Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit - Franz Herrmann - E-Book

Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit E-Book

Franz Herrmann

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Beschreibung

In der Sozialen Arbeit muss oft spontan agiert werden, besonders in der Beziehungsgestaltung mit Adressatinnen und Adressaten. Dazu benötigen Fachkräfte Offenheit, Empathie, Intuition und die Fähigkeit zur Improvisation. Erstaunlich ist, dass dieses situativ-spontane Handeln im wissenschaftlichen Diskurs kaum thematisiert wird, während es für Praktikerinnen und Praktiker eine elementare Rolle spielt. Das Buch erklärt die Bedeutung von Intuition, Improvisation und situativem Handeln für die Soziale Arbeit. Es zeigt, wie sich situative Handlungskompetenzen in der Praxis entwickeln, und veranschaulicht dies an Erfahrungen von Fachkräften. Auf diese Weise lernen Studierende und Fachkräfte das Potential von Intuition und Improvisation besser zu verstehen und in der Praxis zu nutzen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort der Reihenherausgeber*innen

Zu diesem Buch

Einführung

1 Professionelles Handeln im Spannungsfeld von Wissen, Können und begrenzter Rationalität

1.1 Wissenschaft und Praxis – eine widersprüchliche Beziehung

1.2 Begrenzte Rationalität – Situatives und geplantes Handeln im Kontext Sozialer Arbeit

1.2.1 Die Bedeutung von Organisationen für professionelles Handeln

1.2.2 Das Prinzip der Ko-Produktion sozialer Dienstleistungen

1.2.3 Das Prinzip der begrenzten Rationalität und Handlungskontrolle

2 Intuition und Improvisation als zentrale Begriffe zur Analyse situativen Handelns

3 Intuition als Phänomen in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit

3.1 Exemplarische Erklärungsmodelle und Definitionen von Intuition

3.1.1 Entscheidungsforschung

3.1.2 Psychologie und Neurobiologie

3.1.3 Soziale Arbeit

3.2 Formen von Intuition

3.3 Erfahrungen von Fachkräften aus der Sozialen Arbeit mit dem Phänomen Intuition

3.4 Geschulte und reflektierte Intuition als fachliche Ressource in der Sozialen Arbeit

4 Situatives Handeln als Improvisation

4.1 Improvisation im Kontext kultureller Bildung in der Sozialen Arbeit

4.2 Improvisation als Grundbegriff einer allgemeinen Handlungstheorie

4.3 Improvisation als Element professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit

4.4 Erfahrungen von Fachkräften mit Improvisation im beruflichen Alltag

5 »Der Fall steht nicht im Buch« – Reflexive Wissensverarbeitung im situativen Handeln

5.1 Vier Formen des Wissens bei Praktiker*innen

5.2 Die Theorie von Donald A. Schön

6 Die Entwicklung situativer Handlungskompetenz im beruflichen Alltag

6.1 Das Stufenmodell von Stuart und Hubert Dreyfus zur beruflichen Kompetenzentwicklung

6.2 Herr A: Ein Beispiel zur Kompetenzentwicklung in der Praxis

6.2.1 Der Berufseinstieg

6.2.2 Erste Kompetenzerfahrungen

6.2.3 Kompetenzentwicklung nach vier Jahren im ASD

6.2.4 Flexibilität und pädagogischer Takt in der Fallarbeit

6.2.5 Die Bedeutung von Kolleg*innen und Führungskräften bei der Entwicklung von Professionalität

6.3 Individuelles und soziales Lernen in ›Communities of Practice‹

7 Weiterführende Überlegungen

7.1 Die Gestaltung des Übergangs zwischen Hochschule und Beruf

7.2 Erfahrungsorientiertes Lernen in Hochschulen

Literatur

Soziale Arbeit – kompakt & direkt

Herausgegeben von Rudolf Bieker und Heike Niemeyer

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/soziale-arbeit-kompakt-direkt

Der Autor

Franz Herrmann ist seit 1998 Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen. Nach dem Studium der Sozialarbeit war er in der Jugend- und Gemeinwesenarbeit tätig. Über ein Aufbaustudium an der Universität Tübingen kam er in das Arbeitsfeld der Jugendhilfe- und Sozialplanung, Projektentwicklung und -evaluation und war dort längere Zeit freiberuflich tätig. Er promovierte an der Universität Tübingen zu Möglichkeiten, Strategien und Hindernissen einer ›Planung des Sozialen‹. Aktuelle Lehr- und Forschungsschwerpunkte umfassen Jugendhilfe- und Sozialplanung, Praxisforschung, Qualitätsentwicklung, Konfliktarbeit und Kulturelle Bildung.

Franz Herrmann

Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042170-7

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-042171-4epub:ISBN 978-3-17-042172-1

Vorwort der Reihenherausgeber*innen

Ergänzend zu klassischen Lehrbüchern geht es in der neuen Reihe »Soziale Arbeit – kompakt & direkt« um die vertiefende Bearbeitung spezieller Themen- und Fragestellungen aus der Sozialen Arbeit und ihren Bezugsdisziplinen, z. B. theoretische Konzepte, spezifische Methoden, Arbeitsfelder oder soziale Probleme. Kompakt und direkt heißt die neue Reihe, weil sie in der Präsentation der Inhalte auf das konzentriert ist, was Lernende über das ausgewählte Thema wissen und für Studienleistungen und Prüfungen zielgenau aufbereiten können sollten.

Zielgruppen der Reihe sind jedoch nicht nur Studierende im Bachelor- oder Masterstudium, sondern auch Berufseinsteiger*innen und Praktiker*innen, die autodidaktisch oder in Fortbildungen Anschluss an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs halten wollen.

Der fokussierte Zuschnitt der Bände spiegelt sich in einem innovativen Buchformat, das Leser*innen Überschaubarkeit im Umfang und eine gut strukturierte Textpräsentation bietet. Zentrale Sachverhalte werden anhand von Praxisbeispielen und Abbildungen veranschaulicht. Didaktische Elemente wie Begriffserläuterungen, Textcontainer, Reminder, Essentials, kurze Zusammenfassungen, Piktogramme etc. erleichtern das Erfassen, Speichern und Wiederaufrufen der Inhalte.

Die Autor*innen der Bände sind durch ihre wissenschaftliche Expertise ausgewiesen, schreiberfahren und stehen in der Regel mit Studierenden und Praxisfeldern in engem Kontakt.

Rudolf Bieker und Heike Niemeyer, Köln

Zu diesem Buch

Über die planbare, methodisch strukturierte Seite des Handelns von Sozialfachkräften in der Praxis gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen.

Die andere Seite, das nicht geplante, situative Handeln von Praktiker*innen, wird dagegen in der Fachliteratur kaum thematisiert. Diese Art des Handelns ist aus der Perspektive der Wissenschaft verdächtig, gilt manchem sogar als unprofessionell. ›Situative Improvisation‹ als Handlungsform wird höchstens als Notbehelf toleriert, wenn nichts anderes mehr geht. Die Nutzung situativer ›Intuition‹ als eigener Wissensform bzw. Körperwahrnehmung wird nur selten akzeptiert.

Wenn erfahrene Fachkräfte in unübersichtlichen Situationen unter Zeitdruck handeln (müssen), können sie danach nicht immer begründen, warum sie genau auf diese Weise agiert haben. Das liegt aber meist nicht an ihrem Unvermögen, das Geschehene zu reflektieren, sondern daran, dass hier nicht-theoriebasierte Formen von Wissen und Können zur Anwendung kommen, die nicht leicht versprachlicht werden können (z. B. Erfahrungswissen, situative Intuition, spontane Anwendung von Handlungsmustern, die in ähnlichen Situationen funktioniert haben). Solche Formen des Wissens und Könnens spielen in der Praxis eine wichtige Rolle und werden deshalb in diesem Buch theoretisch erkundet und an Beispielen aus den Erfahrungen von Praktiker*innen aus der Sozialen Arbeit veranschaulicht.

In diesem Sinne hilft das Buch Fachkräften, Lehrenden und Studierenden, das situativ-spontane Handeln in der Praxis besser zu verstehen, es begrifflich und theoretisch zu erfassen und so auch besser einer Reflexion und Qualifizierung zugänglich zu machen.

Wenn ich in diesem Buch an Phänomenen und Begriffen wie Intuition, Improvisation, Erfahrungswissen, beruflicher Sozialisation, Professionalität und Reflexion arbeite, thematisiere ich nicht nur ein fachlich-abstraktes Thema, sondern auch meinen persönlichen, mittlerweile über 40-jährigen beruflichen Weg in der Sozialen Arbeit. Im Laufe meiner Recherchearbeiten ist dieses Buch auch ein sehr persönliches Projekt mit einer Reflexion meiner eigenen professionellen und persönlichen Entwicklung geworden.

Mein anderer biografischer Bezug zum Themenfeld dieses Buches ist die Faszination für das Thema ›Improvisation‹ – im Jazz, in der Rockmusik und später auch in der Musik anderer Kulturen, die mich seit meiner Jugend begleitet. Zuerst als Hörer und Konzertbesucher, etwas später dann und bis heute auch als Musiker in verschiedensten Bands im Kontext von Jazz und Rockmusik.

Im Jahr 2020 ergab sich die Gelegenheit, im Rahmen eines Forschungsprojekts diese fachlichen und biografischen Linien in Verbindung zu bringen, und das situativ-spontane Handeln in der Praxis Sozialer Arbeit unter folgenden Fragestellungen zu untersuchen:

·

Wie lässt sich die situativ-spontane Seite professionellen Handelns theoretisch erfassen? Welche Theorien und Modelle aus anderen Wissenschaften sind für die Soziale Arbeit nutzbar?

·

Wie erleben und beschreiben Fachkräfte diese situative Seite ihres Handelns?

·

Wie haben Sie diese Form des Handelns gelernt und weiterentwickelt?

Konkret ging es in diesem Projekt um zwei Dinge:

·

die Auswertung von Theorien und Modellen anderer Wissenschaftsdisziplinen zum situativen Handeln von Menschen. Denn in der Soziologie, Psychologie, Philosophie, Bildungsforschung, Musik und den Neurowissenschaften gibt es vielfältige Diskurse und empirische Forschungen zu diesem Thema. Ziel war herauszufinden, was davon auch für das Feld der Sozialen Arbeit nutzbar sein könnte.

·

Ergänzend dazu führte ich eine kleine Befragung von Fachkräften aus der Praxis Sozialer Arbeit durch, um ihre Erfahrungen mit dieser situativ-spontanen Seite beruflichen Handelns kennenzulernen. In einer explorativen Pilotstudie wurden vier Fachkräfte, die vor allem mit Adressat*innen arbeiten (zwei Männer, zwei Frauen; Berufserfahrung zwischen 0,5 und 35 Jahren) und vier Führungskräfte (eine Frau, drei Männer; Leitungserfahrung zwischen zwei und 30 Jahren) in Form von leitfadengestützten Expert*innen-Interviews befragt. Außerdem gab es mehrere Fachgespräche mit Wissenschaftler*innen, die sich mit Fragen aus dem Themenkreis des Projekts beschäftigen.

Das vorliegende Buch konzentriert sich vor allem auf die theoretischen Aspekte der Thematik. Zur Veranschaulichung wird aber an zahlreichen Stellen auf Passagen aus den Interviews zurückgegriffen und mit Beispielen aus den Erfahrungen der Praktiker*innen konkretisiert.

Mein herzlicher Dank gilt diesen Frauen und Männern aus der Praxis, die ihre Erfahrungen zum situativen Handeln mit mir so offen und interessiert geteilt haben. Danken möchte ich auch den Fachkolleg*innen Angelika Iser, Eberhard Bolay, Matthias Moch und Hans Thiersch, die mich mit ihrem Wissen zum Themenfeld inspiriert und unterstützt haben. Einige davon haben den entstehenden Text auch kritisch kommentiert und ihre Ideen eingebracht. Weitere Unterstützer*innen waren meine Frau Dana, Jürgen Dorn und Wolfgang Hinz-Rommel. Ohne sie alle wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen!

Franz Herrmann, Esslingen

Einführung

»Ich finde, dass das (situative Handeln, F. H.) eine wichtige Seite von professionellem Handeln bezeichnet, die man wenig reflektiert und die auch geringschätzt wird. Wenn du an einer Hochschule ausgebildet bist, geht's ja darum, dass du auf Basis von Theorien, auf empirischer Basis bezogen handelst. (...) Aber diese andere Seite, das weiß eigentlich jeder, spielt eine ganz große Rolle. Denn du hast so viele Situationen oder auch Entscheidungen im Alltag, da kannst du nicht alles durchdenken im Sinne: ›Da hast du mal was gelesen ...‹ Du musst dann handeln, irgendwie. Wobei die Wissenschaft und empirische Erkenntnisse sicher schon eine Rolle spielen. Diese Improvisation oder diese Intuition, die wird schon irgendwo geleitet. Und wahrscheinlich hätte ich vor 20 Jahren intuitiv manches anders gemacht, wie ich's heute mache. Das hat auch etwas mit praktischen Erfahrungen zu tun« (Ausschnitt aus einem Interview mit Herrn D, einer erfahrenen Führungskraft).

Soziale Arbeit ist eine »praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin«, die »gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen« fördert (DBSH 2016, 2). Sie nutzt dazu Theorien und Modelle aus ihrer eigenen Disziplin sowie anderen Human- und Sozialwissenschaften. Die Praktiker*innen sollen ihre Aufgaben reflexiv, fachlich und normativ begründet sowie methodisch bearbeiten – d. h. »zielorientiert, kontextbezogen, kriteriengeleitet sowie strukturiert und gleichzeitig offen« (von Spiegel 2013, 252).

Allerdings ist nur ein Teil der Tätigkeit von Fachkräften plan- und methodisierbar: Soziale Arbeit ist eine professionelle Tätigkeit mit Menschen, die sich häufig in Krisen und belasteten Lebenssituationen befinden. Diese Menschen haben einen eigenen Willen und eigene Vorstellungen über ihre Lebensziele und das, was gut für sie ist. Hilfe- und Unterstützungsprozesse in der Sozialen Arbeit funktionieren nur, wenn eine Kooperation zwischen Fachkräften und Adressat*innen zustande kommt. Adressat*innen sind immer auch ›Ko-Produzent*innen‹ im Hilfeprozess: Bestimmte Bildungsziele bzw. Verhaltensänderungen sind nur zu erreichen, wenn Adressat*innen das selbst wollen, wenn sie einen Sinn darin sehen, sich auf den Weg zu machen.

Eine plan- und methodisierbare ›Technologie‹ von Interventionen mit verlässlichen Ziel-Mittel-Verbindungen ist in der Sozialen Arbeit – anders als in technischen Berufen – nicht möglich.

Professionelles Handeln muss Vertrauen und Beziehungen zwischen konkreten Menschen unter häufig schwierigen Bedingungen im Hier und Jetzt schaffen. Dazu brauchen Fachkräfte neben fachlichem Wissen und Können auch Flexibilität, Offenheit, Empathie, Intuition und die Fähigkeit zur Improvisation. Professionelles Handeln ist deshalb beides: Das intuitive Gespür für die aktuelle Situation und die Menschen darin, d. h. für das, was hier im Moment sinnvoll und möglich ist, sowie das theoretische Wissen und praktische Können, situativ die nächsten Schritte zu finden und den weiteren Prozess zu gestalten. Diese Dualität von geplanter, methodischer Strukturierung und situativer Offenheit im Handeln von Fachkräften findet sich in vielen Professionalitätskonzepten, z. B. in

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Hans Thierschs Modell der »strukturierten Offenheit« bei der Gestaltung professionellen Handelns. Es braucht in der Praxis verlässliche Verfahren, die eine Orientierung in unübersichtlichen Situationen bieten. Diese müssen aber auch immer bezogen sein »auf die Eigenlogik der Alltagserfahrungen und Kompetenzen der Adressat_innen und die Offenheit individueller und situativer Konstellationen« (Grunwald & Thiersch 2016, 50 f.).

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Burkhard Müllers multiperspektivischem, ›offenen Typus‹ von Professionalität, der versucht, »die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zwischen unterschiedlichen Arten von Wissen als professionelle Haltung auszubilden« (Müller 2009, 192), und im Handeln zieloffen ist (d. h. Ziele gemeinsam mit Adressat*innen aushandelt).

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Bernd Dewes und Hans-Uwe Ottos Konzept reflexiver Professionalität, die sich im situativen Fallbezug materialisiert (Dewe & Otto 2017, ▸ Kap. 1.1).

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Maja Heiners Modell von Handlungskompetenz, in dem neben der methodischen Strukturierung des Handelns die »Fähigkeit zur kontextspezifischen Variation, zum Erkennen der Besonderheiten des Einzelfalles« (Heiner 2010, 70) eine zentrale Rolle spielt.

Zur Umsetzung der methodisierbaren Aspekte des Handelns von Fachkräften gibt es eine Fülle von Vorschlägen und Veröffentlichungen (z. B. von Spiegel 2013, Heiner 2010, Müller 2009). Der situativ-spontane Aspekt professionellen Wahrnehmens und Handelns wird dagegen in der Fachliteratur kaum thematisiert. In diesem Sinne ist dieses Buch auch ein grundlegender Beitrag zu einem in der Literatur zwar häufig benannten, aber nur wenig explizierten Kernelement professionellen Handelns, das hier genauer untersucht und gewürdigt werden soll.

Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Kapiteln sukzessive ein theoretisches Modell situativen Handelns entwickelt und begründet. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit basiert nach meinem Verständnis auf zwei unterschiedlichen Handlungsmodi, die in Praxissituationen von Fachkräften in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen kombiniert werden (wobei die Erwartbarkeit, was in der jeweiligen Situation geschehen könnte, eine wichtige Rolle bei dieser Kombination spielt):

·

dem geplanten, methodisch strukturierten Handeln, das vor allem auf deklarativem und explizitem Wissen (in Form von Begriffen, Konzepten, Regeln, Theorien) beruht. Dieser Typ von Wissen wird vor allem in Hochschulen gelehrt.

·

dem situativ-spontanen Handeln, das vor allem auf Erfahrungswissen (Wissen aus konkret erlebten Situationen, Körperwissen in Form von sensomotorischen Abläufen und Empfindungen, Handlungsroutinen etc.) basiert. Diese Art von Wissen ist vor allem implizites Wissen, bei dem eine Person etwas kompetent tun kann, ohne genau sagen zu können, warum sie dieses tut und wie es funktioniert. Bei Nachfragen zu dieser Art von Handeln kommen bei Praktiker*innen Aussagen wie ›Ich habe es irgendwie gewusst‹, ›im Gefühl gehabt‹ oder ›intuitiv so gemacht‹. Das liegt daran, dass solche Arten von Wissen spontan und dynamisch funktionieren und deshalb auch schwer zu versprachlichen sind, während Begriffe, Konzepte, Theorien etc. eher ›statisch‹ sind und deutlich besser in sprachlicher Form erfasst werden können.

Zentrale Elemente situativen Wahrnehmens und Handelns sind Formen von

·

Intuition (als spontane, subjektive Wahrnehmungen von Körpersignalen, Emotionen, Handlungsimpulsen, aber auch von wiederkehrenden strukturellen Mustern in komplexen Situationen) und

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Improvisation (als spontane, nicht geplante Kombinationen von Handlungselementen und -mustern, die stark auf Erfahrungswissen beruhen). Was hier in konkreten Situationen bei Praktiker*innen passiert, kann mit der Theorie reflexiver Wissensverarbeitung von Donald Schön erklärt werden (▸ Kap. 5).

Wie sich Erfahrungswissen und Können sukzessive im Verlauf der beruflichen Sozialisation aufbauen, formulieren Stuart und Hubert Dreyfus mit ihrem fünfstufigen Modell beruflicher Kompetenzentwicklung (▸ Kap. 6). Hier spielen sowohl individuelle als auch kollektive Lernprozesse in Teams und Organisationen eine Rolle. Berufliche Entwicklung hat auch mit der Herausbildung einer spezifischen Form impliziten Wissens zu tun, der Intuition: Diese ist nach dem Verständnis der Brüder Dreyfus eine Form von Verstehen, die sich mühelos einstellt, wenn eine aktuelle Situation vergangenen Ereignissen ähnelt.

Bei der Entwicklung von Professionalität kommt es aber nicht nur auf einen Zuwachs an Erfahrungswissen an, sondern auch, dass Fachkräfte deklaratives Wissen aus ihrem fachlichen Kontext (relevante Theorien, methodische Strategien, Ergebnisse empirischer Forschung) in ihre Arbeit einbeziehen und mit ihrem Erfahrungswissen kombinieren.

Das Buch startet in Kapitel 1 mit einigen Grundlagen zum Thema Professionalität in der Sozialen Arbeit (▸ Kap. 1).

Kapitel 2 führt kurz in die Begriffe Intuition und Improvisation als Werkzeuge zur Erfassung situativen Handelns ein und zeigt an einem Beispiel, wie diese Wahrnehmungs- und Handlungsformen auch ineinandergreifen können (▸ Kap. 2).

Kapitel 3