Licht - Ruth Finckh - E-Book

Licht E-Book

Ruth Finckh

0,0

Beschreibung

Das Strahlen der Liebe, die Schatten der Verzweiflung, sonnige Gärten und finstere Kellergewölbe: das ganze Spektrum von Licht und Dunkelheit spiegelt diese Sammlung von Geschichten und Gedichten, verfasst von fünfzehn Autoren aus der Schreibwerkstatt der Universität des Dritten Lebensalters in Göttingen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 129

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Diese Anthologie entstand im Rahmen der von Ruth Finckh geleiteten Schreibwerkstatt des Dritten Lebensalters an der Universität Göttingen (UDL).

Illustrationen und Bilder lt. Bildtitel

Umschlagfoto Manfred Kirchner

Zu diesem Buch haben beigetragen

Ruth Finckh

Eva Jänecke-Lauke

Hans Jochen Hüchting

Manfred Kirchner

Lore I. Lehmann

Helga Margenburg

Brigitte Rosetz

Hansi Sondermann

Jörg Winkler

Belinda Schantong

Joana McDonald

Lisa Neumann

Albrecht Thiel

Brigitte Rosetz

Martina Maly

Karen von zur Mühlen

Für Anregungen, Fotos und Bilder danken wir

Jari Nestel, Ingrid Hüchting, Dr. Gabriele Gaba Weis

und Jürgen Lauke.

Licht

Beschwerde Albrecht Thiel

Nachtforst Hansi Sondermann

Dämmerstunde Eva Jänecke-Laucke

Bordighera Hansi Sondermann

So oder so Helga Margenburg

Lichtspiele Martina Maly

Mittsommernacht Manfred Kirchner

Lichtbilder Brigitte Rosetz

Die Kellerlampe Lore I. Lehmann

Scheinwerfer Eva Jänecke-Laucke

Schreiben mit Licht Jörg Winkler

Feenlicht Belinda Schantong

Das Schicksal der Scheinwerfer Eva Jänecke-Laucke

Licht im Tunnel Eva Jänecke-Laucke

Licht…Licht! Hansi Sondermann

Dämmerung Belinda Schantong

Acht Minuten Helga Margenburg

Schatten Eva Jänecke-Lauke

Lichterloh. Acht Gedichte. Ruth Finckh

Irrlichter Eva Jänecke-Laucke

Novembersonne Manfred Kirchner

Lichtung Eva Jänecke-Laucke

Die alte Villa Hansi Sondermann

Abends Eva Jänecke-Laucke

Rampenlicht Eva Jänecke-Laucke

Im Schatten Lisa Neumann

Das stolze Licht Hansi Sondermann

Weißt du nicht Martina Maly

Zum Licht – eine Fabel für Kinder Hans-Jochen Hüchting

Claire De Lune Hansi Sondermann

Nachts, oder die Frau ohne Alter Eva Jänecke-Laucke

Mondlicht Hansi Sondermann

Das Erbe des Ra Manfred Kirchner

Nocturnes Hansi Sondermann

Vor Sonnenuntergang Helga Margenburg

Abschied Hansi Sondermann

Die Strömung des goldenen Lichts Joana Mac Donald

Wenn der Tag geht Manfred Kirchner

Burkhard Stiller und das Teelicht Albrecht Thiel

Licht des Lächelns Hansi Sondermann

Vexierbilder, aus Licht geboren Karen von zur Mühlen

Letzter Abend Hansi Sondermann

Der Letzte macht das Licht aus Eva Jänecke-Laucke

Luzifer Hansi Sondermann

Die Autoren

Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht (Genesis 1)

Albrecht Thiel

Beschwerde

Wir, Lux, Vertreter des Lichts und Nox, Vertreter der Finsternis legen gegen das oben angeführte Dekret Gottes zur Scheidung des Lichts von der Finsternis Beschwerde beim Weltenrat mit folgender Begründung ein:

Wir sind seit etwa sechzehn Millionen Jahren zusammen. Wir waren schon zusammen, als es Gott noch nicht gab. Wir können nicht ohne einander existieren, denn wir gehen Abend für Abend nicht auseinander, ohne uns ausgiebig voneinander zu verabschieden und wir sehen uns Morgen für Morgen wieder, um uns herzlich zu begrüßen. Und wir gehen fließend ineinander über.

Eine Scheidung würde bewirken, dass es eine sehr strikte und plötzliche Trennung geben würde, welche verheerende Auswirkungen auf alle Elemente und alle lebenden Organismen hätte. Ein plötzliches Einsetzen der Dunkelheit oder ein plötzliches Einsetzen des Lichts würden bleibende Schäden und Traumata bei Pflanzen und Tieren verursachen.

Gott kann unsere Scheidung nicht per Dekret bestimmen, dazu hat er den Weltenrat und nicht zuletzt auch die Beteiligten zu befragen.

Wir finden die Namensgebung schrecklich, denn wer will schon Tag heißen oder Nacht mit diesem furchtbaren ch-Kehllaut. Die Namen möchten wir selbst wählen; schließlich haben wir schon lange eigene schöne Namen.

Der Weltenrat tritt unter Leitung von Sol wie jedes Jahrhundert einmal auf Wolke vierundzwanzig zusammen. Anwesend sind außerdem die Götter Terra, Aqua, Fauna, Flora und Estrella, Lux und Nox als Beschwerdeführer und Gott als Beschuldigter. Der Weltenrat hat jedes Jahrhundert darüber zu befinden, wie Gott als Exekutiv-Präsident die Welt regiert hat und ob irgendwelche Verfehlungen zu beklagen wären.

Sol stellte in einer langen Rede dar, dass Gott alles in allem seine Sache gut gemacht, aber insbesondere bei Licht und Finsternis seine Kompetenzen überschritten habe. Fauna und Flora bestätigten, dass eine strikte Trennung von Licht und Finsternis gravierende Folgen für Tiere und Pflanzen haben würden. Terra und Aqua wiesen ergänzend darauf hin, dass diese Trennung auch große Auswirkungen auf Land und Meer haben könnten. Auch die Sichtbarkeit der Sterne müsste nach Estrellas Aussage neu geordnet werden.

Nach längerer Beratung wurde der Beschwerde von Lux und Nox stattgegeben. Gott wurde angewiesen, die Scheidung von Licht und Finsternis zurückzunehmen und den alten Zustand wieder herzustellen. Lux und Nox behielten ihre Namen. Glücklich trafen sich die beiden bei der folgenden Tag- und Nachtgleiche und feierten kräftig mit Blitzen und Nordlichtern.

Gott zog sich gedemütigt zurück und überlegte wieder einmal, ob er es trotz dieser Niederlage wagen sollte, den Menschen zu erschaffen.

Hansi Sondermann

Nachtforst

Eine Schneise aus Licht

von der Mondaxt geschlagen

durchschneidet den

nachtschwarzen Wald

Silberne Radspuren

der Holzrücke-Wagen

mondhelle Huftapfen der Pferde

im feuchten Sand

In der Nebelfrühe aber

vor dem Morgenlicht schon

erneut das Krachen von Äxten

und das Pfeifen der Stahlblätter

wenn sie durchs Holz gehen.

Foto und Effekte: Manfred Kirchner

Eva Jänecke-Lauke

Dämmerstunde

Jetzt kommt die Zeit, nach der sie sich sehnen, das Tageslicht schwindet, die Nacht wird sie in Dunkelheit und Sicherheit einhüllen, nur der gedämpfte Schein von Laternen lässt sie nicht gänzlich unsichtbar werden.

Es ist nicht die Rede von lichtscheuem Gesindel, wie man es vermuten könnte, nein, es handelt sich um all jene, die nicht im grellen Tageslicht, und schon gar nicht im Rampenlicht gesehen werden wollen, weil sie es nicht mehr ertragen können, von anderen angestarrt oder übersehen zu werden, weil sie zu hässlich oder zu sonderbar sind oder sich auf andere Weise nicht den geltenden Normen zugehörig fühlen.

Alle, die bei Tage keinen kurzen Rock zu tragen wagen, nicht bei hochsommerlicher Hitze im Bikini ins Freibad gehen oder sich mit großem Ausschnitt ins Straßencafé setzen oder sich nicht trauen, extravagante Hüte zu tragen oder als Mann in Frauenkleidung herum zu laufen. Alle, die bei Tage nicht wagen, sie selbst zu sein.

Sie alle haben nichts verbrochen, brauchten den Tag und die Öffentlichkeit nicht zu scheuen, brauchten sich nicht in den Schatten und das Dunkel zu drücken, aber sie tun es, weil sie noch nicht ertragen können, dass man sie kommentiert, bewertet und über sie tuschelt.

Sollte es sich aber irgendwann in der Dämmerung zu schön anfühlen, wenn der Abendwind um die nackten Beine streicht, es glücklich machen, im letzten Tageslicht nackt in den Baggersee zu steigen oder mit verrückten Kleidern durch die Straßen zu huschen, sich schrill zu überschminken und auf Stöckelschuhen um die Ecken zu klappern, wird es ihnen vielleicht endlich egal sein, was andere über sie denken und reden.

Sie werden kurze Röcke anziehen, ohne Perücke zum Einkaufen gehen, sich im Freibad räkeln, sie werden sie selber sein, ihren Körper spüren und nicht weg sperren.

Und vielleicht werden sie auch gar nicht wahrgenommen von denen, die seit Stunden damit beschäftigt sind, ihren Bauch einzuziehen, die zu ihrem Friseurtermin hetzen, um sich die Haare nachfärben zu lassen oder die noch schnell ein teures Oberteil kaufen, um ihre überflüssigen Pfunde zu kaschieren.

Foto: Eva Jänecke-Lauke

Hansi Sondermann

Bordighera

unter den lichtweißen Gipfeln

der Seealpen,

deine Seele ist ligurisch,

die Riviera dei Fiori

ein botanisches Elysium.

Vor dem harten Licht des Mittags

in die Gassen der Altstadt,

über die Piazza del Popolo

in die schattendunkle Kühle

der Santa M. Maddalena.

San Ampelio huldigen,

der den Samen der Datteln brachte.

Im Giardino Esotico Pallanca

Eukalyptus, Myrten und Mimosen,

Agaven und Kakteen, gelber Ginster

und das Karminrot der Gladiolen.

Zitruspflanzen, Palmenhaine

und schwermütige Zypressen.

Im Lichtnetz der Olivenwäldchen

hundert Jahre alte Ölbäume.

Quirlige Eidechsen in den Mauerfugen

und der betörende Gesang der Amseln,

die in den Pinienzweigen nisten.

Der elegante Flug einer Silbermöwe

überm Hotel Villa Elisa

reißt den Blick hoch ins endlos Blaue,

in die lichtvolle Weite.

Weiter hangaufwärts,

hinter verrosteten Eisengittern,

von Zitronenbäumen gesäumt,

Jugendstilvillen, grandios verfallen.

Vor den Balkonen, auf den Terrassen:

Gelbweiße Markisen im Licht.

Im Ristorante L´Aranceto

köstliche Pigato und Cantuccini,

gefüllte Zitronenblüten

mit Thymian und Rosmarin

und:

Spaghetti – auf snobistische Manier kalt serviert.

Am Nachmittag in der Gelateria

an der Porta della Maddalena

„Hölunder-Lavendel mit weißer Schökölade“.

Ein Eis wie nirgends auf der Welt:

Meravigliosa! Incantevole!

An der Lungomare Arentina:

das Knattern der Piaggios und

der Pfiff des Riviera-Zuges,

bevor er die stazione erreicht.

In unserem Hotel am Capo Sant´ Ampelio:

Fin-de-Siecle. Davidoff - und Champagnerduft,

abgeschirmtes Licht der Art-Deco-Kandelaber.

Das Parkett mit den Intarsien und Mosaiken,

auf dem Danielas High heels wie Hufschläge klicken.

Am späten Nachmittag

ins ligurische Meer,

in die anbrandende,

über die Kiesel krabbelnde,

schmatzende See.

Am Abend auf der Mole

Fischer, steigen in ihre Boote,

zünden die Nachtlichter an,

träumen vom großen Fang.

Nachts unterm Mondlicht

trawlen ihre Kutter küstennah.

Am nächsten Tag schon

Gambas, Miesmuscheln und Seewölfe

in den Ristoranti der Città vecchia

aufgetischt.

Bordigheras Flaniermeile ist

gefällig, animiert zur Ruhe.

Kein Hupen. Kein Geschrei. Gelassenheit.

Gebräunte Signori unterm Sonnenhut,

filmrömerstolz den Corso Italia entlang;

im La Casa Del Caffee´ einen Espresso

oder einen Campari Orange in der Bar Milleluci.

Trotz des Fortschritts

Fischerdorfromantik,

noch etwas Riviera-Bohéme,

Belle époque und späte Moderne.

Die stilistische Noblesse jedoch:

Tempi passati.

Das unvergleichliche Licht

Bordigheras

hat den Bildern

Claude Monets und Pompeo Marianis

ihren letzten Zauber gegeben.

Und:

Im Bogenschatten der Porta Sottana

das lichtweiße Elfenbein

und das verführerische Rotlicht

deines Mundes, Daniela!

Bild: Hansi Sondermann

Helga Margenburg

So oder so

„Hier wird mich sö schnell niemand finden“, dachte Anne, als sie ihre kleine Reisetasche packte. Wer sollte sie auch finden wollen? Es gab ja niemanden, der ihr wirklich nahe stand.

Diese winzige Insel in der Nordsee war genau richtig für das, was sie vorhatte. Hier gab es nur wenige Pensionshäuser und kaum noch Feriengäste um diese spätherbstliche Jahreszeit. Die meisten Häuser hatten bereits geschlossen. Einsamkeit breitete sich jetzt auf der Insel aus, das hatte Anne im Internet recherchiert.

Bewusst hatte sie sich diese Jahreszeit ausgesucht. Sie passte zu ihrer Stimmung, zu ihren düsteren Gedanken. Wie oft hatte sie versucht, Licht und Gelächter dazwischen zu stopfen, doch sie waren nicht heller geworden. Vielleicht hätte es geholfen, wenn jemand gemeinsam mit ihr gelacht hätte?

Das Haus ‚Dünenblick‘, das Frau Käthe gehörte, hatte nöch geöffnet und Anne hatte dort ein Zimmer bekommen. Für acht Tage hatte sie gebucht und im Voraus bezahlt.

Die Anreise war beschwerlich, es herrschte ein rauer Wind und die Fähre schaukelte stark. Trotzdem stand Anne an Deck und sah zu, wie sich hohe Wellen am Bug brachen. Sie hielt sich an der Reling fest, kalte Gischt spritzte ihr ins Gesicht und wirbelte ihre kurzen dunklen Haare durcheinander. Sie empfand ein Gefühl der Freiheit, das sie beruhigte und irgendwie glücklich machte.

Als sie erschöpft ankam, war es bereits Abend. Ohne Mühe fand sie das alleinstehende dunkelrote Backsteinhäuschen mit dem tief herunter gezogenen Reetdach, das sich zwischen Sanddornbüsche und Strandhafer tief in die Dünen duckte. Frau Käthe erwartete sie bereits. Mit einem kritischen Blick auf Annes kleine Reisetasche fragte sie „Ist das alles?“. Typisch für diesen Menschenschlag, fand Anne, bloß kein Wort zuviel. Nun, vielleicht wurde man sö, wenn man in dieser Einsamkeit lebte. „Ja“, antwörtete Anne ebenso knapp. Sie wollte nicht reden, sondern früh zu Bett gehen. Ein wenig freundlicher fügte sie hinzu „Ich brauche nicht viel.“ Diese Tasche beherbergte alles, was vön ihrem Leben übrig geblieben war, nachdem sie ihre Arbeitsstelle und Wohnung gekündigt und ihren ohnehin spärlichen Hausstand aufgelöst hatte.

Der Frühstückstisch am nächsten Morgen war reichlich und liebevöll gedeckt. „Ich denke, Sie können ein bisschen was auf die Rippen vertragen“, sagte Frau Käthe mütterlich, als sie Rühreier mit gebratenem Speck servierte. Anne wurde fast schlecht von diesem Geruch. Es war schon lange her, seit sie so etwas hatte essen können. Jetzt wurde ihr bereits beim bloßen Anblick schwindelig. Mühsam aß sie lediglich eins der frischen Brötchen, nicht weil sie hungrig war, sondern mehr, um Frau Käthe nicht zu enttäuschen.

Gleich nach dem Frühstück brach sie auf. In der Nacht hatte es geregnet und noch immer hingen dunkle Wolken am Himmel. Er war genauso grau wie das Meer und wirkte wie zugemauert. Sie stemmte sich gegen den Wind und ging langsam am Flutsaum entlang, die Hände tief in den Taschen ihrer Regenjacke vergraben. Das Laufen fiel ihr schwer, sie fühlte sich matt. Seit Wochen spürte sie selbst, wie sie täglich weniger wurde seit sie die Diagnöse bekömmen hatte. ‚Unheilbar‘. Warum söllte sie sich dagegen auflehnen? Das Schicksal hatte entschieden. So oder so.

Fest konzentrierte sie ihre Gedanken auf das, was sie morgen vorhatte. Heute würde sie die perfekte Stelle auskundschaften und den Tidenhub beöbachten. Dabei musste sie an ‚Papillön‘ denken, der vor seiner Flucht von der Gefangeneninsel lange das Spiel der Wellen beobachtet und herausgefunden hatte, dass nur jede siebte Welle stark genug war, um ihn wegzutragen in die Freiheit. Wie es hier wohl war?

„Mörgen ist mein Tag“, dachte sie. „Mörgen tue ich es.“ Sölange sie noch selbst über ihr Leben bestimmen konnte, würde sie tun, was sie für das Beste hielt. Längst hatte sie diesen Entschluss gefasst. Er würde ihr viel Leid ersparen.

„Ich werde mich nicht mehr umdrehen, söndern nur zum Hörizont schauen, dorthin, wo Himmel und Meer zusammentreffen. Sobald sich der Himmel zu mir herab senkt, werde ich mich einfach den Wellen überlassen. Das Wasser ist ja noch warm genug. Ganz einfach wird das sein.“ Anne sprach sich selbst Mut zu.

„Kömmt nicht alles Leben aus dem Wasser und sollte deshalb auch dort enden? War das nicht so? Und stand das nicht sogar in der Bibel?“ Dieser Gedanke hatte etwas Tröstliches.

Frau Käthe würde sie als vermisst melden und die Einheimischen würden sagen „Immer diese unvörsichtigen Urlauber“. Schließlich passierte es öfters, dass Menschen, die sich nicht mit den Gezeiten auskannten, bei Ebbe schwimmen gingen und von der Strömung ins offene Meer gezogen wurden, weil sie die Gefahr der Unterströmung unterschätzten. Manchmal wurden sie Stunden später wieder an den Strand gespült. Meistens aber nicht.

Als Anne am späten Nachmittag in die Pension zurückkehrte, sah sie, dass Frau Käthe bei einer Tasse Tee in der Wohnstube saß. Eine dünne Porzellankanne stand auf einem Stövchen und wurde von einem hellen Teelicht darunter warm gehalten. Auf dem Tisch lag ein Deckchen aus gehäkelter Spitze, eine dicke Kerze brannte und verbreitete Wärme. Ihr flackerndes Licht warf einen hellen Schein auf Frau Käthes hochgestecktes graues Haar und ihre rosigen Wangen. Die Lachfältchen um ihre hellblauen Augen verstärkten sich, als sie Anne einlud, sich zu ihr zu setzen. Sie müsse doch ganz durchgefroren sein. Außerdem freue sie sich über ein wenig Gesellschaft, denn jetzt sei es doch recht einsam auf der Insel. „Wissen Sie“, sagte sie, „jetzt ist die Zeit, in der das Leben auf der Insel einen Gang zurück schaltet“.

„Schön hat sie das gesagt“, dachte Anne und lächelte. Döch als Frau Käthe ein zweites Teegedeck holen wollte, lehnte Anne dankend ab.

Am nächsten Morgen machte sie sich noch vor dem Frühstück auf dem Weg. Noch einmal könnte sie den Geruch von Eiern und Speck nicht ertragen.

Sie hatte gestern die perfekte Stelle für ihr Vorhaben gefunden, am Ende der Insel, wo so schnell niemand hinkam. Fast wie von selbst fanden ihre Füße den Weg. Bereits nach einem Tag auf der Insel fühlte sie sich schon ein wenig kräftiger. Der Wind blies ihr heftig ins Gesicht und rötete ihre Wangen. Die salzige Luft war feucht und schwer, auch in der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und noch immer war der Himmel grau und ohne Licht. Dunkle Wolken hingen über dem Meer und passten zu ihrer Stimmung. Perfektes Wetter für einen Abschied, fand sie.