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Dünen, Strand und Meer - Sehnsuchtsort Sylt im Wandel der Zeiten Als Bauerntochter einer altfriesischen Familie wächst Kerin Schmidt behütet unter reetgedeckten Träumen in Morsum auf. In ihrem ersten Buch erzählt sie uns von ihrer Kindheit zwischen blumigem Heidekraut, in dem die Bienen im Spätsommer fleißig Honig sammeln, und weichem Sandstrand, der zwischen den Zehen zergeht. Großgeworden mit Oma und Opa unter einem Dach, das Kliff als Spielplatz vor der Tür, sucht sie als Erwachsene in Hamburg ihr Glück und findet ihre große Liebe. Mit Mann kehrt sie zurück nach Sylt, wagt einen Neuanfang im alten Zuhause, samt Familie in der Nachbarschaft, dem Aufbau einer kleinen Imkerei und Tomaten vor der Haustür. Kerin Schmidt schreibt über dieses Leben hinter den Dünen, über nordisch herbe Begrüßungen, Dorftratsch, fahrradfahrende Touristen und die Schönheit Sylts im Wandel der Jahrzehnte. »Sylt bleibt immer die Insel, die sie im Herzen ist. Das Meer bleibt das Meer, die Heide bleibt die Heide und der Sand bleibt der Sand.« Kerin Schmidt
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Seitenzahl: 277
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Prolog – Gänsehaut
Teil 1 – Eine Kindheit auf Sylt
Trecker ahoi
Ein Kälbchen und ein Lämmchen
Danny, der Kater
Eine Freundschaft für immer
Sommersand und Salzwasser
Da pfeift uns doch ’ne Maus ins Ohr
Wer Dreck isst, wird trotzdem krank
Von Nackedeis und Erdbeeren
Blitz und Donner, Sturm und Schnee
Maskenlauf und Biikebrennen
Ein Sommerhus in Dänemark
Von Eichhörnchen und vom Abschiednehmen
Fünf Sylter in den Bergen
Ungebetenes Schicksal
Teil 2 – Sylt oder die weite Welt?
Der Neuanfang
Big City Life
Couchsurfing für Anfänger
Gehen, um zu bleiben
Zurück zu den Wurzeln
Wo fährt die nächste U-Bahn?
Summ, summ, summ
Liebesgeflüster
Schweinswale in Sicht
Heideglück und Vanillekipferl
Ebbe und Flut
Inselhopping
Und plötzlich kommt das Leben um die Ecke
Epilog – Herzklopfen
Für meine Mama Ich liebe dich
»Moin, moin und herzlich willkommen auf dem Sylt Shuttle der Deutschen Bahn. Schön, dass Sie sich für den schnellsten und bequemsten Weg entschieden haben. Bevor der Sylt Shuttle für Sie startet, beachten Sie bitte Folgendes: Ziehen Sie die Handbremse an … Wir wünschen Ihnen eine angenehme Überfahrt und einen schönen Aufenthalt auf Sylt. Allen Syltern sagen wir: Herzlich willkommen zu Hause!«
Die Worte der Lautsprecheransage verlieren sich zwischen meinen Ohren in einem Nichts. Es ist nicht tragisch. Unzählige Male habe ich der freundlichen Männerstimme gelauscht und bin ihren Anweisungen gefolgt, im Auto, auf dem Autozug von Niebüll bis nach Westerland. Doch heute ist alles anders. Ich fühle mich schwammig, und meine Kräfte lassen nach. Ich sinke in den Sitz und atme schwer aus. Ausatmen. Immer wieder langsam ein- und ausatmen. Das kenne ich, darin habe ich mich vor drei Tagen ausgiebig geübt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Endlich. Das Rattern der robusten Waggons legt kleine Gewichte auf meine Augenlider. Schlafen? Nein, jetzt nicht. Wie könnte ich nur? Schließlich habe ich es gleich geschafft. Nur noch der Hindenburgdamm, und dann bin ich da. Dann sind wir da.
Meine Mundwinkel zucken. Eine Welle der Zufriedenheit überkommt mich. Der Zug fährt über das Festland, und es wird nicht lange dauern, dann sehe ich das Meer.
Meine Schultern betten sich in die Polster und werden weich. Augen durchbohren mich durch den Rückspiegel, doch mein Blick weicht ihnen aus, schweift zu meiner Rechten, und die Uhren dieser Welt frieren ein. Es wird heiß, es ist kalt. Meine Haut kribbelt, und die Haare stellen sich auf. Es ist, als würde die Sonne in mir brennen. Mitten im Januar. Der Autozug wiegt mich in zahllosen Gefühlen, von denen ich zuvor niemals erahnen konnte, dass es sie gibt.
Wie eine Mischung aus Pommes mit Vanilleeis, dazu Algensalat in Bananensoße, verfeinert mit einem Tupfer Avocadocreme. Wie Wildkräuter in Rapshonig mit heißen Himbeeren auf Pfannkuchen.
Unter einer Wolkendecke breitet sich die Weite der Nordsee aus und spiegelt sich im Wattenmeer. Ebbe. Und dann kommt Sylt. Winzig klein sehe ich die von trockenem Heidekraut bedeckten Dünen der Insel vor mir. Morsum, endlich sind wir wieder vereint.
Der Jahrhundertsommer 1983 lockte die Menschen ans Meer. Sylts Küste hustete die Badegäste chronisch in die Nordsee, Salz und Sand panierte ihre Haut, bis sie unter den nordischen Sonnenstrahlen bei Höchsttemperaturen rot-knusprig gebraten ihren Garpunkt erreichten.
Die 98 Quadratkilometer große Nordseeinsel posierte für die Fotoapparate der Touristen und zeigte sich von ihrer besten Seite. Überlaufen, geliebt, bestaunt und bewundert ließ Sylt sich feiern. Am vierzig Kilometer langen Sandstrand mit den himmelhohen Wellen, die ihren heilenden Sprühregen in die Luft stäubten, atmeten Tausende von Lungen die Mineralien und Spurenelemente ein und kosteten von ihrer wohltuenden Kraft.
Nach der Walfang- und Fischerzeit erlangte die Insel durch den in vier Jahren erbauten und nach dem damaligen Reichspräsidenten benannten Hindenburgdamm 1927 endgültig einen der ersten Plätze in der Rangliste der beliebtesten deutschen Urlaubsziele. Der Damm brachte den Syltern Unabhängigkeit, und die Touristen überquerten die Bahnstrecke scharenweise. Eine Morsumer Pastorentochter überreichte Paul von Hindenburg zur Jungfernfahrt des ersten Zuges über den neuen, ausschließlich für den Eisenbahnverkehr erbauten Damm einen Blumenstrauß durch das Fenster, und die neue Zeit wurde besiegelt.
Der Damm durchbrach jedoch auch die natürliche Strömung des Wattenmeeres, und auf seinem Pfad pilgerten Maulwürfe und Füchse zu den exklusivsten Plätzen der Insel, gefolgt von Haien, die bequemlicherweise mit dem Zug anreisten. Immobilienhaie. Die Immobilienpreise kletterten die Skala der Hochpreisigkeit hinauf und brachten den einen oder anderen Einheimischen in Bedrängnis.
Im Jahr 1983 wurde die Sandvorspülung zu einem alljährlichen Ritual, mit der die Strände vor Schwund geschützt werden sollten. Seitdem fahren jedes Jahr aufs Neue Baggerschiffe in die Nordsee, pumpen Sand in sich hinein und spucken ihn am Saum der Insel wieder aus.
Sylt wurde durch den erstmals auf der Insel ausgetragenen World Cup als Surfparadies international bekannt, und viele kleine Sylter erblickten das Licht der Welt. Darunter auch ich.
Eine kleine Sylterin, geboren in Westerland, zu Hause in Morsum. Eine von rund 23.000 Einwohnern der Insel, auf der noch Sölring gesprochen wird, ein Dialekt des Friesischen. Sölring ist eine eigenständige autochthone Sprache. Dieser friesische Dialekt ist auf Sylt entstanden, und es gibt ihn seit dem achten Jahrhundert nur auf dieser Insel. Sölring gehört zu den sogenannten kleinen Sprachen und wird durch die Europäische Charta der Menschenrechte geschützt. Die Sylter sprechen nicht nur Sölring, sie sind Sölring.
Sylt, die wohlgeformte Insel, luftig bis stürmisch, mit zwölf beschaulichen Orten und alten reetgedeckten Friesenhäusern, lädt mit seinen halb geöffneten Kiek-in-Türen zum Schnacken ein. Eine Insel mit dunklen Wintermonaten und sonnigen Sommertagen. Geprägt von Reizklima, Wind und einem »Moin« als Begrüßung, egal zu welcher Tageszeit.
»Ich möchte aber Leberwursteis!«
Ich stampfte so doll auf, dass meine blonden Zöpfe mir um den Kopf wirbelten. Mit fest zusammengezogenen Augenbrauen stand ich im Tante-Emma-Laden neben der Kasse. Mitten in Morsum, umgeben von Morsumern.
»Es gibt aber kein Leberwursteis, Kerin! Das habe ich dir schon zigmal gesagt!«
»Doch, das gibt es Mama, wirklich!« Meine Stimme brach, und Tränen kullerten mir übers Gesicht.
Die Kassiererin – Tante Hella – und Bekannte aus der Nachbarschaft schauten mich mitleidig an. Meine Mama nahm mich in den Arm, um mich zu trösten. Ihr blondes, dauergewelltes Haar legte sich um mein Gesicht.
»Dann erzähl mir doch noch einmal, wie es aussieht, vielleicht finden wir es!«
Von da an durchstöberten wir die Einkaufsläden der Insel, und meine Mutter suchte mit mir nach dem Leberwursteis, das mich nicht mehr losließ. Ob in Morsum, in Tinnum oder in Westerland, keine Eistheke war vor uns sicher, bis wir es fanden. Letztlich stellte sich heraus, dass die Farbe der Schlüssel zu meinem Geschmack war. Walnusseis: leicht grau-bräunlich, cremig-zart – wie Leberwurst eben.
Zufrieden, mit einem von Walnusseis gefüllten vier Jahre jungen Magen, nahm ich auf der Rückbank Platz, und meine Mutter schnallte mich an. Angeschubst vom erfrischenden Küstenwind, stotterte unsere orangefarbene Ente Richtung Sylter Osten. Der Einkauf rutschte in den Kurven durch den Wagen, während Westerland hinter uns verschwand. Trockene Felder säumten den Straßenrand. Wir holperten durch den Keitumer Ortskern, am Grünhof und seinem Gestüt vorbei. Damals existierte keine Umgehungsstraße, das kleine Dorf und sein Asphalt mussten einiges ertragen. Auf dem Weg hob meine Mutter eifrig den Zeigefinger zur Begrüßung. »Dai«, sagte sie mit einem Grinsen. Kurz, knapp, Sölring. »Guten Tag.« Die Straßen flimmerten unter den Sonnenstrahlen. Frische Heuballen standen auf den Feldern und warteten darauf, auf Anhänger gestapelt und abtransportiert zu werden.
Ich streckte die Nase durch den Spalt des Fensters. Der Staub der Erntezeit kitzelte meine Haut. Im Ortskern Morsums angelangt, drosselte meine Mutter das Tempo. Wir tuckerten an den Einfamilienhäusern mit ihren rosa und weißen Heckenrosen vorbei. Hortensien schimmerten in allen Farben. Mama streckte ihren Hals, sie liebte Blumen.
Die Reifen vertieften die bereits bestehenden Furchen in unserem Rasen, als meine Mutter das kleine Gefährt vor unserem Hof parkte. Das alte Gemäuer stand trotz der wütenden Stürme fest auf dem Grundstück. Ein Hut aus Reet schützte die Familie vor Regen und bot Insekten Unterschlupf. Mein Vater hatte das Haus frisch decken lassen, doch der charakteristische Graustich schlich sich zügig ein.
Opa Gogge stand mit dampfender Pfeife im Mundwinkel am Straßenrand und schnackte mit Onkel Jeppe. Jeppe war einer von drei Brüdern meines Vaters und lebte in unmittelbarer Nachbarschaft. Papas Geschwister waren mit Ausnahme einer seiner Schwestern Morsum treu geblieben, was mir als Einzelkind zugutekam. Stets war Leben auf und um unseren Hof, und jeder behielt mich fürsorglich im Blick.
Meine Mutter schnallte mich ab, und ich sprang mit einem Satz aus der Ente. Jule bellte auf und rannte uns schwanzwedelnd entgegen. Ihr struppiges Haar stand wie bei einem Streuner zu Berge. Welche Rassen sie in sich trug, war ihr Geheimnis, aber ein Schnauzer war definitiv erkennbar. Ihre kühle Nase schnupperte nach den Eisresten, die an meinem Kinn hingen. Ich kicherte und schubste sie weg.
»Hallo, Opa, wo ist Papa?«
Opa Gogge richtete seine karierte Schirmmütze, hielt die Pfeife fest zwischen den Zähnen und ließ die Hände in den Hosentaschen ruhen.
»Moin, Kerin, der ist bestimmt hinten. Ich habe ihn vorhin noch im Kuhstall gesehen!«
Wenn mein Großvater neben Onkel Jeppe stand, wurde noch deutlicher, wie alt er bereits war. Seine drahtige Gestalt hielt sich auf recht dürren Beinen, was ihn aber nie davon abhielt, mich in der Schubkarre durch meine kleine Welt zu schieben, am liebsten mit frisch gemähtem Gras unter meinem Hintern.
Onkel Jeppe war kräftig und leicht bauchig veranlagt, sein Bart war lang und der Blick fest. Für einen Friesen war er groß, und sein Kopf thronte wie der eines Königs mit gemächlicher Miene auf seinen Schultern. Er musterte stets jeden Stein, bevor er den nächsten Schritt tat. Fast immer an seiner Seite Tante Hulda, die bekannt dafür war, sich nur von ihrem Mann die Haare schneiden zu lassen, obwohl ihre Tochter den Beruf der Friseurin ausübte. Mit spitzem Näschen und zierlichem Körper erheiterte sie mit ihrem trockenen Sprachwitz ihre Umgebung.
Ein kurzer Blickwechsel mit Mama genügte, und ich stürmte los. Mit Jule im Schlepptau rannte ich durch den großen Garten, winkend am Küchenfenster meiner Oma vorbei, bis hin zum Kuhstall. Doch mein Vater war nirgends zu sehen. Jule sprang vergnügt an mir hoch und bellte. Ich streichelte ihr kurzes Fell und folgte ihren vier Pfoten bis zum prall gefüllten Misthaufen, in dem sie sich ab und an suhlte. Auf der anderen Seite, bei den Pferden, entdeckte ich meinen Vater zwischen Werkzeugkasten und Treckerreifen.
»Hallo, Papa, was machst du da?«
Mein Vater drehte sich zu mir, lächelte und sank in seiner schmutzigen Arbeitshose auf die Knie. Er breitete die Arme wie zwei Segel aus und wickelte mich darin ein. Meine Wange schmiegte sich an sein Gesicht.
»Manno, Papa, dein Bart kratzt!«
Seine blauen Augen leuchteten.
»Soll ich mich wieder rasieren, mein Küke?«
Ich schüttelte den Kopf – sein Bart stand ihm – und vergrub mein Gesicht in seinem Hals.
»Ich habe gerade am Trecker gearbeitet und fahre bei den Schafen vorbei, möchtest du mit?«
Der Geruch von wohlig warmen Tieren, Kuhstall und Milch kroch in meine Nase. Papas Haut duftete nach Geborgenheit und Liebe.
Mein Vater löste seinen Griff, hinter uns rief jemand.
Tjarve, der aschblonde Nachbarsjunge mit den eisblauen Augen, stolperte schwer bepackt mit zwei weißen Milchkannen auf den Hof und lachte über Jule, die einen Pferdeapfel kaute.
Ich zog eine Schnute.
»Ihhh, Jule frisst wieder Pferdekacke, Papa!«
Er setzte mich ab.
»Das macht nichts, Kerin. Das ist gesund!«
Ich schüttelte mich und riss Tjarve eine Milchkanne aus den Händen. Sein Mund zeigte einen Halbmond, der die Spitzen hängen ließ, als Jule weitermüffelte.
Wir folgten meinem Vater in die Milchkammer und schöpften etwas des frischen, reichhaltigen weißen Glücks in die Kannen.
Tjarve war, wie fünf weitere Kinder, fester Bestandteil der Nachbarschaft und kannte jede Ecke unseres Hofes auswendig. Akribisch hatte er mit seinen »Schmutzschuhen« – Turnschuhe, die jede Pfütze und Matschkuhle mitnahmen – alles erkundet, um es im Kopf abzuspeichern. Erstaunlich, was ein vierjähriger Junge sich merken konnte, ständig überraschte er uns mit seinen Erinnerungen.
Wir alberten neben meinem Vater her und neckten uns mit Strohhalmen, die wir uns gegenseitig in den Bauch piksten. Sand, der an unserer Kleidung klebe, rieselte auf die Fliesen.
»Papa, darf ich wieder das Sieb saubermachen?«, fragte ich, bevor er den Behälter schloss.
»Später, Kerin, wir wollen doch jetzt los!«, sagte er und schickte uns nach draußen. Ich kniff meine Lippen zusammen. Auf dem Sieb im Milchbottich lag eine weiße Schicht auf dem Fließ, das zum Säubern diente.
»Tüs, bis bald!«, rief ich Tjarve nach, der stöhnend die vollen Milchkannen davonschleppte, und hüpfte zu unserem grünen Trecker. Mein Vater half mir den Tritt hoch, bis ich auf meinem Lieblingsplatz saß. Brav umklammerte ich die Griffe. Der Motor röhrte wie ein Hirsch zur Brunftzeit und brachte uns in Bewegung. Wir tuckerten über die Brücke, unter der die Züge entlangfuhren, Richtung Morsumer Wäldchen. Dort sammelte ich jedes Jahr zu Ostern Moos, um für den Hasen viele kleine Nester zu bauen, in der Hoffnung, Tausende bunte Eier und Schokomarienkäfer abzustauben. Am schmalen Weg hinter dem Waldstück gab es das saftigste und frischeste Gut für meine Osternester.
Der Trecker schüttelte mich durch, und ich stieß wackeliges Gelächter aus. Er war unfassbar laut, meißelte aber ein breites Grinsen in mein Gesicht. Mit gestrecktem Hals saß ich auf meinem Platz und winkte mich durch den Ort. Die Felder waren trotz der Hitze an vereinzelten Stellen in leuchtendes Grün gefärbt, und die Kühe mähten das Gras mit ihren Mäulern raspelkurz, wie auch auf der Wiese bei uns zu Hause. Dort kauten die Kühe von früh bis spät, und zwischendurch wurden sie zum Melken in den Stall geführt.
Ein weiterer Landwirt kreuzte unseren Weg – der beste Freund meines Vaters. Gemeinsam halfen sie einander, die Heuernte zu bewältigen, Silo zu fahren und Rinder zu treiben. Sie unterstützten sich und schimpften gemeinsam das eine oder andere Mal über die Tiere, das ewige Melken und die Wetterlage.
Mein Vater stieg in die Bremsen und hielt einen Plausch mit seinem Freund, während ich von einer Pobacke auf die andere rutschte und mit dem Knauf des Lenkrads spielte.
Ich sah zu den Häusern hinüber, wo Bekannte gerade den Gartenzaun strichen und Unkraut jäteten. Alle Haushalte waren von Einwohnern und Urlaubern, die überall ihre Plätze fanden, bewohnt, und das war gut so. Zu Zeiten, in denen viele die Pfennige für neue Latschen sammelten, schöpften die Einwohner aus der Quelle der Vermietung an Feriengäste. Meine Mutter musste zu Kindheitstagen mit ihren vier Geschwistern in die Garage umziehen, damit über die Sommermonate Kleingeld in die Haushaltskasse floss. Sie räumten ihre Kinderzimmer leer, bezogen ihr Übergangsquartier oder zelteten im Garten.
Mein Vater verabschiedete sich, und wir fuhren durch die verschiedenen Morsumer Ortsteile. Hinter Nösse liegt Klein-Morsum, von dort ging es durch Groß-Morsum bis nach Osterende und wieder zurück. Zwischendurch hielten wir bei den Schafen an, die einen der schönsten Plätze der Insel bewohnten. Sie grasten über den Deich und ließen sich vom Wind erfrischen. Keines lag auf dem Rücken, und mein Vater atmete auf.
»Heute müssen wir keine Schafe schubsen, mein Küke«, lachte er erleichtert.
Schafe schubsen war keine sportliche Aktivität, es rettete Tierleben. Jeder, der einem Schaf, das aus der Rücken- oder Seitenlage nicht mehr hochkam, auf die Beine half, war ein kleiner Held. Aber das war mein Papa für mich sowieso.
Zu Hause angekommen, lief ich mit meinem Vater zu Oma Matche, die wieder einmal vor dem Fenster saß, um nichts zu verpassen. Das graue Haar lockte sich über ihrem Kopf – die Dauerwelle war frisch. Ihr blasser Teint war für eine Frau Mitte siebzig untypisch glatt. Ihr Kinn und ihre Nase waren markant, die Gesichtszüge sanft. Sie hatte in ihrem Leben sechs Kinder geboren, meinen Vater erst mit Anfang vierzig. Er war der Nachzügler, mit dem niemand mehr gerechnet hatte. Seine Schwestern gebaren fast zur selben Zeit ihre Kinder, weswegen er für sie oft als Kind und nicht als Bruder durchging. Somit wurde auch ich spät in die Familie geboren und war das kleine Küken. Ein Status, den ich genoss.
Meine Großmutter war gern auf dem Hof zu Hause, sie bewegte sich kaum fort. Dafür kroch sie jede Woche auf allen vieren über den Dielenboden und bohnerte sich frei.
Bei Oma Matche und Opa Gogge konnte ich mich von Nord bis Süd und von Ost bis West entfalten. Ich stieg durch die Fenster ein und aus, tobte deutlich zu laut durch die Räume und naschte mich durch die Süßigkeiten im Haus. In ihrem Flur zwischen Bad, Küche und Schlafzimmer spielte ich in der Garderobe Fahrstuhl und stibitzte dabei Omas Friesenkekse aus einer der fünf riesigen Dosen, die oben im Regal standen. Ich sang den ganzen Tag und erzählte alles, was mir durch den Kopf schoss. Eines war klar: Wer so viele Kekse wie meine Oma backte, der bekam häufig Besuch. Hier war man selten allein. Die Familie hatte sich nie abgenabelt. Dass ich diejenige sein sollte, die diesem Segen eines Tages zu trotzen wagen würde, ahnte damals niemand.
Meine Oma lächelte, als wir an diesem Tag eintraten.
»Moin, Kerin, soll Oma dir wohl Pfannkuchen machen?«
Ich klatschte in die Hände und flitzte über den knarrenden Boden. Mein Vater nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich auf einen der grünen Holzstühle, der ebenfalls knarrte. Er nahm die Zeitung, meine Oma rührte den Teig an, und Tante Hanne kam herein. Mit mütterlichen Kurven und ihrem ewigen Lächeln trällerte sie los. Die Geschwister und ihre Eltern sprachen stets Sölring miteinander. Meist war ich so in meine Gedanken vertieft, dass die Gespräche wie kleine weiße Wölkchen an mir vorbeizogen. Nur manchmal hörte ich angestrengt zu, um etwas zu verstehen.
Tante Hanne fragte mich nach meinem Tag aus.
»Dü sket sölring snaki! – Du sollst Sölring sprechen!«, sagte Onkel Jeppe laut, als er in die Küche eintrat.
Ich kniff die Augen zusammen.
»Aber warum, ihr versteht mich doch!«, schnaufte ich und stützte meine Ellenbogen auf den Tisch.
Mein Vater ignorierte den Kommentar von Onkel Jeppe und las ungerührt weiter.
Ob es das etwas störrische und praktisch veranlagte Morsumer Friesenblut war oder einer der Charakterzüge, die durch meine Adern flossen, das ließ sich damals nicht deuten. Möglicherweise war es eine satte Mischung aus beidem, was mich trotzen ließ.
Tante Irma, ein Ebenbild meiner Oma, trat herein und es wurde laut. Die beiden Schwestern redeten mehr als alle vier Brüder zusammen. Während ich Omas Pfannkuchen – klein, rund, ungesüßt, knusprig und vor Fett triefend – mit der Hand in das Apfelmus tunkte, quatschten sich die Damen im Wettstreit um den ersten Platz der meistgesagten Wörter warm. Wie immer beteiligten sie sich am Inseltratsch, der sich hauptsächlich auf Morsum bezog. Die Namen, die zwischen ihnen hin- und herflogen, sagten mir nichts, doch ihre Stimmen überschlugen sich wie herbstliche Wellen in der Nordsee. Die Männer schwiegen.
Das Fenstergucken war ein äußerst beliebtes Dorfhobby, das die gesamte Gemeinde leidenschaftlich betrieb und welches zu allerlei Vermutungen Anlass gab. An Kiek-in-Türen, Einfahrten, beim Bäcker oder im Kaufmannsladen wurden die wildesten Gerüchte ausgetauscht.
»Schau mal, was der Jokke gekauft hat! Das Geld hat er bestimmt vom Kartenspielen, der treibt sich nachts doch immer rum!«
»Hille, der Idiot! Ist doch zu blöd, um die Hecke zu schneiden. Aber wer seinen Onkel als Vater hat, der kann ja nichts taugen!«
»Gutlinde haben wir ja ewig nicht mehr gesehen, wo die sich wohl rumtreibt? Meinst du, die hat was mit dem Jens Pepe, der gafft sie bei den Festen immer an, und seit Neustem spaziert er mit seinem Hund an ihrem Haus vorbei. Na ja, wenigstens geht er spazieren, im Gegensatz zu den Ohlesens, die den Köter nur zum Pinkeln die Straße hoch- und runterjagen!«
»Wie? Johanna ist schwanger? Oha, da kommen ja gleich drei Väter infrage, die Annemarie sieht ständig neue Männer durch den Garten schleichen. Na, wie die Mutter, so die …«
Wer Ruhe suchte, war hier definitiv fehl am Platz.
Meine Oma räusperte sich.
»Kerin, möchtest du noch mehr Pfannkuchen essen?«
Sie zog sich den blau geblümten Kittel glatt, der ihren kleinen Bauch versteckte.
Ich wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Fett klebte an meinen Händen. Ein dicker Pfannkuchen lachte mich an. Ich griff nach ihm, tauchte ihn in das Apfelmus und schluckte eifrig ein Stück hinunter, doch das Stopfen bekam mir nicht. Mein Bauch war voll wie der einer Weihnachtsgans. Ich leckte meine Finger ab und lehnte mich zurück.
»Dann bekommt Jule den Rest, einverstanden?«
Ich nickte schweren Herzens.
Mein Vater wischte mir die Hände sauber. Ich stellte mich auf den Stuhl und sah durch die Scheibe in unseren Garten. Meine Großmutter öffnete nebenan das Badezimmerfenster, und die restlichen Pfannkuchen plumpsten müde ins Gras.
»Jule, komm her! Juleee, es gibt Pfannkuchen!«
Unsere Hündin schüttelte den Schlaf von sich und trottete los, um die Reste zu verschlingen. Im Gras müffelte Mutters Kaninchen Gurke desinteressiert an etwas Salat. Ich drückte die Nase an das Glas und hauchte dagegen. Meine kleinen Fingerkuppen malten eine Sonne. Papa lachte, nahm mich auf den Arm, wir verabschiedeten uns, und er trug mich nach draußen. Meine Mutter jätete in ihrem Beet, während Jule mit vollem Magen in der Sonne döste.
»Hallo, Gurke«, sagte ich, hockte mich in den Rasen und streichelte das Fell des Kaninchens. Seine Schlappohren hingen im Gras.
Meine Mutter setzte sich zu mir.
»Na, mein Kükelük, wie war es auf dem Trecker?«
Ich drückte Gurke an mich und ließ seine Schnute über meine Haut schnüffeln.
»Toll, Mama, ich durfte richtig lange mitfahren!«
Ihr Gesicht leuchtete auf, und sie gab mir einen Kuss.
Dass die Zeit so vieles verändern sollte, daran war damals nicht zu denken.
Was habe ich für ein Glück, die Tochter meiner Eltern geworden zu sein. Sie nährten mich mit Liebe, Geborgenheit und Zusammenhalt, was mich wachsen ließ und Respekt für Mensch und Tier lehrte. Und dann hatten sie mich in diese atemberaubende Landschaft geboren. Am Rande von Morsum, nahe des Kliffs, auf einem der Bauernhöfe der Insel Sylt. Zwischen Kuh und Schaf, Heu und Stroh und zwischen Mama und Papa lebte ich den Traum einer Kindheit. Doch was für mich idyllisch war, hatte ebenso seine Schattenseiten. Die kurzen Nächte, die das frühe Melken der Kühe erforderte, die ständige Sorge um das Wohlergehen der Tiere und die Ernten, die nach Wind und Wetter gerichtet waren, kosteten Kraft und Nerven. Während die Kühe mit ausgesaugten Eutern zurück zur Fenne trabten, wurde ausgemistet, Wasser aufgefüllt und Stroh verteilt.
Mit meiner Mutter an den Deich zu fahren, um die rostige Wasserpumpe per Hand zu betätigen, ließ mein Herz stets höherschlagen. Die Schafe standen durstig vor uns und wedelten erwartungsfroh mit ihren Stummelschwänzchen. Der Puls meiner Mutter stieg ebenfalls, aus purer Anstrengung. Sie rackerte sich täglich, bei Sturm, Hagel oder praller Mittagssonne, ab, damit alle Schafe gut versorgt waren.
Auch die Flaschenlämmer, die nach der Geburt von der Mutter verstoßen wurden oder für die die Muttermilch nicht reichte, wurden stets umsorgt.
Während ich mich als Kind an den zahmen Lämmern erfreute und ihnen das kräuselige Fell streichelte, hielt meine Mutter den straffen Fütterplan meisterhaft ein. Alle zwei Stunden rührte sie in der Küche die Milch für die Tiere an, die ihnen dann per Flasche zugeführt wurde. Für mich war es eine perfekte Aufgabe – die angereicherte Milch duftete lieblich, vollmundig und weich –, für meine Mutter war es wieder harte Arbeit. Besonders in den Nächten, in denen ich im Bettchen lag und schlummerte.
Die Laute der jungen Lämmer gehören für mich zu den schönsten Geräuschen, die man auf dieser Erde hören kann. Wenn das Frühjahr einkehrt und die Lämmchen geboren werden, schlüpft ein bisschen Frieden. Die hölzernen Gehversuche der Kleinen und die besorgten, gutmütigen Mütter, die bedächtig grasen, während ihre Kinder wild und entschlossen von ihnen trinken, zaubern mir Flügel, die mich durch die Träume tragen. Es sind Momente, in denen es sich stundenlang zu verweilen lohnt. Und wenn die Lämmchen erschöpft vom Takt des Atems ihrer Mütter in ihrer Wolle einschlafen, dann erstrahlt das Leben in hellem Licht.
Das Leben auf dem Bauernhof, umschmeichelt von den Nuancen der wilden Natur und der saftigen Brandung, hatte mich geprägt. Trotz der vielen Arbeit lebten wir voller Glück und Liebe zu dem, was und wie wir es lebten. Meine Eltern gingen mit Herz und Stolz jeden Tag aufs Neue ihrer Passion nach und hielten mich dabei fest in den Armen, während ich bewundernd zu ihnen aufsah. Die Superhelden meines Lebens. Familienglück pur.
Morsum, unser geliebtes Dorf, bettete mich und meine Eltern in eine sichere Hülle voller Traditionen, Gemeinschaft und belebender Luft. Wir atmeten unser Dorf ein, wie alle anderen Dörflinge es auch taten, voller Inbrunst und mit klarem Blick in die Zukunft.
Doch mit den Jahren geriet meine Welt ins Schwanken. Mein Zuhause, Morsum und die ganze Insel.
Heute hat die Dichte der Trecker auf Morsums Straßen, wie auch in anderen Orten Sylts, leider deutlich abgenommen. Dafür ist das Aufkommen an Autos, die kein NF-Kennzeichen haben, immens gestiegen. Viele der Felder, die in meiner Kindheit die Weite der Insel zeigten, sind heute bebaut. Das Grün ist dem Geld gewichen. Zweitwohnbesitzer brüsten sich mit Eigentum, Sylter fühlen sich verjagt. Die Insel lebt, mehr denn je. Doch was ist das für ein Leben? Die meisten der Wege sind asphaltiert, Hotels und gastronomische Betriebe reihen sich aneinander, und auf den Straßen staut es sich, vor allem wenn Gäste an- und abreisen. Dass die Sylter die Insel nicht so schnell verlassen können, wie es ihnen lieb wäre, auch in dringenden Fällen, lässt manches Mal eine Flut aus Wut und Beschimpfungen regnen.
Für mich kleines Mädchen waren große Veränderungen nichts. Als unser Schotterweg am Straßenrand einem Bürgersteig weichen sollte, hätte ich am liebsten protestierend neben den Bauarbeitern gestanden.
War nicht alles gut gewesen, wie es war?
Es hatte doch funktioniert!
Es dauerte eine Weile, doch dann eroberten die Räder meines rosa Fahrrads die Pflastersteine, und ich radelte den Weg johlend auf und ab.
Vieles war im Umbruch, unterworfen dem Laufe der Gezeiten, aber ist das immer gut oder schlecht? Es gibt so viel mehr zwischen Schwarz und Weiß!
Denn wenn der Wind die Wolken wie eine aufgebrachte Schafsherde durch die Lüfte treibt, gefüllt mit dicken Regentropfen, und die Sonne ihnen trotzt, dann wird sie sichtbar, die bunte Vielfalt dieser Insel. Wenn die Regenbögen über dem Wattenmeer die Brücken zwischen Morsum und List bilden und die Fähre nach Dänemark in den Wellen treibt, wenn die Heckenrosen ihren Duft verbreiten und das Meer im Wind tanzt, dann ist meine Heimat eins.
Sylt bleibt Sylt. Die Insel, die sie im Herzen ist.
Auch wenn mehr Häuser in den Orten stehen und man nicht jeden, den man auf der Straße trifft, mit seinen Falten und Marotten auswendig zu kennen meint, bleibt das Kliff das Kliff, die Heide die Heide, die Dünen bleiben die Dünen, und der Strand bleibt der Strand mit seinem Sand. Und das Meer bleibt das Meer. Für immer.
Wenn junge Amseln auf den Zäunen ihre Texte lernen, die Schneeglöckchen ihre Tüllkleider aufplustern und die Schneereste von den Reetdachhalmen tropfen, reibt sich Sylt nach dem Winterschlaf Sand und Salz aus den Augen. Altes Moos wird auf den Dächern sichtbar, die Gräser strecken sich nach Licht, und die Feriengäste klingeln an den Türen. Susi, die alte Schildkrötendame, streckt ihren Kopf durch das Laub und begrüßt Onkel Albert, der sie sehnsüchtig erwartet. Weiße Blüten springen aus den Knospen unseres Birnenbaums, der wie eine Königin über unseren Garten wacht.
Der Frühling holt tief Luft, bläst seinen Blütenduft weit über Sylt, und Liebe wird geboren.
Der Frühling 1988 duftete nach zartem Erwachen und neuem Leben. Onkel Albert und Tante Hella, einen Zaungruß von unserem Grundstück entfernt, kümmerten sich rührend um ihre Susi und mich. Albert, der Sammler und Bastler der Familie und ein Bruder meines Vaters, strahlte nordische Gelassenheit aus und sparte gerne mit Worten. Seine Frau hingegen – Tante Hella – plapperte gern und passte damit hervorragend zu ihren Schwägerinnen.
Die zwei Schwestern meines Vaters, Hanne und Irma, genossen Hellas Gesellschaft. Sie trafen sich regelmäßig, um bei einer Tasse Kaffee oder einem schwarzen Tee die wildesten Neuigkeiten auszutauschen. Und wenn es nichts gab, dann fanden sie genügend Themen, um ihren Wortverbrauchsdrang für einen ganzen Tag innerhalb von zwei Stunden zu befriedigen. Sie waren fleißig, in jeglicher Hinsicht. Zu Hause weckten sie die reiche Kost aus ihren Gärten ein, backten Kuchen für die Freunde und erfreuten sich an ihren Kindern und Enkelkindern. Wie die Männer packten die Damen des Hauses immer mit an. Ständig gab es etwas zu erledigen, und für keine Gartenarbeit, das Zerlegen der Tiere oder gar das Führen einer Gastwirtschaft waren sie sich zu schade. Sie hießen Feriengäste willkommen und schwangen zur Abreise Lappen und Besen. Mütterlich kümmerten sie sich um jedes Mitglied der Familie. Sie kochten in großen Töpfen, damit jeder satt wurde, und wenn ihnen jemand die Arbeit von den Schultern zu nehmen versuchte, verteidigten sie ihre Last. Ohne Last zu viel Rast – nichts, womit sie ihre Lebtage vergeuden wollten. In der Gesellschaft meiner Familie labte ich mich an den schönen Bauernhoferlebnissen, an den Momenten voller Magie, Herzpochen und Freudestrahlen.
Wie auch an jenem Frühlingstag. Die Schwalben drehten große Kreise über dem Kuhstall und tauchten im sachten Wind. Die Brise versuchte, unseren Schweiß zu trocknen. Die Kühe standen auf der angrenzenden Weide und lauerten zu uns hinüber. Wie bei einem Konzert drängten sich die Stärksten in die erste Reihe, ihre Hälse streckten sich, ihre Mäuler waren leer.
Oma Matche und Opa Gogge, wie immer in geblümtem Kittel und braunem Cord, zogen in unterschiedliche Richtungen an meinen Händen, doch ich zappelte, löste mich und quetschte meinen zarten Körper durch den Spalt der wuchtigen Rolltür, die in den Stall führte.
Die Kuh brüllte, als ich eintrat.
Meine Mutter stand neben einem Berg von Stroh, mein Vater kniete bei dem Tier. Blut verteilte sich auf dem kalten Beton.
»Kerin, komm wieder mit raus, das sollst du nicht sehen!«
Ich hörte nicht auf Opa. Schnell schlang ich beide Arme um das Bein meiner Mutter und klammerte mich fest.
Das Brüllen der Kuh wurde immer lauter. Ich grub meine Fingernägel in Mamas Jeans.
Sie bückte sich und gab mir Stroh in die Hände.
»Kerin, wenn das Kalb gleich da ist, dann machen wir es sauber, okay?«
Ich nickte.
Oma Matche versuchte mich mit Engelszungen zu überreden, ihr in die Küche zu folgen, doch ich konnte unsere Kuh nicht allein lassen. Das Blut floss, ihre Augen quollen hervor, und der Arm meines Vaters verschwand im Tier.
»Ich habe die Beine, wir müssen helfen, schnell!«
Mein Opa griff nach dem Geburtshelfer. Ein gruseliges Teil aus schwerem Eisen. Mein Vater packte die Schlaufe, sein Arm verschwand erneut in der Kuh, und er befestigte das Gerät mit einem geübten Griff. Dann presste das Ende des Geburtshelfers an das Hinterteil der unter den Wehen schreienden Kuh. Mein Vater drückte den Hebel immer wieder. Sein Gesicht war verzerrt, sein Kiefer hart. Seine Muskeln spannten sich, und alle hielten den Atem an. Es ratterte, die Kuh brüllte, und das Kälbchen guckte heraus. Schnell griff er es mit den Händen und ließ das reglose Geschöpf in das Stroh fallen.
Meine Mutter sprang herbei, nahm das frische Kalb und schüttelte es. Mein Vater erlöste es von Schleim und der Fruchtblase. Die Kuh schleckte erschöpft an seinem Kalb, doch es regte sich nicht.
Meine Eltern schoben es näher an sie heran. Entschlossen leckte sie weiter. Mein Herz pochte. Ich ballte meine Hände zusammen. Und dann zuckte der Neuankömmling, die Augen öffneten sich, und alle Anspannung löste sich im Stall.
Zittrig hob das Kälbchen den Kopf und streckte seiner Mutter die nasse Schnauze entgegen. Das Brüllen der anderen Kühe verstummte, als hätten sie gespürt, dass die Geburt vollzogen war.
Die Schwalben setzten sich draußen auf die Holzbalken des maroden Dachs und legten ihre Köpfe ins Gefieder. Ich nahm meine Handvoll Stroh und trat langsam an das kleine Kälbchen heran.
»Mama, darf ich jetzt helfen?«
»Ja, mach nur!«
Ich kniete mich in meiner Lieblingshose mit bunten Stickereien neben das Neugeborene und streichelte es. Die Mutter schleckte verliebt weiter, völlig unberührt von unserer Anwesenheit. Ihr Körper pochte, das Fell war feucht, aber Frieden kehrte in ihr ein. Mutterglück strahlte aus ihren Augen.
Mein Vater wischte sich die Stirn mit seinem sauberen Arm, ergriff das Geburtsgerät und brachte es aus dem Stall. Ich meinte zu hören, wie er den anderen Kühen zurief, dass alles in Ordnung sei.
Ich zog mich etwas zurück und setzte mich auf einen der Strohballen.
»Ich gucke zu, wie es gleich aufsteht, ja?«
Meine Mutter lächelte, schnappte mich, setzte sich ebenfalls und platzierte mich auf ihrem Schoß.
»Ja, wir gucken gemeinsam!«
Das war nichts für die Nerven meiner Großeltern. Schnaufend zogen sie sich zurück. Oma Matche schlurfte, schimpfend darüber, dass ich diesem Anblick ausgesetzt worden war, in ihre Waschküche. Opa Gogge verstummte auf dem Hofgelände.
Ich saß wie verzaubert da und beobachtete das kleine Wesen dabei, wie es sich reckte und vorsichtig auf die Beine stellte. Innerhalb kürzester Zeit setzte es einen Huf vor den anderen.
Mein Vater wischte das Blut und den Erguss der Geburt mit Heu auf und brachte alles zusammen mit der Schubkarre weg.
Die Lachfalten meiner Mutter wurden tiefer, und ihre Stimme hell und klar.
»Ist das nicht schön? Sie haben es beide gut überstanden!«
Ich legte mich in ihren Arm.
Ein paar Schwalben flogen hinein und setzten sich auf die Stahlträger an der Decke.