Psychiatrie - Martin Kleen - E-Book

Psychiatrie E-Book

Martin Kleen

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Beschreibung

Der Psychiater Wolf Kerrmann arbeitet an der Einführung des Psychopharmakons Serenata. Das Medikament vollbringt das Unmögliche bei aussichtslosen Fällen. Aber zu welchem Preis? Bizarre Selbstmorde scheinen einen Zusammenhang mit Serenata zu haben. Berichte an die Zuständigen bleiben ungehört. Der Einsatz von Serenata wird verbreitert, sogar Drogensucht soll heilbar sein. Die opiatsüchtige Anästhesistin Jasmin Nerhaus, eine Freundin Wolfs aus der Studienzeit, soll die erste Patientin sein. Weil Wolf seinen Chef, den Pharmakonzern und Jasmin nicht von der Gefährlichkeit Serenatas überzeugen kann, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln …

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Martin Kleen

Psychiatrie

Kriminalroman

Zum Autor

Martin Kleen, geboren 1965 in Erlangen und in Franken aufgewachsen. Studium der Medizin ebenfalls in Erlangen, danach fünf Jahre medizinische Grundlagenforschung und Habilitation in München. Anschließend vier Jahre Tätigkeit als Anästhesist und dabei Sammlung von Stoff für viele noch zu schreibende Romane. Berufsbegleitendes Managementstudium. Von 2002 bis 2004 Arbeit in der medizintechnischen Industrie. Seit 2005 arbeitet er wieder als Anästhesist in einer Münchner Klinik.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2007 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © Styxography / adobe.stock.com

ISBN 978-3-8392-6534-5

Widmung

Für Gregor und Viktor

Zitat

First they ignore you, then they laugh at you, then they fight you, then you win.

(Mahatma Ghandi)

1. Kapitel

Doktor Wolf Kerrmann saß vor seinem Schreibtisch und blätterte durch das Gutachten über den Brandstifter. Er ließ die Seiten durch die Finger gleiten und suchte nach einem Dokument, das seine Aufmerksamkeit fesseln konnte. Er fand nichts.

Wolf hörte Hellmuth Erbels Stimme rufen. Ein Kampf auf dem Stationsflur! Wolf schob sich mit dem Drehstuhl vom Schreibtisch, fühlte nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche und war in drei Schritten an der Tür.

Anton Raitmeier riss sein Knie hoch und traf den Pfleger unter dem Rippenbogen. Erbel knickte ein. Wolf rannte den Gang hinunter auf die beiden zu. Anton stand in der Tür seines Patien­tenzimmers. Wolf war noch den halben Flur von beiden entfernt, aber er konnte Antons aufgerissene Augen sehen. Der Blick flackerte von Erbel zu Wolf. Im Vornüberfallen legte Erbel seine Arme um Antons Taille. Wolf fehlten noch fünf Meter. Erbel hob Anton von den Füßen. Der Patient ruderte mit den Armen. Er wand sich, seine Bewegungen wurden panisch. Er stieß kurze Schreie der Anstrengung und der Angst aus. Erbel kippte seitlich auf den Linoleumboden und klammerte sich an Anton, der wie eine Puppe an ihm hing und sich befreien wollte. Die wirbelnden Arme und Beine trafen ins Leere, bis Wolf beide erreichte und in das rasende Durcheinander griff.

Ein Fuß traf Wolfs linke Schulter. Anton hatte Schuhe mit Absätzen. Eine Faust streifte Wolfs Wange. Er zog den Kopf ein und bückte sich. »Jetzt reicht es, Anton!«

Anton zögerte einen Moment. Seine braune Iris lag verloren in der Mitte der Augäpfel. Anton war mittelgroß, viel kleiner als Wolf und halb so breit. Wolfs Hände schlossen sich ganz um je ein Hand- und Fußgelenk. Er richtete sich auf, und zog, Antons zuckende Gliedmaßen streckten sich. Erbels Griff löste sich, Anton hing an Wolfs Händen. Er ließ das Bein fallen, und Anton stand vor ihm und sah zu ihm hoch.

Mein Gott, dachte Wolf, welche Angst muss dieser Mensch durchleben …

Antons Blick zuckte umher, versuchte Wolfs Gesicht über ihm zu fixieren. Eine Bewegung kam aus den Füßen, setzte sich über die Beine und Hüften bis zu den Schultern fort und riss schließlich seinen Kopf herum. Er stürzte in sein Zimmer, stieß die Tür beiseite, die an der Wand abprallte und sich langsam schloss.

Wolf streckte Erbel die Hand hin. »Schlimm? Hat er Sie verletzt?«

Der Stationspfleger ließ sich von Wolf auf die Beine helfen und zog die weiße Jacke über den haarigen Bauch. Seine fleischigen Wangen blähten sich, er rieb die Gegend über dem Magen. »Weiß nicht, was er plötzlich hat, der Anton.« Erbel atmete pfeifend aus. »War doch gut drauf, die letzten zwei Wochen – seit er Serenata hat.«

Wolf suchte mit der Rechten unter seinem Hemd nach einer Verletzung über der linken Schulter, wo der Schuh ihn getroffen hatte. »Ich wollte ihn bald entlassen. Er schien völlig in Ordnung.«

»Ich …« Erbel stockte, sein Blick zuckte zur Tür.

Sie wurde aufgerissen und schlug im Zimmer an die Wand. Anton stand vor Wolf, noch bevor der ihn richtig wahrgenommen hatte. Antons Rücken streckte sich, er legte den Kopf in den Nacken. Die Augen schienen herausspringen zu wollen. Venen standen prall an beiden Seiten des Halses, Muskelstränge zeichneten sich unter der Haut ab. Ein Schweißtropfen rann die Stirn hinab zum rechten Augenwinkel. Anton öffnete den Mund weit, Wolf sah die Zunge, die sich wie ein Wurm wand. Der ganze drahtige Mann vor Wolf spannte sich wie ein Bogen und aus seinem Schlund drang ein urtümlicher Schrei. Anton schrie und Wolf hörte die Angst. Woher kam diese Angst? Der arme Mann …

Antons Körper entspannte sich kaum, der Mund war nur halb geschlossen. Er sah an Wolf hoch. Wolf holte tief Luft und beugte sich ein paar Zentimeter zu Anton hinunter. Er brüllte einen Schrei, wie er nur aus Wolfs massivem Körper kommen konnte. Einige Türen fielen in die Schlösser. Wolf wollte lachen. Er unterdrückte es, Anton tat ihm leid.

Antons Augen tanzten einen Moment. Seine Schultern fielen vornüber. Langsam schlossen sich seine Arme um den Oberkörper. Er drehte sich um, ging mit kurzen, schlurfenden Schritten ins Zimmer und schloss die Tür sorgfältig hinter sich.

»Wir müssen ihm Blut abnehmen und die Serenata-Konzentration darin bestimmen lassen.« Wolfs Blick folgte Erbels Rücken. »Und wir müssen ihn vor sich selbst schützen, wir sollten ihn fixieren.«

Erbel lehnte sich mit dem Rücken zu Wolf an den Eingang zum Stationszimmer. Ohne sich umzusehen, wies er hinter sich auf Wolf und Antons Zimmertür. »Bitte sehr, Sie wissen, wo die Gurte sind. Ich schicke Ihnen Thomas. Ich habe genug für heute.«

*

Eine Stunde später saß Professor Naumann Wolf gegenüber auf dem Stuhl, auf dem gewöhnlich die Patienten Platz nahmen. Er streckte seine hageren Beine seitlich an Wolfs Schreibtisch vorbei und fuhr sich durch die zurückgekämmten grauen Haare.

»Herr Kerrmann …« Naumann sah an Wolf vorbei aus dem Fenster. »Was der Erbel mir da gerade erzählt, hat sich das so zugetragen?« Naumann stützte die Ellbogen auf die Armlehnen und legte die Spitzen der gespreizten Finger sorgfältig aufeinander. Die Haut seines Halses hatte im Alter Elastizität verloren, so dass ein Kehlsack gleich einem Doppelkinn unter seinem ausgemergelten Gesicht über den Hemdkragen fiel.

Der Herr Oberpfleger Erbel muss also sofort zum Chef rennen und alles berichten, dachte Wolf. »Ich nehme an, er hat Sie nicht angelogen.«

Der Chef sah Wolf kurz aus den Augenwinkeln an, holte Luft, wie um zu sprechen, besann sich dann und legte die zusammengefügten Spitzen der Zeigefinger auf die Nase. Nach ein paar Sekunden hob er den Kopf wieder. »Herr Kerrmann, es ist nicht nur eine Regel dieser Klinik, es ist ein Grundprinzip, dass wir unsere Patienten nicht anschreien, das wissen Sie.«

»Ich kenne die Regeln und ich kenne die Prinzipien der Psychiatrie. Ich habe …«

»Sehr schön, aber warum halten Sie sich nicht daran?« Naumann ließ eine Hand sinken und wandte Wolf das Gesicht zu. »Herr Raitmeier hat Hämatome an einem Handgelenk und am Fuß.« Ein Zittern lag in seiner Stimme. »Eindeutige Abdrücke, Herr Kerrmann. Jedenfalls nicht von einem Fixationsgurt. Details …«, er rieb sich die Stirn, »Details wage ich gar nicht zu denken.«

»Ich …«

Naumann winkte wegwerfend. »Was, wenn Raitmeiers Angehörige heute zu Besuch kommen? Was, wenn zufällig ein Anwalt in seiner Familie ist?« Naumann schlug mit der Faust auf die Stuhllehne. »Vielleicht sind Sie es ja gewohnt, sich mit Ihrer …«, er wies auf Wolf, »… Statur … körperlich durchzusetzen. Aber Sie werden sich das abgewöhnen, sonst kann ich Sie hier nicht gebrauchen. Haben Sie mich verstanden?« Naumann zog eine schmale, rote Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche und nahm eine dünne, braune Zigarette heraus.

Wolf nickte. »Ich werde New England General Pharmacy einen Bericht über eine Arzneimittelnebenwirkung schicken und wir sollten eine Meldung an das Bundesaufsichtsamt schreiben.«

Naumann nahm die Zigarette nach einem Zug aus dem Mund und wischte Wolfs Satz mit einem Wink beiseite. »Das werden Sie bleiben lassen.« Rauch strömte aus beim Sprechen. »Wie kommen Sie auf eine Nebenwirkung? Von Serenata? Unsinn, das Zeug hat keine Nebenwirkungen.«

»Warum ist Anton plötzlich ausgerastet?«

»Der Herr Raitmeier …« Er sah Wolf für einen Augenblick an, dann wandte er sich wieder ab. »Herr Raitmeier war … – ich würde es aggressiv nennen. Zunächst muss gefragt werden, was genau geschehen ist. Dann, warum es geschehen ist.«

Wolf holte Luft und öffnete den Mund.

Naumann richtete die glühende Zigarette auf ihn und sagte: »Irgendwann später könnte man sich überlegen, eine Medikamentennebenwirkung zu erwägen – dann. So ist die Reihenfolge, Herr Kerrmann.«

»Aber man muss eine Meldung an die Behörde schreiben. Ich finde, man kann das nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

Naumann beugte sich zu Wolf herüber. »Was man tun muss, und was nicht, das bestimme ich, Herr Kerrmann.« Er lehnte sich zurück und zog an der Zigarette. Eine Halbkugel Rauch quoll aus seinem offenen Mund, bevor er tief einatmete. In den ausströmenden Rauch hinein sagte er: »Jetzt tun Sie doch nicht so, als ob Sie noch nie einen aggressiven Patienten gesehen hätten. Wenn wir da jedes Mal eine Meldung an das Bundesamt schicken wollten …« Er ließ seine Linke locker in der Luft kreisen. Die Asche fiel von der Zigarettenglut und rollte auf die Schreibtischunterlage.

»Anton Raitmeier war noch nie aggressiv«, sagte Wolf. »Er war tief depressiv, zu Anfang fast stuporös. Es gibt in der ganzen Krankengeschichte nicht einen Hinweis auf aggressives Verhalten.«

»Niemand ist aggressiv, wenn er zu tief depressiv ist. Kerrmann, das ist trivial. – Ach was, Schluss jetzt.« Naumann stand auf. »Sie schicken nirgendwo eine Meldung hin, ohne sie mir vorgelegt zu haben. Das ist eine Dienstanweisung.« Er stieß die halb gerauchte Zigarette in den Aschenbecher auf Wolfs Schreibtisch.

Wolf hatte die kleine gläserne Schale nie mehr benutzen wollen. Nur dreimal war er rückfällig geworden. Dreimal in drei Monaten. Wenn ich jetzt eine rauche, wären es vier in vierzehn Wochen, dachte er. Fast zwanzig Jahre lang hatte er geraucht, plötzlich hatte er Angst vor Krebs bekommen. Kehlkopfkrebs, nach der Laryngektomie mit einem seidenen Halstuch vor dem Stoma herumlaufen. Lungenkrebs, sechs Monate Überlebenszeit. Sogar Magen- und Blasenkrebs wurden mit dem Rauchen in Verbindung gebracht. Nur sein medizinischer Sachverstand bewahrte ihn vor Panik.

Naumann ließ die Tür hinter sich zufallen.

Wolf stand auf, stellte sich seitlich zur Tür, peilte mit der ausgestreckten Linken und warf mit der Rechten ein eingebildetes, schweres Messer nach Naumann. Er stellte sich vor, wie die Spitze mit einem satten Ton im Holz versank, der Griff zitterte einige Sekunden ein Vibrato. »Guter Wurf, Wolf.«

Er trat an den Schrank mit den Lehrbüchern und den Akten für die seit Wochen überfälligen Gutachten. Unter den Papieren des Brandstifters zog er eine plattgedrückte Schachtel heraus. Er klopfte eine Zigarette aus der Packung, klemmte den Filter zwischen die Lippen und suchte nach dem Feuerzeug. Er öffnete das Fenster, lehnte sich auf das Fensterbrett und gab sich Feuer. Der Rauch strömte beißend durch seine Kehle. Wolf rang geübt mit seinem Kehlkopf, der sich vor dem Gift verschließen wollte. Das Nikotin kam in der nächsten Sekunde im Gehirn an. Ein Teufelszeug, dachte er. Schneller als Heroin. Weniger wirkungsvoll, aber es macht ebenso süchtig. Er atmete aus, blies in die Glut und genoss den plötzlichen Schwindel.

»Scheiße.« Die Röntgenaufnahme. Er hatte den Termin für die Thoraxaufnahme vergessen. Bei einer Patientin war in der Rehabilitation Tuberkulose festgestellt worden. Die Arbeitsmedizinerin der Klinik hatte alle auf der Station zu Untersuchungen aufgefordert. Er sah auf die Uhr. Sein Termin war vor einer Viertelstunde gewesen. Er schnippte die angerauchte Zigarette auf das Dach und schloss das Fenster.

*

Er saß im Sprechzimmer der Betriebsärztin. »Frau Doktor wird gleich kommen, Herr Kerrmann«, hatte die Sprechstundenhilfe von oben herab zu ihm gesagt, obwohl sie fast zwei Köpfe kleiner war als er. Sie hatte ihm den Stuhl zugewiesen und ihn angesehen, als denke sie darüber nach, ob es sicher war, ihn im Allerheiligsten allein zu lassen.

Dorothea Benz. So hatte sie leserlich die Aufforderung zur Untersuchung unterschrieben, die neue Betriebsärztin Dorothea Benz. Das klang nach einer älteren Dame. Womöglich hatte sie graue Haare, eine dicke Brille und einen Dutt. Er fragte sich, warum man so spät im Leben noch einmal die Stelle wechseln musste. Hatte sie etwas angestellt? In den Opiatschrank gegriffen? Sucht traf Menschen jeden Alters. Eine Oma als Morphinistin – ein altes, graues Mütterchen mit Morphinmissbrauch fehlte noch in seiner Sammlung.

»Guten Tag, Herr Kollege Kerrmann. Benz mein Name, ich bin die Betriebsärztin. Es tut mir leid, dass Sie warten mussten.«

Wolf drehte sich zu ihr um.

Sie hatte sich ihre Haare wirklich zu einem Dutt gesteckt. Und eine Brille trug sie auch. Aber sonst war sie das Gegenteil dessen, was er erwartet hatte. Sie war jung. Ein paar Strähnen des braunen Haars waren der Frisur entwischt und sie strich sie hinter die Brillenbügel. Zarte Hände. Kein Nagellack. Sie war kaum geschminkt. Wenn sie ihn bitten würde, sich zur Untersuchung auszuziehen, würde er rot werden. Er senkte die Augen, sein Blick streifte dabei ihre Hüften. Er atmete tief ein. Er konnte es nicht verhindern. Er stellte sich vor, wie sie ohne Kleidung aussah. Er schüttelte den Kopf.

Doktor Benz nahm einen braunen Aktenhefter und sah durch die Blätter.

»Frau Benz, glauben Sie wirklich, ich habe mich bei der Patientin angesteckt? Schauen Sie, das Ganze ist doch Unsinn.« Er deutete auf seine Akte. »Könnten Sie nicht einfach einen Haken auf ihr Formular machen und damit ist die Sache erledigt?«

»Ja, natürlich. Könnte ich.« Benz lehnte sich zurück, legte die Papiere auf ihre Beine und faltete die Hände darüber.

»Prima, dann könnten wir ja …«

»Tue ich aber nicht. Es ist gegen die Regeln, und ich bin hier noch in der Probezeit.« Sie stemmte sich aus ihrem Stuhl. »Also, dann fangen wir an.« Sie nahm ein Stethoskop vom Tisch und beugte sich vor, um aufzustehen.

Sein Blick fiel in ihren Ausschnitt. Er sah zur Seite.

»Ziehen Sie bitte Ihr Hemd aus, Herr Kerrmann. Haben Sie Husten gehabt? Auswurf in letzter Zeit? Wie steht es mit Fieber?«

Er spürte, wie er errötete. »Weder Husten, noch Auswurf, noch Fieber. Frau Benz, ich habe keine Tb.«

Sie nahm seine Schultern und drehte seinen Rücken vor sich. Seine Haut kitzelte unter ihrem Griff. Eine Gänsehaut lief über den Rücken. »Sie sind sehr groß. Husten, bitte.« Sie setzte das Hörrohr auf und schwieg, während sie ihn zu untersuchen begann. »Ihre Gesichtszüge sind sehr ausgeprägt.« Eine neue Stelle wurde abgehört. »Hatten Sie mal eine Akromegalie? Als Jugendlicher?«

Jede Berührung ihrer Hände ließ ihn ein wenig zusammenzucken.

»Noch mal.«

Er hustete. »Bin einfach immer schneller gewachsen. Mir hat es nichts ausgemacht. Mein Vater hat mich dann irgendwann zum Endokrinologen gebracht. Als ich achtzehn war. Es war ein kleines Adenom an der Hypophyse.« Er hörte sie Zustimmung summen. »Seit der Operation bin ich dann nicht mehr gewachsen.«

»Imposante Größe.«

»Zwei Meter fünf. Der Tumor war nur drei Millimeter groß. Hat aber Wachstumshormon für drei produziert. Kleines Biest.«

Sie strich mit der Hand von seiner linken Schulter schräg über den Rücken nach unten. Sie klopfte den Brustkorb ab. Jedes Mal, wenn sie die Position ihrer flachen Hand veränderte, um einen anderen Teil zu beklopfen, strich sie mit ihrer weichen Haut über seinen Rücken.

Er sah sich mit ihr auf der Untersuchungsliege. Warum lasse ich mich von jeder schönen Frau so hinreißen?, dachte er.

»Ich kann nichts hören. Auskultation in Ordnung, Perkussion ohne Befund, so weit alles gut. Aber das Röntgenbild kann ich Ihnen trotzdem nicht ersparen. Ist Vorschrift. Anziehen.«

»Anziehen. Jawohl, Frau Doktor.«

Sie lachte, ging hinter ihren Schreibtisch zurück und unterschrieb ein Formular in seiner Akte. Da war wieder dieser Ausschnitt. Er zog das Hemd über der Brust zusammen. Er wollte sie im Arm halten, ihr Haar riechen, sich vergessen. Sie richtete sich auf und sah seinen Blick. Er verbot seinen Augen, tiefer als auf ihr Kinn zu blicken. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Nicht spöttisch, nicht amüsiert. Sie richtete sich auf, nahm die Schultern zurück. Er hielt den Blick auf ihr Gesicht gerichtet und konzentrierte sich auf seine Hemdknöpfe.

»Wenn das Bild fertig ist, kommt es zu mir«, sagte sie. »Ich rufe Sie an, dann besprechen wir das Ergebnis. Zumindest, wenn etwas auffällig ist.«

*

Wolf lag auf dem Rücken. Nur ein Baumwolllaken bedeckte seinen Körper. Motorengeräusch irgendwo draußen. Er versuchte, im Halbdunkel die Struktur der Decke zu erfassen, es gelang ihm nicht. Er drehte sich zum Radiowecker um. Kurz nach Mitternacht. Er sah zu Sabine hinüber. Ein Autoscheinwerfer warf einen Fleck auf die Wand, bewegte sich von der Ecke mit dem Kleiderschrank auf sie zu und streifte ihr Profil. Wolf drehte sich wieder auf den Rücken – der Lichtfleck war bereits verschwunden.

Sabine schlief immer bald ein, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Er lag seit einiger Zeit oft noch lange wach und dachte nach. Über sie, über sich.

Wolf wälzte sich nach rechts. Das Laken war hinabgerutscht, ihre Brust hob und senkte sich langsam. Die kühle Luft des Schlafzimmers hatte ihre Brustwarze fest und klein werden lassen. Er liebte diesen Anblick, er liebte ihren Körper, er liebte das Gefühl, bei ihr zu liegen. Nur eine Nacht zuerst, dann ein paar Nächte, jetzt schon einige Wochen. Er hatte sie auf einem Kongress in Bremen kennen gelernt. Sie hatten im Hotel die Nacht verbracht und erst am nächsten Morgen bemerkt, dass sie beide aus München kamen.

Er liebte sie nicht. Er sah ihr Gesicht, ihre Brust, die Kontur ihres Körpers. Das alles war wunderschön, aber er fühlte das Kribbeln nicht. Er konnte es ertragen, ohne sie zu sein, und er konnte es ertragen, sich vorzustellen, dass sie nicht mehr bei ihm sein wollte. Er drehte sich auf den Rücken und betrachtete die Decke. Sie waren seit Wochen jede Nacht zusammen gewesen. Sie hatte es stets so arrangiert. Er ließ sich treiben. Ob ihr das auffiel?

Er fragte sich, ob er ihr etwas vorgemacht hatte. Wolf dachte nach. Habe ich gespielt, verliebt zu sein? »Nein.«

Sabine murmelte Unverständliches und wandte sich ihm zu. Ihre Hände fuhren über seinen Brustkorb und seine Schultern. Sie schmiegte sich an seine Seite. Ihre weiche Haut fühlte sich wunderbar an. Wolf genoss es, wie ihr Körper sich mit ihrem Atem rhythmisch an ihn drückte. Er spürte ihre Brüste, fest und weich zugleich. Er befreite einen Arm und schob ihn vorsichtig unter ihren Kopf und die Schultern. Sabine bewegte den Kopf, zog sich dichter an ihn und küsste seine Brust. Ihr Atem kitzelte seine Brustwarze. Er legte den anderen Arm auf ihre Schulter und griff in ihr Haar. Sie hatte glatte, schwarze Haare. Sie legte ein Bein über sein Schienbein und zog sich halb auf ihn. Sie bedeckte seine Haut mit Küssen. Er umfasste ihre Hüften und zog sie zu sich. Ihre Augen waren geschlossen. Sie suchte küssend mit halb geöffnetem Mund seinen Hals, sein Gesicht.

Wolf schloss die Augen. Er ließ seine Hände ihren Körper erkunden. Er fand muskulöse Oberschenkel, einen kleinen Po, einen schmalen Rücken. Sabines Lippen erreichten seinen Mund. »Noch mal«, hauchte sie zwischen seinem Kinn und seiner Wange.

›Noch mal‹, hatte die Betriebsärztin Benz ihn angewiesen. Noch mal husten sollte er. Er stellte sich vor, Dorothea Benz läge auf ihm.

»Oh, besser als eine Antwort.« Sabine drückte ihre Hüften an seine, griff mit beiden Händen in sein Haar, stützte sich mit den Ellenbogen ab und schob sich etwas nach oben. Wolf ließ die Augen geschlossen. Er sah Sabine, sah Dorothea, sah sich. Er umfasste Sabines Po, drückte sie an sich und küsste sie.

*

Wolf schlug langsam die Augen auf. Es war angenehm kühl im Schlafzimmer. Das Fenster war offen, die dünnen Laken boten mehr Schutz als Wärme. Er fühlte sich ausgeschlafen und wollte aufstehen, etwas tun. Das Licht war noch grau, die Sonne konnte noch nicht aufgegangen sein. Es konnte nicht viel später als vier Uhr sein.

Er zog langsam seinen Arm unter Sabines Kopf heraus. Eine Strähne ihres Haares hatte sich über den Augenwinkel gelegt. Ihre großen, dunklen Augen … Wie dünn war ein Augenlid, überlegte er. Konnte man eine so dunkle Iris durch ein Lid hindurch sehen?

Er duschte, zog sich an und suchte nach seiner Geldbörse. Er wollte ein ausgiebiges Frühstück einkaufen und Sabine früh wecken, dann hatten sie Zeit, bevor er in die Klinik musste. Sie konnte sich immer mehr Zeit als er lassen. Als Chefin ihrer Praxis in Bogenhausen hatte sie nie Termine vor neun Uhr.

Er sollte sich andere Frauen aus dem Kopf schlagen, Sabine heiraten und in ihre Praxis einsteigen. Wenn er wusste, was gut für ihn war, würde er es tun. Aber er hatte selten getan, was gut für ihn war. Er wollte seinem Über-Ich immer wieder zeigen, wer der Boss war. Deshalb würde er Sabine bei einem schönen Frühstück erklären, dass er Abstand brauchte. Dass alles so plötzlich gekommen sei und dass er etwas Zeit für sich brauche. Nein, eine andere Frau gäbe es nicht. All das Zeug, was Frauen akzeptieren konnten. Oder das, was er dafür hielt. Es hatte jedenfalls schon einige Male funktioniert. Er hätte nicht sagen können, mit welcher Masche er Frauen ansprach, es gab keine.

Er fand sein Portemonnaie auf dem Küchentisch.

Er hatte seine Masche, sie wieder los zu werden. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Wenn das so weiterging, würde er als Junggeselle sterben. Wenn seine verschiedenen Ichs sich bis dahin nicht auf einen Lebensstil geeinigt hätten.

Als er vom Bäcker kam, gurgelte die Kaffeemaschine in den letzten Zügen und der Duft begann sich zu verbreiten. Wolf verteilte Besteck und Geschirr und überlegte, auf welcher Seite des Tisches er sitzen sollte. Er saß sonst immer mit dem Gesicht zum Fenster, aber er fand, der Anlass verdiente einen Wechsel. Er überlegte, ob er sie mit einem Kuss wecken sollte. Es musste anders als sonst sein, das würde es ihm leichter machen. Er schob ein Messer an seinen Platz neben dem Teller und stellte die große Tasse mit dem Reklameaufdruck von New England General Pharmacy dazu. Er würde ins Schlafzimmer gehen, die Jalousie etwas verdrehen, damit das Licht sie wecken konnte. Vielleicht das Radio leise anstellen und dann einfach warten. Oder er konnte ihr auch eine Tasse Kaffee auf den Nachttisch stellen. Trank sie ihn schwarz mit oder ohne Zucker?

»Guten Morgen.«

In Wolfs Händen knackte der Verschluss eines Marmeladenglases. Sabine hielt ihr Haar mit beiden Händen im Nacken zusammen. Ihr Seidenhemd spannte über ihren Brustwarzen und in Wolf blitzte der Gedanke auf, seinen Plan aufzugeben. »Oh. Ich dachte, du schläfst noch.«

Sie ließ die Haare los, schlang ihre Arme um Wolfs Nacken, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Du bist süß.«

Süß? Wolf ließ das Marmeladenglas auf die Tischplatte gleiten. Sie hatte »süß« gesagt, wie es Kinder zu neugeborenen Katzen sagen, oder zu einer neuen Puppe. Barbies Mann.

»Du hast Frühstück geholt.« Sie setzte sich auf den falschen Klappstuhl.

Er nahm die kleinere Tasse ohne Aufdruck und füllte Kaffee ein. »Schwarz ohne Zucker?«

»Mit Zucker. Drei Löffel.«

»Ich muss mit dir reden.« Er rührte zu schnell in seiner Tasse.

»Ich weiß.«

Sie verwirrte ihn. »Ich muss mit dir reden«, wiederholte er.

»Ich weiß«, sagte sie und nahm ein Croissant aus dem Korb zwischen ihnen. »Wir sind sechs Wochen zusammen. Du schläfst schlecht, stehst viel zu früh auf und holst Frühstück. Ist doch klar.«

»Woher weißt du? Ich meine … was? Was ist klar?«

»Der erste Crush ist weg, jetzt kommen Gedanken. Gedanken von Hochzeit, dem Leben. Vielleicht von …« Sie nahm vorsichtig einen Schluck Kaffee.

Sie wollte »Kinder« sagen. Sie sah so ruhig aus. Er war sicher, sie wollte »Kinder« sagen. Wie kann sie so ruhig bleiben?, dachte er. Hochzeit – wie kommt sie auf Hochzeit? Es läuft falsch.

»Jetzt will etwas in dir heiraten. Nennen wir es dein Über-Ich.«

Nicht das Über-Ich … Wolf stützte die Stirn in die hohle Hand.

»›Halt, um Himmels willen, halt!‹, schreit dein Ich, das dir viel besser gefällt. Das animalische Ich.« Sie lachte, deutete ein Fauchen an und zeigte eine Kralle mit der Rechten. Die Linke stippte das Hörnchen in den Kaffee. »Das Ich, das ich übrigens auch ganz gern habe.« Sabine strich mit der rechten Hand über ihre Brust und Taille.

Sein Blick folgte ihrer Hand. »Sabine, ich weiß nicht genau, wovon du redest. Es ist so, dass ich wieder Raum brauche. Meine Freiheit in sechs Wochen von hundert auf null zu fahren, das kann nicht gut gehen.«

»Das sage ich doch, Wolf.« Sie hob die Rechte mit dem Croissant und streckte den Zeigefinger aus. »Du hast dich mit einer Psychiaterin eingelassen.« Sie legte den Kopf schief und lächelte ihn an.

Er wischte ein paar Zuckerkrümel vom Tisch, sah auf und sagte: »Ich brauche mehr Raum für mich.« Er bemerkte, dass sie ihn immer noch anlächelte, den Kopf schräg und den Zeigefinger ausgestreckt hielt. »Freiheit. Das meinte ich«, sagte er. »Lass mir einfach ein wenig Freiheit. Zu viel Nähe ist nicht gut für den Anfang.« Falsch, ganz falsch, dachte er. Sie hat mich durcheinander gebracht. Ich hätte nicht »Anfang« sagen sollen. Himmel, warum kann ich nicht einfach sagen, dass sie gehen soll?

»Sabine an animalisches Ich: Achtung, keine Gefahr. Sabine will nicht morgen heiraten, will keinem wilden Wolf seine Freiheit nehmen. Böses, böses Über-Ich.« Sie hielt die Spitze des Hörnchens vor Wolfs Gesicht. »In mir hast du keine Verbündete.«

Wenn er nicht schnell das Ruder herumriss, hatte sie an diesem Morgen zweimal »heiraten« und »Hochzeit« gesagt, ohne einen ausgewachsenen Streit zurückzubekommen. Das waren die falschen Signale.

»Kommst du mit duschen?«, sagte sie, als hätte es keine Diskussion gegeben.

»Hab schon. Ich fahr dann los.«

Sie ging aus der Tür und ließ ihre Hüften mehr als nötig schwingen. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Ich bin heute Abend bei mir zu Hause. Ruf mich an, wenn du magst.«

Er sah dem halb durchsichtigen Seidennegligé nach und schluckte.

*

Eine Stunde später saß er zurückgelehnt an seinem Schreibtisch und dachte über das Gespräch mit Sabine nach. Es klopfte an der Tür. Er antwortete nicht, obwohl er es gehört hatte. Es klopfte stärker. »Ja«, rief er.

Thomas steckte seinen kahlrasierten Schädel durch den Türspalt. Mit zwei großen Goldringen in beiden Ohrläppchen und den Muskeln unter dem weißen T-Shirt sah er aus wie Meister Proper. »Doktor Sänger hat einen Termin.«

»Nur herein!« Wolf erhob sich und ging dem Besucher ein paar Schritte entgegen. »Ich wusste gar nicht, dass Sie promoviert sind, Herr Sänger.«

Sänger beugte sich vor, um ins Zimmer zu sehen.

»Nur wir zwei, Herr Sänger.« Wolf wies auf den Stuhl. »Wenn Ihnen das recht ist.«

»Sehr recht, sehr recht«, kam es schnell als Antwort. Thomas gab Wolf Sängers Akte.

Wolf ging zum Schreibtisch und zog seinen Stuhl vor das Fenster. Er drehte den Patientenstuhl zur Seite und zeigte darauf. »Nehmen Sie doch Platz.« Er winkte Thomas. »Ist gut, wir kommen zurecht.« Die Tür klappte hinter dem Pfleger zu.

Sänger hatte einen Bleistift aus Wolfs Becher gezogen, prüfte mit zusammengekniffenen Augen die Spitze und zeichnete dann mit der Linken parallele Linien auf die Kalender-Schreibunterlage.

»Herr Sänger, was führt Sie zu uns?«

»Sehen Sie, Chips sind aus Silizium.« Er bewegte seine zeichnende Hand im Rhythmus seiner Worte. »Deshalb müssen die Schaltkreise aus Silizium gemacht werden. Wenn ich nur die richtigen finden kann, ich brauche Ruhe. Einsen und Nullen. Nullen und Einsen. Alles ist codiert. Es beherrscht uns. Ich brauche Ruhe. Ruhe.«

»Sind Sie wegen der Ruhe bei uns, Herr Sänger?«

Er nahm die Augen nicht von den Ornamenten, die auf Wolfs Kalender entstanden. »Die Ruhe, ja. Die Schaltkreise, kennen Sie die Schaltkreise?« Sein Kopf zuckte hoch, die Augen rasten im Kreis, der Blick blieb am Telefon, am Computer und an Wolf für einen Moment hängen. Er ließ den Stift fallen und legte die Hände in den Schoß.

»Welche Schaltkreise, Herr Sänger?«

Sänger legte den Finger an die Lippen und zischte um Ruhe. »Ist schön hier auf der Station.« Er zog den Plastikstecker aus der Rückseite des Telefons. »Der Thomas ist ein netter Junge. Kräftig. Möchte keinen Streit mit ihm haben.« Er zeigte auf den Rechner. »Ist der aus?« Seine ausgestreckte Hand wedelte auf Wolf zu. »Der Erbel ist der Chef hier, oder?« Er riss die Augen auf und ließ die Augäpfel rollen, kniff dann die Lider zusammen und schnippte mit den Fingern. Seine Hand war auf Wolfs Piepser in der Hemdtasche gerichtet.

Wolf zog das Gerät heraus, zeigte Sänger den Schalter und drückte ihn. »Aus.«

Sänger lachte auf. »Nichts leichter als das.« Er nahm den Funker aus Wolfs ausgestreckter Hand, öffnete das Batteriefach und nahm eine heraus. »Aus.«

»Mögen Sie die Geräusche nicht, die die Geräte machen, Herr Sänger?« Wolf gab sich Mühe, seine Stimme leise zu halten.

»Geräusche, ach was.« Er setzte seine Zeichnung fort. Wolf sah ihm zu. Nach einigen Sekunden sagte Sänger: »Die Schaltkreise. Wenn ich nur die Daten verstehen könnte.« Er sah Wolf kurz an. »Wenn ich die codierten Daten endlich verstanden habe, dann verstehe ich auch den Code, und dann habe ich den Schlüssel.« Er schien sich zu bemühen, die durch das Sprechen versäumte Zeit für die Zeichnung nachzuholen.

»Den Code?«

»Ja, ja. Den Code. Alles ist codiert. Alles.«

»Verzeihen Sie mir, Herr Sänger, aber was ist alles codiert?«

»Alles. Nachrichten. Zeitungen. Magazine. Die Werbung. Besonders die Werbung. Sie beherrscht uns. Alles ist codiert.«

Wolf schrieb sich ein paar Worte auf einen Block. »Ich kann ganz gut verstehen, was in der Zeitung steht. Aber da ist noch mehr?«

»Vergessen Sie, was in der Zeitung steht.« Sein Stift kratzte ein tiefgraues Quadrat auf das Papier. »Sie müssen zwischen den Zeilen lesen.« Seine Stimme war ein Flüstern. »Zwischen den Zeilen. Sie müssen hineinsehen. Der Code. Wenn ich den Code habe, kann ich sie zur Strecke bringen. Ich brauche Ruhe.«

»Sie wollen jemanden zur Strecke bringen? Bedrohen diese Menschen Sie, Herr Sänger?«

Er hörte auf zu zeichnen und wandte sich Wolf zu. »Bedrohen? Mich? Was glauben Sie denn? Der Geheimdienst bedroht nicht nur mich.« Er senkte den Kopf wieder über seine Striche und zog die begonnene Linie nach. »Wir alle sind in Gefahr. Sie. Auch Sie. Ich muss den Code finden. Ich brauche die Ruhe. Sie müssen mir helfen. Schützen Sie mich, ich brauche nicht mehr lange. Geben Sie mir die Zeit.«

»Wir haben Zeit, Herr Sänger.«

»Keine Zeit, keine Zeit«, murmelte Sänger, ohne aufzublicken.

Wolf öffnete die Akte und sah sich das Blatt mit den Aufnahmedaten an. Professor Doktor Eberhard Sänger. Professor am Institut für Biomedizinische Technik und Bildgebende Systeme der Universität München. Ein aufregender Titel. Etwas für überbreite Visitenkarten, dachte er.

»Die allgemeine Codierrichtlinie habe ich schon. T A G C. Der Code ist schwer. Sehr schwer.« Sänger ließ den Stift fallen und sprang auf. Er rieb sich die Schläfe und die Stirn und ging im Kreis zwischen Wolf und dem Patientenstuhl. »Und wenn sie den Code täglich wechseln? Täglich, stündlich. Oder oszillierend. Der Code im Code.«

Wolf legte die Akte unter den Schreibblock auf sein Bein und sah Sänger zu. So schlimm kann es noch nicht lange sein, falls Sänger mit Leuten zu tun gehabt hat, dachte er. Und das schien so zu sein. Er konnte sich noch kein klares Bild über die Wahnidee machen. Er würde Familie und Kollegen fragen müssen. »Herr Sänger, wie viele Leute arbeiten an Ihrem Institut?«

»Fünfundzwanzig, manchmal dreißig. Diplomanden, Doktoranden, was eben gerade so an Geld da ist.«

»Und wie viele arbeiten am Code?«

Sänger blieb kurz stehen, sah Wolf kopfschüttelnd an und sagte: »Alle natürlich. Was denken Sie denn?« Er setzte seine Kreise fort.

*

Später stand Wolf im Stationszimmer und diktierte Erbel die Medikamente für Doktor Sänger.

»Kein Serenata?«, sagte Erbel, ohne von der Kurve aufzublicken.

»Serenata? Haben Sie den Eindruck, dass Sänger depressiv ist? Er hat eine produktive, schizoide Psychose. Paranoid halluzinatorisch. Was soll denn da ein Antidepressivum bewirken?« Wolf sah Erbel die bereits geschriebenen Dosierungen nachfahren. Wunder kann auch Serenata nicht bewirken, dachte er.

»Serenata ist ein Segen. Man könnte es doch wenigstens versuchen.«

»Ein Segen? Jedes Medikament ist eine Krücke. Man kann damit wieder laufen, aber irgendwann muss man die Krücke weglassen und selbst wieder gehen lernen.«

»Ich finde, er hätte es verdient«, sagte Erbel und klappte die Patientenakte zu.

Wolf setzte sich auf die Schreibtischkante und legte den Unterarm auf den Computerbildschirm. Er schüttelte den Kopf. »Er bekäme es von mir auch dann, wenn er es nicht verdient hätte. Was soll das?«

»Entschuldigung, Herr Doktor«, sagte eine Frauenstimme hinter ihm.

Wolf drehte sich um. Eine blonde Frau in Jeans und weißer Bluse lächelte zu ihm hoch. »Ich bin die neue Sozialarbeiterin. Schwangerschaftsvertretung für Frau Gebhardt.« Sie streckte ihre Rechte aus.

Wolf lächelte zurück. Die Bluse war großzügig ausgeschnitten und ziemlich durchsichtig. »Hallo. Wolf Kerrmann. Ich bin der Stationsarzt.« Er hielt ihre Hand einen Moment länger als nötig.

»Habe ich mir gedacht. Sie haben Doktor Sänger als Patienten hier?« Sie hatte den Daumen in den gürtellosen Hosenbund eingehakt und schob die Hüften ein wenig nach vorne.

»Herr Sänger ist heute gekommen. Braucht er Ihre Hilfe?« Sein Blick wanderte zu ihrem Bauchnabel, der unter der weißen Seide sichtbar wurde, wenn sie die Schultern etwas zurücknahm. »Er schien nicht chronifiziert zu sein. Akut erkrankt und noch im Beruf.«

»Mag sein. Ich will trotzdem gerne Bescheid wissen. Gerade die schizophrenen Patienten machen langfristig die größten Probleme. Da ist es gut, wenn man sie früh kennen lernt.«

Er sah auf und traf ihren Blick. Sie musste bemerkt haben, wohin er geschaut hatte. Mit ihr könnte es ein angenehmes Spiel sein, ohne Verlangen oder Verliebtheit. Die machten ihn nur verlegen und nervös – es störte. Vielleicht konnte er sich noch ein wenig Frechheit leisten? Er senkte den Blick wieder, ließ ihn über den Ausschnitt und die Konturen des BHs gleiten, verweilte kurz bei der vorgeschobenen Hüfte. Sie hatte eine sehr weibliche Figur. Es war gewagt, aber manche Frauen waren so geschmeichelt von ihrer eigenen Attraktivität, dass sie Unverschämtheit mit Bewunderung verwechselten. Sein Blick traf erneut den ihren. Sie lächelte noch, womöglich hatte er sie richtig eingeschätzt. »Sie sind die neue Sozialarbeiterin. Aber ich kann mir denken, Sie wollen nicht mit Frau Sozialarbeiterin angesprochen werden? Sie hatten sich noch nicht mit Namen vorgestellt.«

»Janni Gartner. Entschuldigung.« Sie lachte. Es war ihr offensichtlich peinlich.

Er bemerkte, dass er selbst anscheinend ungerührt immer noch auf der Ecke des Schreibtischs saß und den Unterarm auf den Bildschirm gelegt hatte. Eins zu Null. Er hatte seine Anerkennung für ihr Äußeres gezeigt, ohne sie zu beleidigen, und Ruhe bewahrt. Das war ein guter Ausgangspunkt für die nächsten Schritte. Er überlegte, für welchen Namen ›Janni‹ stand und verschob die Frage auf spätere Treffen. »Kommen Sie, trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir. Ich erkläre Ihnen, was ich über Sänger weiß. Ist aber noch nicht sehr viel.«

*

Wolf saß gegenüber von Janni Gartner am Tisch der Stationsküche. Er hatte die Geschichten von Doktor Sänger wiederholt und ihr Lachen darüber genossen. Sie lachte laut und ungehemmt, fast ein wenig obszön.

»Jetzt wissen Sie alles, was ich über Sänger weiß, Janni.« Er hatte sie das erste Mal Janni genannt und wartete auf ihre Reaktion. Sie nickte. »Ich muss jetzt Visite machen«, sagte er. »Herr Erbel wartet schon. Falls Sie noch etwas brauchen, kommen Sie einfach vorbei.«

Sie stand auf und nahm seine ausgestreckte Hand. »Gut, Herr Kerrmann, ich sage Bescheid.«

Wolf besah sich die rückwärtige Ansicht von Janni Gartner, während sie hinausging. Ihm gefiel, was er sah.

Erbel wartete auf dem Stationsflur. Er lehnte auf dem Wagen mit den Patientenakten und schaute der Sozialarbeiterin hinterher. »Haben Sie wieder ein Opfer gefunden, Herr Kerrmann?«

»Nettes Opfer, oder? Nicht, dass es Sie etwas angehen würde, Herr Erbel.«

Erbel hob die Hände. »Geht mich nichts an, klar.« Er zog einen Stapel Unterlagen aus einer Schublade des Wagens und ließ ihn obenauf fallen. »Ich sage aber trotzdem, was ich denke.«

»Fangen wir an«, sagte Wolf. »Mit Anton?«

Erbel öffnete den Deckel der obersten Akte.

*

Nach der Visite saß Wolf in seinem Büro und füllte Fragebogen der Krankenkassen aus. Das Telefon läutete. Der Pförtner meldete sich. »Ein Herr Lamport von der Firma New England General Pharmacy will zu Ihnen, Herr Doktor Kerrmann.«

»Der ist nicht angemeldet. Hat er gesagt, was er will?«

»Zu Ihnen.«

Ihm fiel keine passend unverschämte Antwort ein. »Dann schicken Sie ihn mal rauf.«

Er überlegte, ob er den Schreibtisch aufräumen sollte. Er entschied sich dagegen, nahm eine Handvoll Akten aus dem Schrank und ließ sie auf die Sitzfläche des Besucherstuhls fallen.

Es klopfte kraftvoll an der Tür. Wolf öffnete und sah die mus­ku­löse Gestalt von Thomas vor einem kleineren und schma­len Mann stehen.

»Ein Herr Lamm-Port von …« Thomas wandte sich fragend zu dem Mann hinter sich um.

»David Lamport, New England General Pharmacy.« Der Besucher reckte den Kopf an Thomas vorbei. Er trug einen anthrazitgrauen zweireihigen Anzug und eine gelbe Krawatte mit breitem Windsorknoten über dem weißen Hemd. Die Kragenspitzen wurden von nicht sichtbaren Knöpfen eng zusammen gehalten. »Doktor Kerrmann kennt mich«, sagte er auf Englisch.

»Ist gut, Thomas, vielen Dank.«

Der Pfleger nickte und ging in Richtung Stationszimmer den Gang hinauf. Wolf hielt Lamport die Hand hin. Der Amerikaner ergriff sie schwungvoll. Seine eigene war so viel kleiner, dass er Wolfs Handrücken nur mit den Fingerspitzen erreichen konnte. Er schien sich zu bemühen, fest zuzugreifen.

»Ich hatte Sie gar nicht erwartet.« Wolf gelang die Umstellung auf Englisch problemlos. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich ein paar Unterlagen vorbereitet. So kann es etwas dauern.«

Lamport hielt Wolfs Hand weiter fest. Er hob die Linke mit der schmalen Aktentasche wie abwehrend und sagte: »Ich will die Studienunterlagen nicht unbedingt sehen. Wenn Sie welche haben, gut, aber es muss nicht sein. Aber ein Patient interessiert mich heute besonders.«

Wolf setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. »Um welchen Patienten geht es?« Er wusste, dass Lamport Anton meinte.

Lamport stellte seine Mappe an die Stuhlbeine, nahm die Akten vom Stuhl und legte sie auf die äußerste Schreibtischecke. Es schien, als ob der Stapel die Balance verlieren und zu Boden fallen würde. Wolf lehnte sich vor, hielt die Akten fest und rückte sie zurecht.

»Anton Raitmeier.« Lamport setzte sich. »Es geht um Anton Raitmeier.«

Wolf hatte keinen Bericht an die Firma geschickt, die Blutuntersuchung war erst vor drei Tagen versandt worden. Er fragte sich, ob der Chef mit Lamport gesprochen hatte. »Was ist mit Herrn Raitmeier? Haben Sie die Blutprobe bekommen? Wann können wir mit dem Ergebnis rechnen?«

Lamport zog eine weinrote Kartonmappe aus seiner Tasche und reichte sie wortlos über den Schreibtisch. Es lagen einige Blätter im amerikanischen Letter-Format darin, eine kräftige Klammer hielt alles zusammen. Das blaue Logo der New England General Pharmacy prangte über der oberen Breite der Bögen. »Company confidential«, las Wolf halblaut. Antons Name, sein Geburtsdatum, sein Gewicht und die Studiennummer der Firma waren aufgedruckt. Darunter eine Tabelle mit den Ergebnissen dreifach wiederholter Untersuchungen von beiden Blutproben, die Wolf geschickt hatte.

Die Untersuchungen waren gestern angefertigt worden, und heute saß der Studienmonitor vor ihm. Es war halb zehn, in Boston halb drei Uhr früh. Der Mann musste direkt vom Flugplatz gekommen sein.

Man sah ihm nichts an.

Wolf las die Werte. »Null Komma drei Mikrogramm, null Komma zwei, null Komma drei, die Zahlen sagen mir nichts. Hatte er einen therapeutischen Spiegel?«

»Das therapeutische Fenster fängt bei mindestens einem Mikro­gramm pro Milliliter Blut an. Null Komma drei ist nichts. Der Mann hatte praktisch kein Serenata im Blut.«

Wolf brummte, um überhaupt etwas von sich zu geben. Er als Studienarzt hatte dafür zu sorgen, dass die Patienten ihre Medikamente einnahmen.

»Das ist Ihre Verantwortung, Herr Kerrmann. Das Studienprotokoll sagt, die Einnahme hat beobachtet zu erfolgen. Tun Sie das?« Lamport beugte sich vor und legte die Fingerspitzen aneinander.

»Natürlich. Wir halten uns streng daran. Herr Raitmeier hat es wie alle Patienten bekommen. Er kann die Tablette im Mund behalten und ausgespuckt haben. Wir können ihn nicht jede Sekunde überwachen.«

»Auch das sollten Sie kontrollieren. Es steht genau im Protokoll.«

Wolf winkte ab. »Jetzt hören Sie mal, wir müssten jedem Patienten den Rachen nach versteckten Pillen absuchen. Das ist lächerlich, es gibt immer Tricks.«

»Es ist wichtig, dass ein konstanter Blutspiegel aufrechterhalten wird. Null Komma drei bedeutet, er hat es mindestens drei Tage nicht bekommen. Das kann Ihnen doch nicht entgehen.«

»Wenn er es nicht nehmen wollte, dann wird er schon einen Weg gefunden haben.«

»Herr Kerrmann, die Patienten lieben …«, er hob den Zeigefinger, »lieben Serenata. Niemand gibt es freiwillig wieder her.«

»Behaupten Sie, wir haben Anton – Herrn Raitmeier – das Serenata absichtlich vorenthalten?«

Lamport hob stumm beide Hände.

»Ich wollte einen Bericht über die Nebenwirkung von Serenata an Ihre Firma schicken«, sagte Wolf. »Herr Raitmeier war außerordentlich aggressiv am Tag der Blutentnahme.«

Lamport lehnte sich zurück und stützte das Kinn auf die Fingerspitzen beider Hände. »Nun, es war doch gut, dass ich gekommen bin. Solche Berichte sind offizielle Dokumente, man muss vorsichtig damit umgehen.«

Wolf fragte sich, ob dieser Lackaffe ihn über seine Sorgfaltspflicht aufklären wollte. »Das hatte ich vor.« Er verschränkte die Arme vor der Brust.

»Verstehen Sie, wir müssen solche Berichte an die US-Administration, die FDA, die NIH weiterreichen.« Lampert ließ seine Rechte aus dem Handgelenk vor seiner Brust kreisen. »Es gibt eine Untersuchung. Alles sehr aufwändige und sehr teure Prozeduren.«

»Das sollte uns die Sorgfalt wert sein«, sagte Wolf.

Lamport rutschte auf dem Stuhl nach vorne und stützte sich auf die Armlehnen. »Jede Sorgfalt ist berechtigt, Herr Kerrmann, natürlich. Das schätzen wir an Ihrer Arbeit.«

Es war klar, dass Lamport ihm schmeichelte. Wolfs Unterlagen waren so oft beanstandet worden, wie er sie eingereicht hatte. Sie wollen also unbedingt verhindern, dass ich einen Bericht schreibe, dachte Wolf. Der Chef würde explodieren, wenn er es trotzdem tat, aber das brauchte dieser Lamport nicht zu wissen. Wolf hielt die Arme ruhig verschränkt und sagte nichts.

»Aber es ist ja wohl unsinnig, eine Nebenwirkung Serenatas anzunehmen, wenn kein Medikament im Blut war«, sagte Lamport.

»Null Komma drei Mikrogramm sind wohl kaum nichts. Und eine Medikamentennebenwirkung kann auch nach dem Absetzen auftreten.« Wolf löste die Verschränkung der Arme und setzte sich aufrecht. »Oder – vielleicht durch das Absetzen eines Medikaments.«

»Serotoninwiederaufnahmehemmer sind die sichersten Medi­kamente überhaupt, warum sollte es so eine Nebenwirkung geben?«

»Das herauszufinden, ist doch das Ziel dieser Studie. Sie können nicht von vorneherein so etwas ausschließen.«

Lamport lehnte sich wieder zurück und sagte: »Warren Young sagt immer, man muss auch an das Medikament glauben.«

»Ich denke, es geht in der Wissenschaft nicht um Glauben.«

»Es geht darum, den Menschen ein Medikament zu geben, das ihnen hilft.« Lamport öffnete die Augen weit. »Serenata hilft den Menschen. Vielen Menschen. Wir dürfen nicht riskieren, das es aus den falschen Gründen nicht auf den Markt kommt.«

»Wir dürfen nicht riskieren, dass es Menschen schadet.«

»Herrn Raitmeier wird es nicht mehr schaden, Herr Kerrmann. Wir werden ihn aus der Studie herausnehmen.«

Wolf sah Antons riesige Augen vor sich, fast spürte er dessen Angst. »Aber der Mann braucht es. Er war am Boden, mit Serenata hatten wir überhaupt erst die Chance, an ihn heranzukommen.«

»Er wird ausgeschlossen. Er hat eine Pause von drei bis fünf Tagen gehabt, damit erfüllt er nicht mehr die Kriterien, er bekommt kein Serenata mehr. Wenn Sie sich nicht an das Protokoll halten, dann müssen wir die ganze Klinik aus dem Studienplan nehmen.«

»Natürlich muss ich mich an das Protokoll halten, aber was machen wir mit Raitmeier?«

»Sie sind sein Arzt, ich kann Ihnen keinen Rat geben.« Lamport schloss die Aktentasche auf seinem Schoß. »Das Problem haben nicht wir verursacht.« Er erhob sich und wandte sich zum Gehen. Auf halbem Weg zur Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich muss die Serenata-Tabletten, die für Raitmeier vorgesehen waren, mitnehmen. Können wir das gleich erledigen?«

Wolf stand auf, sie gingen zum Stationszimmer.

Wolf stand vor dem Medikamentenschrank. Er suchte länger als er musste nach einer der schmalen, langen Pappschachteln mit dem blauen Firmenlogo, in der die Serenata-Rationen für jeden Studienpatienten aufgereiht waren. Lamport hatte sich an den Tisch hinter der Glasfront zum Stationsgang gelehnt. Wolf hörte das metallische Geräusch der Klinke in der Glastür zum Flur – Lamport würde kurz abgelenkt sein. Er griff sich eines der blau gefärbten Aluminiumbriefchen, in dem noch drei von fünf der centstückgroßen, weißen Tabletten waren, hielt die Packung zwischen Mittel- und Zeigefinger und schleuderte sie mit einer Bewegung, die nur aus den Fingern kam, nach rechts zwischen die Beruhigungsmittel.

*

Es war am Nachmittag des gleichen Tages. Die stählerne Tür des Aufzugs schloss sich hinter Wolf. Naumann hatte sich an die Rückwand gelehnt, ohne den Knopf für sein Stockwerk zu drücken. Wolf drückte erst auf die Eins, dann auf die Sieben.

»Woher wusste Lamport, dass Herr Raitmeier das Serenata nicht bekommen hatte?«, fragte Naumann.

»Die Blutspiegel«, sagte Wolf. Lamport hatte vor sechs Stunden die Klinik verlassen. Erbel musste es Naumann gesagt haben.

»Ich hatte Ihnen verboten, einen Bericht zu schreiben.«

»Kein Bericht, Chef, ich habe Blutproben eingeschickt. Wir mussten doch wissen, ob er es bekommen hatte oder nicht.«

»Ich hätte also kein Bericht, keine Blutproben, kein Anruf, keine E-Mail sagen müssen, Kerrmann?« Naumann stütze sich auf das Metallgeländer der Aufzugskabine. »New England General sollte es nicht erfahren, war das nicht klar?«

»Aber wenn wir nicht mal wissen, ob er Serenata bekommen hat, wie sollen wir ihn denn behandeln?«

Naumann beugte sich vor. »Behandeln, ja? Ist ja toll, behandeln wollen Sie ihn. Und mit was, wenn mir die Frage gestattet ist? Antidepressiva, Benzodiazepine …« Er lehnte den Kopf zurück an die Wand. »Serenata, Kerrmann, Serenata braucht der Raitmeier, und jetzt bekommt er keines mehr, weil Sie es Lamport gegeben haben.«

Wolf wusste nicht, ob er die drei Tabletten erwähnen sollte, die er beiseite geschafft hatte.

Die Stahltür öffnete sich, und Professor Naumann stieß sich von der Wand ab. »Das Bundesamt bekommt weder eine Meldung, noch eine Blutprobe noch einen Anruf oder sonst etwas, was ich vergessen haben könnte zu erwähnen. War das eindeutig?« Er ging an Wolf vorbei und wandte sich nach links in Richtung seines Büros.

2. Kapitel

Es war acht Uhr morgens. Wolf saß in der Stationsküche vor einer Tasse schwarzen Kaffees und dachte über die Patientengespräche nach, die er zu führen hatte. Er hoffte, heute kämen nicht zu viele Angehörige oder gar ein neuer Patient. Das würde seinen ganzen Tagesplan durcheinanderwerfen.

Gestern Abend hatte er Janni Gartner ausgeführt. Er hatte sich sehr zusammennehmen müssen, nicht zu versuchen, sie sofort ins Bett zu bekommen. Er lächelte unwillkürlich. Eine tolle Frau … Wolf schürzte die Lippen und korrigierte sich. Irgendwie war sie mehr noch ein Mädchen denn eine Frau. Sie verband die zur Schau gestellte Frivolität mit einer naiven Unschuld, die Wolf beinahe um den Verstand brachte. Ständig hatte er sich ertappt, wie er ihr auf die Brüste, auf den Hintern blicken wollte. Es ärgerte ihn, dass sich sein Es solche Kontrolle über seine Blicke erlaubte. Janni war hübsch; er – das hieß, sein Über-Ich – wollte, dass ihr Gesicht ihm ausreichend Attraktion sei … Er rieb sich die Schläfen. »Aber diese Brüste«, stöhnte er und lachte gleich darauf. Sein Es lachte sein Über-Ich aus.

Erbel kam grußlos in die Küche und breitete einen großen Bogen aus zusammengeklebten Blättern vor sich aus. Eine Ecke des Dienstplans legte sich über Wolfs Tasse. Er zog sie zu sich, nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. »Warum hat Anton Raitmeier tagelang kein Serenata bekommen?«

»Was soll das heißen?« Erbel sah auf. »Wollen Sie sagen, ich … – wir hätten Anton das Serenata absichtlich nicht gegeben?«

Wolf zögerte seine Antwort einige Sekunden heraus. »Nein, das will ich nicht. Ich frage Sie.«

Erbel steckte die Stifte, mit denen er den Plan beschrieb, in die Brusttasche seiner Jacke und legte den Bogen einmal zusammen. »Was kann ich denn machen, wenn Anton der Verrückte seine Tabletten aus dem Fenster spuckt?« Erbel war rot geworden, er hatte seine Stimme nicht mehr im Griff. »Ich muss jede Tablette dokumentieren, ich muss Listen ausfüllen. Daten, Uhrzeit und Namen aufschreiben. Soll ich hinter den Patienten herlaufen und ihnen so lange in den Mund glotzen, bis sie die Tabletten hinuntergeschluckt haben, oder was stellen Sie sich vor?«

»Anton hat die Tabletten aus dem Fenster gespuckt?« Wolf verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was weiß ich, er hat sie ins Klo gespült, sie weggeworfen oder der Putzfrau gegeben. Warum fragen Sie ihn nicht selbst?« Erbel faltete den Dienstplan zusammen und ging hinaus.

Wolf folgte ihm, ging an ihm vorbei auf den Flur und warf einen Blick zurück ins Stationszimmer. Durch die Glasscheibe hindurch sah er Erbel im Medikamentenschrank hantieren. Es hatte keinen Sinn, ihn kontrollieren zu wollen. Erbel würde sich keinen Fehler erlauben, solange er Wolf in der Nähe wusste.

Auf dem Flur stand der Wagen mit den Patientenakten. Erbel hatte die Morgenmedikamente vorbereitet, er würde sie gleich ausgeben. Wolf nahm das Briefchen mit den drei übrigen Serenata-Tabletten aus der Hemdtasche und drückte eine aus der Verpackung. Im Vorbeigehen legte er sie in das grüne Plastikbecherchen hinter Antons Namensschildchen. Sie fiel nicht auf unter den anderen Medikamenten, die meisten sahen aus wie weißer, gepresster Puder.