14,99 €
Was bedeutet es, introvertiert zu sein? Introversion. Viele Menschen denken bei diesem Begriff an Schüchternheit, einen Mangel an sozialer Kompetenz, vielleicht sogar Einsamkeit. Wenige Menschen denken bei diesem Begriff an Saskia Fröhlich. (Bis jetzt.) Die Stand-up-Comedienne begeistert ihr Publikum mit notorisch schlechter Laune – und auf ihren Social-Media-Kanälen mit noch schlechteren Kochskills. Dass sie introvertiert ist, dürften allerdings die wenigsten vermuten. Aber wie lebt es sich eigentlich als introvertierter Mensch? Und welche Besonderheiten gehen mit der angeborenen Prägung in Richtung Intro, Extro oder irgendwo dazwischen einher? Als Saskia ihre eigene Introversion erkannte, beschäftigte sie sich intensiv mit diesen und vielen weiteren Fragen – und fand heraus, dass extrem viel Unsinn zu diesem Thema kursiert. (Bis jetzt.) In diesem Buch stellt sich Saskia dem Kampf gegen Unwahrheiten und Halbwissen, erzählt anhand kurzer Anekdoten vom Dasein als Introvertierte und vermittelt das Wichtigste, was man über Introversion wissen muss. Nach der Lektüre sollen Extros mehr Verständnis für Intros haben – und Intros mehr Verständnis für sich selbst. Sie sind schließlich nur introvertiert, na und?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 290
SASKIA FRÖHLICH
MIT MAXIMILIAN WINKEL
Lieber nur dabei statt mittendrin
Saskia Fröhlich macht Comedy – auf Stand-up-Bühnen, in den sozialen Medien und überall dazwischen. Außerdem ist sie introvertiert. Da stellt sich die Frage, ob das nicht für Herausforderungen sorgt? Die Antwort lautet: ja. Denn wenn man Comedy auf Stand-up-Bühnen und in den sozialen Medien macht, hat man allein berufsbedingt mit sehr vielen Menschen zu tun. Das ist als Introvertierte nicht immer leicht. Und mit „nicht immer“ ist gemeint: eigentlich ständig.
Doch Saskia hat sich den Herausforderungen ihrer Introversion nicht kampflos ergeben, sich über ihre introvertierte Prägung informiert und gelernt, dass das Thema nicht nur ziemlich spannend ist, sondern auch ziemlich oft missverstanden wird. Um ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit der Welt zu teilen und eine Lanze für alle Introvertierten zu brechen, vermittelt sie in diesem Buch alles, was du über Introversion wissen musst.
Saskia Fröhlich, geboren 1996, ist Stand-up-Comedienne und Content Creatorin. Das Markenzeichen der gebürtigen Ruhrpottlerin ist ihr Schlechte-Laune-Humor. Damit begeistert sie nicht nur jede Menge Follower:innen auf Social Media, sondern auch deutschlandweit das Publikum bei Comedy-Shows – sarkastisch, ehrlich und ohne Hemmungen.
Bevor sie sich für die Comedy-Karriere entschied, studierte sie BWL (was sie sich nach eigener Aussage hätte sparen können) und arbeitete bei einem überregional aktiven Escape-Game-Betrieb – zusammen mit ihrem Co-Autor:
Maximilian Winkel, geboren 1993, ist studierter Germanist und Historiker und lebt im Ruhrgebiet. Er arbeitet (weiterhin) als Rätselautor für besagtes Escape-Game-Unternehmen und konzipiert Rätsel und Storylines für zahllose Online-Escape-Spiele, Outdoor-Abenteuer und klassische Live-Escape-Rooms. (Als Co-Autor schlägt er sich laut Saskia auch sehr gut.)
01
PARTY-ODYSSEE, ERSTER AKT
02
PARTY-ODYSSEE, ZWEITER AKT
03
KONFERENZ IM KOPF
04
MYTHEN UND FAKTEN
05
DER EXTRO-EX
06
INTROVERTIERT ALS KIND
07
MISSION: 2-RAUM-DG
08
DAS SMALLTALK-LABYRINTH
09
DATING: DER INTRO, DER EXTRO UND DER AMBI
10
DIE VIER BEZIEHUNGSPHASEN
11
STAND-UP STATT START-UP
12
DIE KLASSENCLOWN-FRAGE
13
DER ULTIMATIVE INTRO-GUIDE
14
INTROVERTIERT, NA UND?
DANKSAGUNG
QUELLENVERZEICHNIS
Für alle,die auch lieber nur dabei statt mittendrin sind.
»LEG MAL ’NEN ZAHN ZU.«
Niklas drängelt hinter mir wie ein ungeduldiger Autofahrer, es fehlt nur noch die Lichthupe.
»Schalt du mal ’nen Gang runter.«
Während er die Stufen mit Leichtigkeit erklimmt, setze ich meine Schritte langsam und kontrolliert.
Je mehr Zeit du im Treppenhaus verbringst, desto später betrittst du die Party, denke ich, clever, Saskia, sehr clever. Und wenn es überhaupt die Chance auf einen guten Abend gibt, dann nur in meinem Tempo.
Wir erreichen unser Ziel: Hinter dieser unscheinbaren Wohnungstür wird mich die Party-Odyssee erwarten. Lieber wären mir ein magisches Portal und die Flucht in eine andere Welt. Am liebsten eine ohne soziale Verpflichtungen.
Es gibt ja zwei Sorten von Menschen: jene, die freiwillig auf Partys gehen. So wie Niklas. Und Dumme, die sich überreden lassen mitzukommen. Warum habe ich zugesagt?
Ich kenne bisher niemanden aus Niklas’ Freundeskreis. Und das könnte meinetwegen auch noch ein paar Jahre so bleiben.
»Worauf wartest du?« Niklas deutet auf die Klingel.
Dass dich Blitzdurchfall erwischt und wir einen Last-Minute-Abgang machen. Bevor mir die Gesichtszüge entgleiten, zwinge ich meine Mundwinkel wieder nach oben und drücke mit zitterndem Finger die Klingel, als betätigte ich den roten Knopf eines Bombenentschärfungssets. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Bombe entschärft. Aber es ist bestimmt leichter als das, was mir bevorsteht. Dumpfe Musik und fröhliches Geplauder dringen durch die Tür. Ganz schön laut. Wie stehen die Chancen, dass ein gereizter Nachbar die Polizei ruft und die Hausparty aufgelöst wird? Ich überprüfe die Klingel des Nachbarn: Michael Hoffmann. Das klingt nach Sandalen-Socken-Kombi, Feinripp-Unterhemd und starker Armbehaarung. Bestimmt eine empfindliche Person. Komm schon, Michael, tu es für mich … Oder meinetwegen auch für dich … Und deinen erholsamen Boomer-Schlaf.
Im Zweifel kontaktiere ich die Polizei selbst und gebe mich als Herr Hoffmann aus. Ich höre mich schon mit tiefer, männlicher und auf jeden Fall authentisch klingender Stimme sagen: »Guten Abend, Herr Polizeiwachtmeister. Extrem extrovertierte Personen feiern hier eine extrem extrovertierte Party. Greifen Sie ein, schnell!« Das reicht, Saskia. Gib dem Abend eine Chance. Stell dich einfach nicht dumm an, und alles wird gut.
Noch bevor uns geöffnet wird, schiebe ich mich hinter Niklas. Ich bin doch nicht irre und begrüße die Person auf der anderen Seite als Erste. Ich erinnere mich an die vierjährige Saskia, die sich immer und überall hinter dem Bein ihrer Mutter versteckte, um sämtliche Begegnungen mit Fremden zu vermeiden. Fünfzehn Jahre später, und ich habe mich kein Stück weiterentwickelt, wow. Niklas sieht mich fragend an. »Warum so schüchtern?« Ich geb’ dir gleich ›schüchtern‹. Er wippt vorfreudig im Takt der dumpfen Bässe, und eine dunkle Locke fällt ihm ins Gesicht. Reflexartig streicht er sie zurück. Oh nein, was wäre nur, wenn seine Frisur für die Party nicht perfekt säße? Müssten wir dann etwa sofort die Flucht ergreifen? Das wäre ja schade. (Am liebsten würde ich ihn in den Schwitzkasten nehmen, um seine Haare zu zerzausen. Aber meine Mama hat mir immer gesagt, ich soll mich nur mit Schwächeren anlegen.)
Die Tür schwingt quietschend auf. »Niklas, schön, dass ihr da seid!« Eine blonde Mittzwanzigerin umarmt meinen Freund, als sei er der lang ersehnte Main Act der Party. »Und du musst Saskia sein. Freut mich, ich bin Sarina.« Als sie sich auf Schlagdistanz genähert hat, strecke ich ihr die Hand entgegen. Im selben Moment legt sie die Arme um mich und zieht mich an sich heran. Ich ramme ihr meine ausgestreckte Hand in den Bauch. Bravo, Saskia. Fehlschlag Nummer 1. Und das innerhalb der ersten dreißig Sekunden. Eventuell ein neuer Rekord. Sie überspielt mein Missgeschick mit einem Lachen und signalisiert mir: Lass uns diese unangenehme Situation einfach vergessen. Aber da hat sie die Rechnung ohne mich gemacht, denn ich werde noch in fünf Jahren darüber nachdenken. Dieser Moment kommt in meine Worst-of-Gedächtnisschublade. (Ich brauche bald einen neuen Rollcontainer, der letzte quillt schon über.)
Ich werde mich hier immer mal wieder zu Wort melden und mit dir zusammen die Erfahrungen der Damals-Saskia verdauen. Die Damals-Saskia hätte im Leben nicht davon geträumt, einmal die Akten ihrer Worst-of-Gedächtnisschublade offenzulegen. Aber damit du nicht nur von meinen damaligen Erfahrungen überflutet wirst und dir denkst: »Was zur Hölle ist denn bloß los mit ihr?«, werde ich das Erzählte zwischendurch aus meiner heutigen Perspektive einordnen und Hintergrundwissen zum Hauptthema des Buchs einstreuen: Introversion.
Wahrscheinlich wirst du bereits eine Vorstellung davon haben, wie Introvertierte sind – ob diese Vorstellung stimmt, finden wir im Verlauf des Buchs gemeinsam heraus. Also aufmerksam lesen, das ist alles klausurrelevant.
Die Party, zu der Niklas und ich eingeladen waren, liegt mittlerweile einige Zeit zurück – und in der Zwischenzeit hat sich bei mir viel getan. Zum Beispiel bin ich älter und um einiges klüger. Zumindest im Hinblick auf meine Introversion.
Von meinem neu gewonnenen Wissen profitiere aber nicht nur ich, sondern – über den Verlauf des Buchs – hoffentlich auch du. Dabei ist vollkommen egal, ob du eher intro- oder extrovertiert bist. Ich richte mich bewusst an alle, da ich zwischen beiden Ausprägungen vermitteln und ein besseres Verständnis für Introversion schaffen möchte. Vielleicht wird man in zweihundert Jahren von mir als »Saskia Fröhlich, Botschafterin für Introversion« sprechen. Vielleicht auch nicht. Sehr wahrscheinlich nicht. Wichtig ist allerdings, dass du – falls du introvertiert bist – nicht erwarten solltest, durch dieses Buch extrovertiert (allgemein bekannt als: offener, geselliger und kontaktfreudiger) zu werden. Vielleicht wirke ich in meinen Videos auf Instagram, TikTok und YouTube extrovertiert auf dich, vielleicht hältst du mich bei einem Stand-up-Auftritt für aufgeschlossen und kommunikationsfreudig, oder vielleicht kennst du mich weder von Social Media noch von Stand-up-Auftritten. Falls Letzteres auf dich zutrifft, dann nimm dir jetzt bitte fünf Minuten Zeit, um meine Videos auszuchecken und mir auf allen Social-Media-Kanälen zu folgen. Ich werde das überprüfen. (Ich weiß nur noch nicht wie.)
Nun, wo du wieder zurück bist, können wir weitermachen:
Intro- sowie Extroversion sind angeborene Persönlichkeitsmerkmale. Weder kann man sie »überwinden«, noch sollte man sie überwinden wollen. Mein Ziel ist deshalb, dich bestmöglich darüber aufzuklären, so dass du im Alltag entweder dich selbst oder eben die Gegenseite besser verstehst. Die angesprochene Worst-of-Gedächtnisschublade gehört zu meiner Grundausstattung als Introvertierte. Unangenehme Situationen, Fettnäpfchen und uneindeutige soziale Interaktionen klebt mein Gehirn sofort ins mentale Fotoalbum. Und sobald ich Momente friedlicher Ruhe genießen könnte (die für Introvertierte die Quelle aller Energie sind), beginnt mein Kopf ungefragt damit, durch das Album zu blättern. Stichwort: Overthinking. Vielleicht kennst du das. Du liegst abends im Bett, willst schlafen und plötzlich fällt dir aus dem Nichts ein, wie du damals in der achten Klasse vorne an der Tafel laut gepupst hast. Und ich werde dir jetzt nicht verraten, ob diese Situation ebenfalls Teil meines besagten Fotoalbums ist. Denn dem Thema Overthinking widme ich mich erst im dritten Kapitel KONFERENZ IM KOPF. Andererseits baue ich das ganze Buch auf eigenen Erfahrungen und nicht wenigen Peinlichkeiten aus meinem Leben auf – man könnte also auch sagen: Der gesamte Text ist eine Form von Overthinking.
Wie heutzutage mein Umgang damit aussieht? Bevor wir das herausfinden, müssen wir erst einmal zurück zur Party, die hat nämlich gerade erst angefangen. Also werfen wir einen weiteren Blick in das Fotoalbum meiner besten Fehltritte. Ich freue mich schon.
Wir betreten den Flur der Altbauwohnung. Über den Boden verteilen sich rund zwanzig Paar Schuhe. Sind wir etwa die Letzten? Wie oft wird meine ausgestreckte Hand wohl noch mit Rippen kollidieren? Widerwillig stelle ich mich schon mal auf weitere Umarmungen ein. Hauptsache, hier lauern keine Psychopathen, die mich mit Küsschen links und rechts überfallen wollen und –
»Saskia, war das bei euch genauso?«
Fuck. Hat sie nicht mit Niklas gesprochen? Kann sie da wirklich erwarten, dass ich zuhöre?
»Genau.« Ich lächle und bete, dass das bei uns tatsächlich genauso war. Was auch immer das sein soll …
Niklas nickt. »Deine Wohnung war tatsächlich etwas schwer zu finden, Sarina.« Mein Gebet wurde erhört. Amen.
Sarina führt uns durch den Flur. Unterwegs halte ich Ausschau nach dem Safe-Room – oder wie andere es nennen: Badezimmer. Tut mir leid, Sarina, die nächsten fünf Stunden verbringe ich auf der Toilette. Üble Blasenentzündung. Richtig übel. So mit Blut und allem. Und damit meine ich nicht, dass ich in Wahrheit fünf Stunden auf dem Deckel sitzen und Candy Crush spielen werde, versprochen.
Da ich das Bad auf Anhieb nicht ausfindig mache, bleibt nur der harte Weg: fragen. Ich zähle innerlich bis drei. Dann bis sechs. Schließlich bis zwanzig, als ich mich endlich traue: »Ehm –«
»Und hier ist das Wohnzimmer.« Sarina lässt uns den Vortritt. »Ich bin kurz in der Küche.«
Wen interessiert deine kleine scheiß Drecksküche, wo ist das verdammte Bad? Dann suche ich es eben selbst.
Ich drehe mich zu Niklas: »Du, Schatz, ich bin mal schnell –« – »Ach, guck mal, wer da ist.« Er packt meine Hand und schleift mich durch den zwanzig Quadratmeter großen Raum, in dem sich gefühlt 64 Leute tummeln und beinahe stapeln (es sind zwölf, und sie stehen ganz normal nebeneinander).
Ich lande in der pulsierenden Mitte des bunten Treibens. Umgeben von der lebendigen Energie einer ausgelassenen Gruppe, verstärkt sich mein Gefühl von Distanz – eine unsichtbare Blase trennt mich von der äußeren Welt.
Warum zittern meine Knie so?
Ein Polohemd-Typ steht an der Musikanlage und macht sich am Regler zu schaffen. Die Bässe hämmern, der Boden vibriert. Darum zittern meine Knie so. Oder?
»Spinnt ihr?« Eine junge Frau senkt die Musik wieder auf Zimmerlautstärke. »Wollt ihr, dass die Nachbarn die Polizei rufen?« Ja, ja, oh Gott, ja!
Niklas navigiert sich mühelos durch das Gewimmel und begrüßt seine Freunde. Bei den Frauen: Umarmungen. Bei den Männern: vor Testosteron triefende Handschläge. Ich ringe mir ein gezwungenes Lächeln nach dem nächsten ab. Kein Problem, Schatz. Du musst mich niemandem vorstellen. Das kann ich problemlos selbst übernehmen. Kinderspiel. Ha ha.
Ich klammere mich an Niklas. Meine wichtigste Regel: Immer derselben Person Hallo sagen, die Niklas zuletzt begrüßt hat. Falls nötig umarmen. Dann eine meiner sorgfältig vorbereiteten Begrüßungen nutzen: »Hey, ich bin Saskia« – okay, mehr habe ich noch nicht.
Die ersten Minuten laufen überraschend gut. Nach dem fantastischen Start mit Sarina folgen – sage und schreibe – drei weitere Personen:
1.Hannah, durchschnittliche Umarmung, wenig Armeinsatz, viel Brustkontakt.
2.Person zwei, ich bin noch damit beschäftigt, mir den ersten Namen zu merken.
3.Ben oder Paul, es könnte auch Jan gewesen sein … verdammt! Er gibt mir einen Klaps auf den Rücken?! (Fast hätte ich ein Bäuerchen gemacht.)
Eine Stimme tönt aus dem Flur: »Wer hat Bock auf Bierpong?«
Die Gruppe schießt auseinander wie die Sterne einer expandierenden Galaxie, und ich stehe da, als hätten mich unsichtbare Anziehungskräfte aus Niklas’ Umlaufbahn gerissen. Ich drehe mich um und tatsächlich: Er wurde vom Sog der Party verschluckt. Sein Parfüm hängt noch in der Luft. Er ist jetzt an einem besseren Ort. Nämlich nicht HIER! (Wahrscheinlich beim Bierpong.)
Die laute Musik, die lauten Menschen und ihr lautes Geplauder lösen in mir einen Fluchtreflex aus. Ich suche nach einer Möglichkeit, mich ungesehen und ungehört aus der Menge zu manövrieren. Aus dem Nichts taucht eine Frau auf und hält mir ihre Hand hin. Na gut, mit einem Handschlag kann ich arbeiten, Kerstin. (Sie sieht aus wie eine Kerstin.)
»Hi, ich bin Juliana.« Nah dran.
»Du bist Niklas’ Freundin, Saskia, richtig?«
»Hey, ich bin Saskia.« Prima, Fehlschlag Nummer zwei. Ich sollte mir die vorbereiteten Begrüßungen echt abgewöhnen. Juliana lächelt darüber hinweg, aber meine Worst-of-Gedächtnisschublade füllt sich weiter.
»Weißt du zufällig, wo die Toilette ist?«, frage ich.
»Ne, ich bin auch zum ersten Mal hier. Frag mal Sarinas Freund, Joscha. Der steht da drüben.«
Sie deutet vage in den Raum. Ach, danke für diese präzise Beschreibung. Jetzt weiß ich, dass Joscha einer von allen ist. Ich erkläre die Vorstellungsrunde für beendet und widme mich wieder Plan A: Finde das verfluchte Bad auf eigene Faust und weiche dabei allen Personen aus, deren Gesichter du noch nicht kennst. Ganze drei Sekunden gelingt mir das, doch schon im Flur begegnet mir die nächste fremde Person.
»Hey, ich bin Saskia«, rutscht es mir raus. Macht der Gewohnheit.
»Ich weiß, ich bin Timon, wir haben uns gerade Hallo gesagt?« Ah, Person zwei.
»Kannst du mir sagen, wo die Toilette ist?«
Er schüttelt den Kopf und ich husche an ihm vorbei. Okay, freie Sicht auf drei verschlossene Türen. Ich steuere die erste an. Küche. Verdammt.
»Saskia, perfekt. Verteilst du die schon einmal im Wohnzimmer?«
Sarina hält mir ein Tablett mit zwanzig Waldmeister-Shots hin. »Ich komm’ gleich mit der zweiten Ladung nach.«
Sag einfach: ›Sorry, aber ich muss superdringend auf die Toilette.‹
»Klar, gerne.«
Unterwegs wäge ich ab, ob ich die zwanzig Shots auch allein schaffe – dann bliebe mir das Wohnzimmer erspart. Und sobald ich mich in den nächstbesten Abfalleimer übergebe, verrät man mir bestimmt, wo die Toilette ist. Aber was sage ich Sarina? ›Da bin ich wieder, die Shots sind schon weg. Und wenn du mir jetzt noch ein Tablett gibst, dann klatsche ich es dir ins Gesicht.‹
Im Wohnzimmer versuche ich, die Aufmerksamkeit der Meute auf – nein, nein, bloß nicht auf mich – auf die Shots zu richten. »Möchte jemand –« Meine Stimme bricht. Voice-Crack. Ich schaue beschämt in die Runde. Keiner nimmt mich wahr, ich bin Luft. »Möchte jemand einen Shot?« Nichts.
Sarina stolziert selbstbewusst mit einem zweiten Tablett an mir vorbei. Darauf Shot-Gläser mit Erdbeerlikör.
»Leute, wer will noch mal, wer hat noch nicht?«
Hätte ich gewusst, dass man hier lauter als in einer Bibliothek sprechen darf, hätte ich es trotzdem nicht getan.
Jetzt fallen sie über uns her, alle Hände greifen zu. Als sie fertig sind, ist das Tablett leer. Meine Chance. Mission: Badezimmer. Auf geht’s.
»Warte, wir stoßen noch an.« Niklas ist zurück und drückt mir einen Shot in die Hand.
Eigentlich sollte ich sauer auf ihn sein, weil er mich einfach alleingelassen hat. Aber er ist die einzige Person, die ich auf dieser Party kenne (leider) – und das ist immer noch besser als die ganzen Fremden hier.
Also vergeben und vergessen. Aber ab jetzt lasse ich dich nicht mehr aus den Augen.
»Prost.« Ben, Paul oder Jan – wie heißt der denn jetzt? – stößt mit mir an. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und schlucke das brennende Grün. Danach ist Niklas verschwunden. Ich habe nur EINE SEKUNDE nicht hingesehen. Wahrscheinlich ist der Penner gerade im Bad.
Beziehungstherapeuten sagen doch immer, Kommunikation sei der Schlüssel. Übersetzt heißt das: Wenn du weißt, wo die Toilette ist, aber es für dich behältst, ist das schlimmer als Fremdgehen. Möge der Blitzdurchfall ihn treffen!
Ich realisiere, dass Ben/Paul/Jan ebenfalls vom Erdboden verschluckt wurde. Pro: kein Smalltalk. Kontra: Ich stehe völlig lost in diesem Wohnzimmer herum. Meine einzige Bezugsperson löst sich ständig in Luft auf, und auf der Suche nach dem Bad fühle ich mich wie in der Truman Show. Alle anderen wissen Bescheid, nur mich lässt man zur allgemeinen Unterhaltung im Dunkeln tappen. And the Award for blanker Horror goes to: Saskia. Neben mir unterhält sich ein Typ mit Sarina, schaut dabei zu mir herüber und runzelt die Stirn.
Habe ich dumm geguckt? Habe ich etwas im Gesicht? Sieht es merkwürdig aus, dass ich allein rumstehe? WAS DENN?
Die aufkommende Panik löst meinen Wirke-beschäftigt-Reflex aus. Ich zücke mein Handy. Wie haben Introvertierte das wohl in der Antike gemacht? »Ehm, sorry, ich bin gerade beschäftigt. Ich studiere diese Steintafel, die ich praktischerweise immer mit mir herumschleppe.« Das ist doch albern. Also sowohl die Steintafel als auch mein billiger Handy-Trick. Statt mitten im Wohnzimmer kann ich genauso gut im Bad durch meine Apps scrollen, als gäbe es zwischen den bunten Icons etwas Interessantes zu entdecken.
Hier sehen wir unsere junge Introvertierte in feindlicher Umgebung. Inmitten des Extro-Dschungels hat sie sich in das Revier einer Herde Extrovertierter verirrt und läuft Gefahr, als Eindringling enttarnt zu werden. Für die rivalisierende Spezies wäre sie ein gefundenes Fressen. Doch was ist das? Sie begibt sich an den Rand der Herde und ahmt das Verhalten einzelner Extrovertierter nach. Ein riskantes Manöver – ob der Trick auffliegen wird? Chamäleonartig hält sie ihre Tarnung aufrecht, während sie sich langsam aus dem Geschehen zieht. Das war knapp. Für den Moment scheint sie sich in Sicherheit gebracht zu haben. Heute Nacht gehen die Extrovertierten womöglich hungrig schlafen. Schalten Sie morgen wieder ein, wenn es heißt: Abenteuer Introversion – der Kampf ums Überleben.
Zum gefühlt zehnten Mal stürme ich in den Flur und lande in einem Rücken, der den Weg zur nächsten Tür versperrt. Er dreht sich um und mich blendet ein freundliches Lächeln. Dann sagt er die magischen Worte: »Sorry, ich stehe hier nur fürs Klo an.« Er hält mir die Hand hin. »Wir kennen uns, glaube ich, noch nicht. Ich bin Elias.«
»Saskia.«
Er schaut mich fragend an.
Worauf wartet er? Der Ball liegt bei ihm.
»Eh, die Freundin von Niklas«, ergänze ich.
Die Glühbirne über seinem Schädel leuchtet auf.
»Ah, cool, dich mal kennenzulernen. Beim letzten Mal hat es ja leider nicht geklappt.«
Beim letzten Mal hatte ich ›Kopfschmerzen‹. (Sie waren vorgetäuscht.)
»Ja, superschade.«
Von wegen.
»Niklas hat erzählt, dass euch eine gemeinsame Freundin verkuppelt hat?«
Meine Alarmglocken springen an. Verwickelt mich Elias gerade etwa in … wie nennt man das noch mal … SMALLTALK? Ohne meine Einwilligung. Übergriffig.
»Genau.« Ich frage mich, ob ich dazu imstande bin, auch Antworten mit mehr als zwei Silben zu geben. Dann probiere ich mal mein Glück: »Also, das war eine Arbeitskollegin von mir, die mit Niklas zur Schule gegangen ist.«
Damit dürften hoffentlich alle offenen Fragen geklärt sein. Aber Elias setzt das Verhör gnadenlos fort:
»Wo arbeitest du denn?«
Das geht dich gar nichts an.
»Ach, das ist nur so ein Minijob. Eigentlich studiere ich BWL.«
Bevor Elias weiter seinem Fragenkatalog folgen kann, gehe ich zum Gegenangriff über. Ist schließlich die beste Verteidigung. Und wenn ich Glück habe, ist er genauso redefreudig wie Niklas. Dann setzt er das Gespräch fort, ohne dass ich auch nur ein einziges Wort beitragen muss.
»Was machst du denn so? Und woher kennst du Niklas?«
Während seines Monologs gelingt es mir nur unter größter Anstrengung, dem Faden zu folgen. Sobald er eine Pause macht, steigt mein Puls. Red weiter. Meine Energie reicht gerade noch für »Ja«, »Mh« und Nicken. Tot umfallen wäre auch eine Option.
Ich, die Jetzt-Saskia, habe in den letzten Jahren viel über meine Introversion gelernt, und in der Rückschau verstehe ich manches besser. Du denkst, jetzt kommt ein Aber? Dann liegst du vollkommen richtig. Situationen wie die mit Elias fallen mir nämlich noch immer nicht leicht. Smalltalk ist mein absoluter Endgegner. Natürlich will ich nicht unhöflich wirken, aber verlangt der Anstand wirklich immer direkt ein zehnminütiges Gespräch? Noch dazu spontan? Was ist aus dem guten alten Hallo-und-Tschüss geworden? Und seit wann ist Wegrennen keine Option mehr? (Petition folgt.)
Für mich ist Smalltalk wie eine Waage, bei der ich das Gewicht meines Gegenübers immer perfekt ausbalancieren muss. Was ist die richtige Frage, um das Gespräch nicht abzuwürgen, aber gleichzeitig eine endlose Unterhaltung zu vermeiden?
»Bist du gut hergekommen?«
»Was gibt’s Neues?«
»Hast du auch schon einmal eine Leiche gesehen?«
Warum sich die »kleinen Gespräche« für mich auch wie ein Irrgarten ohne Ausgang oder Ziel anfühlen können, dessen Struktur sich zudem permanent verändert, erkläre ich dir im Kapitel SMALLTALK-LABYRINTH.
Endlich öffnet sich die rettende Badezimmertür. Niklas kommt heraus. »Was ziehst du denn schon wieder für ’ne Fresse?«
Mit einem Mal wird es sehr still im Flur.
›Niklas, wir kommen nun zur ersten Frage. Für fünfzig Euro wollen wir wissen: Ihre introvertierte Freundin ist auf einer Party völlig überfordert. Wie reagieren Sie?
A. Ich frage sie in einem ruhigen Moment, wenn es niemand mitbekommt, ob alles in Ordnung ist.
B. Ich stelle sie vor anderen Menschen bloß und bin so unsensibel wie möglich.‹
›Es ist B), ganz eindeutig.‹
›Glückwunsch, das sind die ersten fünfzig Euro für den Freund des Jahres.‹
Ich lasse seinen fiesen Spruch kommentarlos über mich ergehen, die Klügere gibt schließlich nach. Außerdem möchte ich ihm nicht noch eine Chance bieten, mich vor allen zu blamieren. Denn das schaffe ich auch ganz allein. Ha. Emanzipation, Baby!
»Ich muss einfach nur aufs Klo.«
»Ich seh’ doch, dass irgendwas ist.«
In deiner Glaskugel, oder wo?!
»Alles gut. Mach dir keinen Kopf.«
Und nerv mich nicht.
»Hast du dich überhaupt schon allen vorgestellt oder spielst du wieder das stille Mäuschen?« Er lehnt sich vor und spricht leise genug, dass die anderen es nicht hören.
»Die Leute beißen nicht.«
Danach verschwindet Niklas in Richtung Wo-auch-immer. Ich realisiere, dass ich für den restlichen Abend auf mich allein gestellt sein werde. Ich MUSS in dieses Badezimmer.
Elias lächelt mich verlegen an. »Ich geh’ mal eben.« Dann schlüpft er ins Bad. Hinter mir taucht Juliana auf.
Na toll.
»Sieht so aus, als hätten wir nun beide das Badezimmer gefunden.«
Meine Energie reicht für ein Lächeln. Elias braucht zum Glück nicht lange. Ich verschließe die Tür und sinke auf den Badewannenrand. Ein Blick aufs Handy verrät mir, dass seit unserer Ankunft gerade einmal dreißig Minuten vergangen sind. Wie lange wird Niklas wohl bleiben wollen? Vier Stunden? Fünf? Acht? Und ich bin jetzt schon am Ende.
Rückblende: elfte Klasse, Sportunterricht, Drei-Kilometer-Lauf. Zwanzig Minuten sollen nicht überschritten werden, alles darüber ist eine Fünf oder schlechter. Anstelle des üblichen Sportplatzes verlagert unser Lehrer die Stunde in den angrenzenden öffentlichen Park. Meine beste Freundin und ich nehmen an einer unbeobachteten Stelle eine Abkürzung. Mit einer Spitzenzeit von 15 Minuten ergaunern wir uns die Eins. Als könnten wir eine Viertelstunde lang in einem Tempo von zwölf Stundenkilometern rennen. Und als könnte ich einen ganzen Abend diese extrovertierten Leute ertragen. Wo ist die scheiß Abkürzung? Ich spähe aus dem Fenster. Wie viele Knochen man sich wohl beim Sprung aus dem dritten Stock bricht? Und ist ein gebrochenes Bein wirklich schlimmer als eine weitere Minute auf dieser Party? Ich wende mich vom Fenster ab. Mein Spiegelbild sieht wie jemand aus, den man dringend in den Arm nehmen sollte. Und ein Stück Schokolade könnte auch nicht schaden. Komm schon, Saskia. Du schaffst das! Ich richte mich auf, stemme meine geballten Fäuste in die Taille und hole tief Luft, bereit zum Kampfschrei. Dann flüstere ich: »Jetzt aktivier verdammt nochmal deine innere Lara Croft. Du bist stark, du kannst das, und du siehst gerade überhaupt nicht albern aus.«
Dann kommen die Tränen.
Wenn dir das bekannt vorkommt, beglückwünsche ich dich zu deiner sehr wahrscheinlich ebenfalls introvertierten Persönlichkeit. Wenn du dich hingegen fragst, was mit dieser Saskia nicht stimmt, dann wirst du am Ende des Buchs hoffentlich schlauer sein. In beiden Fällen darfst du für einen Moment durchatmen: Der erste Akt dieser Party-Odyssee ist geschafft. Und keine Sorge, im zweiten Akt wird es selbstverständlich schlimmer.
Wie man sieht, herrschte damals zwischen meiner Vorstellung eines entspannten Abends und der meines Freundes eine unüberwindbare Disproportionalität. Ja, die Jetzt-Saskia benutzt solche Fachbegriffe ohne Scheu, schließlich ist sie Autorin. Suchmaschinenverlauf: ›Was ist der Fachbegriff für »Missverständnis?« - Dispo … Disprolo … Dispropo-was?‹
(Scheiß drauf, copy-paste.)
Ich lasse natürlich keine Gelegenheit aus zu erwähnen, wie viel klüger ich heute bin. Zum Beispiel verstehe ich heute, dass mein Extro-Ex Niklas seine Energie aus Abenden wie diesen zieht. Er tanzt mit Freude auf allen Hochzeiten, unterhält sich für sein Leben gern mit Bekannten als auch mit Fremden und blendet im sozialen Rausch schnell alles Störende aus. Damals beispielsweise mich. Es dauerte daher nicht lange und mir ging ein Licht auf: Wir zwei waren in einem wesentlichen Punkt grundverschieden. Im Gegensatz zu mir war er nämlich potthässlich. Und außerdem extroviert.
Na gut, potthässlich stimmt vielleicht nicht ganz. Ich meine, warum hätte ich dann mit ihm zusammen sein wollen? Wegen seines Charakters? Ha ha. (Ihr müsst mich verstehen, das war damals ein unschlagbares Angebot: zwei rosarote Brillen zum Preis von einer, intensive und langanhaltende Tönung, negative Charaktereigenschaften werden dauerhaft ausgeblendet.)
Extroviert und introvertiert – diese Begriffe definieren mehr oder weniger den gesamten Inhalt dieses Buchs, deshalb gönnen wir uns vorab ein paar Basics: Der Psychologe Carl Gustav Jung prägte dieses sich gegenüberstehende Begriffspaar in den 1920–1930er Jahren. Vor dieser Zeit waren die Menschen einfach normal. Er schrieb es jedoch: »Extraversion/extravertiert« – also mit »a«. Heute akzeptiert aber selbst der Duden »extrovertiert« – mit »o« – als gängige Form. Und was der Duden akzeptiert, das akzeptiere auch ich. (Außer »das« Nutella, es heißt »die«!)
Mit Introversion meint er die Kerneigenschaft einer Person, die sich nach innen orientiert. Das bedeutet beispielsweise ein regelmäßiges Bedürfnis nach Ruhe, Zurückhaltung in sozialen Settings und wenig bis keine Lust auf diese Dreckskacke namens Smalltalk. (Oder einfach gesagt: Introvertierte traf der Corona-Lockdown in der Regel nicht so hart.) Die Extroversion bezeichnet das Gegenteil und somit gesprächigere, offenere und zum Außen hingewendete Persönlichkeiten. Extrovertierte benötigen daher mehr externen Input, wie Partys, zwischenmenschlichen Austausch oder Unternehmungen, die für neue Reize sorgen. Ich liebe es zwar auch, Neues auszuprobieren und mich abenteuerlichen Aktivitäten zu stellen, aber die Verarbeitung des Erlebten erfordert bei mir zumindest einen zeitweisen Rückzug. Für dieses Verhalten fehlt wiederum Extros – zumindest in meiner Erfahrung – häufig das Verständnis, da sie dieses Bedürfnis nicht kennen.
Bei meinen Schilderungen über die Party wurde sicher deutlich, wie sehr der Extro-Ex und ich uns unterschieden – für den Psycho-Doc wären wir perfektes Anschauungsmaterial gewesen. Vom Extro-Ex werde ich übrigens noch ausführlicher erzählen. Eine Sache möchte ich aber bereits vorwegnehmen: Die starken Unterschiede zwischen uns sorgten im Verlauf unserer gemeinsamen Zeit für immer schlimmere Konflikte, bis ich schließlich ins Grübeln geriet. Nicht nur über die Beziehung (die war hoffnungslos), sondern über mich. Ich fragte mich, was mit mir nicht stimmte. Auch das lag – unter anderem – am Extro-Ex (im Endeffekt sind Ex-Freunde doch sowieso schuld an allem). Er vermittelte mir nämlich häufig, dass etwas mit mir nicht richtig sei. Du erinnerst dich an die Situation vor der Toilette? »Was ziehst du denn schon wieder für ’ne Fresse?« Er verstand nicht, dass solche Party-Settings auf mich nicht genauso befreiend und stimulierend wirkten wie auf ihn. Sein Nicht-Verstehen äußerte sich in Vorwürfen und Fragen, die jeder Introvertierte kennt: »Wieso bist du so still? Warum guckst du so böse? Bist du mit Absicht so abweisend? – Leg das Messer weg!«
Allein die Erwartung, während einer sozialen Interaktion einen dieser typischen Sprüche zu hören, sorgte bei mir lange Zeit für enormen Druck. Du fragst dich jetzt, ob ich auf Sarinas Party noch mehr dieser Sprüche zu hören bekommen habe? Beispielsweise von Niklas? Ich will ja nicht spoilern, aber ein paar unangenehme Situationen werden im Kapitel PARTY-ODYSSEE, ZWEITER AKT noch auf uns warten. Wie hätte ich sonst das dritte Kapitel, in dem es um »Overthinking« geht, füllen sollen? Dass man als nach innen gekehrte Person eher zum Gedankenkarussell neigt, überrascht aber auch wohl niemanden (siehe meine Worst-of-Gedächtnisschublade).
Die gute Nachricht ist: Wenn man seine Introversion kennt und einen Umgang mit ihr findet, dann lassen sich zahlreiche Fallstricke im Extro-Dschungel umgehen. Man erreicht dieses Ziel leider nicht ohne Hindernisse. Also hol deine alte Machete aus dem Keller (hat doch jeder, oder?) und schärf die Klinge. Dieses Buch wird dir meine Hindernisse zeigen und wie ich sie überwunden habe. Der Rest liegt bei dir.
Mir gelingt ein besserer Umgang heute öfter als damals, denn glücklicherweise begegnete mir in den letzten Jahren immer wieder dieses magische Zauberwörtchen: Introversion. Es gab mir Antworten, die mich aus den Selbstzweifeln retteten. Wenn ich also heute auf diese Party zurückschaue, wird mir einiges klar. Zum Beispiel, dass die Trennung eine gute Entscheidung war (sorry, Niklas). Und worauf der gute Carl Gustav Jung hinauswollte, als er zwischen der »inneren Welt« und der »äußeren Welt« unterschied.
Die Begriffe Intro- und Extroversion markieren die sich gegenüberliegenden Enden einer Skala, auf der sich jeder Mensch wiederfindet. Viele kennen beide Seiten und haben sowohl intro- als auch extrovertierte Phasen oder Momente, da sie recht mittig auf der Skala liegen. Inzwischen bezeichnet man diese ausgeglichene Position landläufig auch als »ambivertiert«. Achtung: Das ist kein offizieller psychologischer Begriff, beschreibt aber treffend, dass verschiedene Ausprägungen zwischen den Polen existieren und es nicht immer ein »Entweder-oder« sein muss. Die meisten von uns sind also weder eindeutig Extro noch eindeutig Intro. Quasi non-binär (nehmt das, Boomer!).
In jedem Fall handelt es sich bei allen möglichen Erscheinungsformen von Intro- wie Extroversion um ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal. Welche Eigenschaften damit häufig ebenfalls einhergehen, klären wir im Kapitel MYTHEN UND FAKTEN. Und hier liegt auch einer der großen Unterschiede zur Schüchternheit, die man aufgrund einiger Gemeinsamkeiten häufig mit Introversion verwechselt. Introvertierte fühlen sich unter Menschen nicht zwangsweise unwohl (außer Niklas ist dabei), es verlangt ihnen allerdings mehr Energie ab. Deshalb können sie ebenso ruhig und zurückgezogen wie Schüchterne wirken, doch während es sich bei Schüchternheit um ein durch Ängste ausgelöstes und erlerntes Verhalten handelt, geht es bei Introvertierten eher darum, die Energiereserven zu schützen. Wichtig ist außerdem, dass eine Introversion nicht mit körperlichen Symptomen einhergeht, wie man sie typischerweise von Schüchternen kennt: rote Wangen, Schweißausbrüche, Herzrasen.
Rückblickend weiß ich, auf die anderen Partygäste habe ich womöglich schüchtern gewirkt. Vielleicht lagen sie damit sogar richtig, aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit. Die Introversion kann zwar mit einer Schüchternheit einhergehen, aber viele meiner Vorlieben und Verhaltensmuster erklärt diese nicht – hier spielt die soziale Batterie eine große Rolle, das schauen wir uns auch im nächsten Kapitel an. Heutzutage schlage ich mich in sozialen Settings und dem damit einhergehenden Smalltalk zum Glück oftmals selbstsicherer (zum Beispiel, wenn ich mir ein Bahnticket kaufe – online), aber es verlangt mir trotzdem mehr ab als den Menschen, die am anderen Ende der Skala liegen. Und wird es auch weiterhin, das habe ich akzeptiert. Als in sich gekehrte Person bereitet mir die Frage nach der richtigen Begrüßungsform immer noch Kopfzerbrechen, ebenso Smalltalk-Überfälle wie das Gespräch mit Elias. Aber ich weiß, dass es keine charakterliche Schwäche oder persönliches Versagen ist.
Für den Moment halten wir fest, dass eine Introversion nicht überwunden werden kann oder muss. Sie ist kein Mangel an Kommunikationsbereitschaft oder ein Ausdruck von Feigheit, ebenso wenig Symptom einer sozialen Angst beziehungsweise social anxiety. All das können Introvertierte natürlich trotzdem entwickeln, Extros aber auch.
Die Flucht auf die Toilette war für mich also vor allem eine Flucht vor dem Außen und ein Rückzug ins Innen. Der Sprung aus dem Fenster wäre übrigens die Flucht ins innerste Innen gewesen (Krankenhaus). Für Introvertierte ist so eine Reaktion nicht ungewöhnlich, denn eine breite Palette an äußeren Reizen überfordert uns. Und diese Überstimulation sozialer Settings auch noch aufzunehmen, zu sortieren und zu verarbeiten, kostet enorm viel Kraft. Soziale Settings meint für mich übrigens alles mit mehr als zwei Personen – inklusive mir selbst. Die Energie, die mich solche Events kosten, kommt übrigens je nach Rahmenbedingungen schon nach wenigen Stunden (oder wenn’s sehr schlecht läuft: nach wenigen Minuten) an ihre Grenzen. Damals lief es regelmäßig sehr schlecht. Und wenn die soziale Batterie erst einmal geleert war, wurden Partys für mich schnell zum absoluten Horrorszenario. So wie bei Sarina …
(Du willst jetzt unbedingt wissen, was auf Sarinas Party sonst noch passiert ist? Dann ist mir der Cliffhanger gelungen und du blätterst schnell weiter, husch husch. Umblättern. Jetzt. Nein, warte, lies vorher noch die Infobox!)
INFOBOX – WAS WIR GELERNT HABEN
Introversion und Extroversion (bzw. »Extraversion«) definieren die Endpunkte einer Skala, auf der unendlich viele individuelle Abstufungen möglich sind.
Extrovertierte beziehen ihre Energie bevorzugt aus dem geselligen Miteinander und laden ihre »soziale Batterie« im Umgang mit anderen Menschen auf. Dieselben Settings leeren hingegen die Batterie von Introvertieren, deren Geist sich zur »inneren Welt« orientiert: Die ruhige und reizarme »Zeit für sich« ist für diesen Persönlichkeitstyp die bevorzugte Ladestation. Die meisten Menschen kennen beide Seiten der Skala und haben nur sanfte Ausprägungen in eine der Richtungen. Es gibt jedoch auch einige Fälle, in denen eines der Extreme spürbar stärker gewichtet ist.