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Martin Kleens Kriminalroman ist die Geschichte des Scheiterns des Intensivmediziners Carsten Borcherts, eines zynischen, abgeklärten und egoistischen Arztes, der sich das Ziel gesetzt hat, das Krankenhaus in Leer so schnell wie möglich in Richtung eines gut bezahlten Postens zu verlassen. Bis dahin möchte er so wenig wie möglich Ärger, Arbeit und Patienten haben. Dabei hilft ihm der Administrator des Kliniknetzwerkes, ein lichtscheues, Metal-rockendes Kellerkind mit Hang zu bewusstseinsverändernden Drogen. Daneben gibt es den Verwaltungsdirektor Coord Bleeker, der sämtliche illegale Mittel daran setzt, seinen persönlichen Profit zu steigern, sowie den jungen Arzt Peter Hayen, der noch für kurze Zeit Ideale wie Ehrlichkeit und ärztliches Ethos aufrechterhalten kann. Die Pflegekräfte der Intensivstation beschäftigen sich derweil mit Wetten auf den Gesundheitszustand der Patienten oder mit Computerspielen. Hauptsache, man kann sich möglichst weit von den Patienten entfernt halten …
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Seitenzahl: 386
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Martin Kleen
Intensivstation
Kriminalroman
Martin Kleen, geboren 1965 in Erlangen und in Franken aufgewachsen. Studium der Medizin ebenfalls in Erlangen, danach fünf Jahre medizinische Grundlagenforschung und Habilitation in München. Anschließend vier Jahre Tätigkeit als Anästhesist und dabei Sammlung von Stoff für viele noch zu schreibende Romane. Berufsbegleitendes Managementstudium. Von 2002 bis 2004 Arbeit in der medizintechnischen Industrie. Seit 2005 arbeitet er wieder als Anästhesist in einer Münchner Klinik.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2010 im Leda-Verlag)
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © sudok1 / adobe.stock.com
ISBN 978-3-8392-6532-1
Für Viktor Maximilian --- er weiß, warum.
Und für Gregor, den Gitarristen, Cellisten, Auswanderer, Informatiker sowie besten aller Söhne.
Carsten Borcherts sah zu, wie die Edelstahltüren des Aufzugs zur Seite glitten und warf einen Blick in den trüben Flur im zweiten Untergeschoss des San-Giberto-Krankenhauses in Leer. Wo die hellgrüne Ölfarbe des Bodens abgewetzt war, enthüllte sie blaue, graue und braune Schichten alter Anstriche. Er trat einen Schritt vor in die Lichtschranke und horchte. Es waren keine Schritte zu hören. Niemand da, dachte Borcherts, warum auch, um diese Zeit? Er holte Luft, nahm die Schultern zurück und ging in einer zu groß geratenen Kurve nach rechts, in einen der vielen Flure im Kellergeschoss unter dem achtstöckigen Klinkerbau.
Er warf den schwarzen Leinenrucksack über die rechte Schulter und drehte nach links, wo er zwei Abzweigungen weiter sein Ziel wusste. Das Klappern einiger Ampullen in der Tasche erschreckte ihn. Er sah über seine Schulter, die zwanzig Meter Flur hinab, die von der funktionierenden Hälfte der nackten Leuchtstoffröhren erleuchtet wurden. Niemand war zu sehen.
Auch die Querflure, die er passierte, waren menschenleer. War das normal?, dachte er und richtete sich im Gehen auf, als er merkte, dass er die Schultern hängen ließ. Arbeitete hier jemand? Warum gab es überhaupt dieses Stockwerk? Nur für diesen Netzwerk-Administrator? Er blickte noch ein paarmal nach rechts, links und über die Schultern, bis er die blau gestrichene Metalltür erreichte, die weder Türklinke noch Schlüsselloch aufwies. In Brusthöhe war im Türsturz eine Zahlentastatur angebracht. Es gab keine Klingel, also klopfte Borcherts zweimal hart mit den Knöcheln gegen das Metall.
Nichts geschah. Er ließ den Rucksack von der Schulter gleiten und setzte ihn langsam vor sich auf die Schwelle der Tür zum Computerraum. Die rechte Schulter war verspannt, er glaubte, zwanzig Kilo getragen zu haben, obwohl es nur ein paar hundert Gramm sein konnten. Er hatte den Rucksack auf der Intensivstation gepackt, während die Schwestern mit einem beatmeten Patienten beschäftigt waren. Er wartete einige Sekunden, klopfte noch einmal und sah sich um. Ob Viktor Maxim ihn versetzen würde? Er bückte sich und griff nach dem Riemen des Rucksacks. Hatte man ihm eine Falle gestellt? Es war das erste Mal, dass er dies dachte, aber jetzt schien es ihm wahrscheinlich, ja notwendigerweise wahr. Er zog den Rucksack empor. Weg hier, der Gedanke blitzte auf. War dies ein Trick von Maxim, so würde Bleekers Sicherheitsdienst zur vereinbarten Zeit hier auftauchen. Sein Blick streifte die IWC Schaffhausen an seinem Handgelenk. Fünf vor halb elf abends. Fünf Minuten vor der Zeit.
Er zögerte. Ein Klopfen war durch die Tür zu hören. Jetzt wieder. Es wurde lauter, zum rhythmischen Schlagen. Borcherts trat einen Schritt zurück. Er wollte wegrennen. Er konnte den Rucksack liegen lassen. »Nein«, zischte er. Man würde ihn erkennen. »Zu spät.« Ein Summen ertönte, um das Türblatt wurde ein schwarzer Rand sichtbar. Das Schlagen wurde zum Dröhnen, Lärm quoll aus dem schwarzen Streifen rund um die Tür, der größer und größer wurde. Borcherts zuckte zurück. Ein Brüllen drang aus der Dunkelheit zu ihm. Er beherrschte den Impuls, davonzulaufen. Dafür war es sowieso zu spät. Und zudem – noch war nichts Illegales geschehen. Ruhe, befahl er sich. Niemand konnte ihm etwas nachweisen.
Die Tür öffnete sich ganz, das Schreien gab dem Jaulen eines Gitarrensolos nach. Borcherts’ emporgezogene Schultern senkten sich einen Zentimeter. Im Rahmen stand Viktor Maxim, der Administrator des Kliniknetzwerks.
»Moin, moin, Doktorchen, gut dass Sie kommen.« Er verschwand ohne weitere Geste hinter der zweiten der doppelten Türen. Sie war anders herum angeschlagen und verwehrte so Borcherts den Blick in den Server-Raum.
Borcherts fasste den Riemen seines Rucksacks fester und folgte Maxim in die Dunkelheit.
Der Raum war kalt, von zwei an der Decke montierten Klimaanlagen gekühlt. Das Gitarrensolo wurde durchmischt von einem wütenden, heiser-unmenschlichen Brüllen, das schließlich im Wettkampf des Lärms siegte.
Borcherts’ Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Der Raum wurde nur durch das Licht zweier Flachbildschirme erhellt, die schräg auf Viktor Maxims Arbeitsplatz gerichtet waren. Der Admin saß zurückgelehnt auf einem hohen Sessel vor einer Arbeitsplatte, welche die gesamte Längswand des Raumes einnahm. Stapel von Zeitschriften, Computerausdrucke, Getränkedosen und Pizzaschachteln bedeckten den größten Teil der Oberfläche. Am fernen Ende türmte sich etwas Schwarzes, das Borcherts für einen Haufen Kleidung hielt.
Mit nachlässigen Bewegungen schubste Maxim die drahtlose Maus auf ihrer Unterlage hin und her, um sich dann vorzubeugen und ein Stakkato auf die schwarze Tastatur vor ihm loszulassen, dessen Ergebnis er scheinbar gebannt mit den Augen am Bildschirm verfolgte. Borcherts trat einen Schritt vor. Er fröstelte und zog seinen weißen Kittel enger um sich.
Der Serverraum war zur Hälfte mit Computerschränken gefüllt, an deren Vorderseiten grüne, gelbe und rote Dioden in wirrem Muster blinkten. Der Boden schien mit dunklem Linoleum bedeckt zu sein. An den Decken waren in lückenlosen Reihen Leuchtstoffröhren angebracht, von denen keine brannte.
»Machen Sie doch mal diesen Lärm leiser.« Borcherts trat näher. »Oder besser gleich ganz aus.«
»Godsmack«, rief Maxim zwischen zwei hervorbrechenden Tastatursalven.
»Was?« Borcherts hob die Stimme mehr als nötig, um dem Krach etwas entgegenzusetzen.
»Godsmack.« Noch ein paar Tastenanschläge, dann gab Maxim sich und seinem Stuhl einen Stoß und ließ sich zu Borcherts drehen. »Faceless.«
Borcherts drehte einen unsichtbaren Lautstärkeknopf vor Maxims Gesicht um hundertachtzig Grad nach links. Er hasste diesen harten Rock-Kram, glaubte, dass mit den Beatles ein für alle Mal der Zenit der Musikgeschichte erreicht worden war.
Maxim fasste ohne hinzusehen neben sich auf die Arbeitsplatte und drückte ein paarmal auf eine Fernbedienung, worauf das Brüllen des Sängers leiser wurde. Er drehte sich etwas nach links, legte die nackten Füße auf den Tisch und kratzte sich irgendwo in den Tiefen seines Vollbarts, der bis über die Brust reichte.
»Was haben Sie für mich, Doktor?« Die Aufmerksamkeit des Admin wurde von der Musik gefangengenommen und er grölte ein paar Takte mit, während er gestisch die Misshandlung einer Gitarre andeutete. »Godsmack«, wiederholte er dann und schob den Bart zur Seite, der den Aufdruck auf seinem schwarzen T-Shirt verdeckt hatte. Die Tourdaten der Band entlang der Westküste der USA im Frühjahr 2005 wurden sichtbar.
»Was haben Sie für mich?«, wiederholte Borcherts und lehnte sich gegen die Platte, wobei er darauf achtete, halb auf Maxims Schienbeinen zu sitzen.
Maxim ließ seine Beine, wo sie waren, spielte wieder Luftgitarre und hielt die Augen geschlossen, während er den wahnsinnigen Rhythmus mit dem Kopf nickte und schüttelte. Seine langen Haare flogen über das Gesicht und zurück in den Nacken.
Borcherts fror. Wie konnte es der Kerl in diesem Gefrierschrank barfuß und im Hemd aushalten?
Maxim schob sich auf dem Stuhl mit Hilfe seiner Füße an der Arbeitsplatte entlang und streckte sich über die Lehne nach hinten, bis er unter dem Knäuel einer schwarzen Jeans eine Supermarkt-Plastiktüte erreichte. Er kramte ein halbes Sechserpack Bierdosen hervor und schälte eine aus einem Plastikring. »Auch eine?« Er hielt den Verschluss in Borcherts Richtung und öffnete, bevor der ausweichen konnte.
»Danke, ich muss noch arbeiten.« Borcherts griff in seine Kitteltasche und fand den halben Schokoriegel, dessen andere Hälfte er mit dem Cappuccino nach dem Mittagessen verdrückt hatte.
»Man braucht keinen Kühlschrank hier unten«, keuchte Maxim, nachdem er anscheinend die Hälfte des Bieres hinuntergekippt hatte.
Borcherts ließ die Schokolade in der Tasche und stemmte die Fäuste in die Taschen seiner weißen Jeans. »Wie halten Sie das aus, Maxim? Das ist ja ein Kühlhaus.«
Maxim ließ den Rest der Dose in sich hineinlaufen, hob dabei die Schultern und sah sein Gegenüber von unten an. »Achtzehn Grad«, sagte er dann und tippte sich an die Schläfe. »Frieren tut man nur im Kopf.« Er lachte und warf die Dose hinter sich in Richtung einer blauen Mülltüte, in deren Umgebung sich der Abfall locker versammelte. »Komm schon, Doktor. Geschäft ist Geschäft. Wir können ebenso gut einfach zur Sache kommen, oder?«
Borcherts schob sich und damit einigen Unrat nach hinten, bis er sicher saß. Er ließ den Rucksack von der Schulter auf seinen Schoß gleiten. »Ein paar feine Sachen für Sie und Ihre Kumpels.«
Maxim umfasste mit der Rechten seine Wangen, ließ die Hand nach unten gleiten und taillierte seinen Bart. Er summte Zustimmung. »Aber keine Kumpels.«
Borcherts’ Augen flirrten eine Sekunde durch den Raum. Er räusperte sich. »Na ja. Egal.« Seine Hände tätschelten den Stoff der Tasche auf seinen Knien. »Also, was haben Sie zu bieten?«
»Wie besprochen.« Maxims Rechte ließ seinen Bart los und zuckte nach den Bildschirmen zu seiner Rechten. Er hob die Schultern und ließ sie gleichgültig fallen. »Zugang zum Rechnersystem der Klinik. Alle Privilegien, die ich habe. Das ist nicht viel.« Er winkte ab. »Aber Sie können alles lesen.« Seine Rechte klatschte flach auf die Arbeitsplatte.
Der Inhalt des Rucksacks hatte Borcherts dreißig Sekunden Herzklopfen gekostet. Den Rest zahlte das Krankenhaus. Harmloses Zeug, eigentlich, dachte er. Sicher, Maxim konnte sich damit in die ewigen Jagdgründe spritzen, aber das war nicht seine Sorge. Der Kerl war erwachsen. Er sah ihn von oben bis unten an und korrigierte sich: Er sollte eigentlich erwachsen sein in seinem Alter. »Also gut.« Borcherts öffnete den Reißverschluss des Rucksacks, zog eine Ampullenschachtel nach der anderen heraus und warf sie auf Maxims Tastatur. »Propofol, Midazolam, Diazepam …« Er zögerte und hielt eine Packung mit fünf Ampullen hoch. »Ketamin. Mann, wissen Sie, was Sie tun?«
Maxim stupste die Medikamente von den Tasten. »Was kümmert Sie das?«
Borcherts zuckte die Achseln und warf das Ketamin zu den anderen Ampullen. »Da, wo das her ist, ist noch mehr.« Er ließ den Satz eine Sekunde wirken. »Falls Sie doch noch mehr herausfinden über dieses neue System im Netzwerk.« Er ließ seine Rechte, wie er meinte bedeutungsvoll, kreisen. »Da scheint irgendwas nicht so ganz richtig …«
Maxim schob eine Packung nach der anderen mit einem ausgestreckten Zeigefinger je einen Zentimeter zur Seite. »Kein Flumazenil?«
Borcherts schnalzte mit der Zunge. »So was. Kennt sich aus, der Mann.« Er schüttelte den Kopf. »Fällt auf. Wir haben nicht so viel davon im Schrank.«
»Wenn man mit Benzos spielt, sollte man auch den Antagonisten haben.« Maxim hob die Augenbrauen. »Also?«
Borcherts glitt von seinem Sitzplatz, stützte sich mit den Händen darauf und beugte sich vor. »Zeigen Sie mal.«
Maxim zog sich auf seinem Stuhl näher heran. Sein Körpergeruch stieg in Borcherts’ Nase. Der Bursche roch wie Hammeltalg. Er verbot sich eine Bemerkung.»Ich nenn das System hier Krieger. Habe ich mir übrigens ausgedacht. Krieger. Gut was?« Er lachte kurz, ohne Borcherts anzusehen. »Die offizielle Bezeichnung ist einfach nur ein Zahlencode.« Sein Kopf zuckte kurz in Borcherts’ Richtung. »Offiziell?« Er schüttelte den Kopf. »Da ist eigentlich nichts offiziell an dem Teil. Wollen Sie den Code wissen?« Er winkte ab. »Einfallslos. Der User-Name ist ›Apache‹.« Maxim schnaubte durch die Nase, tippte etwas in ein Eingabeformular im Browser und sagte: »Das hatte ich am ersten Tag herausgefunden.« Er nickte. »Das Passwort hat ein bisschen länger gedauert.« Er gab die Tasten so langsam ein, dass Borcherts folgen konnte.
»Niedlich«, sagte Borcherts und richtete sich ein paar Grad auf. Sein Rücken schmerzte. »Wie kommen die auf Rotkäppchen-römisch-drei?«
»Fubarim.«
»Was?«
»Fucked up beyond all repair in their minds«, sagte Maxim und hieb auf die Eingabetaste. »Und jeden Tag wird es bescheuerter, Mann. Die haben das seit einem halben Jahr nicht geändert. Und ich wette, das davor war Rotkäppchen-zwei.« Er wischte mit der Rechten einige Male vor seinem Gesicht hin und her. »Scheiße, Mann. Jungs, die so wenig Ahnung haben, darf man nicht so gefährliches Spielzeug geben.« Er hob die Schultern. »Ein bisschen Öffentlichkeit – und wenn’s nur wir sind –, das schadet denen gar nichts. Ich sehe uns da als Kontrollorgan. Voll in Ordnung, Mann.«
Borcherts ertrug Maxims Geruch nicht länger, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Also keine Schreibrechte?«
Maxim schüttelte den Kopf.
»Wird das protokolliert?«, fragte Borcherts.
»Schon, aber die Logs sind nur gut versteckt, nicht gut geschützt. Schwach verschlüsselt. Script-Kiddie-Kram. Ich habe einen cron-Job eingerichtet, grep sucht für mich die IPs der Zugriffe und ändert die in solche, die nicht auffallen.«
»Also, ich kann zugreifen, ohne dass die das merken?«
»Alle zehn Minuten ändere ich die Logs. Ziemlich sicher, würde ich sagen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber nicht ganz. Wenn Sie wollen, finden Sie es raus. Aber das heißt nichts. Das ist immer so.«
Borcherts stand ein paar Sekunden regungslos, dann deutete er auf den Bildschirm. »Sie können nur lesen, nichts ändern? Warum?« Maxim wollte antworten, Borcherts unterbrach ihn: »Und warum interessiert Sie das überhaupt? Ich meine, was wollen Sie mit den Daten?«
Maxim schob sich wieder ein Stück nach hinten, angelte sich die beiden übrigen Dosen, und hielt eine Borcherts hin, der nicht reagierte. Der Admin ließ den Verschluss des Biers zischen und nahm einen Schluck, wobei er Borcherts in die Augen sah. Er setzte ab, schlürfte die Tropfen, die sich im Falz der Dose gesammelt hatten, stellte die Büchse neben die Tastatur und ließ sie mit der Rechten umfasst. Mit der Linken hielt er seinen Bart vor der Brust. »Weiß nicht, Mann. Da stimmt was nicht.« Er deutete mit dem Daumen der Linken auf die summenden Rechnerregale hinter ihm. »Fünfhundertdreiundachtzig Accounts im Krankenhaus. Drei davon dürfen den lesen und – jetzt kommt’s – nur einer …« Er holte Luft und wartete einen Augenblick. »Nur einer hat Schreibzugriff auf das Programm. Kapiert?«
Borcherts schürzte die Lippen und spreizte die Finger beider Hände eine Sekunde.
»Wo Daten gelesen werden, werden auch welche geschrieben. Und wenn das nur einer macht, stimmt was nicht.« Maxim tippte sich an die Stirn. »Mann, das sind Daten, die gehen ans Eingemachte. Das ist der Hammer.«
Borcherts legte den Kopf schräg und senkte die Lider einen Atemzug lang.
»Aber wer liefert die? Capito? Wo kommen die her? Ich hab das nicht gern, wenn hier plötzlich über Nacht Daten auftauchen.«
»Über Nacht? Auftauchen?«, sagte Borcherts.
»Hey, ich bin hier der Masterblaster. Das ist mein Netz.« Maxim schlug sich vor die Brust. »Irgendjemand spielt die Daten hier auf. Händisch. Mit CD oder DVD. An einem Terminal. Nachts. Und ist schlau genug, die Spuren zu verwischen.« Er nahm noch einen Schluck Bier. »Also, so einen Zinnober macht keiner wegen irgend einem Scheiß Software-Update, ist doch klar – das würde ich übrigens merken. Übrigens sind zwei von den drei Accounts ziemlich tot. Sind wohl irgendwelche Dummies, die von den Leuten zum Update und zur Datenpflege benutzt werden. Der oder die Eine, der Schreibrechte hat, der kann Einzelfälle bearbeiten. Man fragt sich doch wozu, was?« Er sah Borcherts kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an.»Also?«
»Also …« Maxim leerte die Bierdose. »Also, was wollen Sie mit dem Krieger?«
»Also, wer steckt hinter der einen IP?« Borcherts hielt die Frage für ziemlich schlau.
Maxim lachte. »Die existiert nicht.« Der Admin ignorierte eine Geste Borcherts’. »Das heißt, da verwischt jemand seine Spuren.« Er kratzte sich am Kopf. »Find ich schon noch raus.« Maxim rülpste. »Also nochmal, was wollen Sie mit dem Krieger?«
Borcherts dachte über seine Antwort nach. Viktor Maxim schien ehrlich zu sein. Vertrauenswürdig? Nein. Aber momentan nützlich und anscheinend offen. Er hoffte, die Daten konnten ihm helfen, die richtigen Patienten in die richtige Gruppe der Studie zu sortieren. Wenn es gelingen sollte, so musste es in den nächsten zwölf Stunden geschehen. Dann mussten die Daten abgegeben sein. Es hing einiges von dieser Studie ab. Sie sollte sein Leben verändern. Endlich ein angemessenes Leben für Carsten Borcherts. Eine Sekunde fürchtete er, ein Lächeln nicht unterdrücken zu können. Eigentlich genial. Genial einfach. Undurchschaubar und völlig sicher. »Man hört so einiges, wenn man sich hier ein Dutzend Jahre oder mehr aufarbeitet. Und dann das Gerücht über den … Krieger.« Er deutete bei dem Wort auf den Admin, angelte dann den halbierten Schokoriegel aus der Kitteltasche und zog die Hülle langsam von der Fäden ziehenden Karamellschicht. »Da wird man halt neugierig. Was ist das für ein Programm? Warum machen die so ein Geheimnis darum? Keiner will was davon wissen. Ich meine, es geht um meine Patienten …« Er biss zu. Klebrige Zuckercreme und zähes Karamell vermischten sich mit der dunklen Schokolade in seinem Mund. Borcherts merkte erst jetzt, wie hungrig er war.
Maxim sah ihn ein paar Sekunden an. Borcherts widerstand dem Blick. »Nur weil Sie …« Maxim wedelte mit einer Hand locker vor sich in der Luft. »… wissen wollen? Nur wegen so einem Gerücht machen Sie sich erpressbar? Klauen Sie Medikamente, riskieren Ihren Job?«
Borcherts rang darum, sich nicht anmerken zu lassen, wie Maxims Worte ihn trafen. »Moment mal …« Er schluckte. »Was heißt erpr…« Er zögerte, entschloss sich dann zum Gegenangriff. »Wo ist das Risiko?« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie hängen doch auch mit drin. Wer soll mich denn … erpressen? Sie?« Er simulierte ein Lachen. »Sie pfeifen sich doch das Zeug rein.«
Viktor Maxim wandte sich seiner Tastatur zu. Er schob die Ampullenschachteln mit einer Bewegung des Unterarms in eine Schublade. »Es ist nicht illegal, Benzos zu nehmen. Sie zu klauen schon.« Er begann wieder damit, auf seine Tastatur einzuhämmern.
»Wir brauchen es ja nicht so weit kommen zu lassen«, sagte Borcherts und schob sich den Trageriemen des Rucksacks über die Schulter. Ihm war wohler zumute, seit er die Medikamente nicht mehr bei sich hatte. Maxims Selbstsicherheit missfiel ihm. Ob etwas an seinem Gerede von Erpressung dran war? Dennoch glaubte Borcherts, es hatte sich gelohnt, das Risiko einzugehen. Er glaubte, der Zugriff auf die Daten müsste es ihm möglich machen, die Studie exakt nach seinen Bedürfnissen zu verbessern. Borcherts schob das letzte Stück des Schokoriegels in den Mund, ging ein paar Schritte zu dem Abfallhaufen rund um die Mülltüte und ließ die Verpackung fallen. »Gute Nacht, Maxim.«
Der Admin hob die Hand und tippte dann weiter.
Borcherts öffnete die doppelte Tür nach innen und zog an der Stahltür. Das Licht aus dem Flur warf einen Lichtsektor auf die Reihen der Computerschränke und ließ den Schein der Dioden verblassen. Die Kraft der Feder des Türschließers ließ nach, als er fünfundvierzig Grad erreicht hatte. Borcherts trat in den Flur. Die warme, abgestandene Luft machte ihn zur anderen Welt. Das Schlagen des Rhythmus und das wahnsinnige Brüllen aus dem Raum hinter ihm nahmen plötzlich wieder die alte Lautstärke an und wurden erst leiser, als sich die innere Tür schloss. Beides erstarb, als die Metalltür zuschlug. Borcherts ging in Richtung der Aufzüge, ohne sich umzusehen. Er federte in den Knien beim Gehen. Sein neuer Besitz war gut verwahrt in seinem Kopf. Niemand konnte ihm nachweisen, was er wusste, und der Verrückte in seinem Kellerkühlschrank arbeitete aus eigenen Motiven für Borcherts. Kinderleicht und todsicher. Borcherts lächelte.
»Sie!«Die Stimme kam von hinten.
Carsten Borcherts’ Kopfhaut schien zu eng zu werden. Das war nicht Maxims Stimme. Sein Magen produzierte Ströme von Säure. Er brachte sich dazu, nicht herumzufahren. Keine Schuld, sagte er sich still, kein Schuldbewusstsein. Niemand kann dir was. Seine Gedanken schienen ihm leider fürchterlich unbedeutend und wirkungslos zu sein. Er ging langsamer und sah über die Schulter. »Ja? Was?«
Zwei Uniformierte des Sicherheitsdienstes, den Bleeker vor einem halben Jahr ins Haus geholt hatte, kamen auf Borcherts zu. Er hielt es für besser, stehenzubleiben.»Was tun Sie denn hier? Wer sind Sie?« Einer der beiden war ein großer, schlaksiger Jüngling mit faserigem Schnurrbart, dem der Hemdkragen zwei Zentimeter zu weit war. Auf die Kragen war mit grünem Zwirn die Abkürzung der Firma, SDL, gestickt. Beide trugen die gleichen Hemden, grüne Kunstfaserkrawatten und blaue Stoffhosen. Grauenhaftes Design, fand Borcherts und glaubte, ein wenig Überlegenheit aufkommen zu spüren. Dem Großen waren die Hosenbeine eine Spur zu kurz und seine billigen Slipper, deren Lackleder an den Spitzen und Seiten aufgesprungen war, wurden so bis zur Lächerlichkeit betont. Der Kräftigere der beiden hatte gesprochen. Er zog eine überlange Taschenlampe aus einem Futteral an seinem Gürtel und leuchtete nach Borcherts, obwohl die drei direkt unter zwei Leuchtstoffröhren standen, von denen die eine flackerte.
»Ich arbeite hier«, sagte Borchert gut gelaunt. Sein Lächeln war beinahe echt. Die beiden Hanswurste waren keine Gefahr. Bleeker hatte seine Krämerseele wohl nicht daran hindern können, das billigste Angebot anzunehmen. Für eine größere Investition hätten die Kerle Borcherts jetzt wohl etwas mehr Furcht eingeflößt.
Der Große lächelte unsicher, der Stärkere knipste seine Lampe aus. Borcherts’ Lächeln wurde authentisch. Er wollte sich umdrehen, als der Große mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen und zitterndem Schnurrbart sagte: »Hier unten?« Borcherts roch alten Schweiß und zumindest einer der beiden hatte Alkohol getrunken. Er hob den Kopf und nahm die Schultern zurück. Wenn alles schief ging, würde ihm dieses Wissen Überlegenheit verschaffen. Er nickte an den beiden vorbei in Richtung des Computerraums. »Meinen Account erneuern«, sagte er. »Musste ich schon seit zwei Wochen.« Er tippte auf seine Armbanduhr, ohne hinzusehen. »Dieser Maxim ist ja immer hier. Scheint so.« Er hob die Hand. »Also, gute Nacht noch.« Er drehte sich um und ging weiter. Er hörte keine Schritte der Wachleute mehr, bis er vor der Schiebetür des Aufzugs stand und den Rufknopf drückte.
Peter Hayen beugte sich über das Bett von Helmuth Vokator und zog die Staubinde straff um den fetten Oberarm des Patienten. Der Monitor am Nachbarbett begann einen Alarm. Die frisch am Herzen Operierte hatte wieder eine Tachykardie. Hayen blickte hinüber.
»Lassen Sie das«, sagte Vokator, zog den Arm zurück und kritzelte weiter auf seinem Notizblock. Er warf ein gelbes Blatt mit feiner, blauer Lineatur herum und hielt es mit einem feisten Zeigefinger bei den anderen auf der Kartonrückseite des Blocks.
Hayen nahm den Arm, zog den Notizblock aus seinen Fingern und ließ ihn auf die Bettdecke fallen. Er klopfte mit einer flachen Hand erst auf Vokators Unterarm, dann auf den Handrücken. »Ich muss eine Blutkultur anlegen, Sie haben Fieber bekommen.« Seine Hand beklatschte die teigige Haut des Patienten – es wollte sich keine Vene zeigen.
Vokator zog die Hand weg und ein Buch aus dem Haufen, der auf der Decke von seinem Bauch zwischen die gespreizten Beine gerutscht war. Er zischte etwas undefinierbar Ärgerliches und schlug das Buch an einem der zahllosen eingelegten Zettel und Zeitungsausrisse auf. »Der Idiot«, sagte er, zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte Hayens Hand ab, die ihn am Unterarm gefasst hatte. Er kritzelte weiter.
Der Alarm am Nachbarbett änderte die Tonlage und die Frequenz.
»Schaut da endlich mal jemand zu Frau Sieverts, verdammt«, rief Hayen über seine Schulter, nahm den Band aus Vokators Hand und warf ihn zu den anderen auf die Bettdecke. »Es reicht, Herr …« Hayens beherrschte Stimme wechselte zu einem Schmerzensschrei, als Vokator ihm einen Bleistift in den Handrücken rammte. »Sind Sie denn …«
»Und diese blöde Kuh da drüben soll Ruhe geben, verflucht«, brüllte Vokator nach rechts gewandt und warf den Bleistift über den Paravent. »Kann man hier nicht in Ruhe arbeiten?« Er zog einen neuen Stift aus einer kleinen Kartonschachtel, klemmte das Ende zwischen die Zähne und biss zu, während er Hayen ansah.
Peter Hayen hielt die Rechte mit der anderen Hand umfasst und rieb die wunde Stelle zwischen den Mittelhandknochen. »Sie sind ja völlig durchgeknallt.«
»Hört, hört!« Vokator schüttelte den Kopf, so dass sich die zurückgekämmten, fettigen Haare lösten und um die runden Wangen flogen. »Ich muss arbeiten«, sagte er knapp und angelte erneut das Buch aus dem Haufen zwischen seinen Beinen.
Aus einem Nachbarzimmer ertönte ein weiterer Alarm. Hayen fühlte Schweiß zwischen seinen Schulterblättern hinabrinnen. Er warf einen Blick auf die Uhr über der offen stehenden Tür des Patientenzimmers. Halb vier Uhr früh. Zwanzig Stunden Dienst, kein Abendessen, kein Schlaf. Er nahm sich vor, ruhig zu bleiben. »Herr Vokator«, er hob beide Arme und bewegte die ausgestreckten Hände langsam auf und ab. »Das ist wichtig, verstehen Sie?« Vokator gab durch nichts zu erkennen, dass dem so war. »Wenn Sie schon nicht wollen, dass wir Ihren Herzinfarkt behandeln, so lassen Sie mich doch wenigstens diese Blutkultur …«
»Unsinn«, unterbrach ihn der Patient. Er kritzelte auf seinem Block, schien etwas aus dem Buch zu kopieren, ohne aufzusehen. »Herzinfarkt. Habe ich nicht. Alles Schwachsinn.« Er zog eine Augenbraue hoch und betrachtete für eine Sekunde den Arzt vor ihm. »Können Sie tippen?«
»Was?« Hayen spürte ein Lächeln, das er nicht verhindern konnte.
»Na tippen, transkribieren«, fauchte Vokator, ließ den Block fallen und klemmte den Stift zwischen die Kiefer. »Tippen, tippen, tippen!« Seine Stimme überschlug sich fast, der Bleistift fiel ihm aus dem Mund. Er fuchtelte mit den Fingern in einer Karikatur des Schreibmaschine-Schreibens in Hayens Richtung. »Bin ich denn nur von Schwachköpfen umgeben? Abtippen, ein Manuskript zu Papier bringen, abschreiben, kopieren!« Er rief jedes Wort lauter als das vorige. Mit seinen fetten Fingern fuhr er sich durch die glänzenden Haare. »Wie soll ich den Leitartikel für den Leeraner Tag fertigbringen, wenn mir keiner hilft? Wie soll ich denn alles allein machen?« Er ließ eine massige Hand auf den Block fallen und zerknüllte die obersten Blätter, während er ihn hochnahm. Die Rechte tastete nach dem verlorenen Bleistift, fand die Schachtel mit dem Nachschub und fingerte einen heraus.
»Sie sollen hier nicht arbeiten, Sie sollen gesund werden, sich behandeln lassen. Die Zeitung wird einmal ohne den Chefredakteur auskommen müssen.«
Vokator winkte ab. »Ach was. Helfen Sie mir jetzt oder nicht?«
Der Alarm vom Nachbarbett wechselte in die höchste Stufe, die Software schien einen Herzstillstand erkannt zu haben. Vokators Augen quollen hervor. Hayen warf einen Blick über den Wandschirm und sah, dass sich der Algorithmus wie meistens täuschte.
Durch die fleischige Gestalt des Journalisten ging ein Beben. »Wenn dieses Gehupe hier nicht bald aufhört, dann …« Ein weiterer Stift flog über den Raumteiler, schlug gegen die Zimmerwand dahinter und klapperte zu Boden. »Alles«, Vokators Stimme zitterte vor inbrünstigem Pathos, »alles werden Sie im Leeraner Tag nachlesen können.« Der Speck seiner Wangen vibrierte. »Das verspreche ich Ihnen.«
Hayen hob die Stimme. »Es ist halb vier am Morgen, Herr Vokator. Und jetzt hören Sie endlich auf, hier mit Sachen um sich zu werfen.«
»Sie grünschnabeliger Lümmel«, quoll es erst von weit unten aus Vokators Leib, dann hob sich der Ursprung seiner Stimme und wanderte in den Kopf, von wo aus schrillende Schimpfworte produziert wurden, deren Bedeutung sich Hayen nur unzureichend erschlossen. Die Bedeutung des Buches, das gegen seinen Kopf geschleudert wurde, begriff er jedoch so rasch, dass er zur Seite sprang, bevor es ihn traf. Er beschloss, die Abnahme der Blutkultur zu verschieben, überließ Vokator sich und seiner Arbeit und ignorierte den Journalisten, der zuerst wie selbstverständlich, dann immer wütender forderte, man möge ihm sein Buch zurückgeben.
Der Alarm der EKG-Überwachung der Nachbarpatientin beruhigte sich um eine Stufe. Hayen zog den Kragen seines Intensivstations-Kittels nach oben, senkte den Kopf und wischte sich über das Gesicht. Er rümpfte die Nase. Er brauchte dringend eine Dusche.
Er ging über den halbdunklen Flur bis zum Stations-Stützpunkt und lehnte sich in die Türöffnung. Martha und Rodriguez hatten Nachtdienst. Rodriguez lag auf einem Bürostuhl, die Arme hingen herab, der Kopf über die Rückenlehne. Die Beine hatte er auf den Schreibtisch abgelegt. Ein Fuß war zur Seite gekippt und drückte auf die Tastatur des Stationscomputers. Im Textverarbeitungsprogramm erschien Zeile um Zeile angefüllt mit der Ziffer drei. Rodriguez Tarapaca Zapatero war aus Chile eingewandert und machte während seiner wachen Stunden alles an, was jung, attraktiv und männlich war, wenn er nicht gerade Wetten feilbot. Sein Unterkiefer hing herunter, aus dem Mundwinkel lief ein Speichelfaden.
Martha saß in der anderen Ecke des Raumes, wo tagsüber der Stationsleiter an einem zweiten Rechner seine Verwaltungsarbeit erledigte. Sie drückte die Pfeiltasten auf der Tastatur und starrte dabei auf den Bildschirm, wo ein kleiner, unrasierter Glatzkopf in blauer Hose und gestreiftem Hemd eine mannshohe Bretterkiste durch die Gegend schob. Stieß er mit seiner Fracht gegen eine Mauer des Labyrinths, so lief er weiter und die Füßchen rutschten über den Boden, als hätte Coulomb niemals über Reibung veröffentlicht.
»Sagen Sie, haben Sie die Alarme nicht gehört oder was war los?« Hayen stieß mit dem Fuß gegen eine der Rollen des Drehstuhls, auf dem Rodriguez schlief.
Martha kicherte. »Der Kerl sieht aus wie Carsten Borcherts, finden Sie nicht?« Sie ließ die Computerfigur um eine Kiste herumtippeln und sie in Richtung Bildschirmrand zu einigen anderen schieben. Rodriguez grunzte und schmatzte.
»Nein, finde ich nicht«, log Hayen. »Und wenn die Sieverts da drin einen Herzinfarkt hat, das ist längst nicht so wichtig wie Ihr Sokoban hier.« Er fuhr sich durchs Haar und ließ die Hand auf dem Scheitel liegen, die Linke stemmte er in die Hüfte.
Martha hob die Schultern und neigte den Kopf einen Augenblick zur einen, dann zur anderen Seite. »Ist er nicht niedlich, der kleine Lagerarbeiter Borcherts? Lagerarzt Borcherts.« Sie kicherte und nahm die Hände in den Schoß, während der Rechner ein neues Labyrinth auf den Bildschirm zauberte.
»Na, lassen Sie sie doch, Doktor.« Rodriguez stemmte sich ächzend in eine sitzende Position und stellte die Schuhe auf die Kante des Schreibtischs. Seine ›R‹ rollten spanisch und die Betonung war ungelenk, aber er sprach stets fehlerfreie Grammatik. Die Eingabemarke des Textprogramms blinkte ruhig. Die Statuszeile meldete sechzig Seiten voller Dreien. Es knirschte wie Sand zwischen zwei Lagen Papier, als der Pfleger über sein unrasiertes Kinn und die Wange wischte. Er gähnte.
Hayen fragte sich, wie lange der Rechner für sechzig Seiten Zahlen brauchte mochte. Wie viele Ziffern fasste eine Seite? Tausend? Zweitausend? Neunzigtausend Dreien, vielleicht, dachte er. Zehn Ziffern pro Sekunde, tausend, zweitausend durch zehn in Sekunden …
Rodriguez stand auf und unterbrach Hayens stille Rechnung. »Muss pissen.«
Martha kicherte über ihren kleinen Borcherts.
»Wie lange die Sieverts es noch macht?« Rodriguez streckte sich mit zurückgelegtem Kopf zwischen den behaarten Armen. »Lust auf eine Wette?«
»Eine Wette?« Hayen sah hin und her zwischen der von ihrem Spiel begeisterten Martha und Rodriguez, der sich nun den Bauch kratzte. Hayen ekelte das Geräusch der Fingernägel in Rodriguez’ Fell. »Eine Wette, wie lange Sieverts lebt? Das glaube ich nicht.«
Der Pfleger zog sich den Arbeitskittel zurecht und zog ein zerfleddertes A6-Vokabelheft und ein Bündel aus einer Tasche. Er löste den doppelt gelegten Gummiring und das Bündel erwies sich als Stapel mit Dutzenden Zetteln. Rodriguez zählte mit blitzschnellen Bewegungen zehn oder zwanzig Zettel von der Rechten in die Linke. Das Heft hielt er zwischen kleinem und Ringfinger der rechten Hand. Seine Stimme wurde konzentriert, er sprach härter und schneller. »Wenn Sie genug einsetzen, können Sie auch …« Er wedelte mit den Zetteln in der linken Hand und schien eine Sekunde zu überlegen. »Sie könnten auch auf ihren Kopf wetten.« Er tippte sich an die Schläfe. »Sie verstehen. Was da noch funktioniert.«
Martha kicherte.
Rodriguez saugte quietschend Luft durch die Lippen, machte einen Kussmund und sagte vorsichtig: »Sagen wir hundert für zehn Euro, wenn sie mehr als zehn Punkte auf der Glasgow-Koma-Skala erreicht.«
Hayens Gleichgewichtsorgan spielte ihm für einen Augenblick einen Streich. Er schloss die Augen, drehte sich um und ging hinaus. Er ließ die Aufforderungen und Angebote von Rodriguez an seinem Rücken abprallen und ging den Flur hinab in Richtung von Vokators und Sieverts’ Krankenzimmer.
Vor der Tür blieb er stehen, atmete einmal tief ein und durch die Nase aus, dann trat er ein. In der Luft lag der Geruch von Stuhlgang. Er ging weiter. In der Nähe von Frau Sieverts’ Bett war der Duft am intensivsten.
»Ha!«, rief Vokator wie ein Peitschenschlag. »Stundenlang im eigenen Kot liegen lassen. Typisch.«
Hayen ging weiter und sah aus dem Gewirr von Büchern, Bleistiften, Bettdecke und Extremitäten des Journalisten einen fetten Arm auf sich gerichtet. Der Zeigefinger zitterte wie das Ende eines geworfenen Speers an seinem Ziel. Die Hand schnappte zur Faust zusammen, bewegte sich dramatisch langsam zu der anderen, die Vokator erhoben hatte. Beide beschrieben ein sich verbreiterndes Rechteck eine Armlänge vor seinem Gesicht.
»Ich sehe die Schlagzeile.« Er stöhnte wie vor Lust. »Ah. Wunderbar. Natürlich, das bringt Auflage, das passt genau. Genau in die Zeit. Hören Sie: Sterbenskranke Patientin verrottet in ihrem Bett. Sie brachte keinen Gewinn für das Krankenhaus.« Beide Hände waren zur Seite gewichen, Vokator lag lächelnd mit ausgebreiteten Armen zwischen seinem Notizblock und verstreuten Büchern. Die Finger krümmten sich zu gen Himmel gerichteten Kelchen. »Das ist Kunst.« Vokator war offensichtlich ergriffen. »Wer so texten kann, wird Chefredakteur – früher oder später.« Er ließ die Arme sinken und leckte sich die wulstigen Lippen. »Ich war es früher.« Seine Stimme wurde nüchtern, er wedelte mit der Rechten in Richtung Sieverts. »Also, ich bin es immer noch. War es früher als andere. Verstehen Sie mich rich…« Er winkte ab. »Ach was. Und jetzt putzen Sie besser die Scheiße weg, sonst wird diese Überschrift übermorgen Realität.«
Hayen spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er beherrschte seine Wut und sagte: »Das machen die Pfleger in ein paar Minuten. Ich werde jetzt die Blutkultur bei Ihnen abnehmen.« Ihn ekelte vor dem schwitzenden Walross in dem Bett. Der Geruch von Sieverts’ Stuhlgang potenzierte das Gefühl. Hayen hob und senkte die Schulter, bewegte den Kopf hin und her, um den Kittel aus achtzig Prozent Polyester von seiner verschwitzten Haut zu lösen.
Vokator grunzte nur und schrieb in wahnwitziger Geschwindigkeit auf seinen Block. Es gab einen feinen Knacks, die Bleistiftmine schien abgebrochen zu sein, er warf den Stift ohne hinzusehen in Hayens Richtung und zog einen neuen aus der Schachtel.
Hayen trat auf das Bett zu. »Es reicht, verflucht!« Hayen wunderte sich selbst über seine Lautstärke. Er wollte den Patienten nicht anschreien, es drang ohne sein Zutun aus ihm hervor. »Sie unglaublich riesiges, stinkendes …«
Vokator sah auf und lächelte. »Ja? Was genau, bitte?« Er hielt Block und Stift im Anschlag.
Hayen rang mit sich und schwieg mehr, weil er kein passendes Schimpfwort fand, als wegen der Drohung des Journalisten.
»Nur keine Hemmungen, Herr – Doktor.« Vokator begleitete das letzte Wort mit einer spiraligen Ergebenheitsgeste der rechten Hand. »Vielleicht findet Ihr Justitiar das ja auch interessant.« Sein Blick wechselte für einen Augenblick an Hayen vorbei und zurück.
»Himmel, ich habe verdammt nochmal Besseres zu tun, als mich hier von Ihnen beschimpfen und mit Bleistiften bewerfen zu lassen.« Das Blut pulste in Hayens Hals, kalter Schweiß trat auf seine Stirn. »Warum sind Sie denn überhaupt hier, Sie Hypochonder? Sie gehören in eine geschlossene Anstalt, aber nicht auf meine Intensivstation.« Hayen warf den Kopf zurück und tippte sich mit beiden Zeigefingern auf die Brust. »Meine Intensivstation, hören Sie? Und ich lasse mich von Ihnen nicht wie ein Stück Scheiße behandeln.« Er war bei den letzten Worten bis an Vokators Bett getreten. Er musste Atem schöpfen und die Pause genügte, um ihn eine Spur zu beruhigen. Ihm gingen verschiedenste Beleidigungen und eine ausführliche Würdigung des absurden Aussehens Vokators durch den Kopf, aber das genügte ihm, er musste die Worte nicht aussprechen. »Wenn die Rechnungen der Herren Chefärzte kommen, wird Ihnen nachträglich jeder Tag hier leid tun.«
»Na, was sagen Sie dazu?« Vokator lächelte und sah an Hayen vorbei. »Halten Sie den Doktor für durchgeknallt? Gefährlich? Darf man ihn noch arbeiten lassen, Herr … wie war Ihr Name?« Vokator nickte an Hayen vorbei. »Na, raus mit der Sprache.«
War er einfach psychotisch?, dachte Hayen. Natürlich! Dass er nicht früher daran gedacht hatte. Vokator sprach mit einem Phantom. Er, Hayen, war überarbeitet – merkte nicht, wenn ein Patient halluzinierte. Er schüttelte den Kopf und schämte sich für seinen Wutausbruch. Bisher schien der Patient so weit in Ordnung. Neurotisch, arbeitswütig, ein Widerling comme il faut, aber Personen herbeifantasiert hatte er bisher nicht. Wen er wohl sah? Hayen rieb sich das Kinn und hörte dem Kratzen seiner Bartstoppeln zu. Ob man ihm etwas spritzen sollte? Er würde es sich sicher nicht freiwillig gefallen lassen. Welches Psychopharmakon half am besten gegen einen akuten Wahn? »Wenn ich jetzt noch Promethazin gebe …«, murmelte er, »… das wirkt zu lange. Jetzt ist es …« Er drehte sich zur Tür, darüber war eine klobige Bahnhofsuhr angebracht, deren zentimeterbreiter Zeiger mit Anbruch jeder neuen Minute einen schleifenden Ton von sich gab. »Viertel vor …« Weiter kam er nicht.
Er drehte sich wieder zu Vokator um, der aufmerksam in seinem Bett saß und seinen Notizblock sinken ließ. Plötzlich schien dieser Anblick viel angenehmer als noch vor einer Sekunde. Es war keine Einbildung gewesen, kein Wahn. Weder Vokator noch er selbst halluzinierten – obwohl ihm jetzt beide Möglichkeiten als anziehend erschienen. Nach zwei Atemzügen wagte er es, sich erneut der Tür zuzuwenden.
»Herr Ekhoff. Doktor Ekhoff. Guten Morgen«, sagte Hayen und fand, dass dies das Beste war, was einem begabten Akademiker in dieser Situation einfallen konnte. Der Justitiar des Krankenhauses stand in der Tür, als wäre es neun Uhr morgens, nicht Viertel vor vier. Als wäre dies der Besprechungsraum im achten Stock des San Giberto, nicht ein Patientenzimmer auf der Intensivstation, in dem es nach Scheiße roch. Als wäre Hayen ein verständnisvoller Mediziner, der sich beherrschen konnte, kein Berserker gegen einen Patienten.
Doktor iuris Hinrich Ekhoff hielt die Arme auf dem Rücken zusammen, so dass der Knopf seines dunklen Sakkos ein wenig spannte. Seine stämmige Figur und die kurzen Beine ließen wohl nur Maßanzüge zu. Die linke Wange mit dem Schmiss zwischen Mundwinkel und Jochbein zuckte. Unter dem linken Arm hielt er einen aufklappbaren Klemmbrettkasten aus Aluminium. So stand er auch da bei den unvermeidlichen Monatsgesprächen. Wenn es wieder einmal um die Codierungen ging, in die Ekhoff so vernarrt war.
»Herr Hayen …« Er sprach den Buchstaben ›R‹ wie ein Engländer aus.
»Ja, ich weiß, das war nicht richtig.« Hayen spürte, wie seine Augenlider flatterten, er beugte sich etwas vor, sprach schneller. »Sehen Sie, es ist nicht einfach, er …« Hayen ließ die Hand fallen, deren Daumen über die Schulter zu Vokator deutete. »Ich bin etwas übermüdet, ich habe das nicht so sagen wollen, ich …«
»Ich wusste, es würde sich lohnen.« Ekhoff sprach es wie einen Richterspruch aus. Er wippte einmal von den Fersen zu den Fußballen und zurück.
»Oh, es lohnt sich, es lohnt sich. Wie wahr«, warf Vokator ein.
»Sagen Sie, wofür bezahlen wir Sie eigentlich?« Ekhoff steigerte seine Lautstärke mit jedem Wort.
»Ja, das möchte ich auch wissen«, sagte der Patient gut gelaunt.
»Haben Sie Ihre DRG-Codierungen in letzter Zeit mal überprüft?« Ekhoff blieb nur knapp unter einem Brüllen. »Mann, was glauben Sie denn, womit wir unser Geld verdienen? Haben Sie denn überhaupt nichts begriffen?« Er spuckte beim Schreien. Das Fett der rechten Wange schien in Resonanzschwingungen zu geraten, während die linke, fixiert durch die Narbe, stabiler erschien. »Ich wusste es.« Er stampfte mit einer minimalen Bewegung des Beines. »Ja, ich wusste es. Man kann Ihresgleichen nicht trauen.« Er stampfte. »Kontrolle.« Stampfen. »Kontrolle.« Er nahm die Arme vom Rücken, fing den Klemmbrettkasten in der Linken auf und machte einen knappen Handkantenschlag mit der anderen Hand. »Kontrolle.«
»Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle«, keifte Vokator fröhlich. Irgendwo unter der Bettdecke der Sieverts entstand ein unanständiges Geräusch.
»Meine DRG-Kodierungen?« Hayens Blick streifte erst die Uhr, dann Sieverts und blieb bei Ekhoff. DRG, Diagnosis related groups. Lästig, aber notwendig. Jeder Patient wurde anhand seiner Diagnose in eine Gruppe einsortiert. Danach wurde mit den Kassen abgerechnet. Brave new world. DRG – allein mit der Erwähnung der Abkürzung konnte man so manchen altgedienten Arzt in Rage bringen.
»Herr, tun Sie nicht so ahnungslos.« Ekhoff hob den Kasten in der Linken und tippte mit einem Finger auf die Schreibfläche. »Die Statistik dieser Station im April ist eine Katastrophe.« Er betonte jede Silbe mit einem Tippen auf das Aluminium. »Und wer trägt den Hauptteil bei?« Er triumphierte. »Natürlich Doktor Hayen. Wie immer.«
»Aber warum kommen Sie um …«
»Um vier Uhr früh? Ha!« Ekhoff spuckte beim Sprechen. Die kehligen R-Laute wirkten komisch auf Hayen. »Haben Sie geglaubt, Sie kommen damit durch? Schlafen, Essen, am Rechner spielen. Alles, nur nicht arbeiten.« Ekhoffs Stimme überschlug sich. »Das sind Überstunden, Herr, die wir bezahlen. Überstunden. Nachtzuschlag.« Er sprach ruhiger. »Und was machen Sie? Wenn Sie Zeit haben, sich hier zu streiten, warum haben Sie sich dann gestern das letzte Mal am Diagnosensystem angemeldet?« Er ließ den Kasten militärisch knapp unter den Arm schnappen und verschränkte die Arme wieder auf dem Rücken. »Ja, das hätten Sie nicht gedacht? Ich halte die Augen offen. Mir entgeht kaum etwas.« Ekhoff nahm den Kopf in den Nacken.
Hayen atmete schneller. »Sie tauchen hier mitten in der Nacht auf, um mir zu erzählen, wann ich codieren soll?«
»Tut er«, sagte Vokator.
»Ruhe da hinten!«, blaffte Ekhoff.
»Sagen Sie, haben Sie noch alle beisammen?« Hayen wusste, dass das nicht gut gehen würde. »Was ist denn mit Ihnen los?« Er schob den Kopf vor, beide Zeigefingerspitzen gegen die Schläfen gepresst. »Ich versuche hier die Menschen am Leben zu halten und Sie kommen mir mit so einem Scheiß?«
»Scheiß? Haben Sie Scheiß zu mir gesagt?« Ekhoffs Augen weiteten sich.
»Hat er«, kam es glücklich aus dem Bett hinter Hayen.
»Ruhe da hinten«, riefen Hayen und Ekhoff gleichzeitig.
»Was ist denn die tollste codierte Diagnose wert, wenn ich die Patienten vernachlässige?«
»Natürlich.« Ekhoff trippelte eine Vierteldrehung zur Seite und wand den Oberkörper zu Hayen zurück. »Natürlich. Arztgesülze. Kommen Sie mir nicht damit.« Er hielt die Hände auf dem Rücken und schüttelte einmal knapp den Kopf. »So naiv können doch nicht mal Sie sein. Was ist denn das für ein Florence-Nightingale-Gestammel? Was ist Ihr eitles Mediziner-Getue wert, wenn die Klinik kein Geld dafür verdient, ha?« Er hob die Augenbrauen. »Wie lange können Sie denn noch rumdoktern, wenn die Klinik Ihr Gehalt nicht zahlt, was?«
»Was verdient er denn so, der Doktor?«, wollte Vokator wissen.
Hayen hob beide offenen Hände in Schulterhöhe. »Gut, noch mal von vorne.« Er deutete hinter sich, ohne sich umzudrehen. »Dieser Patient hat ein akutes Koronarsyndrom und heute Nacht hat er Fieber bekommen und ich wollte ihm eine Blutkultur abnehmen.«
»Interessiert mich nicht«, warf Ekhoff ein.
Hayen wehrte mit einer Handbewegung ab. »Nein, einen Moment. Und es tut mir leid, wenn ich ihn angeschrien habe. Ist mir noch nie passiert. Soll nicht wieder vorkommen. Okay. Einverstanden.«
»Interessiert mich nicht. Verschlüsseln Sie ihn richtig und Sie dürfen ihn meinetwegen auch anschreien.«
»Moment«, rief Vokator. »Dazu habe ich wohl auch noch etwas zu sagen.« Niemand achtete auf ihn.
Ekhoff drehte sich um und ging den Flur hinunter. »Was wollen Sie denn nun eigentlich?«, rief Hayen dem Justitiar hinterher und folgte ihm. »Mich einfach nur terrorisieren? Kontrollieren?« Ekhoff war beim Stationsstützpunkt angekommen und blieb in der Tür stehen. Er hatte Hayen den Rücken zugewandt und sah in den Raum. Hayen sah durch die Glasscheibe, dass Rodriguez und Martha verschwunden waren. Auf Marthas Bildschirm war das Pflegedokumentationsprogramm zu sehen. »Bei jedem Monatsgespräch. Und praktisch jeden zweiten Tag tauchen Sie hier auf Station auf, um mir zu sagen, was ich wieder falsch gemacht habe.«
Ekhoff führte seine Hände in einer eckigen Bewegung zueinander und ließ die Finger ineinander schnappen. Dabei schaffte er es, den Klemmbrettkasten unter dem Arm zu behalten. Hayen staunte. Ekhoff stellte seinen rechten Schuh auf die Spitze und drehte sich auf der linken, flach auf dem Linoleumboden ruhenden Sohle, bis der rechte Schuh mit einer exakten Bewegung und einem leisen Hackenschlag neben dem anderen zu stehen kam. »Ich will Daten.« Ekhoff hob den Kopf und blickte ein paar Zentimeter über Hayen. »Ich will wissen, was unsere Mitarbeiter während ihrer Arbeitszeit tun.« Er senkte den Blick für eine Sekunde und sah wieder über Hayen hinweg.
»Nicht einmal.« Hayen schlug eine Faust in die andere Handfläche. »Nicht einmal haben Sie mir einen medizinischen Fehler nachgewiesen.«
»Lassen Sie den Unsinn.« Ekhoff blickte die Decke über Hayen an, während er sprach. »Sie wissen, was ich will.«
»Nein, weiß ich nicht. Was? Was ist es denn nun?« Er wartete eine Sekunde. »Die Codierung? Die Dokumentation? Wollen Sie mehr Fälle? Kürzere Liegezeiten? Bessere, teurere Diagnosen, billigere Behandlungen? Was?«
Ekhoff trat einen Schritt vor, sah Hayen in die Augen und drehte sich um. Dann ging er den Gang hinunter zum Ausgang der Station.
Hayen starrte bewegungslos seinen Rücken an. Als er an dem Patientenzimmer vorbeiging, hörte man Vokator jubeln. »Kommt alles in den Leeraner Tag. Schlagzeilen, Schlagzeilen wie Sahnehäppchen. Wunderbar. Danke. Ich danke Ihnen.«
Hayen hörte ein Rascheln hinter sich und drehte sich um. Martha kam hinter Rodriguez aus einem Patientenzimmer, beide rissen sich die ungebrauchten, aber wirkungsvollen Wegwerf-Schürzen von Hals und Leib und knautschten die dünnen, weißen Kunststofffolien zu faustgroßen Bällen zusammen. Martha fing Rodriguez’ Schürze auf, die er hinter sich warf.
»Doktor«, sagte Rodriguez mit mehr denn je rollendem ›R‹. In seinem Ton lag die Verführungskunst einer Sirene. »Das können Sie nicht ablehnen.« Er breitete die Arme aus und legte den Kopf schräg, während er langsam auf Hayen zuging. »Sie gewinnen in jedem Fall. Ich betrüge mich selbst. Ich kann nur verlieren.«
Martha drängte sich an den Männern vorbei, um ins Stationszimmer und zu ihrem Rechner zu gelangen.
Hayen sah ihr hinterher.
»Sie wetten mit mir, dass Sie innerhalb der nächsten vier Wochen hier gekündigt werden und ich halte dagegen.« Rodriguez Ton wurde härter und schmeichelte dann erneut, als Hayen sich zu ihm umgedreht hatte. »Gewinnen Sie, haben Sie keinen Job, aber nehmen mein Geld mit.« Er hob die Schultern. »Verlieren Sie, haben Sie Arbeit und können sich den Einsatz leisten.« Ein Lächeln zog sein breites Indio-Gesicht auseinander. »Sehen Sie? Sie können nur gewinnen.«
Einige Sekunden starrte Hayen den regungslos grinsenden Rodriguez an und konnte sich nicht zwischen den beleidigenden Antworten entscheiden, die seinen Kopf durchschossen.
Schließlich sagte er gar nichts, drehte sich um und zog im Gehen den zerknitterten rosa Altpapierzettel aus der Kitteltasche, auf dem eng geschrieben die aufgelaufenen Probleme der Nacht notiert waren.
Coord Bleeker sah auf seine Omega, während er durch sein Vorzimmer stürmte. Seine Sekretärin hielt ihm eine Unterschriftenmappe hin, die er ihr abnahm, ohne sie anzusehen. »Morgen, Frau Steiger«, sagte er, während er schon an ihr vorbei war und durch seine offen stehende Bürotür ging. Schon halb zehn, dachte er. Zwei Stunden verschwendet mit diesem idiotischen Betriebsrat. »Gewerkschaftszombies, Proleten. Abschaffen. Unnötig. Sollen besser arbeiten. Schmarotzer«, murmelte er. Im Vorbeigehen gab er der Tür einen Stoß und zögerte für einen Schritt, während er einen Augenblick lang den satten Ton genoss, den Polsterung, Sicherheitsriegel und Hartholzkern gemeinsam produzierten. Steigers Antwort ging darin unter.