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Niemand ist eine Insel, jeder ist eine Insel. Flucht und Zuflucht, Freiheit und Gefängnis,Traumziel, Heimat und Isolationsort, von der Weite des Meeres getragen und eng begrenzt - so viele Bilder hat das Thema Insel den Autorinnen und Autoren dieser Anthologie geschenkt, dargestellt als Prosa- oder Lyriktext sowie in Bildern. Ausgewählt wurde es noch ohne Vorahnung, was das Jahr 2020 uns allen mit Corona auferlegen, aber auch eröffnen würde.
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Seitenzahl: 202
Zusammengestellt von Ruth Finckh, Manfred Kirchner
und den Autorinnen und Autoren dieses Buches
Buchgestaltung:
Helga Margenburg, Ruth Finckh, Birgit Heymann,
Petra Koslowski, Samira Belmonte, Martina Scheible
und Manfred Kirchner
November 2020
Bild: Manfred Kirchner
Ölinsel
Trauminsel
CORONA-INSEL
Kindheitsinsel
Ruheinsel
Zwergeninsel
Nordseeinsel
Scheininsel
Nebeninsel
Felseninsel
RINGINSEL
Seifenblaseninsel
Kykladeninsel
Geisterinsel
Solo-Insel
Bohrinsel
Eibseeinsel
Zimmerinsel
Dorneninsel
Lieblingsinsel
Urlaubsinsel
Sehnsucht
Adrienne Lochte
Kindheitsinseln
Helga Margenburg
Eismeer
Petra Koslowski
Letzte Inseln
Ruth Finckh
Insel verkehrt
Ruth Finckh
Dorneninsel
Hansi Sondermann
Inselmeere
Lisa Neumann
Inselrundfahrt
Hans-Jochen Hüchting
Trist an das Meer
Jonas Richter
Dreifacher Mord an den Fährfröschen am Eibsee!
Claudia Liersch
1.128 km
Julia Lubschik
An den Ufern meiner Insel
Gabriele Gaba Weis
Rot ist die Kant
Helga Margenburg
Land in Sicht
Alexandrta Grupe
Trauminsel
Manfred Kirchner
Der Ausflug
Adrienne Lochte
Videokonferenz auf BigBlueButton
Ruth Finckh
Abschied
Edgar Schulz
Corona
Ruth Finckh
Insel des Lichts
Helga Margenburg
Zu Hause bleiben
Ruth Finckh
Die Krönung
Martina Scheible
Insel der Wärme
Michael Groß
Geballtes Alleinsein
Martina Scheible
No One To Talk To, All By Myself
Martina Scheible
Gesa
Hans-Jochen Hüchting
Rätselinsel
Birgit Heymann
Point of no return
Hansi Sondermann
Selkirk
Ruth Finckh
Selkirks Ziege
Ruth Finckh
Selkirks Inselabschied
Adrienne Lochte
Die ersten Tage
Michael Groß
Selkirk blickt zurück
Ruth Finckh
Selkirks Rückkehr
Leonora Wulff
Selkirks Heimkehr
Marah Baer
Die Scheininsel
Mirjam Elisa Ritz
Sanduhr
Alexandra Grupe
Avalon 2024
Albrecht Thiel
Der Erinnerungsarchipel
Frauke Twiehaus-Fischer
In die Knie gehen
Jonas Richter
In memoriam Sir Ernest Shackleton
Birgit Heymann
Where am I?
Martina Scheible
Wo bin ich?
Martina Scheible
Inselleuchten
Gernot Sander
Insel-Oasen im Frühling
Samira Belmonte
Corona-Insel
Hans-Jochen Hüchting
Fockes Traum
Helga Margenburg
Tandem-Projekte
My Summer Island
Martina Scheible und Samira Belmonte
Ekke Nekkepenn
Manfred Kirchner und Jonas Lohstroh
In a box
Martina Scheible
Ritskemooi
Leonora Wulff
Ölinsel
Hansi Sondermann
Vom Winde verweht
Helga Margenburg
New Wings
Martina Scheible
Am Strand
Alexandra Grupe
Der Hafen
Nevena Radeva
Mulkin Island
Petra Koslowski
Das Inselkinder-Lied
Birgit Heymann
Eleftheria
Jonas Lohstroh
Insel der Schafe
Malina Peter
Sizilien, meine Liebe
Samira Belmonte
Ich
Ruth Finckh
Philemon und Baucis
Hansi Sondermann
Inselpferde
Hans-Jochen Hüchting
Dank
Die Autorinnen und Autoren
Bild: Die Trauminsel
Samira Belmonte
Ich bin eine Insel,
an die keine Welle schlägt.
Mein Herz flattert wie schwarze Möwen,
aufgescheucht vom Nichts.
Nur die Sonne lacht unentwegt auf einen Boden,
der vor Trockenheit reißt.
Ich möchte einen Wind atmen,
der über den Strand fegt und den Sand hebt.
Ich möchte eines dieser Körner sein,
ein blasser Stein von vielen,
im Spiel der Lüfte
und nie allein.
Adrienne Lochte
Helga Margenburg
Oft denke ich an meine Kindheit zurück, die geprägt war von einem einfachen Leben. Meiner Schwester und mir reichten ein Ball, ein Holzreifen und eine Puppe zum Spielen. Unser Spielplatz war die Straße, der nahe Wald, der Bach und die Wiese, die zu unserem Haus gehörte. Wir Kinder spielten gefahrlos draußen. Es gab fast keine Kontrollen durch die Erwachsenen. Wir lebten frei und doch behütet in unserem kleinen Dorf, wo jeder jeden kannte, abgeschottet von der nächsten Stadt, so wie eine Insel vom Festland. Manchmal wurde die Wiese zu einer Insel, meiner Insel, auf die ich mich zurückzog um zu träumen. Flugreisen waren noch unüblich in der Nachkriegszeit, aber ich hatte davon gehört, dass man irgendwann fremde Länder bereisen könnte.
Ich lag im hohen Gras, dessen Halme über meinen Kopf reichten, und dachte, dass, wenn ich niemanden sehen konnte, ich auch nicht gesehen würde. Ich schaute den kleinen weißen Sternen der Pusteblumen hinterher, die der Wind forttrug. An jedes Sternchen hängte ich meine Träume und ließ mich mitnehmen in eine andere Welt, selbstvergessen, ohne Zeitgefühl. Auch wenn ich mich in die getrockneten Kegel aus Heu kuschelte, dessen Geruch ich sehr liebte, war ich für niemanden mehr sichtbar – dachte ich. In den 1950er Jahren sang Caterina Valente „Ich grüß meine Insel im Sonnenlicht, das sich silbern und hell im Morgen bricht“ und Harry Belafonte „Island in the sun“. Die Schlager handelten von fremden Sternen, Palmen und braunen Hütten am flimmernden, weißen Meeresstrand, und ich ließ mich von exotischen Namen wie Bahamas, Jamaica, Tahiti oder Hawaii verzaubern. Nichts ersehnte ich mehr, als auch einmal solch ein Paradies zu sehen, denn das war es in meiner Fantasie. Dass sich meine Träume sehr viel später wirklich erfüllen würden und ich sogar selbst auf einer Insel leben würde, ahnte ich damals nicht. Es war eine ostfriesische Insel in der Nordsee, Norderney, und sie war von grauem Wasser umgeben und nicht von blauem oder türkisfarbenem wie in der Karibik oder Südsee, aber sie wurde mir lange Jahre zur Heimat.
Schon lange ist unsere Wiese nicht mehr unsere Wiese. Nach dem Tod der Eltern wurde sie verkauft. Inzwischen stehen Häuser darauf, und andere Kinder spielen jetzt dort, wo wir einst spielten. Ob sie auch ihre kleinen Inseln finden?
In den Jahren meiner Kindheit besaßen wir keinen Fernseher, und unsere Mutter führte keinen Terminkalender für meine Schwester und mich. Auch besaßen wir nur wenige Bücher, und wenn die ausgelesen waren, fingen wir wieder von vorne an. Sie waren für mich so wertvoll, dass ich sie noch heute besitze. Wir hatten auch nur zwei Kleider, eins für werktags und eins für sonntags, trotzdem waren wir zufrieden; wir hatten keine großen Wünsche, weil wir gar nicht wussten, was es alles gab, das man sich hätte wünschen können.
Die Winter waren lang und kalt, damals. Es gab noch richtig viel Schnee, und wenn wir vom Schlittenfahren durchgefroren nach Hause kamen, wartete Mutter mit einer Tasse heißen Kakaos auf uns. Die Betten in unserem ungeheizten Zimmer wärmte sie mit einem Ziegelstein an, den sie in den heißen Kohleofen der Küche gelegt und in Zeitungspapier gewickelt hatte. Kleine kuschelige und warme Inseln inmitten der großen, kalten Welt dort draußen.
Alle Geburtstage wurden mit der gesamten Familie gefeiert. Dass jemand fehlte, gab es nicht. Die Großeltern und Eltern, die Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen sowie meine Zwillingsschwester und ich saßen gemeinsam an einem langen Holztisch in Oma und Opas großem, aber dunklem Wohnzimmer. Auf dem Tisch eine von Oma selbst bestickte, weiße Decke, darauf das gute Porzellan mit dem Goldrand und das schwere Silberbesteck mit den langen Griffen, das wir Kinder mit unseren kleinen Händen kaum halten konnten. Auch an Weihnachten versammelte sich die ganze Familie um diesen Tisch, darauf lagen dann die Geschenke für alle, aber sie waren mit eben dieser Tischdecke verhüllt, und die wurde erst abgenommen, nachdem Opa die Weihnachtsgeschichte vorgelesen und mein Vater Weihnachtslieder auf dem Klavier gespielt hatte.
Schon lange sitzt niemand mehr an diesem Tisch, die Stühle sind leer. Aber in meiner Erinnerung ist er noch da, dieser Tisch, umgeben von einer Flut von schweren Möbeln und dichten Vorhängen, die das Zimmer noch dunkler machten als es bereits war. Noch heute kann ich an Weihnachten die sonore Stimme meines Opas hören und sehe meinen Vater am Klavier. Er spielt leise Lieder in einer lauten Zeit.
Rückblickend war meine Kindheit sehr glücklich, wir lebten wie auf einer kleinen Insel, behütet und sorglos, umgeben von einem Meer aus Liebe und Geborgenheit. Die Kraft, die wir hier tanken konnten, half uns später so manches Mal, die Prüfungen des Lebens zu bestehen.
Jahrzehnte trennen mich inzwischen von meiner Kindheit, aber die kleinen Ruheinseln sind noch lange nicht untergegangen, auch wenn sie vom Erwachsensein überspült wurden. Wenn ich die Augen schließe und an all die Menschen denke, die schon lange nicht mehr leben, denen ich aber so viel zu verdanken habe, kann ich diese Inseln wiederfinden, ganz tief in mir.
Ich stehe auf einer Scholle aus Eis
meine Füße schmerzen
doch kann ich nicht fort von hier
Ich suche nach anderen
die mich befreien
Sie stehen genau wie ich und frieren
Bewegen kann ich mich nicht
denn eisiges Wasser umspült mein Ich
Vergeblicher Blick in die Ferne
Sehnsucht nach Wärme und Licht
Kein Schiff taucht am Horizont auf
das uns rettet
und in wärmere Länder trägt
In diesem Wasser kann ich nicht schwimmen
doch lass ich mich treiben
muss ich im Eismeer untergehen
Petra Koslowski
Ruth Finckh
Nicht mehr lange, sagen die mit den weißen Kitteln. Vielleicht braucht sie noch ein Morphiumpflaster. Sie schauen ernst auf den Monitor am Fußende meines Betts. Als wüsst ich nicht, wie es steht. Aber mit mir reden sie nicht. Sie glauben, ich kriege nichts mehr mit. Ich versuch ja, zu sprechen. Immer wieder! Aber irgendwie formt mein Mund keine Worte mehr. Dabei bin ich doch noch da. Mist.
Jetzt hab ich wieder Kopfschmerzen und dann kommt gleich diese dröhnende Müdigkeit. Wie ein graues, alles verschlingendes Meer. Müde ...
Das Meer macht Platz. Eine Grasinsel zwischen Steinen, unten am Fluss. Gustelchen ist bei mir. Ich soll auf sie aufpassen, sie ist doch noch so klein. Wir bauen Türme aus den runden Kieseln, aber die Türme fallen immer wieder zusammen. Da heulen die Sirenen. Ich packe Gustelchen, hebe sie hoch und renne zum Bunker. Sie schreit wie am Spieß, sie hat ihren grauen Teddy verloren. Ich helfe ihr schnell, ihn aufzuraffen. Im Bunker ist es dunkel und stickig, aber wir haben es geschafft. Was wird aus den Kaninchen, wenn die Bomben fallen? Ich lege mich auf den Boden. Müde, müde.
Ein Sonnenfleck unter dem Zwetschgenbaum hinten im Garten. Ich sitze auf der Wiese, halte Berti im Arm und stille ihn. Das sanfte Ziehen in der Brust, das Summen der Bienen in den Zwetschgenblüten. Grünlichblass sind die Blüten und gar nicht so üppig wie Kirschblüten, aber die Bienen mögen sie trotzdem. Wir werden im Herbst Pflaumenmus kochen. Edgar kommt und legt den Arm um mich. So ist er sonst nicht. Aber jetzt schaut er ganz verliebt auf seinen Sohn. Einmal hab ich es ihm recht gemacht. Das ist gut. Gustel ruft, sie hat Essen gemacht. Das Leben ist schön. Aber ich muss schlafen.
Edgar steht im Flur und schreit mich an. Schreit und schreit. Sein blaukariertes Hemd, das hab ich gestern erst gebügelt. Sein aufgerissener Mund, die zuckende Ader auf seiner Stirn. Er hebt die Faust. Ich will hier weg. Weg! Ich rufe das Meer. Es kommt, grau und freundlich. Mein Meer. Es steigt, es spült das Schreien weg. Es spült Edgar weg. Es ist warm.
Das graue Wasser weicht zurück vor Plätzchenduft. Es ist Weihnachten, das kann ich riechen. Wir sitzen am Küchentisch, Berti und Tina und ich. Tina ist hochschwanger und ich darf, ganz vorsichtig, die Hand auf ihren Bauch legen. Die Latzhose ist prall gespannt. Gustel kommt rein, sie will auch mal. Wir lachen alle zusammen und essen Plätzchen. Die guten Mandelmakronen nach Omas Rezept. Edgar sitzt in der Ecke und liest Zeitung. Er sagt, er mag keine Plätzchen und kein Weibergekicher. Aber ich weiß, dass er nachher heimlich vom Teller naschen wird. Ich lege noch einmal die Hand auf die runde Latzhose und spüre das Strampeln, und Tränen steigen hoch. Es sind gute Tränen, warm wie mein graues Meer.
Wir stehen am Grab auf dem Waldfriedhof. Die Erde klingt hohl auf dem Sargdeckel, welkes Laub fällt dazu. Ich halte einen Strauß Astern in der Hand und kriege kalte Füße. Der Pastor redet irgendwas, das ihn anscheinend selber langweilt. Edgar ist tot und jetzt sind wir Angehörige. Muss ich nun traurig sein? Ich bin traurig, irgendwie, aber eigentlich auch froh.
Berti ist gekommen, mit Tina. Sie stehen ganz verloren vor meinem Bett und lassen die Arme hängen. Sie glauben, ich versteh sie nicht, deshalb sagen sie nichts. Aber Jenny ist auch da. Sie redet mit mir und erzählt von ihrem Studium und hängt bunte Bänder in die Krankenhausgardine. Das ist gut.
Jetzt fehlt noch Gustel. Gustel kommt, mit Rollator und allem. Sie lacht und weint. Und dann legt sie mir ihren grauen Teddy aufs Bett, unseren Kinderteddy von damals. Er ist weich und warm wie mein Meer. Es gibt keine Bomben mehr. Nie mehr. Nun darf das Wasser steigen.
Tautropfen auf
dem trockenen Blatt
des Frauenmantels am Morgen:
Insel verkehrt, ein Spiegel
der neugeborenen Welt.
Ruth Finckh
Foto und Fotoeffekte: Manfred Kirchner
Hansi Sondermann
Karfreitag, 30. März 2018, 6 Uhr. Frühmorgendunkel. Frühlingsfeindlich kalt. Die Luft noch etwas schneedurchwirkt. Nieselregen mit Potenzial zu stärkeren Güssen.
Eiserne Lastkähne gleiten über den Wund-See. Zur Dorneninsel hinüber. In den Booten dreißig Personen, schwarzregenschutzgekleidet. Tragen Pechfackeln. Schweigen. Stille. Nur das Klatschen der Ruder und das Ächzen der Riemen.
Die „Erinnerungswerkstatt“, eine Initiative zur Erforschung politischer Verbrechen während der Naziherrschaft, vom Bildkünstler Cäsar Hartleeb ins Leben gerufen, hat auch in diesem Jahr Zeit und Art der Überfahrt zur Dorneninsel dem zu erinnernden Ereignis genau angepasst.
Am Karfreitag, dem 30. März 1945, ebenfalls um 6 Uhr früh, haben Männer in den furchterregenden Uniformen des Todes in denselben oder ähnlichen Booten 17 jüdische Zwangsarbeiter auf die Dorneninsel gebracht und sie dort ermordet. Das Massaker gehört zu den Endphasenverbrechen Anfang 1945, die an vielen Orten vor allem von der SS begangen wurden.
Der 30. März: ein düster böses Datum in der Geschichte der Stadt, deren Bevölkerung erst vor drei Jahren sehr krass – für viele Bewohner sicher unangenehm – aus dem Gedächtnisschlaf geweckt wurde. Niemand von ihnen wusste vorher – angeblich – etwas von dem grausamen Geschehen, das sich auf dem See unweit ihrer Stadt ereignet hatte. Ist doch schon so lange her. Muss man das denn immer wieder aufwärmen? Unruhe verbreiten? Vor allem: Was haben wir denn noch damit zu tun?
Henner Kowarcz, ein nach dem Krieg in der Stadt hängengebliebener SS-Rottenführer – von Haus aus Katholik, als SS-Mann aus der Kirche ausgetreten, in den 50er Jahren wieder in ihren Schoß zurück – hat sich vor drei Jahren kurz vor seinem Krebstod in einer lebensspäten Beichte Pater Rupert Vesper SJ gegenüber als Mittäter des grauenerregenden März-Verbrechens geoutet. Vesper hat sehr lange an Kowarcz´ Krankenbett gesessen und ihm beichtvatergeduldig zugehört; wobei er jedoch mehr und mehr zwischen pastoraler Zuwendung und zornerfüllter Abneigung gekämpft hat. Das, was ihm mit atemschwerer Stimme stoßweise stückweise offenbart wurde, hat ihn an den Punkt geführt, dem Beichtenden die Lossprechung zu verweigern. Um das Verbrechen jedoch einem nach seiner Meinung noch immer erforderlichen Strafverfahren zuzuführen, hat er die Absolution davon abhängig gemacht, dass Kowarcz vorher ein detailliertes Schuldbekenntnis vor einem Staatsanwalt abgeben müsse. Da dieses angesichts der Todesnähe des SS-Mannes sehr schnell zu erfolgen hatte, hat Vesper das Verfahren selber in Gang gesetzt; obwohl er nicht wenige Staatsanwälte kannte, die kaum an der juristischen Verfolgung längst verjährter Naziverbrechen interessiert waren; dies oft mit der Überlastung durch aktuelle Strafrechtsfälle begründet. Ein junger, hörbar linksorientierter Anklagevertreter hat sich jedoch sofort mit dem Fall befasst.
Und im harten Gegensatz zu vielen SS-Schergen, die über sich und ihre Taten Unwahres erzählt haben, hat Kowarcz im Verhör brutal offen und präzise über das Dorneninsel-Massaker ausgesagt. Die korrekte Vernehmung und die der privaten Beichte folgende eidesstattliche Aussage haben das Karfreitags-Drama vom März 1945 auch öffentlich gemacht. Nach dem Tod des SS-Mannes, kurz danach, wurde das Verfahren jedoch eingestellt.
Kowarcz hat nach dem Krieg eine Büroangestellte des Steinbruch- und Straßenbauunternehmens Klacke geheiratet und wurde auch schnell dessen Büroleiter. In diesem Unternehmen wurden in der Nazizeit für den staatsseitig geforderten und geförderten Straßenbau und die dafür erforderlichen Steinbrucharbeiten auch jüdische Häftlinge aus näheren und entfernten KZ-Lagern beschäftigt. Vor allem im Steinbruch mussten diese, von der SS bewacht und brutal angetrieben, oft bis zur totalen Erschöpfung arbeiten und ihr Leben unter antimenschlichen Bedingungen fristen.
Klacke wusste um die Situation der jüdischen Zwangsarbeiter, nahm dieses aber – angeblich um gefährliche Widersprüche zu vermeiden, in Wahrheit aber aus egoistischem Interesse – in Kauf; nur wenn die Kräfte der Zwangsarbeiter zu sehr nachließen oder mehrere von ihnen erkrankt ausfielen, was zwangsläufig zu Verzögerungen führte, intervenierte er beim Lager-Kommandanten. Im Gegensatz zu Klacke versorgte seine christlich-human gesinnte Frau die jüdischen Sklaven in ihren Steinbruch-Baracken heimlich mit zusätzlichem Essen und Trinken und auch mit Verbandszeug und einfachen Medikamenten. Das alles jedoch ohne Wissen und auch gegen den Willen ihres Mannes.
Viele der anfangs 43 Häftlinge sind an Krankheit, Erschöpfung, auch aufgrund von Misshandlungen gestorben; die Überlebenden mussten oft wegen geringster Vergehen, vor allem wegen nicht erfülltem Soll, stundenlang nackt in der eiskalten Werkhalle ausharren, einige wurden vom SS-Obergruppenführer Hanke, dem krankhaftfanatischen Lagerkommandanten, ausgepeitscht, nicht selten auch aus purer Mordlust wie Wild abgeknallt. So Kowarcz in seiner Aussage.
17 am Ende Übriggebliebene wurden in der berüchtigten März-Nacht 1945 auf der Dorneninsel ermordet, ihre Körper verbrannt und bis zur Unkenntlichkeit zerstört und verscharrt.
In der nebligen Frühe der Tage nach Ostern wurde die Massengraberde am Ort des Massakers von Mitarbeitern der Firma Klacke festgestampft und die Stelle mit schweren Steinplatten belegt. Zur totalen Auslöschung der Menschen sollte es keine Grabstelle geben. Der Befehl kam wieder vom SS-Obersturmführer Hanke, dessen Sadismus und Brutalität selbst den SS-harten Kowarcz abgestoßen hatte, wie auch die von ihm als sinnlos verurteilte Liquidation der Juden.
So jedenfalls in dessen Bekenntnis.
Die Steinplatten wurden schon bald danach durch eine halbmeterdicke Betondecke ersetzt, die auch jetzt noch den gesamten Platz überspannt.
Knut Vernow, Stuka-Flieger, seinerzeit wegen seines sturzflugverursachten Asthmas inaktiv, wohnte nicht weit vom Seeufer entfernt. Wegen seiner Luftnot an Schlaflosigkeit leidend, saß er nachts oft am offenen Fenster. Wie er später erzählt hat, hatte er in der Nacht des 30. März 1945 geglaubt, von der Insel her blechzerreißendes Schreien zu hören. Weil dieses schnell wieder verstummt und einem lachenden Grölen gewichen war, hatte er angenommen, dass die Hilferufe spaßeshalber geschehen waren. Auf den Gedanken, dass sich auf der Insel etwas Unheimliches ereignet haben könnte, war er nicht gekommen. Wie er auch hierüber bis zum offen geführten Kowarcz-Prozess geschwiegen hat.
Damals drangen keine Hilferufe zum Festland hinüber, sondern nur stumme dumpfe Schreie, die niemand hören konnte, und die auch die Mörder nicht hören wollten, diese deshalb schnell per Kopfschuss erstickten mit grölend lachenden Kommentaren.
Sie haben den Tod bereits lebend abgebüßt. So einige der letzten Worte Kowarczs zu der Lebens- und Arbeitssituation der jüdischen Häftlinge.
Die Boote legen an der Nordseite der Insel an. Die dunkle Prozession setzt sich in Gang. Ein schmaler kaum ausgetretener Pfad, von dichten Dornenhecken umklammert, führt auf eine Lichtung; die quasi eine Insel auf der Insel bildet. Ein runder Platz, auf dem es jahrzehntelang Sonnenwendfeier und Johannesfeuersprung gab.
Wenn der verdammte Kowarcz früher das Maul aufgemacht hätte, wären unsere Johannisnächte nicht auf dieser Platte erfolgt. Wenn ich daran denke, dass wir dabei auf dem Totengrab getanzt und unsere Feuersprünge gemacht haben, zieht sich jetzt noch meine Kopfhaut zusammen!
Flüstert Erwin Semmler in sich hinein.
Feuerdorn, Rotdorn, Kreuzdorn, Schwarzdorn, Berberitze, Stechpalme, sogar große Dornenbäume, von denen die Insel fast vollständig bedeckt ist und wovon sie ihren Namen hat, sind derart eng ineinander verwachsen, dass es kein Durchkommen gibt, selbst für Igel, auch für einige Vögel nicht.
Weshalb die engstehenden Dornenbüsche bei den Johannisnachtfeiern fast so etwas wie „Garanten der Keuschheit“ waren. Obwohl einige Liebestolle auch schon mal schmerzhaft in einem der „Dornröschenbüsche“ hängengeblieben sind. Diese Art Liebesleiderfahrung haben jene Feuersprungmutigen nicht gemacht, von denen die Johannisfeuerzusage baldiger Heirat schnell in die Realität umgesetzt wurde. Wie Hubert Holzhausen, der sich schon nach dem ersten Nachkriegs-Johannis mit Bärbel Provinsky verlobt und sie dann auch schnell geheiratet hat. Darauf haben die beiden der Welt sechs prachtvolle katholische Kinder geschenkt, wie die Orgelpfeifen aneinander. Erinnert Lutz Weber.
Jetzt ist der Platz eine Totenstätte. Siebzehn zerbrochene Steinplatten im Kreis. Senkrecht auf der Betonplatte festverankert. Ohne Namen. Nur Nummern. Das Einzige, was Kowarcz von den Toten kannte.
Die Prozessionsgruppe verteilt sich rings um die Steinplatte. Rabbi Cohn, von der Jüdischen Gemeinde des Landkreises, spricht das Kaddisch, das Totengebet der Juden:
… ein Reich erstehe … in euren Tagen und im Leben … des ganzen Hauses Israel … schnell und in nächster Zeit … sprecht: Amen! Amen! Die Antwort im Chor.
Ein Schüler des Wilhelm-von-Humboldt-Gymnasiums der Stadt liest ein Gedicht von Nelly Sachs:
… Wir Geretteten, immer noch hängen die Schlingen um unsere Hälse gedreht … vor uns in der blauen Luft. – Immer noch füllen sich die Stundenuhren mit unserem tropfenden Blut …
Cäsar Hartleeb und der Schauspieler Hans Vallendar vom Theater der Landeshauptstadt lesen im Strophenwechsel und mit verteilten Rollen aus den Staatsanwalts-Protokollen Details der Kowarcz-Aussagen:
Kurz vorm Ende des 2. Weltkrieges
Die US-Armee ist nähergekommen.
Geschützdonner, Bombenexplosion.
17 jüdische Zwangsarbeiter
aus dem Ausweichlager eines KZs
haben Jahre im Steinbruch Klacke
unter antimenschlichen Bedingungen
geschuftet, gehungert, gedurstet, gefroren.
SS-Obersturmführer Hanke,
der Lagerkommandant,
lehnt wegen der nahen Front
den Weitertransport der Häftlinge ab.
Kurzdialog der SS-Mannschaft:
Wann soll´n die endlich weg?
Hanke will Liquidation, bevor die Amis …
Was soll diese Metzelei bringen.
Kostet nur Munition.
Kennst doch Hanke!
Morgen wird alles aufgelöst
Rückzug weiter nach Osten
Scheiße!
Jetzt erst?
Ja, jetzt!
Die 17 jüdischen Zwangsarbeiter werden am frühen Morgen des 30. März 1945 ermordet, zerstückelt, verbrannt, ausgelöscht.
Das Verbrechen erfolgt auf der Dorneninsel. Kaum mehr betreten. Für die SS der Ort für ihr Massaker.
Noch heute im Ohr das Knarren der eisernen Kähne, auf deren Boden die Opfer gekettet knien.
Auf einer baumfreien Stelle werden sie, unter SS-Prügeln gezwungen, eine Massengrube auszuheben.
Eine Grube, von Wurzeln starrend.
Sie ließen sich töten wie Schlachtvieh. So Kowarcz. Ein Häftling aber, todesgewiss, verletzt mit dem Spaten einen SS-Mann schwer. Will sich darauf in den See stürzen. Bleibt aber in den Dornen hängen. Zur Vergeltung wird er von Hanke selbst mit einem Dornenast so lange blutig geschlagen, bis er tot ist. Danach werden alle Häftlinge, splitternackt, unter Kolbenhieben hineingejagt in ihr Grab. Dann durch Nackenschüsse getötet, einige Kugelserien nachgeknallt. Zitiert Kowarcz eiskalt seine Mordkameraden.
Vorher Schreie aus tiefster Todesangst. Menschen schreien nach Menschlichkeit. Vergeblich.
Ihre Leichen werden,
mit Benzin übergossen,
sofort verbrannt;
dabei einige Dornen-Sträucher.
Ein Krematorium unter freiem Himmel.
Das Feuer mit Ölzeug nachgefüttert,
brennt stundenlang infernalisch heiß
die Totenkopfschergen wenden
die Feuertoten mit Ästen
wie auf einem Grill – hat Kowarcz gesagt
bis die Leichen total verkohlt sind.
Auf das Verkohlte noch Säure gegossen,
ein Fluss- und Salpetersäure-Gemisch.
Das Menschgewesene total vernichtet
das nicht Identifizierbare verscharrt.
Namenloses Leben restlos ausgelöscht.
Im Boden der Todessenke Asche, Knochensplitter, Knöpfe, Gebisse, nichts weiter.
Die hungerdünnen Jacken, Hosen, zerschlissenen Arbeitsschuhe mitverbrannt.
Es bleiben aber Fußspuren im Sand. Fußspuren der Opfer. Fußspuren der Täter.
Ewigkeit dauernd.
Ein Student der Geschichtswissenschaft liest einen Text von Hannah Arendt, der in dem Satz gipfelt: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem begangen wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein.
Pater Rupert Vesper, ordensbestraft in die Provinz versetzt, spricht ein nicht autorisiertes, brutales Schuldbekenntnis der katholischen Kirche, das den meisten Anwesenden sichtbar unter die Haut geht. Weder von der Sankt-Christophorus-Basilika noch von der lutherischen St. Martins-Gemeinde ist jemand erschienen. Die Trauerfeier wie auch die Erinnerungswerkstatt wurden halt von einem kirchenfremden Künstler ins Leben gerufen, weshalb die christlichen Geistlichen sich nicht an diesem profanen Requiem beteiligen.
Wir müssen der Asche dieser Menschen gedenken. Wobei wir fragen: Asche als Menetekel ähnlicher, künftiger Gewalt?
So die Trauergemeinde im Chor. Danach bleiben alle Teilnehmer mehrere Minuten schweigend stehen, bevor sie mit den Booten die Insel verlassen.
Das im Osten aufgetauchte Morgenlicht lässt die Äste und Zweige der Dornenbäume wie Scherenschnitte erscheinen.
Foto: Birgit Heymann
Für P.S.
1.
Wie Schwemmholz
an deine Ufer gespült
Du nahmst mich auf
in deine Hütte
die von innen
so viel größer wirkte
In deinen Feuern
verglüh ich
Dein Gesicht bemalst du
mit meinem Ruß
Sieht jemand
das Leuchtfeuer?
2.
In deinen Augen brennt es
Leuchtfeuer
die mich zu deinen Ufern führen
wenn Wellen mich
niederdrücken
ich den Atem verlier
3.
Wie das Meer
umspannst du meine Insel
sprengst meine Hafenblockade
dringst in mich ein
zündest Leuchtraketen
in meiner Hauptstadt
4.
Ich hafte an deinen Fingern
wie Algen an Felsen
in der Brandung
Umspült vom Meer
stehst du auf dem Boden
meiner Tatsachen
5.
Die Wellen
über uns
wir versinken
beieinander
Das Ufer fern
wie die Sonne
an meinem Horizont
Lisa Neumann
Hans-Jochen Hüchting