehen. Die Buchstaben auf dem Papier begannen vor ihren Augen zu tanzen. Die Sätze, die sie las, ergaben keinen rechten Sinn mehr. Sie las weiter und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch ihre Gedanken drifteten immer wieder ab.

»Ihr Buch muss ziemlich spannend sein!« Sie fuhr hoch. Der Mann am Nachbartisch lächelte ihr zu. Offenbar hatte er sie bereits eine Weile lang beobachtet. War er etwa einer dieser Männer? Kannte er ihr Geheimnis?

»Lassen Sie sich nicht von mir stören!«, sagte er. Allein, wie er da saß auf dem abgenutzten, grünen Kunstledersofa dort am Fenster, ein Bein über das andere geschlagen und lässig zurückgelehnt, während er mit Messer und Gabel genüsslich eine grässliche rotgrün eingefärbte, geleeartige Süßigkeit verzehrte!

»Meine Mutter hat früher hier gearbeitet, als ich noch ein kleiner Junge war«, teilte er ihr ungefragt mit. »Wissen Sie, seit ihrem Tod vor sieben Jahren sitze ich immer samstags auf meinem alten Stammplatz und denke dabei an das Leben und an sie. Mit Leberwurstbrot und einer guten, alten Marmeladenstange als Belohnung fürs brave Aufessen. Kindheit pur. Aber so was weiß man in Ihrem Alter natürlich noch nicht zu schätzen …«

»Kaum«, antwortete sie kühl und blätterte demonstrativ in ihrem Buch. Was bildete der Kerl sich ein? Aber als er daraufhin verstummte, blickte sie dennoch verstohlen erneut zu ihm hin. Er war schätzungsweise Mitte fünfzig und fast kahlköpfig. Der Blick aus seinen braunen Hundeaugen hatte gutmütig gewirkt, doch ebenso gut konnte er auch verschlagen sein. Sie versuchte vergebens, zu ihrer Lektüre zurückzukehren.

Schließlich klappte sie das Buch zu. Sie hatte seit Tagen mit niemandem geredet. Vielleicht würde ein unverbindliches Gespräch ihre trübe Stimmung etwas heben. Sie konnte in der Zukunft schließlich nicht jedem Mann misstrauen. Doch sie hatte die Gelegenheit verpasst. Der Unbekannte las nun Zeitung und beachtete sie nicht mehr. Sie war zugleich erleichtert und enttäuscht.

Sie ging zum Tresen und kaufte sich mit einem zweiten Cappuccino noch ein wenig Zeit. Sie hatte es nicht eilig, nach Eneklinta zurückzukehren. Als sie erneut auf ihrem Platz saß, sah sie ihn. Sie erkannte ihn sofort.

Der Däne stand auf dem Bürgersteig dicht vor dem Fenster. Er war größer als erwartet, sie hatte ihn bislang ja nur hinter dem Steuer seines Fahrzeugs gesehen. Die sandfarbenen Haare wirkten ungepflegt, das bleiche, flächige Gesicht war äußerst nachlässig rasiert. Er starrte sie an. Ihr Herzschlag raste. Sie blickte sich hilfesuchend um. Doch niemand außer ihr schien von dem Mann Notiz zu nehmen.

Die Bedienung kam mit dem Cappuccino, und sie war dankbar für die belanglosen Worte, die sie miteinander wechselten. Als sie den Blick erneut zum Fenster wandte, sah sie den Dänen mit bebendem Zeigefinger wiederholt in seine Handfläche tippen. Dann hielt er ein Handy an sein Ohr, und sie fühlte ihres in ihrer Jackentasche wie einen feindseligen Organismus vibrierend zum Leben erwachen. Sie sprang auf. Jemand musste ihr jetzt helfen. Sie sah sich nach der freundlichen Bedienung um.

»Darf es noch etwas sein?«

»Ich habe …« Sie drehte sich zum Fenster um. Der Däne stand nicht mehr dort. Er entfernte sich leicht vornübergebeugt und mit schleppenden Schritten in Richtung Marktplatz. Das Telefon in ihrer Jackentasche gab noch immer keine Ruhe. »Nein danke«, sagte sie, und die Frau hinter dem Tresen wandte sich der nächsten Kundin zu.

Als sie auf der Straße stand, war der Mann nicht mehr zu sehen. Sie versenkte das noch immer hysterisch summende Telefon in der Plastiktüte mit ihren Einkäufen. »Ich bin stark, ich habe keine Angst«, versuchte sie sich zu suggerieren. Sie musste halblaut mit sich selbst geredet haben. Eine Frau mit einem großen, braunen Königspudel, die gerade auf dem Bürgersteig an ihr vorbeiging, drehte sich lächelnd zu ihr um. Der elegante Pudel tänzelte schwanzwedelnd auf sie zu und schnupperte flüchtig an ihrer ausgestreckten Hand. Ein loyaler und verschwiegener Begleiter. Das war genau das, was ihr fehlte. Sie blickte den beiden lange nach.

3.

Es war nun an der Zeit, ihr noch ein wenig näher zu rücken. Er startete den Motor und fuhr langsam in südlicher Richtung am Küstenweg entlang. Etwa zweihundert Meter vor dem gelben Holzhaus parkte er am Wegrand. Durch die kahlen Zweige der Büsche sah er das Licht in ihren Fenstern. Nun konnte er beobachten, wann sie es löschte und zu Bett ging. Noch nie war er ihr derart nah gewesen.

Er hätte sie gern noch einmal angerufen. Doch er beherrschte sich. Der Klang ihrer ängstlichen Stimme erregte ihn zu sehr, weit mehr noch als ihr Anblick. Er würde danach kaum schlafen können, und er brauchte dringend etwas Schlaf. Er musste demnächst eine wichtige Entscheidung fällen, eine Entscheidung über Leben und Tod, und dazu brauchte er einen klaren Kopf. Dass er sie nun täglich sah, machte die Sache nicht besser. Sie war hier eine andere als die, die er zu kennen glaubte. Sie sah viel alltäglicher aus, war manchmal kaum wiederzukennen. Ihr schönes, langes, rotbraunes Haar trug sie hier meist zu einem nachlässigen Zopf zusammengebunden. Ihre Augen waren ungewöhnlich hell und traten leicht hervor. So viel hatte er auf die Entfernung sehen können. Es waren sonderbare Augen. Alles in allem war er nicht enttäuscht, eher erleichtert, denn sie wirkte auf ihn nun zum ersten Mal wirklich menschlich, und sie schüchterte ihn nicht mehr ein. Fast sah sie ein wenig traurig oder jedenfalls mitgenommen aus, und das tat ihm gut. Oder vielmehr, es verwirrte ihn.

Die Abende waren kalt, vor allem hier, in unmittelbarer Nähe zum Wasser. Die Gasflasche für die Standheizung des Wohnmobils war leer. Er hatte bei seiner Abreise nicht daran gedacht, sie durch eine volle Flasche zu ersetzen. Ansonsten schien ihm die Idee, sich Lindys Wohnmobil »auszuleihen«, noch immer recht genial. Seine dänischen Jagdpächter benutzten es nur im Sommer für gelegentliche Ausflüge und stellten es im Herbst dann wieder in seiner Scheune unter. Er wusste nicht einmal, ob es versichert war. Es spielte keine große Rolle. Die schwedische Polizei würde sich bei einem Fahrzeug mit dänischer Nummer kaum dafür interessieren. Solange er nicht zu schnell fuhr oder falsch parkte, würde man ihn in Ruhe lassen. Als Däne reiste er ganz unbehelligt.

Das also war der Sommersitz des Königs, die sogenannte Insel der Sonne und der Winde. Natürlich verfolgte er jedes Jahr im Juli die Geburtstagsfeierlichkeiten für die Kronprinzessin im Fernsehen. Er mochte die Prinzessin. Wer tat das nicht? Doch er konnte ihre Vorliebe für diese hässliche Insel nicht verstehen. Ihm gefiel die platte, ruppige Landschaft nicht. Die Wiesen sahen mager aus. Landwirt wollte er hier nicht sein. Sein Hof in Hamra war von Wald umschlossen. Fünfzig Hektar. Das war nicht sehr viel. Doch es war sein eigener Wald. Auf der Insel hatte er kaum größere Baumbestände gesehen. Hier an der Küste gab es außer ein paar gen Osten geneigten, zerzausten Windflüchtern nur mickerige Wacholderbüsche auf dem naturbelassenen Weideland. Während der Nacht auf dem menschenleeren Parkplatz hatte der Westwind unaufhörlich an seinem Wohnmobil gerüttelt und sich erst in den frühen Morgenstunden etwas gelegt. Er hatte unaufhörlich gefroren.

Eneklinta sah verlassen aus. Von den Höfen war offenbar kein einziger mehr bewirtschaftet. Sommerhäuser weit und breit, deren Besitzer vermutlich in Stockholm wohnten. Wer mochte schon Stockholmer?

In der Eile des Aufbruchs hatte er nicht an einen Schlafsack gedacht. Das hatte er inzwischen längst bereut. In der Schlafkoje über dem Führerhaus lag nur eine dünne Wolldecke. Er schlief deshalb in seinen Straßenkleidern und hatte während der vergangenen Nacht selbst seine Stiefel anbehalten. Ihm fehlte ganz einfach die Energie, sich ihrer zu entledigen.

Die Waffe lag stets neben ihm: Seine bewährte Carl Johan 1900, die er vor vielen Jahren von einem älteren Jagdgenossen, der längst nicht mehr lebte, übernommenen hatte. Er hatte sie nie auf seinen eigenen Namen registrieren lassen. Von den fünf Schüssen waren noch vier im Magazin.

Die fehlende Kugel, das war Kurres Kugel. Es war das Furchtbarste, was er je getan hatte. Er mochte nicht daran denken. Doch noch nicht einmal der Alkohol half ihm, die ungebetenen Erinnerungen zu verdrängen. Sie wurden vielmehr immer deutlicher.

Kurre war der beste Elchhund gewesen, den er je gehabt hatte. Er war mutig, hart, selbständig und genau so eigensinnig, wie ein idealer Jagdhund dieser Sorte zu sein hatte. Er hatte Kurre oft als seinen besten Freund bezeichnet. Wenn er ehrlich war, hatte er auch keinen anderen. Es hatte in seinem Leben Mutter, Nachbarn und Bekannte und Jagdkameraden gegeben. Doch einzig Kurre hatte ihm stets die Treue gehalten, zu ihm aufgesehen und nie an ihm gezweifelt. Selbst an jenem Abend nicht, an dem er ihn erschossen hatte. Dort im Wald hinter dem Kuhstall. An einen morschen Weidepfahl gebunden.

Wer hätte sich um Kurre kümmern sollen? Als Bertil in Stockholm gewesen war, hatte er den Betriebshelfer in die rechte Hand gebissen. Der war nun krankgeschrieben und fiel aus. Und auch Camilla mochte keine Hunde. »Kühe melken, ja«, hatte sie ihn wissen lassen. »Aber finde jemand anderes für deinen Hund.«

Er hatte keine andere Wahl gehabt. »Sitz« hatte er dem alten Hund befohlen und war dann hinter ihn getreten. Hatte mechanisch die Waffe erhoben, sie auf Kurres Hinterkopf gerichtet und dann abgedrückt.

Mit dem Spaten ins Erdreich einzudringen war wegen des verzweigten Wurzelwerks fast unmöglich gewesen. Er schwitzte und stöhnte. Als er dann endlich den bereits fast erkalteten Kadaver in die Grube gleiten ließ, war ein Büschel grauer Hundehaare hartnäckig zuerst am Spatenschaft und dann an seinen Stiefeln kleben geblieben. Er füllte die Grube mit seinen bloßen Händen mit Erde, Wurzeln und Geröll. Sein Daumen blutete. Er fühlte nichts. Es goss in Strömen. Er war ein Mörder und verscharrte seinen besten Freund.

Bertil öffnete eine Dose Bier und stellte das Autoradio an. Der Wodka hatte abscheulich geschmeckt. Das Bier war nicht viel besser. Er trank es dennoch gierig. Eine ausdruckslose Frauenstimme las den Seewetterbericht. Er stellte das Radio lauter, damit es auch im Wohnbereich gut zu hören war. Solange jemand redete, war man nie ganz allein. Die erste Wodkaflasche war fast leer. Er hatte noch drei weitere. Spätestens wenn er die geleert hatte, war es an der Zeit.

Die Familienpizza, die er noch in Småland gekauft hatte, lag kalt in ihrem Pappkarton. Er hatte sie bislang nicht angerührt. Er zog den Reißverschluss seiner Daunenjacke zu, wickelte die Wolldecke umständlich um seine Beine und löschte die Leselampe. Er fühlte sich zu matt, um einzuschlafen. Den Kopf gegen das Fenster gelehnt, dessen Gardinen er vergessen hatte, vorzuziehen, starrte er das Haus an, in dem sie wohnte, und nickte irgendwann im Sitzen ein.

4.

Er hatte keine Ahnung, wohin die Reise ging. Er folgte ihrem blauen, alten Ford. Sie fuhr schneller, als es auf der Landstraße erlaubt war, und viel zu schnell für sein Wohnmobil, in dessen Schränken und Schubladen nun Teller, Tassen, Töpfe und Besteck bedrohlich klapperten. Doch er drückte fest aufs Gaspedal und fuhr so dicht wie möglich auf. Die Zeiten des Abstandnehmens waren für ihn endgültig vorbei. Teils, weil sie ihm nicht entkommen sollte. Und teils auch deshalb, weil er nun wollte, dass sie ihn und sein Fahrzeug ständig im Rückspiegel sah. Er wollte, dass sie sich vor ihm fürchtete. Sie sollte ihn nicht mehr vergessen. Sie wurde ihn nun nicht mehr los.

Erneut ärgerte er sich über die eintönige Landschaft. Wie konnte man nur freiwillig hier auf Öland seinen Urlaub verbringen? Auf der langen Brücke fuhr sie nicht mehr ganz so schnell. Das feindselige, schwarze Wasser mit seinen unbeständigen Schaumkronen kräuselte sich in der Tiefe. Am Himmel hingen dünne Wolken von ähnlich schaumiger Struktur. Das Brückengeländer war höher als das in Stockholm, und es gab auf dieser Brücke keinen Gehsteig. Schlau! Er stellte fest, dass ihm der Name des kleinen Finnen bereits entfallen war. War er jemals in Stockholm gewesen?

Sex hatte sein Leben in einen bösen Traum verwandelt. Es ließ sich nicht rückgängig machen. Die Lawine rollte. Ein Tod bedingte den nächsten. Es war am Ende alles einzig ihre Schuld.

Er fuhr noch dichter auf. Kein anderes Fahrzeug durfte sich zwischen sie setzen. Sie führte ihn durch ein Rondell und wählte die Straße nach Växjö. Irgendwann bremste sie abrupt und bog, ohne vorher zu blinken, von der Hauptstraße ab. Doch so leicht wurde sie ihn nicht los. Er bremste hart, hörte hinter sich erneut Teller, Tassen und Besteck wie wild geworden klirren und folgte ihr durch eine kleine Ortschaft. Sie fuhr im Schritttempo, schien nach einer Adresse zu suchen und hielt vor einem grauen Bungalow. Er wendete sein Fahrzeug in einer benachbarten Garagenauffahrt, parkte auf der anderen Straßenseite und sah sie gerade noch in dem grauen Haus verschwinden. Er stützte beide Ellenbogen auf sein Lenkrad und wartete.