Integriert Euch! - Annette Treibel - E-Book

Integriert Euch! E-Book

Annette Treibel

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Beschreibung

Integriert Euch! Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland Einwanderer in Deutschland sind keine Ausländer auf Durchreise, sondern gestalten unsere Gesellschaft mit. Sie sind nicht mehr nur Underdogs, sondern gehören inzwischen auch zu den Etablierten. So bedeutet es für manche der länger ansässigen Deutschen eine große Umstellung, dass sie nicht automatisch die Bestimmer sind: Ressentiments gegen Einwanderer, so die These von Annette Treibel, haben vor allem mit den gewandelten Hierarchien im heutigen Deutschland zu tun. Das Buch der Soziologieprofessorin analysiert die Debatten um das Zusammenleben bis hin zur jüngsten Auseinandersetzung um Pegida. Treibel zeigt: - was alte und neue Deutsche bewegt, - was wir in Deutschland für mehr Integration tun können, - dass Sarrazin und Co. zum Trotz - Integration ein Projekt für alle ist, - dass man Deutsch nicht nur sein, sondern auch werden kann. - Treibels Buch ist ein Plädoyer für einen Perspektivwechsel in der Integrationsdebatte und eine Anregung, wie sich Deutschland neu finden könnte.

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Annette Treibel

Integriert Euch!

Plädoyer für ein selbstbewusstes Einwanderungsland

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Deutschland findet sich neu statt »Deutschland schafft sich ab«

Einwanderer sind keine Ausländer auf Durchreise und auch nicht mehr die Underdogs. Sie sind längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen und gestalten sie mit. Ressentiments gegen Einwanderer, so die These von Annette Treibel, haben mit den veränderten Hierarchien im heutigen Deutschland zu tun.

Auf dem Weg zu einem selbstbewussten Einwanderungsland ist Integration ein Projekt für alle!

Vita

Annette Treibel ist Professorin für Soziologie am Institut für Transdisziplinäre Sozialwissenschaft der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Seit 2011 ist sie Mitglied im Rat für Migration unter Schirmherrschaft der deutschen UNESCO-Kommission.

Inhalt

Zwei Szenarien: Deutschland im Jahr 2035

Szenario 1: Deutschland im Jahr 2035 – altdeutsch, abgeschottet, patriarchalisch und aufgerüstet

Szenario 2: Deutschland im Jahr 2035 – alt- und neudeutsch, offen, konfliktfreudig und selbstbewusst

1. Wo kommen Sie denn her? Wieso schlecht ankommt, was gut gemeint ist

2. Ausländer, Migration und Migrationshintergrund – Begriffsklärungen

»Ausländer«

»Migration«

Begriffsvorschlag: Einwanderer und ihre Nachkommen

3. Zwei Seiten einer Medaille: Integration in die Gesellschaft und Integration als Gesellschaft

»Die sollen so werden wie wir«

Integration wissenschaftlich betrachtet

Dimensionen der Sozialintegration

Kritik am Integrationsbegriff

Mein Plädoyer für die Weiterentwicklung des Integrationsbegriffs

4. Deutsch kann man doch nicht werden! Über Alte und Neue Deutsche

Vom Deutschwerden und Deutschsein

Stämme und Landsmannschaften – Zur Geschichte der Deutschen

Ungleichzeitigkeiten nach der Wiedervereinigung: Neues und altes Deutschland

Zum Verhältnis von Alten und Neuen Deutschen

Einbürgerung

Fazit

5. Warum singen die denn die Nationalhymne nicht mit? Über Mehrfachidentitäten und Loyalität

6. Macht ist allgegenwärtig – auch bei Einwanderern

7. Mit Gewalt gegen Integration – Überlegungen zum »Islamischen Staat« und zum »Nationalsozialistischen Untergrund«

Vorab ein Wort an die Medien

Islamistischer Terror: Zorn, Rausch, Mission und Helligkeit

Wahrer und falscher Islam: Die Macht der Unterscheidungen

Radikalisierungen aus Integration und Desintegration: Salafisten und Neonazis

IS und NSU im Vergleich

8. Kein Aufstieg – nirgends? Unterschichtung, Diskriminierung und Ursachen der Stagnation

Die »Gruppe« der 4,1 Millionen ohne Abschluss

Unterschichtung und Dequalifizierung

Sozialer Status und Bildungserwartungen

Exklusion und »Parallelgesellschaften«

Institutionelle Diskriminierung

9. In Deutschland häuslich eingerichtet – Stille Integration und Vorzeigeausländer

Einheimischsein

Zwei von fünf  jungen Menschen mit Migrationshintergrund haben Abitur64 – Bildungsaufstiege

Türkeistämmige Mittelschicht68

Fazit

10. Ich kann eigentlich überall arbeiten – Akademiker mit Migrationshintergrund

Bildungsausländer und Bildungsinländer

Einwanderer in Wissenschaft und Medien

Lieber woanders arbeiten?!

Migrationshintergrund: Last oder Ressource?

11. Habt ihr denn keinen Deutschen? Einwanderer in der Politik

12. Da lachen schon nicht mehr so viele … Neudeutsche Comedians

13. Alte und Neue Deutsche, Männer und Frauen: Zum Wandel der Machtverhältnisse

14. Das Integrationsparadox und zwei Vorschläge

Zum Schluss: Von »Deutschland schafft sich ab« zu »Deutschland findet sich neu«

»Deutschland findet sich neu« statt »Deutschland schafft sich ab«

Neue Perspektiven

Anmerkungen

Wie man sich weiter integrieren kann: Kommentierte Webliografie

Staat und Migration

www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregierung/Beauftragtefuer Integration/beauftragte-fuer-integration

www.bamf.de

Forschung und Migration

www.imis.uni-osnabrueck.de

www.soziologie.de/de/sektionen/sektionen/migration-und-ethnische-minder heiten

www.kritnet.org

Stiftungen

www.svr-migration.de

Politische Stiftungen

www.rat-fuer-migration.de/

Medien und Migration

www.migazin.de

www.migration-business.de

www.mediendienst-integration.de

Politische Bildung und Migration

www.bpb.de/gesellschaft/migration

Migrantenselbstorganisationen

www.bagiv.de

www.damigra.de

Flucht, Asyl und Menschenrechte

www.unhcr.de

www.proasyl.de

Religion und Migration

www.interkulturellewoche.de

Rechts und links von Migration und Integration

www.sezession.de

de.indymedia.org

Migration international

www.iom.int

Bibliografie

Dank

Zwei Szenarien: Deutschland im Jahr 2035

Gegenwärtig wird intensiv über Überfremdung und Islamisierung einerseits und moderne Einwanderungspolitik und europäische Flüchtlingspolitik andererseits diskutiert. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq (2015) entwickelt in Unterwerfung ein Szenario für Frankreich und Europa. Dabei handelt es sich um einen Roman. Dass der Autor darin die Machtübernahme durch Islamisten ausmalt, macht ihn für manche zum Visionär.

Schauen wir auf Deutschland in zwanzig Jahren, wie könnte es aussehen?

Szenario 1: Deutschland im Jahr 2035 – altdeutsch, abgeschottet, patriarchalisch und aufgerüstet

In Folge der Regierungsübernahme durch eine muslimische Partei in Frankreich im Jahr 2031 erzielen zwei rechtspopulistische Parteien bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag im Jahr 2033 einen erdrutschartigen Sieg. Sie setzen gemeinsam ihr Wahlversprechen um und bereiten eine Grundgesetzänderung vor, damit endlich, wie in der Schweiz, Plebiszite auf Bundesebene durchgeführt werden können. Und sie verdoppeln den Verteidigungsetat, um Frankreichs Streben nach Vorherrschaft in der EU Paroli bieten zu können.

Im Jahr 2035 steht der Rückbau des Einwanderungslandes auf der Tagesordnung. Ziel ist es, Einbürgerungen durch deutlich höhere Gebühren zu erschweren, die doppelte Staatsbürgerschaft wieder abzuschaffen – aus Sorge um zweifelhafte Loyalitäten im Kriegsfall – und keine weiteren Moscheebauten zuzulassen. Neue Einwanderung soll stark reglementiert, irreguläre Migration härter polizeilich und strafrechtlich verfolgt werden. Die Mittel hierfür sollen aus den Etats der Kommunen kommen, die bis dahin die Arbeit der Migrantenselbstorganisationen unterstützt haben.

Unter den deutschen Regierungsparteien tobt ein heftiger Streit, ob man sich in Sachen Rückbau der Gleichstellungspolitik nicht ein Beispiel an den Franzosen nehmen sollte: Während man dort Christen, die Führungspositionen erlangen wollen, zum Übertritt zum Islam nötigt, wird Frauen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit der Zutritt zu Leitungs- und Führungspositionen versperrt. In Deutschland hat man jedoch Angst, dass durch solche Maßnahmen weitere Wählerinnen von rechts nach links abwandern könnten.

Außerdem erregt die Debatte über eine Jugendquote die Gemüter: Sie soll die von Pensionären und Rentnern dominierten Parteivorstände verjüngen. Dagegen spricht jedoch, so die Regierungsparteien, dass dann zu viele Nachkommen von Einwanderern zum Zuge kämen, die im Jahr 2035 bereits 60 Prozent der unter 40-Jährigen ausmachen. Dann wäre die Macht der älteren Männer mit altdeutschen Wurzeln, die sie sich so mühsam zurückerobert haben, wieder gefährdet. Ihr Ziel ist es schließlich, Integration rückgängig zu machen und für die Zukunft zu verhindern.

Für mich wäre eine solche Entwicklung ein Horrorszenario. In diesem Fall hoffte ich, mit 77 Jahren gesund genug zu sein, um mir an einem anderen Ort der Welt ein neues Leben als Migrantin aufbauen zu können.

Wie sähe eine mögliche Alternative aus? Was wünschte ich mir für die Zukunft, und was halte ich zugleich für realistisch?

Szenario 2: Deutschland im Jahr 2035 – alt- und neudeutsch, offen, konfliktfreudig und selbstbewusst

Von 2035 aus gesehen versteht man die letzten 25 Jahre als eine Übergangsphase. In dieser Zeit hat Deutschland sich von einem widerwilligen zu einem selbstbewussten Einwanderungsland entwickelt. Seit der Wahl von 2033 ist eine schwarz-grüne Koalition an der Regierung, deren vorrangiges Ziel es ist, Integration weiter voranzubringen. Es wird in der Öffentlichkeit intensiv darüber debattiert, wie das neue Deutschland aussehen soll. Die politischen Eliten handeln mit den verschiedenen Akteuren in Schulen, Gerichten und anderen Institutionen Regularien und Finanzpakete aus, um die Integrationsarbeit vor Ort zu unterstützen. Sie demonstrieren ohne Umschweife, dass Migration dazugehört und man sich darauf einstellen muss. Es würde alles geben, nur eines nicht: eine Daseinsform als Nicht-Einwanderungsland.

Die neudeutsche Bundeskanzlerin (CDU), mehrsprachig in einer polnisch-italienischen Familie in Deutschland aufgewachsen, und der altdeutsche Minister für Arbeit und Soziales (Bündnis 90/Die Grünen), der in seinem Haus Einwanderung als Querschnittsaufgabe behandelt, sind häufig im Ausland unterwegs. Dort prüfen sie, welche Regelungen sich in anderen Ländern bewährt haben und inwiefern sie auf die deutsche Situation passen könnten. Das Ausland seinerseits schaut mit Interesse auf die vielen deutschen Rentner mit und ohne ausländische Wurzeln, die den Flüchtlingen und den neuen Einwanderern und ihren Kindern bei der Orientierung in Deutschland helfen. Die Kommunen unterstützen dieses ehrenamtliche Engagement in großem Stil mit Weiterbildungen, Räumen und Aufwandsentschädigung. Die Vorfahren der Helfer kommen aus Deutschland, Spanien, Kolumbien oder dem Irak. Viele von ihnen sind mehrsprachig – das bringt ihr Migrationshintergrund so mit sich.

Überhaupt das Wort »Migrationshintergrund«: Das ist in den 2020er Jahren irgendwie aus der Diskussion verschwunden. Es wurde durch ein Arsenal von neuen Bezeichnungen ersetzt. Von Italo-Deutschen, Deutsch-Polen, Deutsch-Türken oder Ukrainisch-Deutschen zu sprechen, ist selbstverständlich. Der Streit darüber, ob man solche Einordnungen überhaupt braucht, ist und bleibt ein Lieblingsthema der Nachkommen der Einwanderer. Die Älteren können sich noch gut daran erinnern, dass sie die merkwürdige Vokabel »Migrationshintergrund« nie mochten, weil sie immer nach Problemen klang. Selbst entscheiden zu können, ob sich jemand als Deutsch-Brasilianer definiert oder nicht, sehen sie als wichtigen Fortschritt an.

»Wie wichtig ist es denn für mich«, könnte sich beispielsweise die zehnjährige Ayse Urbaniak fragen, »dass meine Großeltern Mitte der 1960er Jahre aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind und meine anderen Großeltern Kinder von Vertriebenen waren? Und was ist mit meinen Eltern? In der Türkei kennen sie sich kaum aus, aber offensichtlich wollten sie die türkischen Wurzeln meines Vaters durch meinen Vornamen am Leben erhalten. Das ist auch gar nichts Besonderes – in meiner Klasse gibt es Vornamen aus aller Welt, das ist ganz normal. Vielleicht nehme ich in der Oberstufe dann Türkisch als dritte Fremdsprache, damit habe ich mehr Möglichkeiten.«

Im Jahr 2035 können viele Großstadtkommunen auf Frühwarnsysteme für die Radikalisierung von Jugendlichen zurückgreifen – Reaktion auf die Anschläge von Islamisten und Rechtsterroristen, die sich zwischenzeitlich in Deutschland ereignet haben. Die Erfahrungen mit Aussteigerprogrammen für Neonazis und für Dschihadisten werden vernetzt. Der Integrationsgipfel der Bundesregierung hat seit 2025 ein neues Konzept: Alte und Neue Deutsche diskutieren Wertefragen, Lebensformen, die Geschlechterbeziehungen, das Generationenverhältnis und neue Arbeitszeitmodelle.

Als Autorin dieses Buches sehe ich es als wünschenswert und machbar an, dass sich die Situation im Jahr 2035 in Deutschland so oder so ähnlich darstellt. Die Gesellschaft Deutschlands würde dann mit ihren Konflikten konstruktiv umgehen und das Zusammenleben als ein Integrationsprojekt begreifen, an dem alle beteiligt sind: Alte und Neue Deutsche gleichermaßen. Integration ist für mich eine Aufgabe für alle, die in diesem Deutschland leben, das ein Einwanderungsland geworden ist. Sie ist auch ein Projekt für alteingesessene Deutsche, nicht nur für Einwanderer.

Die Bezeichnungen »Alte Deutsche« und »Neue Deutsche«, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen, übernehme ich von Wissenschaflerinnen und Journalistinnen, die selbst Deutsche mit Migrationshintergrund sind (Foroutan 2010; Bota u.a. 2012). Bislang wird in der Öffentlichkeit meist von »den Deutschen« einerseits und den »Menschen mit Migrationshintergrund« andererseits gesprochen. Diese Begrifflichkeit verbirgt, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu einem großen Anteil heute auch Deutsche sein können. Diese Veränderung möchte ich betonen, in dem ich von Alten Deutschen und Neuen Deutschen spreche (vgl. Kapitel »Deutsch kann man doch nicht werden!«).

Während ich dieses Buch schreibe, kommen Hunderttausende von Flüchtlingen in Deutschland und anderen europäischen Ländern an. Tausende sind bereits bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrunken. Die, die es schaffen, bemühen sich, in Italien, Griechenland, Bulgarien, aber vor allem in Deutschland und anderen mittel- oder nordeuropäischen Ländern Fuß zu fassen. Über eine Quotierung eine bessere Verteilung auf die Staaten der EU zu erreichen, ist bislang gescheitert. Rechtsradikale legen Feuer an die Unterkünfte, die gerade fertiggestellt sind, andere führen Rechtsstreits, um die Ansiedelung von Flüchtlingen in ihrer Nachbarschaft zu verhindern. Wiederum andere kümmern sich tagtäglich haupt- und ehrenamtlich um die Neuankömmlinge. Die Debatten über die Frage, wie die Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung unterstützt werden sollen bis hin zu einer möglichen europäischen Vereinbarung werden noch lange andauern.

Mein Anliegen hier ist ein anderes: Es geht mir um das Verhältnis von schon länger in Deutschland lebenden Einwanderern zu anderen Einheimischen, also um die Beziehungen zwischen Alten und Neuen Deutschen. Unter welchen Bedingungen und in welchen Zeiträumen jetzige Flüchtlinge zu möglichen Einwanderern werden (können), kann ich hier nicht erörtern.

An dieser Stelle noch zwei Hinweise zu den Bezeichnungen: Bei den Geschlechtern verwende ich abwechselnd weibliche und männliche Formen und verstehe diese jeweils als Oberbegriffe: Zum Beispiel sind bei Einwanderinnen und Lehrern Einwanderer und Lehrerinnen mitgemeint. Dies gilt ebenso für Personen mit weiteren Geschlechtsidentitäten, die sich selbst möglicherweise als Einwander*in oder Lehrer_in bezeichnen würden. Ausländische Namen werde ich so schreiben, wie ihre Trägerinnen sie selbst benutzen.

1. Wo kommen Sie denn her? Wieso schlecht ankommt, was gut gemeint ist

Deutsche mit dunkler Haut- oder Haarfarbe oder einem ausländisch klingenden Namen können fast darauf wetten, dass ihnen eine bestimmte Frage gestellt wird. Bekannte, aber auch völlig Unbekannte, fragen: »Woher kommen Sie denn?« Sie antworten: »von hier« oder »aus Karlsruhe«, »aus Brandenburg« oder auch »aus Wien«. Häufig geben sich die Fragenden damit nicht zufrieden, sondern haken nach: »Nein, ich meine, wirklich herkommen?« Wenn die Antwort dann die gleiche bleibt, lautet die Anschlussfrage: »Ich meine natürlich, wo Sie geboren sind! Wo kommen Sie ursprünglich her?« Ist die Antwort immer noch unverändert, kommt die Fragenkette schließlich zu dem Punkt: »Dann halt Ihre Eltern, wo stammen die denn her?«

Wer das kennt, ahnt meist schon zu Beginn, worauf es hinausläuft, kürzt nach der ersten Frage ab und gibt Auskunft: »Ich bin hier geboren, meine Eltern auch, aber meine Großeltern stammen aus der Türkei bzw. Marokko.« Wer Pech hat, wird trotz seiner Beheimatung in Deutschland in ein Gespräch über die Einwanderung der Großeltern oder über die politische Situation in der Türkei oder in Marokko verwickelt. Das Gespräch endet dann häufig mit dem überraschten Statement: »Sie sprechen aber gut Deutsch!« Spätestens dann reißt vielen der so Gelobten der Geduldsfaden. Was sollen sie denn sonst auch tun, als (gut) Deutsch zu sprechen, wo sie doch in Deutschland aufgewachsen sind? Und so nicken sie nur gequält, weil sie diese Art von Kommunikation leid sind, ihrem Ärger aber nicht Luft machen wollen.

Warum hält sich diese Frage – »Woher kommen Sie?« – so hartnäckig? Fragt man die Fragenden selbst, so sagen sie, es sei schlichte Neugierde: »Ich interessiere mich eben für andere Menschen.« – »Ich finde es einfach interessant, was andere Menschen so erlebt haben.« – »Das ist doch nicht böse gemeint, wie kann man das denn übelnehmen?!« – »Ich nehme eben Anteil am Schicksal anderer Menschen.«

Die Fragen sind also gut gemeint. Es wird angenommen, dass das ausländische Aussehen oder der ausländische Namensklang Anlass für spannende Geschichten und die Möglichkeit zur Anteilnahme bieten. Die Fragenden suchen einen Anker für ihren Kontakt. Sie sind vielleicht unsicher, möchten sich in Beziehung setzen, möchten die Beziehung klären. Sie haben ein unterschwelliges Bedürfnis nach Orientierung und Ordnung. Und die Gefragten spüren möglicherweise, dass die gut gemeinte Frage mehr mit dem Fragenden selbst als mit ihnen zu tun hat. Der Wunsch, sich auf diese Weise in Beziehung zu setzen, stößt auf Unbehagen, da er sich nicht mit den eigenen Beziehungswünschen deckt. Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, möchten als Einheimische und nicht als Eingereiste, die überraschend gut Deutsch können, angesprochen werden.

Was also genau passt nicht mehr? Die Frage »Woher kommen Sie?« ist nicht angemessen für Einwanderer, für die Deutschland Heimat geworden ist. Und sie passt von Anfang an nicht für die in Deutschland geborenen Kinder von Einwanderern. Diese kommen nicht von irgendwo anders her, sondern sie stammen aus Deutschland, also aus Orten wie Pforzheim, Leipzig, Hamburg oder Krefeld. Die gut gemeinte Frage und vor allem das Nachhaken, wenn als Geburtsort eine deutsche Stadt genannt wird – »Nein, ich meine ursprünglich!« – verstimmt Menschen, die sich als Pforzheimer oder Hamburger verstehen und für die nicht der Herkunftsort ihrer Eltern oder Großeltern, sondern Deutschland die Heimat ist. Sie fühlen sich mit dieser Frage nicht wirklich gemeint (vgl. auch Ogette 2014; Beck-Gernsheim 2014: 117; Roll 2015).

Wie sich das anfühlt, immer auf die fremde Herkunft zurückverwiesen zu werden, zeigen zwei Beispiele, die für zahlreiche andere stehen können. Das erste findet sich in der Dissertation von Anett Schmitz Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland (Schmitz 2013). Schmitz selbst ist russlanddeutsche Aussiedlerin und schildert im Vorwort ihres Buches, welche Erfahrungen sie zu ihrem Thema geführt haben: »Als mich auf einer großen Hochzeitsfeier, wo ich unter all den einheimischen Deutschen als ›Fremde‹ identifiziert wurde, ein älterer Mann plötzlich fragte, wo meine Heimat sei, kam diese Frage genauso überraschend und provokativ für mich, wie meine Antwort für diesen Mann: ›Meine Heimat ist in Deutschland.‹ Der Mann schaute mich entsetzt an und präzisierte seine Frage noch einmal: ›Nein, ich meine woher kommen Sie? Seit wann sind Sie in Deutschland? Sie haben doch eine Heimat?‹ Soll ein Mensch, der aus einem Land vor zwölf Jahren nach Deutschland migriert ist und in seinem Aufnahmeland bereits eine erfolgreiche Integration durchlaufen und seinen Platz gefunden hat, sich ausschließlich zu seinem Herkunftsland als Heimat bekennen? Kann er sich nicht Deutschland als eine neue Heimat aneignen, auch wenn er durch Äußerlichkeiten oder seinen Habitus als Fremde(r) identifiziert wird?« (Ebd.: 9f.)

An dieser Begegnung ist die heftige Reaktion des Mannes interessant. Offensichtlich würde er die Frage, die Schmitz stellt: »Kann man sich Deutschland nicht als eine neue Heimat aneignen?« vehement verneinen. Aus seiner Sicht bleibt die eingewanderte Russlanddeutsche immer Russin und soll darüber Auskunft geben. Aber warum? Er selbst würde sich vermutlich nicht für übergriffig halten, hat er doch nur freundlich gefragt. Es sei doch immer interessant, etwas über andere Länder zu erfahren. Mit der Identifikation der jungen Frau mit Deutschland hatte er offensichtlich überhaupt nicht gerechnet und ihr Verhalten wohl seinerseits als übergriffig empfunden, nach dem Motto: »So einfach sucht man sich nicht eine neue Heimat aus!«

Die proaktive Selbstzuordnung der Einwanderin zu Deutschland als ihrer neuen Heimat durchkreuzt die festgefügte Vorstellung des Mannes: ich bin Deutscher – sie ist Ausländerin. Seine Verblüffung rührt daher, dass sie ihm das Heft aus der Hand genommen hat. Die von ihm unterstellte Hierarchie ist durchbrochen. Die »Ausländerin« ihrerseits fühlte sich ausgegrenzt und herablassend behandelt.

Bei manchen eingewanderten Deutschen wächst sich die Irritation zu handfestem Zorn aus, wie aus einem Artikel der Berliner Anwältin und Publizistin Seyran Ateş (2007) hervorgeht – mein zweites Beispiel: »Ich kann nicht sagen, wie oft ich schon danach gefragt wurde, wie ich mich selbst bezeichnen würde. Als deutsche Türkin, als türkische Deutsche, türkisch-kurdische Deutsche, Deutsch-Türkin, Deutsche mit Migrationshintergrund, Deutsche, Türkin? Lange Zeit habe ich mich über diese Frage und vor allem über die Fragesteller geärgert. Inzwischen ist weniger Ärger als Wut darüber, dass diese Frage so aktuell ist wie 1983, als unser Buch ›Wo gehören wir hin?‹ erschien. 1986 war ich in den USA – und hatte dort das erste Mal das Gefühl, ich zu sein, nur ich, Seyran Ateş. Niemand fragte danach, wo ich herkomme. Und wenn die Frage dann doch kam, war es mehr die Frage danach, woher ich als Tourist, der ich dort nun mal war, komme.« (Ebd.)

Woher rührt diese Wut? Sie rührt daher, wie Ateş selbst schreibt, dass man so lange in Deutschland leben und so lange Deutsche sein kann, wie man will, und trotzdem auch nach 25 Jahren für viele noch nicht dazugehört. Ihre Schilderung zeigt, dass es offenkundig ein nach wie vor starkes Bedürfnis nach Einordnung gibt. Die Frage nach Herkunft und Identität wird jedoch als anmaßend empfunden, in ihr kommt eine Hierarchie zum Ausdruck. Sie überschreitet eine Grenze und setzt selbst eine Grenze, nämlich die zwischen einheimisch und ausländisch. Undenkbar, dass sie in umgekehrter Richtung gestellt wird. Sich diese Frage abzugewöhnen, könnte ein wichtiger Schritt in Richtung »Integration in ein Einwanderungsland« sein.

Noch einmal zurück zu Seyran Ateş. Nun handelt es sich bei ihr um eine streitbare Autorin, die selbst Freude an der Kontroverse hat und ihrerseits vor Provokationen nicht zurückschreckt. Überraschenderweise plädiert sie im Umgang mit dem Thema Einwanderung bei allen Problemlagen vor allem für Offenheit, Gelassenheit und wechselseitiges Zuhören: »Humor ist etwas, was uns wirklich helfen könnte.« (Ateş 2007)

Diese Position liegt voll und ganz auf meiner Linie. Humor und Witz sind unterschätzte Kommunikationshilfen. So könnten die zum wiederholten Mal Gefragten dem Gespräch eine andere Richtung geben. Sie könnten ihrerseits nach dem Geburtsort – oder besser noch – nach der Meinung oder Erfahrung mit einem Thema fragen, das nicht unmittelbar das persönliche Feld der Herkunft betrifft. Allerdings müssten sie derzeit wohl noch damit rechnen, dass ihnen diese Neudefinition der Situation als Unfreundlichkeit ausgelegt wird – aber wer weiß: Integration ist ein wechselseitiger Prozess, und da sollten die Einwanderer ruhig auch die Initiative ergreifen und sich den Einheimischen als ebenfalls Einheimische erklären.

2. Ausländer, Migration und Migrationshintergrund – Begriffsklärungen

Wo so viel davon gesprochen wird, könnte man meinen, alle wüssten, was unter »Ausländer«, »Migration« oder »Migrationshintergrund« zu verstehen ist, und alle verstünden dasselbe darunter. Dies ist aber nicht der Fall. Deshalb sortiere ich in diesem Kapitel die unterschiedlichen Verwendungen und markiere vor allem die Funktionen, die die Begriffe in ihrem jeweiligen Kontext haben. So lässt sich besser nachvollziehen, wieso Wissenschaft und Öffentlichkeit beim Thema Migration manchmal aneinander vorbeireden. Eigentlich muss man hin und her übersetzen – ein Verfahren, das ich an anderer Stelle erläutere (vgl. Kapitel: »Zum Schluss«).

»Ausländer«

Da ist an erster Stelle der Begriff »Ausländer«. In der Alltagssprache sind damit fremdländisch aussehende, sich anders verhaltende oder eine andere Sprache sprechende Menschen gemeint. Aus Sicht vieler Menschen in Deutschland sind das Personen, die eine dunkle Hautfarbe oder schwarze Augenbrauen und Haare haben, die nicht deutsch, sondern zum Beispiel arabisch sprechen und sich in einer bestimmten Weise kleiden, etwa einen Kaftan oder ein Kopftuch tragen. Oder man nimmt den Namen als Anhaltspunkt: »Angerer« oder »Neuer« klingen deutsch, »Alushi« oder »Özil« jedoch nicht. An solchen Merkmalen, so heißt es, erkennt man Ausländer.

Was bedeutet »Ausländer« dagegen in der Rechtsprechung und der Amtssprache? Für Juristen und Behörden ist die Sache klar: Ausländer, das sind alle Nicht-Deutschen. Dabei geht es nicht um Aussehen, Sprache oder Kleidung, sondern nur um eine Frage: Welche Staatsangehörigkeit hat eine Person in Deutschland? Ist jemand deutscher Staatsbürger, dann ist er also kein Ausländer, sondern Deutscher. Für Juristen und (Einstellungs-)Behörden ist es dabei nicht von Interesse, ob jemand von Geburt an oder erst seit zwei Jahren Deutscher ist. Für die Einstellung als Beamtin beispielsweise ist die deutsche Staatsangehörigkeit Voraussetzung – nicht mehr und nicht weniger. Auch das Statistische Bundesamt, die wichtigste Datensammelstelle Deutschlands, sortiert bei vielen Erhebungen schlicht nach Deutschen und Ausländern, und das sind dann eben diejenigen mit und diejenigen ohne deutschen Pass.

Im Alltagssprachgebrauch wiederum gelten Österreicher oder US-Amerikaner – zumindest dann, wenn sie weiß sind – vielleicht als Österreicher oder Amerikaner, aber nicht als Ausländer. Ihr nicht-deutscher Pass gilt als irrelevant, da sie ja »keine wirklichen Ausländer« seien.

In Wissenschaft und Politik sieht es wieder anders aus. Hier interessiert man sich durchaus dafür, um welche Deutschen und um welche Ausländer es genau geht. So vermutet man in der Bildungspolitik, dass es eine Rolle spielt, ob die Eltern einer Schülerin aus China, Kasachstan oder Kolumbien nach Deutschland eingewandert sind. Man unterstellt bestimmte Schwierigkeiten in der Schule oder einen bestimmten Förderungsbedarf und erhebt deshalb den sogenannten Migrationshintergrund. Dieses wichtige Wort ist seit dem Mikrozensus 2005 in der Welt und benennt die Zuwanderungsgeschichte einer Familie – unabhängig davon, um welches Land es sich dabei handelt. Das kann Peru, Thailand oder Österreich sein.

Die gängigen Wahrnehmungen lassen sich so zusammenfassen: Nicht alle, die juristisch Ausländer sind, gelten aus der Alltagsperspektive als Ausländer – und nicht alle, die juristisch Deutsche sind, gelten als Deutsche. Offenkundig benennt der Ausländer-Begriff im Alltag eben nicht die Staatsangehörigkeit, sondern das Maß der Fremdheit. Kurz: Als Ausländer werden diejenigen bezeichnet, die man als Fremde wahrnimmt. Und Wahrnehmungen ändern sich, wie das Beispiel des früheren Fußballprofis Maurizio Gaudino zeigt, der als Sohn italienischer Eltern in Deutschland geboren wurde. In einem Interview äußert er sich auf die Frage nach der Multikulturalität, die die deutsche Nationalmannschaft im Jahr 2014 repräsentiert, folgendermaßen: »Ich war einer derjenigen, der diese Türen mit aufgestoßen hat mit meinem Namen. Ich musste noch tagtäglich mit diesem Ruf als ›Ausländer‹ kämpfen, auf der Straße und in den Stadien. Von vielen Fans auf den Rängen wurde ich von oben bis unten beleidigt, ›Scheiß-Ausländer‹ oder ›Was willst Du in der deutschen Nationalmannschaft?‹ Heute ist das völlig anders, die Integration im Fußball ist gelungen.« (Gaudino 2014: 13)

Ob Gaudino mit seiner Meinung zur gelungenen Integration im Fußball richtig liegt, sei an dieser Stelle nicht diskutiert. Mir geht es um die Frage, wer als Ausländer gilt: Waren es vor dreißig Jahren die Italiener, die damals damit rechnen mussten, als »Spaghettifresser«1 beschimpft zu werden, gelten heute eher schwarzafrikanische und arabischstämmige Spieler als Ausländer.

Das Wort »Ausländer«, so meine These, hat im alltäglichen Sprachgebrauch die Funktion eines Beziehungsbegriffes. Nur so ist erklärlich, dass um ihn so gestritten wird. Es gibt ihn in zwei Ausprägungen. Erstens dient er als Fremdbezeichnung: Nicht-Ausländer sagen »Ausländer« zu denen, die sie als Fremde ansehen; die Staatsangehörigkeit interessiert sie dabei nicht. Zweitens dient der Begriff interessanterweise auch als Selbstbezeichnung. Dies sieht man daran, dass auch eingebürgerte Migranten oder Deutsche mit Migrationshintergrund, kurz: Deutsche, von sich als »Ausländern« sprechen. Sie tun dies häufig in einer Mischung aus Humor und Resignation, da sie die Erfahrung machen, dass ihnen der deutsche Pass auf der Alltagsebene nicht wirklich etwas nutzt. Oder sie nutzen den Begriff, um sich ihrerseits von dem, was sie als Deutsch wahrnehmen, abzugrenzen. Sie bezeichnen sich und andere Personen, die sie als sich ähnlich wahrnehmen, von denen sie im Einzelfall auch nicht unbedingt wissen, ob es sich um Deutsche oder um Ausländer handelt, als »Ausländer« und übernehmen damit im Grunde die Fremdbezeichnung.

In einer Studie der Soziologin Susanne Becker (2010) findet sich die folgende Äußerung eines 29-jährigen türkeistämmigen deutschen Familienvaters, Arda genannt: »Ham den Kleinen mit zum Babyschwimmen gebracht. Wir waren die einzigen Ausländer da. Kam ich mir auch‘ n bisschen komisch vor. […] Die ham mich auch ein bisschen komisch angeguckt ›so was machen denn die Türken hier‹. […] Nach ein zwei mal ham wir uns mit den anderen Leuten ein bisschen angefreundet. Die ham gesehen wir sind nicht so wie die also jetzt nicht die die sie halt aus’m Fernsehen kennen. Diese Assis. Bisschen über die Kinder geredet und so. Ja und seitdem sind … so läuft alles bombig.« (Ebd.: 126; Hervorh. A.T.)

Arda klassifiziert die anderen Eltern als Deutsche, wenn er sagt »wir waren die einzigen Ausländer da«. Er meint: die einzigen als solche erkennbaren Ausländer. Er selbst ist ebenfalls Deutscher, klassifiziert sich jedoch mit den Augen der Übrigen. Deren Irritation (»komisch angeguckt«) heißt für ihn, dass sie über die Anwesenheit von »Türken beim Babyschwimmen« überrascht sind, da diese gar nicht in das Bild von Türken als »Assis« passen. Das Interview zeigt das Arrangement, das Arda für solche Situationen gefunden hat.

Im anglo-amerikanischen Sprachraum verwendet man in diesem Zusammenhang den Ausdruck »Visible Minorities« (Kanada) oder »People of Color« (USA). Hier geht es nicht um Sprache oder Religion, sondern einzig und allein um die Hautfarbe – letzten Endes um Nicht-Weiße.2 In Deutschland tritt das Wort Ausländer an die Stelle des »Farbigen«. Wendet man dieses Kriterium an, so wird nachvollziehbar, warum im deutschen Kontext Franzosen, Polen, Russen oder Schweizer mit heller Haut nicht als Ausländer gelten, während Menschen mit dunkler oder dunklerer Haut fast automatisch als solche eingeordnet werden. So dürfte es in Deutschland so Manche, deren Vorfahren in fünfter Generation aus dem Schwarzwald stammen, mit besagten Merkmalen der Dunkelheit (Augenbrauen, Teint, Augen) schwer haben glaubhaft zu versichern, dass sie keine Türkin sondern Schwarzwälderin sei. Das glauben ihr dann manche Nicht-Türken und manche Türken nicht. In der Schweiz wiederum würde ihr mehrheitliches Weißsein deutschen Einwanderern nichts nutzen, denn sie sind dort gleichwohl Ausländer und »Ausländer«.3 Deutsche sind mit ihrem Hochdeutsch und ihrem Auftreten in der Schweiz vielfach nicht willkommen, sie werden als arrogant und übermächtig wahrgenommen. Daran wird deutlich, wie relativ das sogenannte Überfremdungsempfinden ist.

Um die unterschiedlichen Funktionen des Ausländer-Begriffs zu unterscheiden, verwende ich in diesem Buch zwei Schreibweisen. Ich setze einmal Anführungszeichen und einmal keine: Die Schreibweise Ausländer ohne Anführungszeichen verwende ich im Sinne des juristischen Begriffs für Nicht-Deutsche, also für Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die in Deutschland leben. Die Schreibweise »Ausländer« weist durch die Anführungszeichen darauf hin, dass es hier um einen Beziehungsbegriff geht. In Deutschland bezeichnen Menschen (gleichgültig, ob sie selbst ausländische Wurzeln haben oder nicht) andere Menschen als »Ausländer«, wenn sie diese als fremd und nicht-deutsch wahrnehmen und sie von ihren Verhaltensweisen her als kulturell anders empfinden. Wenn Deutsche mit Migrationshintergrund und Ausländer selbst von sich als »Ausländern« sprechen, so können sie dies tun, weil sie tatsächlich Ausländer sind oder weil sie die Fremdbezeichnung anderer Personen für sich selbst übernehmen.

»Migration«

Was versteht man unter Migration? Migration bedeutet Wanderung, und zwar nicht im Sinne einer Freizeitbeschäftigung, sondern im räumlichen und sozialen Sinne. Die Bedeutung kann man sich erschließen, wenn man an die Begriffe Auswanderung oder Emigration und Einwanderung oder Immigration denkt, die im Alltagsgebrauch gängiger sind als Wanderung oder Migration. Kurz gesagt, spricht man dann von Migration, wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt verlagern.

Über zwei Fragen gibt es viele Diskussionen. Die erste Frage dreht sich darum, welche Distanz zwischen dem ursprünglichen und dem neuen Lebensmittelpunkt – Ort A und Ort B – liegen muss, damit man von Migration spricht. Die zweite Frage betrifft die Dauer, für die der neue Lebensmittelpunkt wirksam wird. In beiden Fällen ist das Kriterium die sogenannte Beträchtlichkeit. Es muss ein beträchtlicher Abstand zwischen Ort A und Ort B bestehen, und der neue Lebensmittelpunkt muss für eine beträchtliche Zeit eingenommen werden. Für die Vereinten Nationen sind Migranten diejenigen Personen, die für länger als ein Jahr den Lebensmittelpunkt wechseln.4

Wenn eine Person im Rahmen eines Praktikums ihren Lebensmittelpunkt für fünf Monate von Karlsruhe nach Speyer verlegt, würde man nicht von Migration, sondern von einem »befristeten Aufenthalt« und von »Mobilität« sprechen. Verlegt eine Familie aufgrund beruflicher Veränderungen der Erwachsenen ihren Lebensmittelpunkt auf unbestimmte Zeit von Köln nach Chemnitz, so würde man im Alltag von einem Umzug sprechen; wissenschaftlich betrachtet, ist das bereits Migration. Denn es handelt sich um eine durchaus beträchtliche Distanz und eine längerfristige Dauer. Da es sich jedoch um eine Verlagerung des Lebensmittelpunkts im Inland handelt, spricht man hier von »Binnenmigration«.

Solche Binnenmigrationen werden in der Migrationsforschung weniger untersucht als die Formen der internationalen oder gar der interkontinentalen Migration. Diese liegen dann vor, wenn die genannte Familie nicht nach Chemnitz, sondern von Köln nach Bordeaux in Frankreich (internationale Migration) oder von Köln nach Chicago in den USA (interkontinentale Migration) wandert.

Also: Auch deutsche Auswanderer sind Migranten. Ihre Beweggründe sind die Arbeitssuche, die Beziehung, ihre Abenteuerlust oder das Klima. Manche möchten einfach einmal etwas anderes machen, sich ausprobieren und haben hier »keinen Bock mehr«: Um dieses Motiv geht es häufig in den sogenannten Auswanderer-Dokus. In den dort gezeigten Biografien werden Menschen häufig mit ihren wenig reflektierten Entscheidungen und ihrem Scheitern vorgeführt, wie es dem Format dieser Sendungen entspricht.

Die Millionen Migranten weltweit und auch die meisten deutschen Auswanderer haben ein anderes Interesse und bereiten sich gut darauf vor – sie wandern der Arbeit wegen. Deshalb spricht man hier von »Arbeitsmigration«. Bei Arbeitsmigranten ist der Hauptanreiz für den längerfristigen Wohnortwechsel ein neuer Arbeitsplatz, die Aussicht auf eine bessere oder überhaupt eine Arbeitsstelle und grundsätzlich eine bessere Lebensperspektive. Hier lohnt es sich, noch genauer hinzusehen. Denn genau dieses Motiv ist der Antrieb für die Hunderttausenden und Millionen Menschen, die weltweit ihren Lebensmittelpunkt wechseln. Die Suche nach einem besseren Leben und einer Perspektive war und ist das Migrationsmotiv schlechthin. Es galt für die Skandinavierinnen, die Ende des 19. Jahrhunderts zu Tausenden in die USA auswanderten, ebenso wie für die Marokkaner, die heute nach Europa einreisen wollen. Erstere taten es legal, zweite illegal. In der Öffentlichkeit werden die Skandinavierinnen von damals als Auswanderinnen und die Marokkaner von heute als Flüchtlinge bezeichnet. Weltweit fliehen Menschen nicht zwingend vor konkreter politischer Verfolgung, sondern vor schlechten Lebensbedingungen. Die Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat treibt sie in die Flucht.

Die Grenzen zwischen freiwilliger Migration, die man »Arbeitsmigration« nennt, und erzwungener Migration, die man »Fluchtmigration« nennt, sind fließend. Millionen Menschen sahen sich früher und sehen sich noch heute zur Migration gezwungen, selbst wenn niemand eine Waffe auf sie richtet oder ihr Land überschwemmt wird (vgl. ausführlicher Treibel 2011). Die Ursachen und Folgen von Flucht, Vertreibung, Verschleppung bis hin zu Menschenhandel kann ich hier nicht vertiefen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass – global betrachtet – die meisten Flüchtlinge in die Nachbarländer von Krisen- und Kriegsgebieten fliehen und insofern nur ein geringer Prozentsatz die Länder Europas oder Nordamerikas erreicht.5

Schilderungen solcher Lebenssituationen finden sich nicht nur in der Fachliteratur, sondern besonders eindrücklich auch in Filmen, Biografien und Romanen. Der preisgekrönte, biografisch unterlegte Roman Americanah der Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichi (2014) verarbeitet die Ursachen und Folgen von Migration.6