42,99 €
Kultur- und traumasensibles Eltern-Coaching, um insbesondere kleinere Kinder nach Fluchterfahrung zu unterstützen und erfolgreich zu integrieren. In der Altersgruppe von 0 bis 14 Jahren weisen fast die Hälfte der Kinder mit Fluchterfahrung eine psychische Erkrankung auf, davon 30% eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Im Rahmen eines Kooperationsprojektes wurde daraufhin eine Interdisziplinäre Sprechstunde für Kinder mit Fluchthintergrund (ISKF) von Kinder-ärzt*innen, Psycho-logischen bzw. Kinder- und Jugendpsychothera-peut*innen und Kinder- und Jugendpsychiater*innen entwickelt. Aus diesem erfolgreichen Konzept heraus haben die Autor*innen ein Manual mit umfangreichem Hintergrundwissen, Checklisten und psychoedukativen Unterlagen für Eltern(-gruppen) von 3- bis 6-jährigen Kindern entwickelt. Unter Berücksichtigung der kulturellen Verschiedenheiten, Prioritäten und Besonderheiten in Bezug auf Kindererziehung ermöglichen die Gesprächsvorlagen in einfacher Sprache und Bebilderung einen informativen, aber niedrigschwelligen Zugang, mit klaren Aussagen zu kindlichen Gesundheitsaspekten. Fallbeispiele lenken zum einen den Blick auf mögliche Fallstricke, die durch mangelndes Wissen oder Desinformation bei ersten Begegnungen, Behandlung und Integration entstehen können. Zum anderen verweisen die Autor*innen auf die Potentiale und Kompetenzen von Familien mit Fluchterfahrungen, um diese für gemeinsames (Er-)Leben und Integration zu nutzen. Ziel ist es vor allem, kindliche Entwicklungsverzögerungen rechtzeitig zu erkennen und eine Inklusion und Teilhabe frühestmöglich zu erreichen, um Kinder mit Flucht- und Migrationserfahrung erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Die Arbeitsmaterialien zu diesem Buch können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 351
Andrea Hahnefeld
Elena Weigand
Sigrid Aberl
Volker Mall
(Hrsg.)
Interdisziplinäre Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung
Mit psychoedukativem Gruppenkonzept für Eltern
Unter Mitarbeit von
Katharina Bernhardt
Verena Dudek
Matthias Klosinski
Saskia Le Beherec
Katharina Münch
Elisabeth Schnell
Jana Uppendahl
Interdisziplinäre Versorgung von Kindern mit Fluchterfahrung
Andrea Hahnefeld; Elena Weigand; Sigrid Aberl; Volker Mall (Hrsg.)
Programmbereich Medizin
Dr. rer. nat. Andrea Hahnefeld
SPZ in der Kinderklinik München Schwabing
Haus 22
Parzivalstraße 16
80804 München
DEUTSCHLAND
E-Mail: [email protected]
Elena Weigand, M. A.
SPZ in der Kinderklinik München Schwabing
Haus 22
Parzivalstraße 16
80804 München
DEUTSCHLAND
E-Mail: [email protected]
Sigrid Aberl
München Klinik Schwabing
Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik
Kölner Platz 1
80804 München
DEUTSCHLAND
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. Volker Mall
kbo-Kinderzentrum München gemeinnützige GmbH
Heiglhofstraße 65
81377 München
DEUTSCHLAND
E-Mail: [email protected]
Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Copyright-Hinweis:
Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.
Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.
Anregungen und Zuschriften bitte an:
Hogrefe AG
Lektorat Medizin
Länggass-Strasse 76
3012 Bern
Schweiz
Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Susanne Ristea
Redaktionelle Bearbeitung: Elisabeth Dominik, Allendorf
Illustrationen im Innenteil: Nadine Roßa, Berlin https://nadine-rossa.de
Herstellung: René Tschirren
Umschlagabbildung: Getty Images/Fat Camera
Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Format: EPUB
1. Auflage 2024
© 2024 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96278-8)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76278-4)
ISBN 978-3-456-86278-1
https://doi.org/10.1024/86278-000
Nutzungsbedingungen
Der Erwerber erhält ein einfaches und nicht übertragbares Nutzungsrecht, das ihn zum privaten Gebrauch des E-Books und all der dazugehörigen Dateien berechtigt.
Der Inhalt dieses E-Books darf von dem Kunden vorbehaltlich abweichender zwingender gesetzlicher Regeln weder inhaltlich noch redaktionell verändert werden. Insbesondere darf er Urheberrechtsvermerke, Markenzeichen, digitale Wasserzeichen und andere Rechtsvorbehalte im abgerufenen Inhalt nicht entfernen.
Der Nutzer ist nicht berechtigt, das E-Book – auch nicht auszugsweise – anderen Personen zugänglich zu machen, insbesondere es weiterzuleiten, zu verleihen oder zu vermieten.
Das entgeltliche oder unentgeltliche Einstellen des E-Books ins Internet oder in andere Netzwerke, der Weiterverkauf und/oder jede Art der Nutzung zu kommerziellen Zwecken sind nicht zulässig.
Das Anfertigen von Vervielfältigungen, das Ausdrucken oder Speichern auf anderen Wiedergabegeräten ist nur für den persönlichen Gebrauch gestattet. Dritten darf dadurch kein Zugang ermöglicht werden. Davon ausgenommen sind Materialien, die eindeutig als Vervielfältigungsvorlage vorgesehen sind (z. B. Fragebögen, Arbeitsmaterialien).
Die Übernahme des gesamten E-Books in eine eigene Print- und/oder Online-Publikation ist nicht gestattet. Die Inhalte des E-Books dürfen nur zu privaten Zwecken und nur auszugsweise kopiert werden.
Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.
Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.
Danksagung
Vorwort
Einleitung
TEIL I: Kontext und Hintergrund für die Arbeit mit Kindern und Familien mit Fluchterfahrung
1 Kinder als Schutzsuchende in DeutschlandAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Sigrid Aberl, Volker Mall
2 Auswirkungen von FluchterfahrungenAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Bernhardt, Sigird Aberl
3 Folgen früher aversiver ErlebnisseAndrea Hahnefeld, Volker Mall
4 Traumafolgereaktionen im KindesalterAndrea Hahnefeld
4.1 Posttraumatische Belastungsstörung in der frühen Kindheit
4.2 Überlebensfokussierte Zustände als Traumafolgesymptom
5 Risiken für Entwicklungsbeeinträchtigungen bei geflüchteten KindernKatharina Bernhardt
6 Bedeutung der Bezugspersonen und des sozialen UmfeldesAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Jana Uppendahl, Volker Mall
7 Einfluss früher BildungserfahrungenSaskia Le Beherec
8 Herausforderungen in der Versorgung von Familien mit FluchterfahrungAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Verena Dudek, Sigrid Aberl, Volker Mall
9 Bisherige medizinische Versorgungsansätze und Inklusion in das BildungssystemElena Weigand
10 Zielsetzung des integrierten VersorgungskonzeptesAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Sigrid Aberl, Volker Mall
TEIL II: Integriertes Versorgungskonzept mit kultur- und traumasensitivem Vorgehen für Klein- und Vorschulkinder und deren Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen
11 HistorieAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Sigrid Aberl, Volker Mall
12 Allgemeine RahmenbedingungenAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Matthias Klosinski, Verena Dudek, Jana Uppendahl
12.1 Grundhaltung der Behandler*innen
12.2 Überwinden von Sprach- und Kulturbarrieren
12.3 Räumliche und organisatorische Rahmenbedingungen
13 Versorgungsansatz im integrierten KonzeptAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Sigrid Aberl, Volker Mall, Matthias Klosinski, Verena Dudek, Jana Uppendahl
13.1 Einführung
13.2 Interdisziplinäre Sprechstunde für Kinder mit Fluchterfahrung
13.2.1 Vorstellungsanlässe
13.2.2 Diagnostik
13.2.3 Besonderheiten bei der körperlichen Untersuchung und Implikationen für den kinderärztlichen Alltag
13.2.4 Therapie
13.3 Kultur- und traumasensitives Kinderangebot als Vorkurs für den Schul- und Kindergartenbesuch (KTKV)(zusätzlich Elisabeth Schnell)
13.4 Parents’ College als niedrigschwellige Gruppenintervention
TEIL III: Manual der psychoedukativen Elterngruppe „Parents’ College“
14 Konzeption und Entwicklung einer niedrigschwelligen ElterngruppeAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch, Sigrid Aberl, Volker Mall
14.1 Entstehung des Parents’ College
14.2 Notwendigkeit und Zielsetzung des Parents’ College als psychoedukatives Angebot
14.3 Bezug und Abgrenzung zu bestehenden Präventions- und Förderprogrammen
14.3.1 Stress-Traumasymptoms-Arousal-Regulation-Treatment
14.3.2 Muttersprachliche Elterntrainings Refugio
14.3.3 SAFE® Elternkurse
14.3.4 Heidelberger Elterntraining zur frühen Sprachförderung
14.3.5 Triple P-Elterntraining
14.3.6 Präventionsprogramm für Expansives Problemverhalten
15 Hinweise zur TrainingsdurchführungAndrea Hahnefeld, Elena Weigand
15.1 Gruppenzusammensetzung und organisatorische Hinweise
15.2 Anpassungen des Trainings für unterschiedliche Settings
15.3 Überwinden von Sprachbarrieren im Gruppenkontext
16 Manuale der SitzungenAndrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Münch
16.1 Sitzung 1
16.1.1 Übersicht zur Sitzungsorganisation
16.1.2 Begrüßung
16.1.3 Modul Baummetapher
16.1.4 Modul Aufsichtspflicht
16.1.5 Modul Tagesablauf I
16.1.6 Modul Gewaltfreiheit I
16.1.7 Modul Mediennutzung
16.1.8 Hausaufgabe 1
16.2 Sitzung 2
16.2.1 Übersicht zur Sitzungsorganisation
16.2.2 Begrüßung
16.2.3 Modul Krankenversicherung
16.2.4 Modul Vorsorgeuntersuchungen
16.2.5 Modul Impfung
16.2.6 Modul Infektionskrankheiten
16.2.7 Modul Ernährung und Verdauung
16.2.8 Modul Schlaf, Wachstum
16.2.9 Modul Tageslicht und Vitamin D
16.2.10 Modul Beschneidung
16.2.11 Modul Sinne
16.2.12 Hausaufgabe 2
16.3 Sitzung 3
16.3.1 Übersicht zur Sitzungsorganisation
16.3.2 Begrüßung
16.3.3 Modul Spielen und Interaktion/Tagesablauf II
16.3.4 Modul Gewaltfreiheit II
16.3.5 Hausaufgabe 3
16.4 Sitzung 4
16.4.1 Übersicht zur Sitzungsorganisation
16.4.2 Begrüßung
16.4.3 Modul Traumafolgestörungen und Umgang mit Stress
16.4.4 Modul Umgang mit Traumata
16.4.5 Modul Psychisch belastete Elternteile
16.4.6 Abschluss
17 Sitzungs- und Modulübersicht für Trainer*innen
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Hinweise zu Zusatzmaterialien
Autorenverzeichnis
Sachwortverzeichnis
Das vorliegende Buch wurde realisiert im Verlauf des Kooperationsprojekts „Versorgungsangebote für Kinder- und Jugendliche mit Fluchthintergrund und Traumafolgesymptomatik“ des kbo-Kinderzentrums (Lehrstuhl für Sozialpädiatrie, TUM) und der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (Lehrstuhl Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, TUM), finanziert durch das Bayerische Staatsministerium des Inneren, für Sport und Integration sowie mit Unterstützung von EU-Mitteln im Rahmen des vom Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) geförderten Projekts „Die traumasensitive Versorgung von Kindern und deren Familien in Dependancen des Ankerzentrums“.
Wir Herausgeber*innen bedanken uns herzlich bei unseren Mitautor*innen, Mitarbeiter*innen und dem Team des AMIF-Projektes Katharina Münch, Verena Dudek, Saskia Le Beherec, Katharina Bernhardt, Lea Eckler, Gabriela Espinoza, Melia Fleischmann, Matthias Klosinski, Elisabeth Schnell und Jana Uppendahl für die gute Zusammenarbeit und das gemeinsame Engagement in der Versorgung von Familien mit Fluchterfahrung.
Ein besonderer Dank gilt auch den ehemaligen Kolleginnen Jana Pacik und Sibylle Selinger, die an wesentlichen ersten Schritten des Konzeptes beteiligt waren.
Dies ist ein hochaktuelles und wichtiges Buch. Es reagiert auf den hohen Bedarf an „Know How“, den es in Deutschland in der psychosozialen Versorgung von Kindern und ihren Eltern mit Fluchterfahrung gibt. Es stellt in gebündelter und gut lesbarer Weise den wissenschaftlichen Stand und das umfassende Erfahrungswissen der Autor*innen um Andrea Hahnefeld und Volker Mall zur Verfügung. Schon seit über sechs Jahren sind diese in einer Kooperation zwischen den Kliniken des Bezirks Oberbayern und der Technischen Universität München mit sozialpädiatrischer wie kinder- und jugendpsychiatrischer Expertise in der Versorgung von Kindern, Jugendlichen und Eltern mit Fluchterfahrung tätig. Anfangs kamen diese Menschen schwerpunktmäßig aus Syrien und Afghanistan, seit 2022 bekanntlich vielfach auch aus der Ukraine.
Das Buch will praktisches Handlungswissen vermitteln. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf einem Manual für ein sogenanntes „Parents’ College“, einem psychoedukativen Programm, mit dem Eltern mit Fluchterfahrung in einfachen Worten und mit Bildern, die keine Lesekompetenz erfordern, wichtige Basiskompetenzen im Umgang mit ihren Kindern vermittelt werden. Das reichhaltige Material bietet eine sehr gute Grundlage, die Anwender*innen auf ihre jeweiligen Kontexte psychosozialer Versorgung von Menschen mit Fluchterfahrung anpassen können. Das Manual ist für psychoedukative Gruppen entwickelt, seine Inhalte sind aber auch für Kontakte mit einzelnen Elternpaaren hoch informativ.
Das Buch leistet insgesamt einen bemerkenswert gelungenen Beitrag zur besseren Versorgung einer oftmals sehr belasteten und vielfach benachteiligten Gruppe von Menschen. Es wird aber auch dabei helfen, dass die Behandler und Behandlerinnen, die mit dieser Gruppe von Menschen arbeiten, weniger oft frustriert und insgesamt zufriedener sind.
Peter Henningsen
Immer wieder gab und gibt es in der Menschheitsgeschichte große Flucht- und Migrationsbewegungen aufgrund sich verändernder Umgebungsbedingungen (Assmann, 2020). Nicht erst seit 2015 fliehen Menschen vor Krieg und Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Hunger oder aufgrund von Folgen des Klimawandels, auch wenn uns in Europa und insbesondere in Deutschland diese Jahreszahl mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ und Angela Merkels Worten „Wir schaffen das“ aktuell noch stark in der kollektiven Erinnerung verankert ist. Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat das Thema erneut an Aktualität gewonnen und die Sichtbarkeit hat sich weiter verstärkt.
Der öffentliche Diskurs über geflüchtete Menschen ist häufig von einer pauschalen Defizitorientierung geprägt, die eher die gesellschaftlichen Herausforderungen als die langfristigen Möglichkeiten und Chancen einer diversen Gesellschaft betont.
Der Fokus dieses Buches liegt darauf, trotz der vielfältigen Herausforderungen auch die Potenziale und Kompetenzen von Familien mit Fluchterfahrungen wahrzunehmen und als Ansatzpunkte für gemeinsames (Er-)Leben und Integration zu nutzen.
Mit Fallbeispielen aus unserer jahrelangen Tätigkeit mit Menschen mit Fluchterfahrung soll der Blick auf mögliche Fallstricke gelenkt werden, die durch mangelndes Wissen oder Desinformation bei ersten Begegnungen, Behandlung und Integration entstehen können. Wir versuchen eine Sprache zu verwenden, die einen Umgang auf Augenhöhe zum Ausdruck bringt und stigmatisierende und diskriminierende Elemente vermeidet. Zum Beispiel wird der Ausdruck „Menschen mit Fluchterfahrung“ den Menschen in den Vordergrund stellen und Begriffe wie „Flüchtlinge“ oder „Geflohene“ ersetzen, welche eine nicht vorhandene Homogenität suggerieren und dazu verleiten können, dass das Individuum Mensch verkannt wird.
Deprivation stellt kulturübergreifend ein großes Risiko für eine Beeinträchtigung der gesunden kindlichen Entwicklung dar. Im Hinblick auf kulturelle Verschiedenheiten, Prioritäten und Besonderheiten in Bezug auf Kindererziehung wird in diesem Buch der Standpunkt vertreten, dass es bei den erforderlichen Bedingungen zur gesunden Entwicklung von Kindern universelle Wahrheiten gibt, die wir hier klar adressieren: Kulturübergreifend benötigen Kinder neben der Erfüllung ihrer körperlichen Grundbedürfnisse auch Sicherheit und soziale Interaktion mit anderen Menschen, die sie versorgen und dabei emotional und sprachlich verfügbar sind, um sich eine nachhaltige Emotionsregulation, Sprache und weitere Kulturtechniken aneignen zu können. Mit unserem gemeinsam mit Familien mit Fluchterfahrung entwickelten Konzept der niedrigschwelligen Elterngruppe „Parents’ College“ bieten wir einen Rahmen an, diesbezüglich frühzeitig miteinander in Kontakt zu kommen. Neben dem Gesundheitsaspekt setzen wir einen Fokus auf Psychoedukation der Eltern und frühe Bildung der schutzsuchenden Kinder, da sich der kriegs- und fluchtbedingt fehlende Zugang zu institutionalisierter Bildung in Studien als weiterer Startnachteil und entwicklungsbeein|14|trächtigender Faktor bei Kindern und Jugendlichen mit Fluchterfahrung zeigt.
Unser Ziel ist es, Inklusion und Teilhabe von jungen Kindern in ihrem Aufnahmeland frühestmöglich zu erreichen, um eine gesunde Entwicklung ermöglichen zu können.
Auszüge des Buches wurden bereits in folgenden Publikationen veröffentlicht: Hahnefeld & Mall, 2020; Hahnefeld et al., 2022a.
Andrea Hahnefeld, Elena Weigand, Sigrid Aberl, Volker Mall
„Es ist gewiss, dass wir in unserer modernen Welt besser für unsere Kinder sorgen können, als wir es jetzt tun. Es gibt keine Entschuldigung dafür, den Kindern eine gute Kindheit vorzuenthalten, in der sie ihre Fähigkeiten voll entfalten können.“ Nelson Mandela, 2002 anlässlich des Weltkindergipfels der UN (UNICEF, 2022).
Kinder stellen eine besonders schutzbedürftige Gruppe dar, da sie noch stark auf Fürsorge angewiesen sind und bestimmte Voraussetzungen in ihrer Umgebung benötigen, um sich gesund entwickeln zu können (Fazel et al., 2012; ISSOP Migration Working Group, 2018). Unter dem Begriff unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden nicht volljährige Kinder und Jugendliche zusammengefasst, die ohne Elternteil oder Erziehungsberechtigten auf der Flucht sind. Sie haben Anspruch auf Inobhutnahme durch das Jugendamt, einen persönlichen Vormund und Unterbringung in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Gegenstand dieses Buches ist schwerpunktmäßig die relativ große Gruppe der Klein- und Vorschulkinder, die in der Regel mit sorgeberechtigter Begleitung geflüchtet sind. In den letzten Jahren wurden ca. 25 bis 30 % der Asylanträge von bzw. für Kinder unter sieben Jahren gestellt (BAMF, 2022). Unter Berücksichtigung der aktuellen Schutzquote von ca. 39 bis 56 % in den letzten Jahren (BAMF, 2022, 2023) ist davon auszugehen, dass ein entsprechender Anteil der Kinder mit ihren Familien auch auf Dauer in Deutschland bleiben wird. Diese Dynamik hat sich mit Beginn des Ukraine-Krieges nochmals verstärkt: Bei weit mehr als einem Drittel der registrierten Menschen, die seit Beginn des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine geflohen sind, handelt es sich um Kinder und Jugendliche, zwei Drittel der ukrainischen Geflüchteten sind weiblichen Geschlechts. Mehr als 4,3 Millionen Kinder haben dort ihre Heimat verlassen und Schutz in anderen Landesteilen oder den europäischen Nachbarstaaten suchen müssen (Ludvigsson & Loboda, 2022; Pandi-Perumal et al., 2022).
Angesichts dieser Zahlen ist es wichtig, Strategien und Möglichkeiten zu schaffen, auch jungen Kindern im Klein- und Vorschulalter bereits möglichst frühzeitig nach Ankunft eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen und sie in Bildungseinrichtungen und altersgemäßen Gruppenaktivitäten zu integrieren, da ansonsten weitere kumulierte Nachteile durch Nicht-Teilhabe entstehen, wie in den folgenden Kapiteln genauer erläutert. Einerseits ist ein differenzierter Blick wichtig, da sich aufgrund der familiären, kulturellen und nationalen Herkunft ganz unterschiedliche Herausforderungen ergeben können, andererseits zeigen sich auch Muster von Schwierigkeiten und Entwicklungshemmnissen, die die Kinder aus Familien mit Fluchterfahrung auf breiter Basis betreffen.
Kinder mit Fluchterfahrung und Kinder aus Familien mit Fluchthintergrund sind zunächst in erster Linie Kinder, die laut Konvention über die Rechte des Kindes (UNICEF, n.d.) das Recht haben, in Frieden und Sicherheit aufzuwachsen und ihre Entwicklungsaufgaben erfüllen zu dürfen.
|18|Infokasten
Fakten zu geflüchteten Menschen weltweit und in Deutschland
(BAMF, 2023, 2022; UNHCR, 2021, 2022; Uno-Flüchtlingshilfe, n.d.).
Rund 103 Millionen Menschen weltweit waren Mitte 2022 gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen.
Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg um 15 %, in den vergangenen 10 Jahren hat sich die Zahl der Menschen mit Fluchterfahrung mehr als verdoppelt.
Mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung befindet sich derzeit auf der Flucht.
Das entspricht in etwa einem von 77 Menschen (UNHCR, 2022).
Kinder sind überproportional häufig von Flucht betroffen: Sie machen 30 Prozent der Weltbevölkerung aus, repräsentieren aber 42 Prozent aller geflüchteten Menschen.
Zudem wurden weltweit mehr als 1,5 Millionen Kinder zwischen 2018 und 2021 auf der Flucht geboren.
In Deutschland leben aktuell 2,2 Millionen Schutzsuchende aus anderen Ländern (Uno-Flüchtlingshilfe, n.d.).
Hauptherkunftsländer in 2022 waren: Syrien, Afghanistan, Türkei, Irak, Georgien, Iran, Somalia, Eritrea, Russische Föderation.
Die Anzahl der Asylerstanträge in Deutschland 2022 ist im Vergleich zum Vorjahr um 46,9 % gestiegen.
Andrea Hahnefeld, Elena Weigand, Katharina Bernhardt, Sigird Aberl
Kinder mit Fluchterfahrung sind einem hohen Risiko ausgesetzt, potenziell traumatisierende Situationen vor, während und nach der Flucht sowie erhöhten Stress durch wechselnde Umgebungsbedingungen zu erleben (Bronstein & Montgomery, 2011; Fazel et al., 2005; Kadir et al., 2019). Weltweit werden Prävalenzen von Traumafolgestörungen zwischen 19 und 54 % bei Kindern mit Fluchterfahrung berichtet (Soykök et al., 2017; Bronstein & Montgomery, 2011; Fazel et al., 2005; Ruf et al., 2010), was deutlich über den Lebenszeitprävalenzen von ca. 1,5 % bei Kindern und Jugendlichen in der Gesamtbevölkerung in Deutschland und um die 5 % in den USA liegt (Perkonigg et al., 2000; Essau et al., 2000; Fairbank et al., 2009). Auch die Prävalenzen für Depressionen und Angststörungen bei minderjährigen Flüchtlingen und Asylbewerber*innen liegen laut Übersichtsarbeiten (Lustig et al., 2004) deutlich über den Prävalenzen aus repräsentativen Studien der Gesamtbevölkerung (Metzner et al., 2016).
Insbesondere bei Traumafolgestörungen ist davon auszugehen, dass die entsprechenden Auftretenshäufigkeiten gerade bei jungen Kindern zudem unterschätzt werden, da Symptome übersehen und kleine Kinder nicht zur Behandlung vorgestellt werden (ZERO TO THREE, 2019; Metzner et al., 2016; Scheeringa et al., 2005). Laut aktueller Studienlage zählen unspezifische Symptome wie Schlafstörungen, somatische Beschwerden, Konzentrationsschwierigkeiten und Entwicklungsrückschritte zu den häufigsten von den Eltern berichteten Traumafolgesymptomen bei jungen Kindern (Slone & Mann, 2016; Bernhardt et al., under review(b)). Zudem können sich Aufmerksamkeitsprobleme, externalisierende Verhaltensauffälligkeiten wie Hyperaktivität oder aggressives Verhalten sowie internalisierende Probleme wie Angstzustände, traurige Stimmung, erhöhte Abhängigkeit von Bezugspersonen und Trennungsängste oder sozialer Rückzug in Folge von Flucht- und Trennungserfahrungen bei jungen Kindern zeigen (Slone & Mann, 2016; Bernhardt et al., under review(b)).
Bestimmte Konstellationen im Umfeld in Kombination mit Erlebnissen vor, während und nach der Migration gelten dabei als signifikante Prädiktoren für die psychische Anfälligkeit: So konnte bei Kindern in einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung gezeigt werden, dass die Trennung von Familienmitgliedern und somatische Beschwerden der Eltern mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Traumafolgestörungen bei den Kindern einhergehen (Nehring et al., 2021b). Zudem werden ein ungewisser Aufenthaltsstatus im Zielland und die Gesamtsituation in der Erstaufnahmeeinrichtung oft als weitere Stressfaktoren wahrgenommen, welche die Familien zusätzlich belasten und sich negativ auf die kindliche Entwicklung auswirken (Fegert et al., 2015; Ruf et al., 2010; Ekblad, 1993; Zwi et al., 2018).
Hierbei ist anzumerken, dass es sich bei den traumatisierenden Ereignissen kleinerer Kinder mit Fluchterfahrung häufig um Situationen handelt, die gemeinsam mit den Eltern durchlebt wurden. In vielen Fällen ist daher davon auszugehen, dass auch die primären Bezugspersonen unter einer Traumafolgesymptomatik mit den entsprechenden Begleiterscheinun|20|gen leiden (Schauer et al., 2017), was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass auch das Kind von einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) betroffen ist (ZERO TO THREE, 2019). Zudem gibt es Befunde, die darauf hindeuten, dass traumatisierte Eltern möglicherweise aufgrund eigener Belastungen nur eingeschränkt in der Lage sind, den Sicherheits- und Bindungsbedürfnissen der Kinder gerecht zu werden (van Ee et al., 2012). Sofern im Herkunftsland die erweiterte Familie oder das soziale Umfeld erzieherische und stützende Aufgaben übernommen hätte, ist dieses in den meisten Fällen nach der Flucht nicht mehr verfügbar (Abdallah-Steinkopf, 2018; Hahnefeld & Mall, 2020). So sind viele der Kinder in einem jungen Alter, in welchem sie zur Selbstregulation noch verstärkt auf die Bezugspersonen angewiesen sind (McLaughlin et al., 2015; Roth & Strüber, 2021), zusätzlich zu den Belastungen der Flucht auch einer Deprivationssituation mit entsprechenden Folgeproblemen ausgesetzt.
Andererseits zeigen sich viele Kinder trotz potenziell traumatisierender Erlebnisse resilient und anpassungsfähig. Die Anpassungsfähigkeit hängt von individuellen Faktoren, wie (junges) Alter und Selbstwirksamkeitserleben, der Qualität des unmittelbaren sozialen Umfeldes, z. B. des familiären Zusammenhalts, und schützenden Faktoren auf der Ebene der sozialen Umwelt wie Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und der Wohn- und Finanzperspektiven ab (Marley & Mauki, 2018; Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2021; Walther et al., 2021).
Fallbeispiel
Ayla
Ayla (4 Jahre alt) wird uns von ihrer besorgten Mutter vorgestellt. Sie selbst habe nie eine Schule besucht und könne weder lesen noch schreiben. In Afghanistan habe die sechsköpfige Familie ein gutes Auskommen als Ziegenhirten gehabt bis zu dem Zeitpunkt, als die Taliban sie mit Waffen bedroht und zur Flucht getrieben hätten. Der Weg und die zwei Jahre im Flüchtlingslager Moria seien schwierig, entbehrungsreich und anstrengend gewesen.
Das Kind zeigt ein normales Kontaktverhalten und einen unauffälligen ärztlichen und psychologischen Untersuchungsbefund. Erfreulicherweise erhält das Mädchen gleich einen Kindergartenplatz, gewöhnt sich schnell ein, lernt bald erste Worte auf Deutsch und spielt gerne mit den anderen Kindern. Die Mutter ist erleichtert und es ergibt sich kein weiterer Vorstellungsanlass.
Kommentar: In diesem Fallbeispiel stellen wir ein resilientes Kind vor, das sich gut im neuen Umfeld einfinden kann, obwohl es eine lange Fluchtgeschichte hinter sich hat und die Familie aus einem komplett anderen Kontext kommt. Begünstigende Faktoren waren in diesem Fall das liebevolle familiäre Umfeld mit gesunden Eltern und Geschwistern, das Aufwachsen in einem unbelasteten Umfeld bis kurz vor der Flucht, die gute Eltern-Kind-Interaktion, die altersgemäße kindliche Entwicklung und frühe Stabilisierung der psychosozialen Umgebung am Ankunftsort durch den Kindergartenplatz.
Andrea Hahnefeld, Volker Mall
Da gehäufte aversive Erlebnisse im Kindesalter einen signifikanten Risikofaktor für Entwicklungsbeeinträchtigungen, körperliche Erkrankungen und psychische Störungen im weiteren Verlauf des Lebens darstellen (Hughes et al., 2017; Plener et al., 2017; Witt et al., 2019), sind Kinder mit Fluchterfahrung aufgrund ihrer Vorgeschichte mit potenziellen Kriegs- und Gewalterlebnissen, (jahre-)langem Unterwegssein und Leben unter prekären Bedingungen eine hoch vulnerable Gruppe hinsichtlich psychischer und allgemeiner Gesundheit (Felitti et al., 1998; Kuhlman et al., 2017). Eine hohe Rate früher aversiver Erlebnisse steht laut Studien in Zusammenhang mit verstärkter Symptomausprägung, erhöhten Komorbiditätsraten und verminderter Ansprechbarkeit auf traditionelle, symptombezogene therapeutische Interventionen bei unterschiedlichen körperlichen Erkrankungen und psychischen Störungen bis ins Erwachsenenalter hinein, unabhängig von den jeweiligen diagnostischen Kategorien (Teicher & Samson, 2016; Konrad et al., 2016). Auch wenn Kindheitserlebnisse der ersten drei bis vier Lebensjahre meist nicht bewusst erinnerbar sind, werden Auswirkungen potenziell traumatisierender Ereignisse gerade in dieser jungen Altersgruppe als besonders schwerwiegend angenommen (Goldbeck & Jensen, 2017; Koss & Gunnar, 2018), da im frühen Lebensalter in einem relativ kurzen Zeitfenster schnelle, komplexe und für das weitere Leben wichtige Entwicklungs- und Reifungsprozesse ablaufen (Bronstein & Montgomery, 2011; Konrad et al., 2016). Hierbei ist ein Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zu beobachten (Cloitre et al., 2009). Laut Hensel (2017) steigt das Risiko einer körperlichen, psychischen oder sozialen Beeinträchtigung mit der Anzahl der Belastungsfaktoren zunächst linear und dann exponentiell an.
Da sich ein kumulativer Effekt im Sinne von stärkerer Symptomatik bei sequenzieller Traumatisierung zeigt, ist davon auszugehen, dass auch eine dauerhaft unsichere und instabile Umgebung zur einer (chronischen) Aktivierung des Stressverarbeitungssystems führen kann (Hughes et al., 2017; van der Kolk, 2014). Laut aktueller Studienlage sind sowohl Armut, Vernachlässigung, Deprivation als auch Bedrohung im Kindesalter mit erhöhter Aktivität der Stressachse assoziiert im Sinne einer verstärkten unmittelbaren Reaktion auf potenziell bedrohliche Reize und Bereitstellung von kurzfristigen Energiereserven über die Ausschüttung von Stresshormonen (Hunter et al., 2011). Diese erhöhte Sensitivität führt wiederum zu einer häufigeren Aktivierung der Stressachse, was im Verlauf eine weniger effektive Regulierung der Rückkopplungsschleife bewirkt (Roth & Strüber, 2021; Kuhlman et al., 2017). In verschiedenen Studien zeigen sich Hinweise für eine sensitive Periode diesbezüglich bis zum Alter von ca. fünf Jahren, in welcher die Reagibilität der Stressachse besonders stark durch Umgebungsfaktoren beeinflusst wird (Carrion et al., 2007; Fenoglio et al., 2006; Humphreys et al., 2019; McLaughlin et al., 2015).
Das Gehirn der von aversiven Lebensbedingungen betroffenen Kinder wird sozusagen auf Wahrnehmung von Gefahr und schnelles Reagieren trainiert und optimiert (Teicher & Samson, 2016), dies allerdings auf Kosten langfristi|22|ger Lernprozesse und dem Ausführen höherer kognitiver Funktionen wie komplexer Handlungsplanung und sogenannter Exekutivfunktionen (Ford & Greene, 2017). Durch chronischen und schwerwiegenden Stress insbesondere im frühen Lebensalter können also über Schädigungen bestimmter Hirnstrukturen auch in späteren Lebensphasen noch Beeinträchtigungen hinsichtlich Lernen und anderer kognitiver Funktionen verursacht werden (Carrion et al., 2007; Chen et al., 2019; Fenoglio et al., 2006; Lupien et al., 2009; Yehuda et al., 2010).
Fallbeispiel
Tarek
Tarek (5 Jahre alt) wird uns im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) mit einer Entwicklungsverzögerung, Verhaltens- und emotionalen Auffälligkeiten vorgestellt. Die Eltern berichten häufiges Weinen, Ängste im Alltag und starke Wutausbrüche. Die damals neunköpfige syrische Familie sei Ende 2015 über die Türkei, das Mittelmeer, Griechenland und die Balkanroute nach Deutschland gekommen. Als das Boot zu sinken drohte, sei der Junge noch keine anderthalb Jahre alt gewesen. Da die Mutter damals hochschwanger gewesen sei, sei er zeitweise einem Bekannten übergeben worden und habe auch in den kommenden Wochen auf dem Weg viel selbst laufen müssen. Vorher habe er – wie seine sechs älteren Geschwister auch – mit ca. einem Jahr die ersten Worte gesprochen und sich insgesamt normal entwickelt. Nach der Flucht schien er zunächst alle Worte vergessen zu haben. Die Familie habe lange in zwei Zimmern einer Erstaufnahmeeinrichtung gewohnt. Während die älteren Kinder der Familie Deutsch gelernt hätten und in Schulen und Kindergärten gegangen seien, habe Tarek erst im Alter von ca. dreieinhalb Jahren wieder zu sprechen begonnen. Aufgrund häufiger Umzüge habe lange kein Kindergartenplatz für ihn gefunden werden können und er sei ausschließlich in der Familie betreut worden. Jetzt nehme der Kindergarten ihn nicht auf, da er entwicklungsverzögert sei und nicht in die Gruppe passe.
Bei der Vorstellung im SPZ handelt Tarek ausschließlich nach eigenen Impulsen und scheint keinerlei Sprache zu verstehen, auch nicht nach Übersetzung. Spielzeuge exploriert er kurz, zeigt dann kein weiteres Interesse daran. Sobald Anforderungen von außen an ihn gestellt werden, beginnt er zu weinen und möchte den Raum verlassen.
Kommentar: Die organische Abklärung im SPZ ergab keinen wegweisenden Befund für die Entwicklungsverzögerung des Jungen. Aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Flucht war er für die multiplen aversiven Erlebnisse besonders vulnerabel und hat vermutlich gleichzeitig eine deprivierende Erfahrung durch die temporäre Trennung von seinen Eltern gemacht. Er zeigt Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung des frühen Kindesalters und damit assoziierte Entwicklungsstörungen. Zudem könnte im Folgenden der Stress im familiären Umfeld des Kindes dazu beigetragen haben, dass seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden konnten und es zu weiteren Deprivationsfolgen kam.
Andrea Hahnefeld
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist definiert als eine mögliche Folgereaktion einer Person, die einem oder mehreren potenziell traumatisierenden Ereignissen oder kontinuierlich traumatisierenden Bedingungen ausgesetzt war (American Psychiatric Association (APA), 2013; Dilling & Freyberger, 2019). Das belastende Ereignis überschreitet dabei die Bewältigungskapazitäten der betroffenen Person und ist der primäre und ausschlaggebende Kausalfaktor für die Störung. Ohne das Ereignis oder die Bedingungen wäre die Störung nicht entstanden.
Prämorbide Faktoren bei Person und Umwelt oder Erkrankungen können dabei die Schwelle für die Entwicklung einer Traumafolgestörung senken oder die Symptomatik verstärken (NCTSN, n.d.; WHO, n. d. a). In Bezug auf genetische und epigenetische Faktoren zeigen beispielsweise Träger eines bestimmten Allels der FKBP5-Variante bei Konfrontation mit aversiven Lebensereignissen eine erhöhte Anfälligkeit für Traumafolgestörungen. Abhängig von der Demethylierung dieses Allels zeigt sich eine gesteigerte stressabhängige Gen-Transkription, die eine längerfristige Dysregulation der Stressreaktion begünstigt mit Auswirkungen auf Hormonausschüttung, Immunsystem und bestimmte Gehirnareale (Wang et al., 2018).
Die PTBS als klassische Traumafolgestörung definiert sich mit der Symptomtrias Wiedererleben, Vermeidung und Übererregung (APA, 2013; Dilling & Freyberger, 2019), wobei im Verlauf auch andere Symptomkombinationen mit Anpassungs-, Verhaltens- und Bindungsstörungen, psychosomatischen Beschwerden, Dissoziationen, Ängsten und depressiven Verstimmungen in Folge von Traumata auftreten können (Schäfer et al., 2019). Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist seit Einführung des ICD-11 anerkannte Diagnose bei zusätzlichen massiven Emotionsregulationsproblemen, negativem Selbstbild sowie ausgeprägten Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen als Folge besonders schwerer, wiederholter oder langanhaltender Traumatisierung (WHO, n. d. a). Entwicklungsbezogene Aspekte für Kinder und Jugendliche werden hierbei nicht berücksichtigt (Eilers & Rosner, 2021).
Klein- und Vorschulkinder können ebenso von einer PTBS oder Anpassungsstörung betroffen sein wie Jugendliche und Erwachsene (Scheeringa et al., 2005), wobei die Symptome meist weniger offensichtlich erscheinen und die diagnostischen Kriterien daher schwerer zu erheben sind (ZERO TO THREE, 2019). Laut Scheeringa (2012) entwickeln 30 bis 40 % der Kinder, die mit einem potenziell traumatisierenden Ereignis konfrontiert sind, im Verlauf Symptome einer PTBS, welche in der bisherigen Literatur meist im Elternurteil erfragt wurden (Scheeringa, 2012). In der subjektiven kindlichen Erlebniswelt kann es jedoch vorkommen, dass Ereignisse qualitativ anders eingeordnet, bewertet und reflektiert werden als bei Erwachsenen (Hensel, 2017), so dass Kinder oft weniger direkt an den Erinnerungen an ein umschriebenes belastendes Ereignis (oder auch mehre|24|re), sondern eher an tiefgreifenden Ängsten, Misstrauen und an Defiziten in der Regulation von Gefühlen und Verhalten leiden (Krüger, 2015). Diese gehen nicht selten mit Entwicklungsrückschritten oder dem kurzzeitigen Verlust bereits erworbener Fähigkeiten einher (Goldbeck & Jensen, 2017). Zudem können die Symptome gerade bei jüngeren Kindern aufgrund der noch nicht vollständig ausgebildeten verbalen Ausdrucksmöglichkeiten nicht wie bei Jugendlichen und Erwachsenen erfragt werden, sondern zeigen sich eher auf Verhaltensebene (Landolt et al., 2017). Das Wiedererleben des Traumas kann sich z. B. in Form von monotonem, repetitivem Verhalten im Spiel zeigen (Krüger, 2015; Landolt et al., 2017). Interessenverlust und emotionale Taubheit können bei Kindern über eingeschränktes Spielverhalten und sozialen Rückzug ausgedrückt werden. Betroffene Kinder können sich z. B. weniger gut als Gleichaltrige auf neue Aktivitäten einlassen oder wirken häufig lustlos. Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten kann sich u. a. in Form von neu auftretender Trennungsangst, aggressivem Verhalten, Verlust von bereits erworbenen Fähigkeiten oder als neuartige Ängste ohne offensichtlichen Bezug zum Trauma äußern (Simons & Herpertz-Dahlmann, 2008). Die subjektive Wahrnehmung, ständig einer Bedrohung ausgesetzt zu sein, führt zu erhöhter Wachsamkeit und verstärkten Schreckreaktionen. Aggressive „Selbstverteidigung“, häufige Wutanfälle sowie Konzentrations- und Schlafprobleme können fehlinterpretiert werden, da diese auch bei anderen Störungsbildern im Kindesalter auftreten.
Mit dem Begriff Entwicklungstraumastörung wurde versucht, die kindlichen Besonderheiten sowie die vielfältigen Komorbiditäten bei chronisch traumatisierten Kindern zu erfassen. Der Begriff hat bisher keinen Einzug in die offiziellen Diagnosekriterien gefunden. Garbe (2015) sieht die Entwicklungstraumastörung als Unterkategorie der komplexen PTBS an. Eine wichtige Ergänzung ist die Abbildung des spezifischen kindlichen Erlebens und Verhaltens: Als Folge mehrfacher Exposition interpersoneller Traumatisierungen werden „Dysfunktionen in mehreren Bereichen: emotional, körperlich, im Verhalten, kognitiv und in Beziehungen“ (van der Kolk, 2009, S. 582) beschrieben, was bei Nichtbehandlung negative Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen und die Teilhabe an Gruppen- oder Bildungsangeboten haben kann (van der Kolk, 2009, 2014).
Da das Erkennen einer PTBS bei jungen Kindern schwierig sein kann, soll die Tabelle 4-1 eine Übersicht der Besonderheiten bei Traumafolgestörungen im Kindesalter geben.
|25|Tabelle 4-1: Besonderheiten im Kindesalter in Bezug auf diagnostische Kriterien der PTBS zusammengefasst nach DSM-5, ICD-10, ICD-11 und DC:0-5 (APA, 2013; Dilling & Freyberger, 2019; ZERO TO THREE, 2019)
Kriterien
Beschreibung
Besonderheiten im Kindesalter
A
Belastendes Ereignis
Eine Situation kürzerer oder längerer Dauer extrem entsetzlicher Natur, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefgreifende Verzweiflung hervorrufen würde.
Besonders bei Kindern (aus Kriegs- und Krisengebieten) relevant: Auch das Beobachten oder Erfahren von Ereignissen, die nahestehenden Bezugspersonen widerfahren sind, kann traumatisierend sein.
B
Anhaltende Erinnerungen, Wiedererleben (in der Gegenwart)
Lebhafte Intrusionen, aufdringliche Nachhallerinnerungen in verschiedenen sensorischen Modalitäten, begleitet von starken Emotionen und körperlichen Reaktionen, angstbesetzte Flashbacks (teilweise mit partieller Amnesie), sich wiederholende Albträume und/oder innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
Intrusionen müssen nicht zwingend als negativ/belastend auffallen und können durch spielerische Reinszenierungen oder häufige Nachfragen zu den Ereignissen ausgedrückt werden.
Bei Albträumen können die beängstigenden Inhalte oft nicht benannt werden.
Plötzliches Erstarren, Stillhalten mit Unempfänglichkeit für Umweltreize kann ein Hinweis auf dissoziative Episoden sein.
C
Vermeidung
Vermeidung von Anlässen, die an die ursprünglich als traumatisch erlebte Situation erinnern könnten oder mit ihr in Zusammenhang stehen.
Auch: Gefühl des Betäubtseins, emotionale Stumpfheit, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahms- und Freudlosigkeit.
Vermeidung kann z.B. als extreme Trennungsangst und emotionale Taubheit durch sozialen Rückzug ausgedrückt werden.
Interessenverlust zeigt sich in eingeschränktem Spielverhalten, geringer Bereitschaft für soziale Interaktionen und/oder häufiger Langeweile.
D
Erinnerungslücken oder Übererregung
Zumindest teilweise Amnesie für das traumatische Erlebnis und/oder erhöhte psychische Sensitivität, Vigilanzsteigerung und Erregung mit zwei oder mehr der folgenden Merkmale:
Ein- und Durchschlafstörungen
Reizbarkeit und Wutausbrüche
Konzentrationsschwierigkeiten
Übererregung/ Hypervigilanz
Erhöhte Schreckhaftigkeit
Erhöhte Irritabilität, extreme Trotzanfälle und Wutausbrüche oder auch Zustand erhöhter Wachsamkeit mit überstarker Schreckreaktion sowie Einschlafschwierigkeiten, Weigerung zu Bett zu gehen und nicht zur Ruhe kommen.
|26|E
Zeitdauer
Die unter B, C und D genannten Symptome treten innerhalb von sechs Monaten (unter bestimmten Umständen auch später) nach dem Belastungsereignis auf und dauern länger als einige Wochen an.
Symptome sollten laut Kriterien nicht länger als drei bzw. sechs Monate nach Persistieren des Stressors anhalten, können aber auch erst bei spezifischen Triggern lange nach dem belastenden Ereignis erstmals oder erneut auftreten.
F
Beeinträchtigung
Die Symptome verursachen eine signifikante Beeinträchtigung im Alltag und können nicht durch eine andere (psychische) Störung besser erklärt werden.
Signifikante Beeinträchtigung in der Beziehung zu Eltern und Geschwistern und/oder im Umgang mit Gleichaltrigen oder Fachkräften im Alltag und Schul- und Betreuungsumfeld.
Zudem deuten Befunde aus Longitudinalstudien darauf hin, dass die PTBS-Symptome der Kinder im alleinigen Elternurteil häufig unterschätzt werden (van Ee et al., 2012; Hahnefeld et al., 2021; Scheeringa et al., 2005) und über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren stabil bleiben (ZERO TO THREE, 2019). Die PTBS-Symptomatik vier Monate nach dem Trauma zeigt dabei signifikante Vorhersagequalität auf die erlebte Beeinträchtigung der Kinder ein bis zwei Jahre nach den Vorfällen (Scheeringa et al., 2005).
Wie in Kap. 3 beschrieben, geht man davon aus, dass sich aufgrund traumatischer Ereignisse das biologische System der betroffenen Kinder im Sinne des Überlebens in gefährlichen Situationen optimiert hat (van der Kolk, 2014; Teicher & Samson, 2016). Demzufolge sollten auffällige, als dysreguliert erscheinende Verhaltensweisen des Kindes zunächst dahingehend hinterfragt werden, inwieweit sie in einer subjektiven Bedrohungssituation für das Kind eine funktionale Rolle gespielt haben könnten. Möglicherweise verhält sich das Kind im aktuell sicheren Umfeld weiterhin so, als sei es noch in der gefährlichen Umgebung mit allen entsprechenden Konsequenzen. Dieses überlebensfokussierte Verhalten kann z. B. über bestimmte Hinweisreize (Geräusche, laute Stimmen, Berührungen etc.) getriggert werden. Im Konzept der „Trauma-Systems-Therapy“ (TST, Saxe et al., 2016) wird dies als „survival-in-the-moment-state“, also überlebensfokussierter Zustand (ÜZ) definiert: Es zeigt sich beim Kind ein „unmittelbarer Wechsel in Bewusstsein, Affekt und Handlungsimpulsen, sobald eine subjektive Bedrohung in der aktuellen Umgebung wahrgenommen wird“ (nach Saxe et al., 2016, übersetzt von Andrea Hahnefeld). Diese ÜZ treten nicht zufällig auf, sondern werden über Signale in der Umgebung ausgelöst, die das Kind mehr oder weniger bewusst als Bedrohung wahrnimmt. Diese Trigger sind ohne Wissen über die Vorgeschichte für Außenstehende in der Alltagssituation nicht als solche erkennbar. Da das dysreguliert erscheinende Verhalten im Rahmen von ÜZ also als konditionierte Reaktionen auf Flashbacks verstanden werden kann, kommt der Identifikation der Auslöser der ÜZ im Anamneseprozess eine Schlüsselrolle zu. Demzufolge sollten diese oft extrem (ver-)störend wirkenden Verhaltensweisen des Kindes zunächst dahingehend hinterfragt werden, inwieweit sie in einer subjektiven Bedrohungssituation für das Kind eine funktionale Rolle gespielt haben könnten (van der Kolk, 2014).
Die Diagnostik und Einordnung der ÜZ als Traumafolgesymptom ist wichtig, da das damit assoziierte stark dysregulierte Verhalten dazu führen kann, dass Situationen im Gruppenumfeld eskalieren und die betroffenen Kinder vom Kindergarten- oder Schulbesuch ausgeschlossen werden müssen (Sachser et al., 2017). Ein Kind, das plötzlich in unvorhersehbaren Stresssituationen selbst- und fremdgefährdendes Verhalten zeigt, ist in einer Gruppensituation nicht tragbar. Dies hat zur Folge, dass sich u. a. durch die Nicht-Teilnahme an altersentsprechenden Gruppen- und Bildungsangeboten der Entwicklungsabstand zu Gleichaltrigen weiter vergrößert (Hahnefeld et al., 2021, 2022b), was im weiteren Verlauf die Teilhabe an der Gesellschaft immer schwieriger macht und zunehmend weitere Probleme verursacht. So ist es schon im Kindergartenalter für Kinder mit Sprachentwicklungsrückständen und Regulationsproblemen schwierig, Sozialkontakte aufzubauen und mit Gleichaltrigen zu spielen (Craig-Unkefer & Kaiser, 2002). In der Schule setzen sich diese Probleme dann fort und es kommen ggf. Lern- und Auffassungsprobleme aufgrund traumafolgebedingter Konzentrations- und |27|Aufmerksamkeitsschwierigkeiten hinzu. Auf diese Weise wirkt sich das permanent hohe Stresslevel der Kinder dahingehend aus, dass die anstehenden Entwicklungsaufgaben nicht bewältigt werden können.
Oft werden diese Schwierigkeiten weniger aus Elternsicht berichtet, sondern fallen erst im Betreuungsumfeld auf, wenn die Kinder im Gruppenkontext mit sozialen, sprachlichen und allgemeinen Anforderungen konfrontiert werden (Hahnefeld et al., 2021). So zeigten sich in unseren Studien bei 54 % der untersuchten Kinder mit Fluchterfahrung ÜZ im Betreuungsumfeld, während sich in der elterlichen Einschätzung nur bei 29 % der Kinder Hinweise für eine Traumafolgestörung ergaben. Wichtig ist hierbei hervorzuheben, dass bei allen Kindern, die laut Elternurteil unter Traumafolgestörungen litten, auch ÜZ im Betreuungsumfeld berichtet wurden. Das Auftreten der ÜZ korrelierte mit schwächeren Lernleistungen der Kinder und war mit erhöhten Abendkortisolwerten als biologischem Stressmarker assoziiert – ein Zusammenhang, der sich mit dem alleinigen Elternurteil hinsichtlich Traumafolgesymptomatik nicht darstellen ließ (Hahnefeld et al., 2021). Die Einschätzung der Eltern erscheint also nicht sensitiv genug bei der Traumafolgesymptomatik von jungen Kindern. Da Eltern- und Fachkräfteurteil hinsichtlich der allgemeinen kindlichen Symptomatik in unseren Studien eine hohe Übereinstimmung zeigten, kann diese spezifische Unterschätzung der Traumafolgeproblematik möglicherweise auf eine elterliche Vermeidungshaltung oder mangelnde Wahrnehmung im Rahmen eigener Traumafolgestörungen oder auch auf eine hohe Funktionalität der ÜZ im vorherigen Kontext zurückzuführen sein (Hahnefeld et al., 2021, 2022a).
Infokasten
Überlebensfokussierte Zustände
Überlebensfokussierte Zustände (ÜZ) sind durch angstauslösende Stimuli getriggerte Sequenzen, in welchen Emotionen und Verhalten des Kindes extrem wirken, nicht unter der willentlichen Kontrolle stehen, teilweise selbst- und fremdgefährdend und kurzfristig nicht von außen zu beeinflussen sind (Hahnefeld & Mall, 2020; Saxe et al., 2016). Diese plötzlichen Wechsel in Affekt, Stimmung und Verhalten der Kinder werden im Umfeld oft als extrem beeinträchtigendes dysreguliertes Verhalten wahrgenommen, wobei anzumerken ist, dass erhöhte Irritabilität, extreme Trotzanfälle und Wutausbrüche zu den Kernsymptomen einer kindlichen PTBS zählen (siehe auch Tabelle 4-1).
|28|Fallbeispiel
Milad
Der fünf Jahre alte Milad aus Syrien habe die ersten Jahre seines Lebens allein mit der Mutter in einem großen Haus verbracht. Der Vater habe damals untersagt, dass seine Frau sich draußen zeige und sei teilweise auch gewalttätig gewesen. Auf langem und beschwerlichem Weg sei der Mutter über die Balkanroute die Flucht gelungen. Oft habe sie ihrem Sohn den Mund zuhalten müssen, da er sonst nicht habe leise sein können. Im Kinderangebot der Unterkunft fällt der Junge durch ÜZ auf: Bei geringsten Anlässen, z. B. Berührungen von anderen Kindern, schreit und weint er, schlägt um sich und ist nicht zu beruhigen. In Überforderungssituationen, z. B. bei kleinen Spaziergängen im Kinderangebot ohne Mutter, läuft er weg und kotet teilweise ein.
Kommentar: Die sich über eine lange Zeit wiederholenden, potenziell traumatisierenden Erlebnisse (eingesperrt sein, Fluchtereignisse) stellen ein hohes Risiko für das Auftreten einer Traumafolgestörung dar. Die ausgeprägten ÜZ sprechen für das Vorliegen einer PTBS. Der Junge benötigt viel Sicherheit im Umfeld und ein langsames Heranführen an Gruppensituationen mit mehreren Kindern und andere Herausforderungen im Alltag.
Katharina Bernhardt
In einer kürzlich erstellten Übersichtsarbeit unserer Arbeitsgruppe mit 33 Studien und insgesamt 3628 Klein- und Vorschulkindern mit Fluchterfahrung konnten wir hohe Raten an Traumafolgestörungen sowie internalisierenden und externalisierenden Symptomen aufzeigen. Darüber hinaus zeigt sich in der Zusammenfassung der Studien, dass Erfahrungen von erzwungener Flucht und die damit verbundenen Belastungen die sich entwickelnden kognitiven Fähigkeiten von Kleinkindern zu beeinträchtigen scheinen (Bernhardt et al., under review(b)), was sich laut Studienlage in geringeren Leistungen der geflüchteten Kinder in Entwicklungs-, Sprach-, Lern- und Intelligenztests manifestiert (Dybdahl, 2001; Hahnefeld et al., 2022b; Mares & Jureidini, 2004; Pellizzoni et al., 2020; Wolff et al., 1995). Zudem werden bei Kindern mit Fluchterfahrung vermehrt Probleme mit Gleichaltrigen, geringeres prosoziales Verhalten, Veränderungen im Spielverhalten und häufiger unsichere Bindungsmuster berichtet (Buchmüller et al., 2018, 2020; Busch et al., 2021; Çiçekoğlu et al., 2019; Khan et al., 2019; Lembcke et al., 2020; Mares & Jureidini, 2004; Min et al., 2020; Sadeh et al., 2008; Zwi et al., 2018).
Insgesamt waren vor allem die Kinder schwerer betroffen, die nach Ankunft im Zielland wiederholt weiteren Stressfaktoren wie längerem Aufenthalt in Sammelunterkünften für Flüchtlinge, Trennung von Familienmitgliedern oder eingeschränktem Zugang zu Kinderbetreuungs- und Schuleinrichtungen ausgesetzt waren. Alle in unserem Review eingeschlossenen Studien, die in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete oder Zentren für Immigrationshaft (hauptsächlich USA, Australien) durchgeführt wurden, berichteten von Einschränkungen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und zeigten, dass das Risiko für nachteilige Entwicklungsverläufe bei Kindern mit Fluchterfahrung steigt, je länger diese Kinder in solchen Umgebungen leben (Mares & Jureidini, 2004; Ekblad, 1993; Zwi et al., 2018; Dybdahl, 2001). So zeigten Kinder, die in Immigrationshaft lebten, die höchste Prävalenz von psychologischen und entwicklungsbedingten Problemen (Min et al., 2020; Mares & Jureidini, 2004; Hanes et al., 2019), auch im Vergleich mit geflüchteten Kindern, die einer ähnlich hohen Rate an aversiven Erfahrungen vor der Flucht ausgesetzt waren (Zwi et al., 2018). Eine längere Zeit im Zielland bei festem Aufenthaltsstatus erwies sich hingegen als Schutzfaktor für die psychische Gesundheit von jungen Kindern (Zwi et al., 2017). Es ist davon auszugehen, dass sich für Familien mit sicherem Aufenthalt das Umfeld im Zielland zunehmend besser stabilisiert und sich mehr Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe eröffnen, zum Beispiel durch kompletten Zugang zu Gesundheitsversorgung, Betreuungseinrichtungen und formaler Bildung für die Kinder. Daher werden positive Effekte auf die kindliche Entwicklung vermutlich nicht primär durch die Dauer, sondern hauptsächlich durch den Kontext beeinflusst, in welchem die Zeit im Zielland verbracht wird.
In Übereinstimmung mit der bisherigen Studienlage hat sich auch in unserer klinischen Erfahrung in der Interdisziplinären Sprechstunde für Kinder mit Fluchterfahrung (ISKF) und den |30|begleitenden Studien gezeigt, dass drei- bis sechsjährige geflüchtete Kinder deutliche Entwicklungsrückstände hinsichtlich Lernen und schulischer Vorläuferfähigkeiten zeigen (Hahnefeld et al., 2022b) und aus dem Betreuungsumfeld bei gleicher allgemeiner Symptombelastung häufiger massive Verhaltensauffälligkeiten im Sinne überlebensfokussierter Zustände (ÜZ) berichtet werden als bei Kindern einer Kontrollgruppe ohne Fluchterfahrung (Hahnefeld et al., 2021). Im Rahmen unserer ergänzenden Entwicklungsuntersuchungen bei 18 bis 48 Monate alten Kindern fielen auch bei den jüngeren Kindern bei altersgerechter Grobmotorik Entwicklungsrückstände bei den weniger reifungs- und stärker förderabhängigen Fähigkeiten in den Bereichen Feinmotorik und Kognition auf (Uppendahl et al., 2022). Die im Durchschnitt der internationalen Perzentilkurven verlaufende Größen- und Gewichtsentwicklung spricht dabei generell für ein gutes Gedeihen der Kinder mit Fluchterfahrung, wobei sich bei genauerer Betrachtung zeigt, dass 26 % der Kinder in unserer Stichprobe außerhalb der Perzentilkurven der internationalen Referenzstandards angesiedelt sind. Da 16 % unterhalb der 3. und 10 % oberhalb der 97. Perzentile liegen, sollte in größeren Stichproben überprüft werden, ob sich bei Kindern mit Fluchterfahrung vermehrt Hinweise auf Mangel- und/oder Fehlernährung zeigen (Fleischmann et al., 2022).
Ein chronisch erhöhtes Stresslevel