Involution oder Revolution - Hans-Martin Schönherr-Mann - E-Book

Involution oder Revolution E-Book

Hans-Martin Schönherr-Mann

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Beschreibung

Involution heißt hier nicht wie bei Agnoli Abbau der Demokratie. Involution fordert vielmehr Teilhabe, ohne dass Privilegierte verdrängt und diskriminiert werden. Die vielfältigen Aktivitäten der Zivilgesellschaft in den letzten Jahrzehnten waren in diesem Sinn nicht revolutionär: die Bürgerrechts-, Frauen-, Umwelt-, Friedens- oder Schwulenbewegungen, zu denen man daher den Rechtspopulismus nicht zählen kann, der Rot-Grün und die Moral verabschieden möchte. Involution stützt sich indes auf Moral und Bildung im umfassenden Sinn. Denn Politik beruht nicht auf den Gewehrläufen, sie endet, wo der Krieg beginnt. Wenn Politik Kommunikation in der Öffentlichkeit (Arendt) bedeutet, entspringt sie Sprache und Schrift, entfaltet sie sich mit dem Buchdruck, wird sie von den Massenmedien geprägt und vom Internet beschleunigt. Der Text erläutert verschiedene Politikverständnisse, wie Medien - Schrift, Sprache, Massenmedien, Internet - die Politik konstituieren, die sich ihrerseits daher auf Bildung stützt. So bleibt Politik zwar eine elitäre Angelegenheit für entsprechend Gebildete. Aber jede Bürgerin kann sich selbst bilden und Ansprüche formulieren, um im Sinn von Involution politische teilzuhaben. Welche politische bzw. Medienbildung ist für die Zeitgenossin nötig, um im Sinn von Involution an der Politik teilzuhaben? Um andere Menschen nicht zu diskriminieren, auszugrenzen oder gar zu diffamieren? Politische Bildung erweist sich dann als eine primär individuelle, die staatliche Institutionen höchstens unterstützen.

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Zum Buch: Involution heißt hier nicht wie bei Agnoli Abbau der Demokratie. Involution fordert vielmehr Teilhabe, ohne dass Privilegierte verdrängt und diskriminiert werden. Die vielfältigen Aktivitäten der Zivilgesellschaft in den letzten Jahrzehnten waren in diesem Sinn involutionär, nicht revolutionär: die Bürgerrechts-, Frauen-, Umwelt-, Friedens- oder Schwulenbewegungen, zu denen man daher den Rechtspopulismus nicht zählen kann, der Rot-Grün und die Moral beenden möchte.

Involution stützt sich indes auf Moral und Bildung im umfassenden Sinn. Denn Politik beruht nicht auf den Gewehrläufen, sie endet im Krieg. Wenn Politik Kommunikation in der Öffentlichkeit (Arendt) bedeutet, entspringt sie Sprache und Schrift, entfaltet sie sich mit dem Buchdruck, wird sie von den Massenmedien geprägt und von der Informatisierung beschleunigt.

Der Text erläutert verschiedene Politikverständnisse, wie Medien – Schrift, Sprache, Massenmedien, Internet – die Politik konstituieren, die sich ihrerseits daher auf Bildung stützt. So bleibt Politik zwar eine elitäre Angelegenheit für entsprechend Gebildete. Aber jede Bürgerin kann sich selbst bilden und Ansprüche formulieren, um involutiv politisch teilzuhaben.

Welche politische bzw. Medienbildung ist für die Zeitgenossin nötig, um im Sinn von Involution an der Politik teilzuhaben? Um andere Menschen nicht zu diskriminieren, auszugrenzen oder gar zu diffamieren? Politische Bildung erweist sich dann als eine primär individuelle, die staatliche Institutionen höchstens unterstützen.

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Prof. für Politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Inst. der Univ. München, Lehr- und Prüfungsbeauftragter an der Hochschule für Politik München, seit 2004 regelmäßiger Gastprof. an der Fak. für Bildungswiss. der Univ. Innsbruck; aktuelle Bücher: Was ist politische Philosophie, Campus Studium 2012; Politik zwischen Verstehen und Werten – Hermeneutik als politische Philosophie. Vorlesungen am Geschwister-Scholl-Institut 2002/2003, SVH 2016; Die Macht der Verantwortung, Karl Alber – Hinblick 2010; Sexyness als Kommunikation – Die Geburt der Sexualität aus dem Geist der Massenmedien, BoD 2016

Für Irmi

Inhalt

Vorwort

Einleitungsvorlesung

Teil: MEDIEN UND POLITIK

1. V

ORLESUNG

: Was ist Politik?

1.1. Politik als Polizei und Pädagogik

1.2. Das deliberative Modell der Politik

1.3. Das Kriegs-Modell der Politik

1.4. Politik als Konflikt

1.5. Das formale Verhältnis der vier Politik-Modelle zueinander

2. V

ORLESUNG

: Politik als Produkt von Medien: Sprache und Schrift

2.1. Politik als Sprache

2.2. Politik als Spracherwerb: Bildung

2.3. Politik und Schrift

2.4. Die Schrift als mikrologische politische Gewalt

3. V

ORLESUNG

: Politik als Produkt von Massenmedien

3.1. Vom Buchdruck zur Revolution

3.2. Spinozas Demokratiebegriff als Vorschein der Involution

3.3. Von der Zeitung zum Klassenkampf

3.4. Die Massenmedien im 20. Jahrhundert und die Medienkritik

4. V

ORLESUNG

: Politik im Zeitalter des Internet

4.1. Das Internet als Welt in den Wellen

4.2. Das Internet als Naturzustand

4.3. Antipartizipatorische Perspektiven des Internet

4.4. Partizipatorische Perspektiven der Informatisierung

Teil: BILDUNG UND POLITIK

5. V

ORLESUNG

: Bildung als Antwort auf die Medienentwicklung: vom Idealismus zum Empirismus

5.1. Philosophie als Antwort auf Sprache, Schrift, Buch

5.2. Die volkswirtschaftliche Kritik an Erziehung und Bildung

5.3. Sozialphilosophische Kritik der Bildungspolitik

5.4. Soziologische Analyse der Bildungspolitik

6. V

ORLESUNG

: Bildung der Natur des Menschen: Die Schwäche des Essentialismus

6.1. Bildung in der hierarchischen Ordnung

6.2. Die Natur als Orientierung der Bildung

6.3. Der befreite Mensch

6.4. Die Rückkehr zum einfachen Leben

6.5. Genealogie des Erziehungsregimes

7. V

ORLESUNG

: Bildung des politischen Menschen zwischen Aufklärung und Moderne: vom Essentialismus zum Formalismus

7.1. Der Mensch als politisches Wesen

7.2. Die Person als bürgerliches Bildungsideal

7.3. Politische Bildung des unpolitischen Menschen: Adorno, Negt

8. V

ORLESUNG

: Postmoderne Bildung im Zeitalter der Individualisierung: vom universellen zum historischen Formalismus

8.1. Ästhetische Selbstdisziplinierung: Foucault

8.2. Literatur anstatt Philosophie: Rorty

8.3. Denken und Urteilen: Arendt

Teil: MEDIENBILDUNG ALS POLITISCHE BILDUNG

9. V

ORLESUNG

: Medien als Bedingung der politischen Wirklichkeit

9.1. Das Politische der Bilderwelt: der Film

9.2. Verführung durch die Massenmedien: Vom Film zum Fernsehen

9.3. Von der Realität über Virtualität zur Konstruktion

10. V

ORLESUNG

: Bildung durch ‚Denksysteme‘

10.1. Hermeneutik der Sinnstrukturen: Anschluss an die Metaphysik

10.2. Die Differenz zwischen Recht und Gerechtigkeit: die Dekonstruktion

10.3. Die linguistische politische Philosophie als Medienbildung

11. V

ORLESUNG

: Bildung und Staat

11.1. Bildung als soziales Kapital und als polizeiliche Ordnung

11.2. Politische Bildung als Sozialkritik im deliberativen Modell

11.3. Der Staat im Konfliktmodell

12. V

ORLESUNG

: Die mediale politische Bildung angesichts der Informatisierung

12.1. Zusammenfassender Überblick über die gesamte Vorlesung

12.2. Apokalyptisches Denken im Internetzeitalter

12.3. Die philosophische Frage nach der Wahrheit

12.4. Der individuelle und der geheimdienstliche öffentliche Vernunftgebrauch

12.5. Die Befreiung der Differenzen

Literatur

Personenregister

VORWORT*

Bildung wird individuell mit sozialem Aufstieg verbunden, in der politischen Ökonomie mit wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit, in der Politik mit demokratischer Bildung der Bürgerin. Doch Politik gründet auf Bildung, beide gehören originär zusammen. Denn es ist keine Politik, wenn eine Horde Primaten triebgesteuert auf Jagd geht, wenn Seeräuber Schiffe oder Küstenorte überfallen, Kriegsherren ihre Heere in die Schlacht von Verdun oder Stalingrad treiben.

Politik beginnt just dort, wo der Krieg aufhört. Achill, Hektor und Odysseus betrieben noch keine Politik, auch nicht als Odysseus nach Ithaka zurückkehrte. Mögen die Pharaonen dergleichen rudimentär getan haben, wenn sie ihre Herrschaft ausübten, um eine soziale Ordnung zu stabilisieren. Zum Thema wird Politik erst, wenn – im Sinn von Hegel und Arendt – die Polis einen vor Gewalt geschützten Raum aufbaut und die Bürger auf dem Marktplatz oder der Volksversammlung über die Probleme ihrer Polis reden. Wenn sie dann in die Schlacht ziehen – die Athener die Flotte nach Syrakus schicken –, dann ist die Politik wieder am Ende.

Das hallt sogar noch bei Carl Schmitts Ausnahmezustand nach, der ja den Rechtszustand wiederherstellen soll und anders, als es die Nazis betrieben, nicht auf Dauer geschaltet ist. Dass nach Benjamin wie nach Derrida am Anfang die Gewalt das Recht konstituiert, ändert daran wenig, musste allemal ein Gewaltzustand beendet werden, ob durch die rechtsetzende Gewalt oder mit Nietzsche durch Verhandlungen zweier etwa gleich starker Mächte – man denke an die Übereinkunft zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen im Juni 2016 in Havanna.

Würde Politik primär aus Gewalt bestehen, dann hieße politische Bildung, sich in der Fertigkeit von Herrschaftstechniken zu trainieren, Waffen anzuwenden und selbstredend Kriegsdienst, der mal als Schule der Nation bezeichnet wurde. Eine andere politische Bildung kannten Herrscher von Napoleon bis zu den Nazis kaum.

Daher findet Politik vielmehr genau dann statt, wenn die Frage der Gerechtigkeit gestellt wird oder zumindest bei öffentlichen Handlungen mitschwingt, dann erscheint für Arendt Politik als Kommunikation in der Öffentlichkeit. Denn die Frage der Gerechtigkeit wird von der menschlichen Sprache aufgeworfen, die sich nach Aristoteles von tierischen Lauten scheidet, die nur Lust und Schmerz signalisieren. Und ohne diese Frage gibt es keine Politik, die andernfalls nur polizeiliche oder militärische Technik wäre.

Folglich beruht Politik just auf der Sprache, die diese Frage zu stellen vermag – ein weiteres Indiz dafür, dass die Politik im Sinne von Nietzsche und Arendt mit der Kommunikation und nicht mit der Gewalt beginnt. Wiewohl letztere politisch auch immer mitschwingt, beanspruchen moderne Staaten gemeinhin das Gewaltmonopol. Jedoch spricht Gewalt nicht mit dem Anderen als Ebenbürtigem, sondern unterwirft und diskriminiert ihn. Politische wie ethische Beziehungen – jenseits vornehmlich christlicher Mitleidsethiken – setzen eine gewisse Ebenbürtigkeit voraus, eine ähnlich entwickelte kommunikative Kompetenz zwischen den sich Begegnenden, also ein gewisses Maß an Bildung.

Um stabile politische Verhältnisse zu schaffen, bedarf es aber neben der Sprache vor allem der Schrift, die die Sprache vereinheitlicht, die Erinnerung verstärkt und Regeln des Umgangs genauso festhält, wie sie Geschehnisse dokumentiert. Damit ermöglicht sie die Ausdifferenzierung rechtlicher Verhältnisse, ohne die die Frage der Gerechtigkeit nicht differenziert gestellt werden kann, somit Politik ebenfalls höchstens sehr eingeschränkt möglich wäre. Der politische Großmythos vom König Ödipus leuchtet diese Dimensionen einer schriftbasierten Polis aus, wenn Ödipus die Sphinx, die Tyrannin von Theben, nur deshalb stürzen kann, weil diese just seine Fußspur nicht zu entziffern vermag, sind doch Ödipus„ Füße verkrüppelt.

Die Schrift stärkt und schwächt die herrschaftliche Gewalt gleichermaßen. Aber sie ist die Voraussetzung für eine rechtliche Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen physische Gewalt minimiert wird. Schrift macht Bildung unabdingbar für die Politik, was die soziale Hierarchie steiler aufbaut. Eine allgemeine Schuldbildung wird indes nach dem Buchdruck notwendig. Schrift und Bildung dienen dabei sowohl politischer Herrschaft, wie sie diese auch hinterfragen, indem sie die Frage der Gerechtigkeit aufwerfen lassen.

Wenn Politik auf Sprache und Schrift beruht, ohne diese nicht existiert, dann wird sie originär medial verfasst, denn für einen erweiterten kulturphänomenologischen Medienbegriff gehören dazu natürlich auch Sprache und Schrift. Doch das sind noch keine Massenmedien, waren in der Antike doch nur eine kleine Schar von Gebildeten schriftkundig, die denn auch über einen erheblich ausdifferenzierten Umgang mit der gesprochenen Sprache verfügten als das Volk, Frauen oder Sklaven, die für Aristoteles zwar die Sprache verstehen, aber nicht am Logos teilhaben.

Weitere Verbreitung der Schriftkundigkeit ermöglichte erst der Buchdruck, mit dem die sogenannten Massenmedien anheben, die in der Informatisierung kulminieren. Wenn heute von Medien in einem differenten Sinn gegenüber der Politik gesprochen wird, z.B. von den Medien als vierter Gewalt oder von einer Mediokratie bzw. einer medialen Politik, dann verschleiert das nur die originäre mediale Verfasstheit von Politik, die durch die Audio-, Video- und Cyber-Medien vertieft wird. Politisch soziale Wirklichkeit entsteht medial, wird nicht mehr nur vor Ort besprochen oder schriftlich memorial unterfüttert.

Mit dieser originär medialen Konstitution der Politik enthüllt sich auch, dass diese gleichermaßen wie auf den Medien damit auch auf Bildung aufruht. Bildung hat dabei selbstredend einen weiteren Sinn, ist längst nicht nur politische Bildung, sondern vor allem Medienbildung. Diese bedeutet allerdings wiederum nicht, den Umgang mit informatisierten Medien zu lernen. Sie fördert nicht nur kommunikative Kompetenzen, sondern ermöglicht Teilhabe an den politischen und sozialen Diskursen, die medial stattfinden.

Die Schriftsteller der griechischen und römischen Antike gehörten durchgehend den herrschenden Kreisen an. Platon schildert in der Politeia den unterschiedlichen Bildungsgang der verschiedenen Schichten von arbeitendem Volk, den Wächtern und den herrschenden Philosophen. Im Zentrum seines Politikverständnisses steht somit die Bildung. Politik beruht durchgängig auf Bildung, die sich heute gleichermaßen als Medien- und politische Bildung präsentiert, gehören also Medien, Bildung und Politik unabdingbar zusammen. Doch sie sind unter den drei Ständen Platons ungleich verteilt, dürfen sich die beiden unteren Stände denn auch gar nicht in die Politik einmischen.

Für Platon, die Kyniker oder moderne Platoniker wie Leo Strauss fördert diese durch Bildung und Medien verfasste Politik die Gleichheit der Zeitgenossen gerade nicht. Im Gegenteil, diese mediale Verfassung von Politik produziert eine originäre und weitreichende Ungleichheit; denn die Eliten verfügen auch heute regelmäßig über die größere Bildung und Medienkompetenz, was sie von der Bevölkerung unterscheidet. Diese Struktur wird häufig als natürlich oder gar göttlich und somit als gerecht ausgegeben. Das geschieht just medial, wird die Wirklichkeit entsprechend vorgestellt, dass die Bevölkerung diese an sich ungleich und unter dem Gesichtspunkt der Gleichheit ungerecht verteilten Einflussmöglichkeiten akzeptiert. Man braucht mediale Kompetenzen, zunächst sprachliche Fertigkeiten, z.B. Rhetorik, kommunikative Kompetenzen, mit denen man Einfluss auf Kunst, Wissenschaft und heute die Massenmedien auszuüben in der Lage ist. Analphabeten können keine Politik machen, höchstens gewaltsamen Widerstand leisten.

Im Sinne von Jacques Rancière schließt die Politik der Reichen die Armen von vornherein aus, so dass sie für ihn eigentlich gar keine Politik ist. Für die Politik der Reichen ist Bildung Politik – Bildung, die ungleich verteilt ist, was diese für gerecht oder natürlich halten. Bildungsstrukturen und Medien dienen gleichermaßen daher einer polizeilichen Ordnung, die sowohl durch Gewalt als auch durch ein entsprechend medial gebildetes Bewusstsein aufrechterhalten wird. Solche politischen Ordnungen herrschen die meiste Zeit, werden üblicherweise Ungleichheiten anerkannt oder verdrängt. Gelegentlich greift die politische Macht auch zu militärischer Gewalt, um die Ordnung zu sichern.

Denn natürlich versuchen die Armen, Anteillosen, Diskriminierten gelegentlich und auf vielerlei Weisen sich gegen diese Anteillosigkeit bzw. Ungleichheit zu wehren. Dem gewaltsamen Aufstand begegnen die Eliten mit Waffengewalt – man denke an die Arabellion in Ägypten – und eventuell mit Brot. Dagegen führt die erfolgreiche Revolution regelmäßig einen kleinen Teil der Diskriminierten zur Teilhabe an der Macht: Das Umstürzen aller Verhältnisse, die Revolution, wechselt nur die Eliten aus, schaffte im republikanischen Rom einen plebejischen Adel, führte in den realsozialistischen Ländern kommunistische Kaderparteien an die Macht.

Wenn es sich um eine weitreichendere Revolution handelt, dann werden dabei nicht nur die alten politischen Eliten, sondern auch ganze Bevölkerungsteile verdrängt, zumindest diskriminiert: der Adel oder das Bürgertum. Zu diesem Prozess ist gemeinhin Gewalt, aber auch dieser Gewalt dienliche Bildung notwendig: Robespierre las Rousseau, Lenin Marx, Trotzki studierte in seiner Zeit als Kriegsberichterstatter militärische Strategien. Daher darf man davon ausgehen, dass Revolutionen nicht nur zumeist gewaltsam ablaufen, sondern diskriminierende und ausschließende, wenn nicht gar vernichtende Folgen nach sich ziehen – man denke an den Holocaust als Folge der ‚braunen Revolution„. Die Revolution verstellt damit den Weg zu einer partizipatorischen Politik, mit der die Ausgeschlossenen, die Anteillosen, also die Armen, Minderheiten, Benachteiligte sich um Teilhabe bemühen.

Doch es gibt auch Prozesse, bei denen diskriminierte Anteillose Ansprüche auf Anteile erheben, ohne dass politische oder bürokratische Eliten, geschweige denn ganze Bevölkerungsgruppen verdrängt und diskriminiert werden müssen. Solche Prozesse können auch von Gewalt begleitet werden – häufig bei Demonstrationen oder ähnlichen Protestaktionen, gleichgültig ob die Gewalt von der Polizei oder den Diskriminierten ausgeht. Diese Gewalt zielt indes nicht auf die Diskriminierung von Anteilhabenden, also von Eliten. Häufig geht es den Anteillosen vielmehr darum, selber Anteil an den elitären Privilegien zu gewinnen, von denen sie ausgeschlossen sind. Solche Prozesse können die ganze Gesellschaft oder das politische System insgesamt erfassen, breite Bewegungen wie die der Bürger im 18. Jahrhundert, der Arbeiter im 19., von ethnisch Diskriminierten, der Frauen. Sie können sich aber auch auf bestimmte kleinere oder größere Bereiche beschränken, wenn sich Bürgerinnen in bestimmte öffentliche Angelegenheiten einmischen, an denen sie Anteilnahme beanspruchen, in die sie sich verwickeln und in die sie verwickelt werden wollen.

Solche Prozesse nenne ich Involution1, und zwar nicht wie in verschiedenen Diskursen im Sinn von Rückbildung gebraucht, was ja mit Revolution viel besser ausgedrückt wäre – Re-volution, Zurückdrehen –, wohl aber durch deren populäre politische Bedeutung verstellt wird. Johannes Agnoli schreibt: „„Involution„ bildet den korrekten Gegenbegriff zu Evolution. Der Terminus hat sich in der politischen Sprache der romanischen Länder eingebürgert und bezeichnet sehr genau den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen.“2

Revolution hat dagegen zumeist in antidemokratische Strukturen geführt und lässt somit Involution regelmäßig auf. Daher avanciert im vorliegenden Text die Involution im Sinn von Hineindrehen zum Gegenbegriff der Revolution: Wenn man dazu gezählt werden will, heißt das, andere nicht auszuschließen (wie die diversen diskriminierenden Bewegungen die Bourgeoisie, die Juden, die Zugewanderten, die Homosexuellen ausgrenzen und vernichten); wenn man diese gerade nicht diskriminieren will (das ist die Differenz zu jeglicher Art von Völkischem und Rassischem, aber auch zu revolutionär Proletarischem wie fundamentalistisch Religiösem); wenn man Politik dadurch macht, dass man die Ordnung auf eine bestimmte Weise zwar in Frage stellt, aber nur soweit, wie man nicht dazu gehört, ohne andere aus der Politik vertreiben zu wollen, dann bemüht man sich um Involution. Man dreht sich hinein, man schließt an, so dass man den Kreis der Beteiligten erweitert – das Römische Imperium beruht auf dem Anschluss fremder Völker, wiewohl der natürlich gewaltsam stattfand, im involutiven Sinn keine Politik war. Aber Politik, die auf Kommunikation aus ist, hat zumindest implizit einen involutiven Sinn.

Involutive Prozesse intensivieren sich im Zeitalter der Individualisierung, wenn eine lebendige Zivilgesellschaft sich in viele politische Ereignisse einmischt und Teilhabe beansprucht, aber ohne dabei konkurrierende Gruppen zu verdrängen bzw. zu diskriminieren. Dass dabei Bürgerinnen von sich aus aktiv werden, ohne sich auf Parteien, Standesorganisationen oder staatliche Institutionen zu verlassen, unterscheidet die letzten Jahrzehnte von früheren Zeiten sicherlich nicht qualitativ, aber quantitativ. Damit solche Involutionsprozesse gelingen, brauchen die entsprechend Agierenden diverse Formen der Bildung, die letztlich Formen der Medienbildung beinhalten – von sprachlichen Fertigkeiten bis hin zu informationellen. Dazu gehören insbesondere Techniken zur Analyse medialer Effekte, Wissen um soziale und politische Zusammenhänge sowie Praktiken der Selbstkonstitution.

Staatlich angebotene Bildung wird dazu häufig nicht ausreichen, vielmehr müssen die Individuen sich darum aus eigner Kraft bemühen. Daher lässt sich diese Bildung von staatlichen Bildungsinstitutionen nicht oder nur ansatzweise erwarten. Sie neigt gemeinhin dazu, das Individuum in seiner vorgegebenen Rolle festzuhalten, entweder als Anteilhabender oder als nicht Involutierter. Oder man verlangt vom Individuum eine kritische Allgemeinbildung, die es auf solidarische Weise in die Gesellschaft integriert, ihm also die Rollen vorgibt bzw. abverlangt. Wenn es sich einer universalistischen Gattungsethik entzieht, dann verhält es sich unsolidarisch, mangelt es ihm an Subjektivität, was nur eine bestimmte Form der Involution anerkennt.

Man kann solche Bildung auch nicht privatisieren, also in die Hand von privaten Bildungsinstitutionen geben, die entweder ökonomisch oder ideologisch ausgerichtet sind. Vielmehr verhindern staatliche wie private Institutionen zumeist involutiv ausgerichtete Bildung – man denke an von der Industrie finanzierte Universitäten oder staatliche Elitehochschulen. Zudem lassen staatliche Bildungsförderungen bekanntlich die Bildungsrendite sinken und unterstützen damit auch nicht unbedingt politische Partizipation oder gar Involution.

Woraus dagegen die Zeitgenossen ihre Motive und Antriebe zur Involution entwickeln, muss nicht geklärt werden. Aber es gibt Individuen, die Camus, Sartre und de Beauvoir als zum Widerstand fähige beschreiben, die heute Involution beanspruchen, sich dabei auch ihrer staatlich, familiär oder privat verordneten Bildung bedienen, um diese dabei jedoch zu überschreiten. Gerade Frauen in der westlichen Welt haben das vorgeführt, aber auch die Farbigen in den USA oder die Homosexuellen: Wenn das staatliche Bildungsangebot zur eigenen Emanzipation nicht ausreicht, wenn man ausgegrenzt wird, dann muss man sich selbst um die eigene Bildung kümmern, entstehen häufig bei solchen Gelegenheiten Gruppen, in denen man sich gegenseitig inspiriert – man denke zuletzt an Occupy.

Die Peripherieorientierung des Internet bietet dazu neue Chancen für die Individuen, an Politik und Gesellschaft außerinstitutionell teilzunehmen, was die klassischen Massenmedien noch nicht ermöglichten. Heute kann sich jeder über das Netz einer Öffentlichkeit gegenüber äußern – zweifellos ein partizipatorischer Effekt, der als solcher allerdings nicht notwendig involutive Konsequenzen hat. Vielmehr sind dadurch große Risiken entstanden, fördert das Internet gerade auch ausgrenzende und diskriminierende Tendenzen. Kleine Gruppen können sich auch global verstreut organisieren und ihren Zusammenhalt sichern oder auch Anhänger gewinnen und dogmatisieren. Internet-Plattformen lenken dementsprechend informativ ihre Anhänger und verbreiten Propaganda.

Nichtsdestotrotz haben die Informationstechnologien das Wirklichkeitsverständnis nachhaltig verändert. Sie geben einen neuen Rahmen vor, innerhalb dessen sich die alten pädagogisch politischen Fragen nach Bildung, Erziehung wie Selbstbildung erweitern. Zweifellos reicht weder eine humanistisch kulturelle Bildung der Persönlichkeit noch eine kritische, die sozialökonomische Zusammenhänge eruiert und auf eine universalistische Allgemeinbildung abzielt. Vielmehr ist eine genealogisch dekonstruktive Infragestellung der informatisierten Verständnisformen von politischer Realität vonnöten, um nicht Opfer von Verführung durch Religionen, Ideologien, Leitkulturen, Ökonomien und Technologien zu werden, gleichgültig ob man bloß an den üblichen institutionellen Partizipationsformen der Demokratie teilnimmt, oder ob man involutiv die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellt, um eine weitergehende Anteilnahme am Diskurs zu erreichen.

Daher gehört zu einer individualisierten Bildung ein Selbstdenken, das sich ideologischer, ökonomischer oder religiöser Bevormundung und Unterordnung unter ein Gemeinwesen entzieht. Vor einem halben Jahrhundert hat man dazu Marx gelesen und hatte dann häufig revolutionäre und gar nicht involutive Intentionen, wiewohl allein letztere langfristige Konsequenzen nach sich zogen – man denke an die Ökologie. Heute beschäftigt man sich mit allem Möglichen, entweder konkreten Problemen oder strukturellen Horizonterweiterungen, beispielsweise mit Sprachphilosophie, Medientheorien, Hermeneutik und Dekonstruktion: Wer Involution will, der muss sich selbst bilden – manchmal mühsam, manchmal vergnüglich –, weil sich anders ein involvierender Diskurs nicht auf den Weg bringen lässt.

Gegenüber der Philosophie – gerade der poststrukturalistischen – besteht in der Öffentlichkeit ein durchaus verbreitetes Interesse, während die staatlichen Institutionen, vornehmlich die Universitäten sicher nicht nur, aber besonders intensiv im deutschsprachigen Raum diese involutive Art der Philosophie weitgehend ausschließen und gleichzeitig die Demokratie gegenüber involutiven Bemühungen eher abzuschotten versuchen. Das geistige Klima in der universitären Philosophie lässt nicht nur in Deutschland daher stark zu wünschen übrig. In Südeuropa sieht das besser aus, finden dort auch innovative politische Bewegungen statt – jenseits des Rechtspopulismus.

Sowenig wie eine bestimmte soziale Ordnung realisiert eine Revolution involutive Ansprüche – höchstens an letzterer beteiligte gemäßigte Gruppen (die Girondisten, die Menschewiki, die Säkularen in der Arabellion), die von den Radikalen ausgrenzt werden –, geht es in der Revolution wie in einer polizeilichen politischen Ordnung ja prinzipiell darum, dass sich daran möglichst viele Zeitgenossen nicht aktiv, sondern bloß passiv beteiligen: die sogenannten Massen, die links eventuell kritisch, trotzdem unselbständig ihren Führern folgen. Masse und Volk machen gerade keine Politik, bleiben immer ausgeschlossen, können sie sich gar nicht anders denn als Herde benehmen. Herden haben keine Sprache, sondern drücken nur Lust und Leid aus – man denke an die Zuschauer eines Fußballspiels, an das Bierzelt oder an die Teilnehmer von Demonstrationen.

Dagegen findet involutive Bildung sicher nicht alleine statt, sie braucht vielmehr die Anderen, aber gerade nicht als Massen sowenig wie als Volk. Das schließt natürlich keinesfalls die gesellschaftliche Bedingtheit der individuellen Existenz aus, wenn durch sie die diversen Vokabulare und Informationen hindurchfließen. Doch just weil das so ist, kann das Individuum daran auch drehen, nein, keine Berge versetzen, aber Impulse geben, indem es Vokabulare und Informationen metonymisiert, oder sie schlicht anders weitergibt, als sie gesendet wurden. Jede Bürgerin – auch wenn sie sich nicht zivilgesellschaftlich engagiert – nimmt am Leben der Sprache teil und damit an ihrer permanenten Veränderung, somit an einer Vielzahl von Medien und wirkt auf diese auch zurück.

Daher ändern sich unter Individualisierungsbedingungen und angesichts eines existentialistisch selbstverantwortlichen Zeitgenossen – Verantwortung, die nichts mit dem Sozialsystem zu tun hat – die Anforderungen an Bildung, die aus Autonomie und Widerständigkeit heraus nicht gänzlich eine politische Angelegenheit ist, vielmehr auch eine individuelle. Umgekehrt bleibt der Politik, um Involution zu befördern, gar nichts anderes, als das nachzuahmen, was aktive Bürgerinnen ihr vormachen oder wozu sie sie gar zwingen – man denke an die Ökologisierung der Welt und die Frauenemanzipation, die von den Zeitgenossen selbst ausging, bevor Staaten und Parteien auf den Zug aufsprangen. Wie stark man diese Zivilgesellschaft dabei einschätzen will, lasse ich offen. Jedenfalls hat sie Einfluss auf die Politik, auf Medien und letztlich auf die Bildung. So gehören zur Politik immer schon Involutionsprozesse, so dass Bildung strukturell keine schlichte institutionelle Angelegenheit bleibt, sondern heute umso mehr außerinstitutionelle, individuelle Perspektiven entfaltet.

* Der folgende Text entstand aus der Vorlesung „Bildung und Politik“ heraus, die ich wöchentlich zweitstündig am Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung (Fakultät für Bildungswissenschaften) der Universität Innsbruck zwischen 2013 und 2017 immer im Sommersemester gehalten habe. Es handelt sich nicht um ein Vorlesungsmanuskript, da ich in meinen Vorlesungen nicht abgelesen habe. Die Gliederung entspricht aber in etwa den Vorlesungen aus den Sommersemestern 2015 und 2016. In den beiden ersten Jahren ist dieses Konzept entwickelt worden. Den Begriff der Involution erwähnte ich zum ersten Mal in der Vorlesung 2016 in einer der letzten Stunden. Die begriffliche Differenz Involution-Revolution kristallisierte sich in diesen Jahren während der Vorlesungen heraus. Sie hat hier ihren Ursprung und taucht langsam in meinen neueren Texte auf, zuerst in einem Vortragstext „Medienbildung als politische Bildung?“, der die schriftliche Ausarbeitung eines für meine Vorlesung programmatischen Vortrags darstellt, den ich auf der Tagung „Wozu Medienbildung?“ – veranstaltet vom interfakultären Medienforum (Innsbruck Media Studies) im Rahmen der Reihe „Medien – Wissen – Bildung“ am Institut für psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung, Innsbruck – am 28.2.2015 hielt. Der Aufsatz ist im von Theo Hug, Tanja Kohn und Petra Missomelius herausgegebenen Tagungsband unter demselben Titel erschienen. Der Titel des vorliegenden Manuskriptes Involution oder Revolution – Vorlesungen über Medien, „Bildung und Politik“ an der Universität Innsbruck 2013 – 2017 erweitert dementsprechend pointiert den Titel der Vorlesung. Das Thema „Bildung und Politik“ von Anfang an mit dem Thema Medien zu verbinden, lag nicht nur sachlich nahe, sondern wurde auch noch durch zahlreiche Tagungen der Arbeitsgemeinschaft „Medien – Wissen – Bildung“ in Innsbruck angeregt, an denen ich teilnahm. Ich darf daher Josef Christian Aigner und Theo Hug besonders danken, die mir diese Vorlesungen und viele Vorträge ermöglicht haben, ohne die also weder das vorliegende Manuskript noch der Gedanke der Involution entstanden wären. Außerdem danke ich für Korrekturarbeiten Michael Löhr und Bernd Mayerhofer.

1 Der medizinische Begriff der Involution verweist auf organische Rückbildungen und Atrophie, Schwund, Wachstumsstörungen, Verkümmerungen, Mangelerscheinungen. Vor allem bei Demenzerkrankungen ist die Involution sprachlicher Funktionen symptomatisch. Sie beginnt angeblich bereits mit dem 20sten Lebensjahr. Als Therapie empfiehlt man von medizinischer Seite (lt. Wikipedia) Sport, kreative Betätigung und übendes Memorieren, also Philosophie, geht es medizinisch immer darum Involution zu stoppen. Konrad Lorenz verwendet Involution als Gegenbegriff zur Evolution, was auf Degeneration durch fehlende Selektion hinweist, auf eine domestizierungsbedingte „Verhausschweinung“. Das ist gegenüber meiner Verwendung natürlich das Gegenteil, werde ich die Philosophie in den Dienst der Involution stellen. Im Englischen gibt es zu involution noch das Synonym enfolding, was in etwa ‚umfassen‘ oder ‚einwickeln‘ bedeutet. Lateinisch kommt es laut neustem Duden von „Windung“ her, und zwar im Sinne von einwickeln, also wie man z.B. umhüllt. Ich verwende Involution denn auch eher im Sinn von Involvierung, eben wenn jemand involviert, eingewickelt, betroffen sein möchte. Das unterscheidet sich denn auch von der mathematischen Verwendung im Sinn von Abbildung, die ihre eigene Umkehrung ist: wenn man zweimal hintereinander „involviert“, ist man wieder am Ausgangspunkt. Involution wäre auch eine Spiegelung. Das entspräche bei meiner Verwendungsweise eher der Revolution als Zurückdrehung.

2 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie (1967) und andere verwandte Schriften, 2. Aufl. Hamburg 2004, 16, Fußnote 5

„Vor allem aber meide man die Schwarzseher und Klagesüchtigen, denen nichts gut genug ist, um nicht darüber ein Klagelied anzustimmen. Mag einer auch ein treuer und wohlwollender Gesell sein, er ist doch ein Feind unserer Ruhe durch seine ewige Aufregung und sein beständiges Seufzen.“

(Seneca, Von der Seelenruhe)

EINLEITUNGSVORLESUNG

„Ungefähr im Dezember 1910 änderte sich die menschliche Natur“, zitiert Charles Taylor Virginia Woolf, um einen Epochenwandel zu markieren, den Taylor mit den folgenden Worten weiter umschreibt: „Ein Parallelfall ist in den 1920er Jahren André Gides öffentliches Bekenntnis zu seiner Homosexualität – ein Schritt, zu dem ihn nicht nur sein Begehren, sondern auch seine Haltung in Bezug auf Moral und Integrität veranlassten. (. . .) Aber erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt diese Ethik der Authentizität die allgemeine Einstellung der Gesellschaft zu prägen. Es wird gang und gäbe, die ‚eigenen Angelegenheiten’ selbst erledigen zu wollen“3

Seit den sechziger Jahren ist der Anspruch auf individuelle Mündigkeit in der westlichen Welt eine breite Bewegung geworden, an der sich heute die institutionelle Politik kaum mehr vorbeimogeln kann. Die Bürgerinnen lassen sich häufig nicht mehr von den Administrationen bevormunden, suchen im Zweifelsfall eigene Wege. Den Öko-Markt haben Bürgerinnen in den siebziger Jahren eigenständig angefangen. Seither hinkt die Politik ökologisch hinterher – wie bei der Kernenergie. Im bayerischen Lindau am Bodensee – um ein anderes sehr kleines Beispiel hinzuzufügen – schicken viele Eltern ihre Kinder auf Schulen im benachbarten Baden-Württemberg, um sie nicht den viel höheren Leistungsanforderungen in Bayern auszusetzen –, was längst zu einem wiewohl noch lokalen Problem für die Schulen in Lindau wird. Wer es sich leisten kann, beschult seine Kinder obendrein privat – durchaus ein Trend, obgleich nicht unbedingt immer mit emanzipatorischen Motiven.

Angesichts von vielfältigen Individualisierungsprozessen lässt sich das Verhältnis von Bildung und Politik nicht mehr in der traditionellen Form abhandeln, wie es von Platon bis Rousseau und darüber hinaus in der politischen Philosophie üblich wurde. So schreibt Taylor noch 1985 in konträrer als der angeführten Perspektive: „das Subjekt selbst kann in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht, ob sie seine Zwecke zunichtemachen oder nicht.“4 Als Kommunitarist gibt Taylor der Gemeinschaft das Primat gegenüber dem Individuum, das ihm unfähig erscheint, von sich aus seine Freiheit selbständig zu nützen bzw. bloß aus sich heraus sich selbst zu verwirklichen.

Just hier liegt das Problem jeder Pädagogik, die das Individuum auf die soziale wie politische Allgemeinheit bzw. Gemeinschaft welcher Art auch immer hin erziehen möchte von Pestalozzi bis zu Wolfgang Klafki, der 1985 bemerkt: „Die Erziehungswissenschaft und das allgemeine pädagogische Bewusstsein (. . .) müssen einen universalen Horizont gewinnen, und zwar im Prinzip in allen Staaten und Kulturen.“5 Das konnte in jenen nachachtundsechziger Jahren noch progressiv klingen. De facto aber entwickelt es ein übergeordnetes normatives Menschenbild, das sich auch auf Anpassungsdruck stützen muss.

Aus der klassischen Perspektive der politischen Philosophie, die sich zumeist auf Platon und Aristoteles beruft, wird in Bildung und Erziehung durch den Staat bzw. die herrschenden Eliten – das können auch Kommunisten sein – den Bürgern vorgeschrieben, was sie sich gefallen lassen müssen. Das gilt erst recht für die sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzende gouvernementale Regierungsform, bei der die Souveränität in den Hintergrund rückt, während sich die Administration an der Logik der Bevölkerung orientiert, was den Eindruck erwecken könnte, die Verwaltung diene der Bevölkerung – man denke an den berühmten Spruch Friedrichs II., er sei der erste Diener des Staates. Dieser Eindruck ist nicht mal falsch: De facto dient die Verwaltung – auch die kommunistische oder eine wissenschaftlich aufgeklärte oder wenigstens beratene – jedoch einer selbstentworfenen Vorstellung von der Bevölkerung, ist nun mal jeder Begriff derselben – und umso mehr das ethnische, gar rassische Verständnis vom Volk – ein metaphysisches Konstrukt, was selbstredend keinesfalls verhindert, dass sich dadurch eine hermeneutische Macht ausbreitet.

Dementsprechend entsteht im 18. Jahrhundert die Pädagogik, in der man Anfang des 19. Jahrhundert Konzepte der Allgemeinbildung entwickelt, wird eine weitgehend flächendeckende Schulausbildung im 18. Jahrhundert propagiert und im 19. Jahrhundert realisiert, deren konkreter Zweck jenseits aller erzieherischen Humanitätsvorstellungen in der Disziplinierung und Herrichtung des Untertanen liegt, so dass dieser seinerseits ein nützliches Mitglied der Gesellschaft wird. Selbst in der Pädagogik Rousseaus, die dem Kind gerecht zu werden versucht, hat dergleichen keinen anderen Sinn, als den Menschen zu einem angepassten Bürger in einer Gesellschaft zu machen, die allerdings nach Rousseaus Vorstellungen Gerechtigkeit und Freiheit realisiert.

Nicht nur im Anschluss an Marx vertreten bis heute viele die Auffassung, dass ein Leitbild in der Erziehung vonnöten ist, allein um der politisch motivierten Gewalt zu begegnen – ein Argument, an dem man denn auch kaum vorbeikommt, wenn man es wenigstens negativ betrachtet und nach jener Handlungsweise fragt, die man als am abscheulichsten ablehnt, weil sie sich der Grausamkeit bedient. Das ist in abendländischer Tradition keineswegs selbstverständlich. Die erste der sieben christlichen Todsünden ist der Stolz, während die Grausamkeit bei den christlichen Todsünden gar nicht vorkommt. Das Christentum bediente sich gar der Grausamkeit – man denke nur an die Inquisition. Für viele Politiker gehört Grausamkeit zum Handwerk, wozu als erster Machiavelli öffentlich aufrief: „Es braucht sich also ein Fürst nicht vor der Nachrede der Grausamkeit zu scheuen, wenn er dadurch seine Untertanen eint und in Treue hält.“6 Noch im selben, dem 16. Jahrhundert wird dagegen Montaigne angesichts von religiösen Bürgerkriegen die Grausamkeit als ein weit verbreitetes Laster bezeichnen: „Verrat, Treulosigkeit, Tyrannei und sinnlose Grausamkeit (. . .) – Laster, die bei uns doch gang und gäbe sind.“7 Daran schließt Judith Shklar 1984 an und wird damit Richard Rorty inspirieren. Grausamkeit zerstört die Menschenwürde und raubt jegliche Freiheit, normalerweise das höchste Gut für Liberale: „Dagegen wertet der Liberalismus der Furcht die Grausamkeit als schlimmstes Laster und erkennt ganz richtig, dass Furcht uns auf den Stand lediglich reaktiver Empfindungswesen zurückwirft.“8 Gerade Misanthropie ist bei Philosophen durchaus verbreitet. Sie führt leicht zur Grausamkeit. Wenn man aber Grausamkeit als das schlimmste Laster versteht, dann sollte das nach Shklar zur Mäßigung beitragen und somit pädagogische Effekte haben.

Allerdings löst auch ein minimalistisches pädagogisches Ziel nicht das Problem auf, dass Erziehung strukturell und mit fortschreitendem Alter des Zöglings umso mehr sich auf eine Autorität berufen muss, die mit individueller Mündigkeit in Konflikt gerät. Daher lässt sich das Problem mit einem neuen Leitbild leider nicht so einfach lösen. Denn seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts orientieren sich sehr viele Bürgerinnen nicht mehr am Staat, schon lange nicht mehr an der Religion oder Tradition, nicht mehr an der Klasse oder am Stand, sondern suchen nach diversen Wegen, die sich nicht mehr homogenisieren lassen: ein ähnliches Problem, das sich dem Nationalstaat bereits im 19. Jahrhundert im Angesicht von Klassenkämpfen stellte, dem er mit keiner Staatsreligion mehr zu begegnen vermochte, weswegen nationalistische Strömungen entstanden, die sich auf die Ethnie beriefen, wenn sie nicht sogar rassistisch dachten.

So verschärft sich im Zuge von Individualisierungsprozessen dieses Problem, lässt es sich nicht mehr durch einen Kompromiss zwischen bestimmten sozialen Gruppen lösen, z.B. durch eine Angleichung von deren Leitbildern. Der gelegentlich wiederkehrende Ruf nach einer Leitkultur verhallt zwischen immer neuen zum Teil primär individuellen Interessen, die sich öffentlich Gehör verschaffen: die Frauen, die Schwulen, Transgender, die Alten, die Behinderten, die Sportler, die Haschischverbraucher, während man höchstens die Raucher zum Schweigen bringt, die so wenig wie die Alkoholkonsumenten eine homogene Gruppe darstellen.

Diese Individualisierungsprozesse und jene der Diversifizierung beschleunigen sich im Zeitalter des Internet. Soziale Netzwerke fördern die Gruppenbildung auch über große Entfernungen hinweg. Das ermöglicht nicht nur religiösen Gruppierungen ortsunabhängig zu werden und bestärkt die Mitglieder solcher Gruppierungen, diesen auch in der Fremde die Treue zu halten. Der Druck, sich in die Gesellschaft zu integrieren, in die sie beispielsweise eingewandert sind, lässt dadurch erheblich nach. Vor diesem Hintergrund erleichtert das Internet auch terroristische Aktivitäten.

Jede Idee von Bildung und Erziehung muss diese Entwicklungen berücksichtigen, insbesondere wenn es um das Verhältnis von Bildung und Politik geht: Die Pluralität in einer Gesellschaft intensiviert sich und zugleich vergrößern sich die individuellen Entzugsmöglichkeiten, verlieren die Institutionen an Einfluss. Informationen und Kommunikation erfolgen über soziale Netzwerke in immer größerem Maße, während nicht nur die Institutionen an orientierender Kraft einbüßen und sich die Stellung der klassischen Massenmedien dezentrieren.

Insgesamt verstärken also die neuen Informationstechnologien die Individualisierungsprozesse, auch wenn dadurch nicht notwendig, doch zumindest optional die jeweilige individuelle Position verbessert wird. Denn durch das Internet und seine diversen Nutzungsmöglichkeiten entsteht auch eine Art individualisierte Öffentlichkeit, in der sich die einzelnen Bürgerinnen einem vergleichsweise großen Publikum mitteilen können. Während die Massenmedien den Zugang zum Publikum kontrollieren und nicht genehme Äußerungen ausschließen – sie bestimmen die öffentlichen Diskurse –, sind jetzt individualisierte Verbreitungswege entstanden, die besonders intensiv von den massenmedial Ausgeschlossenen benutzt werden. Natürlich haben die Massenmedien immer noch eine herausragende Position. Doch sie können ihre hegemoniale Stellung nicht so aufrechterhalten wie in der Zeit vor dem Internet.

Selbstredend gehören zu den im Netz verbreiteten Äußerungen viele, wenig erfreuliche Meinungen, seien diese rassistisch oder religiös fundamentalistisch. Manche Staaten bekämpfen kritische Bemerkungen jeglicher Art. Überhaupt werden die Administrationen zunehmend auf die diversen Netzaktivitäten aufmerksam und beginnen Druck auf das Internet auszuüben, um unliebsame Äußerungen zu unterbinden – in China und Saudi-Arabien extensiv, in der westlichen Welt gezielter, was zweifellos auch in letzterem Fall eine Form der Zensur bedeutet, selbst wenn man nicht unbedingt dergleichen ablehnen muss, weil das Internat natürlich nicht zu einem rechtsfreien Raum avancieren sollte, in dem Beleidigungen und Hasstiraden öffentlich verbreitet werden dürfen. Mag man die Spielräume einengen, wird das trotzdem nicht perfekt gelingen, werden die Individualisierungsprozesse durch das Internet insgesamt beschleunigt, was eine zusätzliche Herausforderung für Pädagogik und Bildungskonzeptionen darstellt – und zwar sowohl hinsichtlich einer Medienerziehung zum bewussten oder kritischen Umgang mit den Medien als auch hinsichtlich von Medienkompetenz. So bemerkt Bernward Hoffmann 2003: Eine aufklärerische „Strategie wendet sich an die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Ihr Ziel ist der ‚mündige Bürger„, der durch Aufklärung über und Einsicht in Gefahren, aber auch positive Möglichkeiten und unterschiedliche Umgangsweisen mit den Medien in der Lage ist, angemessenes Handeln zu entwickeln.“9

Zwar entsteht bereits am Ende des 19. Jahrhundert eine Reformpädagogik, die nicht mehr wie noch die Schule des 19. Jahrhunderts primär darauf abzielt, den Zögling zum so fleißigen wie gehorsamen Untertan zu formen, sondern zum mündigen Bürger. In den neunzehnhundertsechziger Jahren intensiviert diese Perspektive eine kritische Erziehungswissenschaft, die an die Frankfurter Schule anschließt. Aber deren heutiger Hauptvertreter Jürgen Habermas propagiert den rational basierten Konsens – eine Verlängerung des kantischen Ansatzes einer Mündigkeit, die der Vernunft zutraut, ob ihrer Allgemeinheit Menschlichkeit zu realisieren.

Dabei wird viel zu wenig beachtet, dass Vernunft zwar mit relativer Sicherheit Rationalisierungsprozesse in Gang setzt, die indes keinesfalls automatisch humanisierende Wirkungen nach sich ziehen. Denn es gibt nicht die eine Menschheit und das Menschliche – wenn man davon reden will – erscheint als viel zu komplex oder vielfältig, als dass ein davon abstrahierendes Verfahren der Rationalität solcher Komplexität und Vielfalt gerecht werden könnte. So wiederholt die Konsenstheorie den Fehler der klassischen Utopien, die die Welt monokausal aus einem einzigen Prinzip heraus erklären und dementsprechend verändern möchten. Diese Problematik erfasst sogar noch antipädagogische Ansätze, die ihren Höhepunkt vielleicht bei A.S. Neill und Ivan Illich erklimmen, hallt in diesen doch eine rousseausche Vorstellungswelt nach, für die die Kulturentwicklung depravierende Tendenzen beschleunigt und man sich daher an der Natur orientieren müsse. Doch damit begeht man nicht nur den naturalistischen Fehlschluss, liefert die Natur zu selten komfortable Momente, als dass man sie sich zum Vorbild nehmen könnte, was in der Erziehung erst recht für das Kind gilt, an dem sich Rousseau oder Neill orientieren möchten. Vor allem markiert die Natur von sich aus keinerlei Individualität, die aber zum Problem einer posttotalitären Erziehung angesichts von Individualisierungsprozessen avanciert.

Weder bei Kant noch in der Konsenstheorie finden die Individualisierungsprozesse eine hinlängliche Beachtung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert anheben und sich seit dem 20. intensivieren. „Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts“, schreibt Taylor, „setzte eine breitere Reaktion gegen die evangelikale Moral ein, von der behauptet wurde, sie frustriere die Menschen, unterdrücke Freiheit und Selbstentfaltung, bewirke Uniformität, leugne das Schöne und so fort. Von Autoren wie Shaw, Ibsen und Nietzsche ist die Reaktion eindringlich artikuliert worden, (. . .).“10 Die Reformpädagogik reagiert auf diese Entwicklungen unmittelbar. Auch in der kritischen Erziehungswissenschaft spielen diese Aspekte eine Rolle, wiewohl man den individualistischen Grundzug der Zeit eher bekämpft, der sich ja primär den Individualisierungsprozessen verdankt, die durchaus ambivalente Züge zeitigen.

So reflektieren diese wissenschaftlichen Debatten in der Pädagogik teilweise wider Willen diese Entwicklungen, wenn sie sie nicht sogar indirekt beschleunigen – man denke nur an die mit diesen pädagogischen Bestrebungen verbundenen Bemühungen um einen freieren Umgang mit Sexualität, der in der berühmten Odenwald-Schule auch durch diverse Missbrauchsfälle begleitet wurde: in der Antike waren Praktiken zwischen ungleichen Partnern gang und gäbe, die dem heutigen Diskriminierungsverbot eklatant widersprechen. Doch gerade eine Sexualmoral, die auf der Grundlage des Diskriminierungsverbots die individuelle Lust zum Selbstzweck erhebt, löst die einzelne aus ihren Einbindungen in die traditionellen Ordnungen, in denen die individuelle Lust der familiären und sozialen Reproduktion dient. So propagiert Michel Foucault 1984 den Abschied von der christlichen Sexualmoral, von der er „eine Ästhetik der Existenz“ unterscheidet, um die man sich heute wieder kümmern müsse. „Darunter ist eine Lebensweise zu verstehen, deren moralischer Wert nicht auf ihrer Übereinstimmung mit einem Verhaltenscode und auch nicht auf einer Reinigungsarbeit beruht, sondern auf gewissen Formen oder vielmehr auf gewissen allgemeinen formellen Prinzipien im Gebrauch der Lüste.“11

Soweit dachten wohl weder Reform-, kritische noch Antipädagogik: Aus einem mündigen oder kritischen Bürger, der im Stil von Rousseau und Marx das Gemeinwohl bzw. den Sozialismus befördern sollte, entsteht letztlich ein Individualist, der sich hedonistisch an sich selbst orientiert und der nach Foucault die Askese in den Dienst der eigenen Lust nehmen wird. Freilich führt das zunächst in die Selbstfindungs- und Selbstverwirklichungsgruppen der 1970er Jahre, bis man die sich in Woody Allens Filmen reproduzierenden Selbstzweifel langsam hinter sich lässt – eine Entwicklung, die sich in Allens filmischem Werk wiederspiegelt.

Nicht allein dadurch verstärkt sich für die Pädagogik die Schwierigkeit, dass sich der Pädagoge gegenüber dem Zögling notorisch in einem hierarchischen Verhältnis befindet – eine Problematik, die natürlich auch noch in allen Bildungskonzeptionen unvermeidlich nachhallt, selbst wenn sich diese nicht mehr allein an der schulischen Erziehung orientieren oder wenn sie dezidiert versuchen, die Bedeutung des Pädagogen zu minimieren. Trotzdem führt am Satz von Josef Mitterer kaum ein Weg vorbei: „Die Erziehung zur Wahrheit ist immer die Erziehung zur Wahrheit des Erziehers.“12 Doch was folgt daraus? Theo Hug weigert sich, dem Satz einfach eine Widersprüchlichkeit zu attestieren, die nur im Licht der bivalenten Logik oder der aristotelischen Syllogistik erhoben werden kann. Hug geht vielmehr davon aus, dass sich in Mitterers Denken Gegensätze durchaus fruchtbar begegnen und sich gegenseitig inspirieren. Das gilt bei Mitterer, so Hug, auch für das Verhältnis von Poesie und Wissenschaft. Hug schreibt: „Ähnlich wie Ernst von Glasersfeld bietet Mitterer Gedanken und Konzepte an und versucht nicht, andere zu bekehren oder ein neues Paradogma zu etablieren. Mit seinem Werk und der erfolgreichen Art und Weise, seine Philosophie zu leben, zeigt er fruchtbare Umgangsformen mit der Beziehung zwischen der Erfahrungswirklichkeit und der Wirklichkeitserfahrung.“13

Im Zeitalter von Individualisierungsprozessen beschleunigen und vervielfältigen sich solche Herausforderungen, gerade wenn es nicht nur um Erziehung und Bildung im Allgemeinen, sondern explizit um deren Verhältnis zur Politik geht Das führt letztlich in ein anderes Verständnis von politischer Bildung als die gängigen von der politischen Ordnung, von der Demokratie, vom Verfassungspatriotismus oder vom Sozialismus. Mündigkeit oder Kritik heißen dabei genau so viel, wie das jeweilige Konzept es dem Zögling, also der Bürgerin, zugesteht. Das entbirgt sich beispielsweise, wenn Johannes Agnoli schreibt: „Es dient keinem Herrschaftssystem, wenn die Techniken des Herrschens den Beherrschten zum Bewusstsein gebracht werden. (. . .) Bei zunehmender Involution klaffen staatsbürgerliche Volksbildung (ein Mittel der Staatsfestigung- und -Erhaltung) und politikwissenschaftliche Erkenntnis (ein Herrschafts- aber auch Emanzipationswissen) auseinander.“14 Und selbst das Verhältnis zwischen Herrschafts- und Emanzipationswissen liegt keineswegs auf der Hand, ganz zu schweigen davon, dass es historisch relativ ist und sich plötzlich verkehren kann.

Denn dabei spielt die Pädagogik nicht nur eine die jeweilige Politik stützende Rolle, selbst wenn sie sie kritisch begleiten möchte. Sie liefert dieser auch häufig noch vermeintlich überzeugende Metaphern, vor denen Hannah Arendt freilich warnt: „Überhaupt ist damals wie heute nichts fragwürdiger als die politische Relevanz von Beispielen, die aus der Erziehung gewonnen sind.“15 Die Politik rekurriert bis heute gerne auf patriarchalische oder bevormundende Muster, die auch die Pädagogik liefert. Denn einerseits werden in der Politik gewisse hierarchische Strukturen notorisch wiederkehren, wie andererseits die Sorge des Erziehers um den Zögling schwerlich vermieden werden kann.

Allerdings haben nicht nur die diversen politischen Aktivitäten, die viele Bürgerinnen von sich aus in den letzten Jahrzehnten anfingen, sondern auch die Individualisierungsprozesse gezeigt, dass die Bürgerinnen sich ein bestimmtes politisches Verständnis nicht mehr so einfach implantieren lassen – eine Entwicklung, die sich gleichfalls globalisiert, nützen das Netz nicht nur direkt oder indirekt terroristische Totalitaristen, sondern auch Bürgerinnen, die sich überall auf der Welt von welcher Bevormundung auch immer befreien möchten. So entsteht eine Öffentlichkeit jenseits der klassischen Massenmedien, die die außerinstitutionellen Partizipationsformen an der Politik verlängern, die im letzten halben Jahrhundert immer stärker um sich greifen. In gewisser Hinsicht treten bestimmte Muster in Politik und Pädagogik auseinander, bzw. müsste der Bildungsbegriff just stärker auf diesen Anspruch auf Individualität und Mündigkeit rekurrieren, den ich daher hier nicht auf die Schule beschränken möchte, sondern vielfältige andere Formen integrieren, so dass Bildungsprozesse beispielsweise auch durch außerinstitutionelle politische Partizipation stattfinden: Bürgerinnen bilden sich selbst durch politisches oder kulturelles Engagement! Solche Selbstbildungsprozesse sollten Institutionen begleiten und fördern, sicher auch gelegentlich eingreifen, wenn solche Prozesse beispielsweise in Radikalismus und Fundamentalismus abzugleiten drohen. Hier spielt auch die Medienpädagogik eine wichtige Rolle, wenn sich diese selbstkritisch reflektiert und ihre lenkende Beziehung zur sich politisch bildenden Bürgerin selbst zu beschränken versucht. Just vor dem Hintergrund von individuellen Autonomisierungsprozessen verschärft sich das Problem der politischen wie der pädagogischen Autorität. Das erkennt auch Hoffmann in Bezug auf die Medienbildung: „Letztlich ist der Personwerdungsprozess jedes einzelnen unverfügbar; das Subjekt entfaltet sich nach seinen eigenen generativen Ausdrucksmustern, ohne ständige pädagogische Anleitung; diese Dimension umfasst der Bildungsbegriff.“16

Dergleichen zeigt sich beispielsweise permanent im Internet, in das Politiker rechtliche Strukturen einzuziehen versuchen, während Pädagogen einen kritischen Umgang damit befördern möchten. Freilich kann sich eine Analyse des Verhältnisses von Bildung und Politik nicht auf die neuen Medien beschränken. Politik und Bildung beruhen beide seit ihren Anfängen auf Medien, genauso wie ihr gegenseitiges Verhältnis natürlich medial vermittelt ist. Und es entstanden auch nicht erst im Zuge der postmodernen Informationstechnologien Individualisierungsprozesse, wiewohl die zeitgenössischen in der Tat eine nachhaltigere Dynamik entfalten als frühere. Das liegt nicht zuletzt an der sich verbreiternden Bildung und am Anspruch von immer mehr Zeitgenossinnen, sich immer weniger bevormunden zu lassen, was natürlich nicht ausschließt, dass sie sich darüber täuschen. Aber so einfach ist es nicht mehr, wie es sich Taylor noch 1984 vorstellt. So richtig täuschte man sich nur, wenn es denn ein klar bestimmbares Selbst gäbe. Doch just das steht seit längerem in Frage. Wenn das Selbst eine Konstruktion bleibt, dann verliert die Täuschung ihren irrenden Charakter, bestimmt die Konstruktion vielmehr das Selbst.

Trotzdem werden derartige Positionen vertreten, auf die ich in meiner Analyse des Verhältnisses von Bildung und Politik im Informationszeitalter auch eingehe, um eine Konzeption von Bildung und Politik zu erarbeiten, die sowohl den Individualisierungsprozessen als auch der fortschreitenden Informatisierung gerecht wird, ohne damit Bildung durch Wissen und Information ersetzen zu wollen. Konrad Paul Liessmann kritisiert die Bildungsdebatte: „Wer sich auf der Höhe der Zeit wähnt, spricht deshalb heute nicht mehr von Bildung, die sich immer an einem Individuum und der Entfaltung seiner Potentiale orientierte, sondern von ‚Wissensmanagement„.“17 Doch am klassischen Bildungsideal kann man auch nicht mehr festhalten. Zumindest muss es um- und weitergedacht werden. Denn das Individuum Voltaires, Rousseaus, Kants, Goethes und Humboldts verdankt sich einem Menschenbild, das das Individuum zwar von religiöser Bevormundung befreit, es aber einem Ideal der Allgemeinheit unterordnet. Es darf sich seine ethischen Orientierungen nicht selber zusammensuchen.

Daher bleibt nichts anderes, als vom Individuum aus ein Konzept von Bildung zu entwerfen. Denn viele individualisierte Bürgerinnen lassen sich Unterordnung nicht mehr gefallen. Nicht nur dass sie im Geheimen gegen die Regeln der Universalität verstoßen – wie man sich im Mittelalter katholischen Normen entziehen musste –, wiewohl selbstredend ohne schlechtes Gewissen – das den Homo viator womöglich noch plagte. Sie widersprechen heute vielmehr öffentlich einem hegemonialen Diskurs, wie überhaupt viele Minderheiten öffentlich das Wort ergreifen und ihre Lebensformen nicht mehr als angeblich unsittliche verbergen: z.B. den Gebrauch der Lüste mit dem eigenen Geschlecht. Das vom Universalismus nicht mehr bevormundete Individuum entwirft sich selbst und somit eine eigene Vorstellung von Bildung, eben wozu und wie es selber gerne gebildet sein möchte.

Dass man nur aus dem Gedachten denken kann, dass die Bürgerin ihr Selbst aus den angebotenen Ideen zusammenbastelt, versteht sich von selbst. So konstatiert Heidegger: „Was immer und wie immer wir zu denken versuchen, wir denken im Spielraum der Überlieferung. Sie waltet, wenn sie uns aus dem Nachdenken in ein Vordenken befreit, das kein Planen mehr ist. Erst wenn wir uns denkend dem schon Gedachten zuwenden, werden wir verwendet für das noch zu Denkende.“18 Derart eröffnet die Überlieferung Spielräume, die nicht nur eine Wahl ermöglichen, sondern dazu zwingen. Das Individuum wählt seine ethischen Normen und bildet sein Selbst, auch wenn es als Kind längere Zeit nur von außen gebildet wird. Das Individuum ist selbst dann noch Wahl, wenn es nicht wählt bzw. wie Sartre bemerkte: „was auch unser Sein sein mag, es ist Wahl.“19

Wenn die Begriffe Bildung und Politik keinesfalls als selbstverständlich vorausgesetzt werden können, dann gilt es die jeweiligen gegenseitigen Beziehungen zu eruieren – und zwar gemäß meiner Fragestellung mit besonderer Berücksichtigung der Medien. Welche Rolle spielt die Bildung für die Politik und umgekehrt? Und wie beeinflussen die Medien diese Prozesse? Welche Rolle spielen dabei die individualisierten Bürgerinnen? Inwieweit entziehen sie sich staatlichen Lenkungsbemühungen, der politischen Pädagogik?

3Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2007), Frankfurt/M. 2009, 792

4 Charles Taylor, Negative Freiheit – Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1985), Frankfurt/M. 1988, 125

5 Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (1985), 2. Aufl. Weinheim/Basel 1991, 80

6Niccolò Machiavelli, Der Fürst (1532), Wiesbaden 1980, 68

7Michel de Montaigne, Über die Menschenfresser, Essais Bd. 1 (1572-1592), Frankfurt/M. 1998, 326

8 Judith Shklar, Ganz normale Laster (1984), Berlin 2014, 11

9Bernward Hoffmann, Medienpädagogik – Eine Einführung in Theorie und Praxis, Paderborn 2003, 30

10 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2007), 822

11 Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste - Sexualität und Wahrheit 2 (1984), Frankfurt/M. 1989, 118

12 Josef Mitterer, Die Hure Wahrheit – auch Duerr ein Zuhälter? in: Rolf Gehlen, Bernd Wolf (Hrsg.), Der gläserne Zaun. Aufsätze zu Hans Peter Duerrs ‚Traumzeit‘, Frankfurt/M. 1983, 273

13 Theo Hug, Erziehung zur Wahrheit? in: Alexander Riegler, Stefan Weber (Hrsg.), Die Dritte Philosophie. Beiträge zu Josef Mitterers Non-Dualismus. Weilerswist 2010, 250

14 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie (1967), 18

15 Hannah Arendt, Was ist Autorität? (1957); in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Übungen im politischen Denken I, 2. Aufl. München 2000, 185

16 Bernward Hoffmann, Medienpädagogik, 2003, 32

17 Konrad Paul Liessmann, Theorie der Unbildung – Die Irrtümer der Wissensgesellschaft, Wien 2006, 53

18Martin Heidegger, Der Satz der Identität (1957), in: ders., Identität und Differenz, 10. Aufl. Stuttgart 1996, 30

19Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts (1943), Reinbek 1993, 817

I. Teil

MEDIEN UND POLITIK

Wenn Aristoteles immer noch recht haben sollte und die Politikwissenschaft im Staat die leitende Wissenschaft wäre, die vorgibt, welche Wissenschaften der Staat braucht – wiewohl sich heute die Politikwissenschaft ob ihrer technokratischen, antiphilosophischen Neigungen das sicher nicht einbilden sollte –, trotzdem hängt das Verhältnis von Bildung und Politik dann primär vom jeweiligen Politikverständnis ab. Im Rückgriff auf Rancière entwerfe ich vier verschiedene Modelle, aus denen sich verschiedene Bildungskonzepte ableiten lassen, die dabei auch auf politische Bildung abzielen bzw. dieser bestimmte Funktionen attestieren oder auch bestreiten. Die Grundfragen des vorliegenden Textes lauten dann: Was ist das politische Ziel von Bildung bzw. umgekehrt wie wirkt Bildung auf die Politik zurück? Und welche Rolle spielen dabei Individualisierungs- und Informatisierungsprozesse?

Wenn man indes dabei auch die Medien in den Blick nimmt, dann gilt es vorab zu fragen, welche Rolle die Medien in der Politik im Allgemeinen und in diesen vier verschiedenen Politikmodellen im Besonderen spielen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den medialen Bedingungen von Politik für die jeweiligen Bildungskonzeptionen auch hinsichtlich der politischen Bildung bzw. der Rückwirkung von Bildung auf die Politik? Welche Rolle spielt die Medienbildung für die Politik, für die Bildung wie die politische Bildung? Die Antworten auf diese Fragen werden je nach Politikmodell unterschiedlich ausfallen.

Wenn sich dabei im zweiten Teil die Frage nach den politischen Zielen von Bildung, politischer Bildung und Medienbildung ergibt, dann muss man vor allem beachten, inwiefern sich der Prozess der Individualisierung darauf auswirkt und Konzeptionen verändern könnte. Bildung ist seit dem 19. Jahrhundert eine öffentliche, Aufgabe. Der Staat organisiert das Bildungswesen und verfolgt dabei einerseits eigene Zwecke und andererseits soziale. Gouvernemental betreibt er damit Biopolitik, die sich entweder auf bestimmte Wissenschaften oder Menschenbilder stützt. Dementsprechend wäre das politische Ziel von Bildung schnell bestimmt, nämlich entsprechend der biopolitischen Ziele, die Hegung der Bevölkerung, um die Macht des Staates zu stärken, die wiederum der Volkswirtschaft zu dienen hat. Doch im Zeitalter der Individualisierung kann man die Frage nach dem politischen Ziel von Bildung nicht mehr so leicht beantworten. Wie weit spalten sich die Antworten auf die Frage nach dem politischen Ziel von Bildung unter Individualisierungsbedingungen auf? Das Individuum verfolgt mit der Bildung eigene Zwecke und lässt sich nicht mehr ohne weiteres vom Staat bevormunden. Es bildet sich ein Stück weit selbst und manipuliert dabei die staatlichen oder sozialen Funktionen. Es holt sich die eigene Bildungskompetenz ein Stück weit vom Staat wieder zurück. Dadurch beeinflusst es die Politik durch diverse Aktivitäten und beteiligt sich auf diese Weise an der Politik.

Der individualisierte Zeitgenosse verlangt durchaus politische Teilhabe, ohne sich jedoch politischen Ordnungen einfach unterzuordnen und ohne diese revolutionär als Ganzes unbedingt umgestalten zu wollen. Er zielt statt auf Revolution, die sich auch als eine bestimmte Ordnung präsentiert, auf Involution, auf partizipatorische Teilhabe immer dort, wo er sich ausgeschlossen fühlt. Der Begriff der Involution entwickelt mit und gegen Rancière den Anspruch der Teilhabe von jenen, die zumindest punktuell nicht aktiv an der Politik Anteil nehmen, was sich nicht durch staatliche Integration realisiert, sondern durch individuelle Partizipation in Bereiche hinein, die dem Individuum bisher verwehrt sind – also Partizipation unter Individualisierungsbedingungen, die sich grundsätzlich gegen Diskriminierung wehrt, dabei durchaus individuelle Interessen vertritt, die jedoch über diese Interessen hinausweisen und inkludierend und nicht exkludierend an die Interessen anderer anzuknüpfen vermögen. Involution hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalismus, Fundamentalismus bzw. Totalitarismus zu tun, sondern bemüht sich um die verbindenden Kräfte in einer pluralistischen, individualisierten Gesellschaft. Sie verabschiedet die Politik nicht wie gewisse libertäre oder neoliberale Konzeptionen, die Politik durch Ökonomie ersetzen wollen. Sie will an der Politik teilhaben, ohne aber der institutionellen Politik einen Primat einzuräumen. Politik entsteht durch die Kommunikation der Bürger selbst, individuell und nicht sich in eine Hierarchie einordnend, will somit Politik erweitern, nicht durch etwas anderes ersetzen wie Ökonomie, Religion oder Militär. Dieses Verständnis von Involution durchzieht den vorliegenden Text eingrenzend und ausgrenzend bezogen auf die unterschiedlichen Politikverständnisse.

Individualisierung und Involutionsbemühungen bereiten denn auch drei der vier Politikmodelle Schwierigkeiten, so dass sie diese Individualisierungsprozesse bekämpfen. Es geht diesen drei Modellen explizit entweder nicht oder bloß partiell um Involution. Allein das vierte Modell stellt die Fragen, wie Involutionsprozesse durch Bildung gefördert werden können – Fragen, die vor allem im dritten Teil beantwortet werden, in dem es dann darum geht, in welchem Verhältnis Politik, Bildung, Medien- und politische Bildung unter Individualisierungsbedingungen zueinander stehen.

1. Vorlesung

WAS IST POLITIK?

Was ist das politische Ziel von Bildung im Allgemeinen und von Medienbildung im Besonderen? Es ist nicht selbstredend Involution. Auch der politische Sinn von Bildung ist sowohl aus individueller als auch staatlicher Perspektive primär ein ökonomischer. Ein partizipatorisches Ziel der demokratischen Teilhabe bleibt dabei zumeist im Hintergrund. Das gilt selbst noch für die Medienbildung und entspricht auch der Wertehierarchie der meisten Zeitgenossen, die in einer neoliberalen Epoche leben, wenn die Ökonomie nicht nur gegenüber der Politik einen zunehmend hegemonialen Diskurs entfaltet und dabei auch für viele Zeitgenossen attraktiv ist – und sicher nicht nur für die Initiativen jener reichen Millionäre aus dem Silicon Valley, die versuchen, sich auf autonomen Inseln im Meer von jeglicher Staatlichkeit zu befreien. Colin Crouch sieht in dieser Entwicklung „eines der ernstesten Symptome für den Anbruch des postdemokratischen Zeitalters, da der Aufstieg der Wirtschaftseliten mit einem Schwinden der kreativen Dynamik der Demokratie einhergeht.“20

Für jene, die wie Wolfgang Streeck und Oskar Negt diese Entwicklung im Sinn von Crouch für eine Gefährdung des Gemeinwesens halten, könnte sich die Frage Wozu Bildung und Medienbildung? mit Als politische Bildung! beantworten lassen, um dadurch dem Prozess der Ökonomisierung zu widerstreiten. Denn so Streeck: „Mit einem demokratischen Staat dagegen ist der Neoliberalismus unvereinbar.“21 Aber lässt sich das Problem so einfach wie allgemein lösen?

Offenbar nicht. Vertreter des Neoliberalismus werden diese Antwort bestreiten: Bildung wie Medienbildung brauchen die Zeitgenossen aus ökonomischen Gründen. Da die Neoliberalen den Staat minimieren wollen, ist die in Demokratien propagierte politische Bildung marginalisierbar, kann man auf sie eigentlich ganz verzichten. Sie hat mit Medienbildung im Besonderen und Bildung im Allgemeinen gar nichts zu tun. Dann zielt Medienbildung auf ein pragmatisches Wissen und technische Fertigkeiten, die primär ökonomisch verwertbar sind, damit sich die Zeitgenossen allemal viel stärker für Ökonomie als für Politik interessieren. Medienbildung hätte dann wie Bildung einen entpolitisierenden Sinn, soll nicht politisch, sondern unpolitisch bilden. Wie bemerkt doch Liessmann: „Die Ökonomisierung des Wissens hat seine Entschärfung zur Voraussetzung.“22 Das Unpolitische aber, ein Wissen, das politisch nicht mehr scharf zu unterscheiden vermag, wäre die richtige Politik, nämlich Ökonomie als Politik bzw. an Stelle von Politik. Dieses Verständnis ist heute weit verbreitet und keineswegs auf radikale libertaristische Kreise beschränkt. Vielmehr hat es unter anderem zur Ökonomisierung des Bildungs- und Sozialsystems sowie des Gesundheitswesens geführt. Politische Bildung wird nur von den engagierten Demokraten gefordert, zu denen man zwar viele Neoliberale genauso zählen kann wie Konservative, die doch von politischer Bildung ein anderes Verständnis haben.

Einen ähnlichen Zweck der Bildung wie Neoliberale könnten auch Vertreter autoritärer Herrschaftsformen propagieren, für die politische Bildung höchstens das Ziel hat, den Bürgern zu vermitteln, dass Führung und Einheit für den Erfolg des Staates unabdingbar sind. Daher wird in solchen Regimen kaum von einer politischen Bildung gesprochen, die auf die Befähigung zur politischen Teilhabe abzielen soll. Dass die Medien dazu ihren Teil beitragen, sollte durch Medienbildung gleichfalls nicht unbedingt hervorgehoben werden. Unter autoritären Regimen entfaltet weder politische noch Medienbildung aufklärenden Charakter, um Mündigkeit zu fördern, sondern besitzt bestenfalls einen anpassenden Zweck. Entweder gibt es dabei Mündigkeit so wenig wie im Neoliberalismus, oder sie verlieren ob ihres affirmativen Charakters ihren politischen, transformiert sich das Unpolitische ins Politische. Bildung soll den Untertan hervorbringen, dem man das am besten beim Militär beibringt, während Volkshochschulen entweder der entspannenden Erbauung und Unterhaltung dienen, oder vielleicht noch der Fortbildung für berufliche Zwecke.

Für ein demokratisches Denken, das primär auf Konsens abzielt, soll politische Bildung dagegen über die Funktion demokratischer Institutionen und politische Zusammenhänge aufklären, sowie ein kritisches Denken fördern. Dem Mainstream der Philosophie entsprechend darf man noch eine analytische Kompetenz hinzu addieren, damit die Bürgerin das politische Geschehen systemadäquat und rational zu verstehen in der Lage ist und gegebenenfalls zu einem öffentlichen Vernunftgebrauch, den John Rawls propagiert. Dazu gehört Medienbildung nur soweit, wie sie die wichtige Rolle von Medien und Meinungsfreiheit für die Demokratie vermittelt. Den meisten Vertretern dieses Politikverständnisses reicht es völlig, wenn die Zeitgenossen der medialen Wirklichkeit mit einer objektivierenden Kritik begegnen, die politische Interessen unterscheidet, politische Institutionen auf ihre Funktionen hin abklopft und die politische Sprache weitgehend so nimmt, wie sie sich zu verstehen gibt. Dazu reichen dann allemal eine Analyse der Fakten und eine kritische Würdigung von Zusammenhängen, nimmt man Medien und Politik weitgehend, wie sie sich selbst präsentieren. So insistiert Klafki auf der von Marx abgeleiteten „Erkenntnis, dass die praktisch-werktätige Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit eine fundamentale Basiskomponente seiner personalen Entwicklung ist, sofern sie nicht zu früher Abrichtung degeneriert; zum anderen aber, dass dem Anspruch einer umfassenden allgemeinen Menschenbildung nur entsprochen werden kann, wenn von den frühesten Phasen an, wenngleich in einem gestuften Gang, die Perspektive künftiger beruflicher Tätigkeiten und Bewährungen im Bildungsgang selbst repräsentiert ist.“23

Wie Handeln und im Besonderen politisches Handeln sich strukturieren, das spielt dabei kaum eine politische Rolle, geht es um eine inhaltliche Bestimmung der verfolgten bzw. der zu verfolgenden Zwecke. Da weder Bildung noch Medienbildung im deliberativen Zusammenhang die Aufgabe haben, die politische und mediale Konstruktion von Wirklichkeit zu analysieren, bleiben sie ein von der politischen Bildung getrennter Bereich.

Indes bemerkte Marshall McLuhan bereits 1967, dass das Medium hintergründig die Wirklichkeit stärker prägt als der Inhalt, den es transportiert: „Das Medium ist die Botschaft. Das Medium ist verborgen der Inhalt offensichtlich. Aber die eigentliche Wirkung rührt vom verborgenen Grund her, nicht von der Figur.“24 Das Medium konstituiert dadurch Wirklichkeit, dass es den Rezipienten anschließt, seine Vorstellungen prägt, nicht dadurch dass es Inhalte vermittelt.

Was in der medialen Welt inhaltlich passiert, mag Skandale auslösen, entscheidend ist, dass die Zeitgenossen sich freiwillig den medialen Systemen anheimgeben und die Welt medial verstehen. Das umschreibt Hoffmann mit dem Beispiel der Fotografie: „Das, was das Foto abbildete, existierte mit absoluter Sicherheit oder hatte existiert an irgendeinem konkreten Ort.“25 Just derart objektivistisch verfehlt Medienpädagogik die Strukturen, die Medien welcher Art hintergründig und die Wirklichkeit konstituierend dem Bewusstsein der Zeitgenossen eingeben. Fotos sind nicht die Wahrheit, sondern können lügen, weil sie mit der Wahrheit lügen. Derart konstruieren sie die Wirklichkeit. Das gilt für die ersten Medien, Schrift und Sprache. Für Wesen ohne differenzierte Sprache, die Laute nur benutzen, um Schmerz und Leid auszudrücken, gibt es keine Wirklichkeit.

Wer die Politik daher nicht primär von den vermeintlich objektiven Inhalten her begreift, sondern von den sprachlichen Formen, der hinterfragt diese evidenten Zusammenhänge zwischen Medien und Politik: Konstruieren Medien die Wirklichkeit und auf diese Weise auch die Politik? Entfaltet umgekehrt die Politik ihre Macht primär dadurch, dass sie vermittels der Medien das Wirklichkeitsverständnis der Zeitgenossen prägt? Weniger durch Inhalte? Dazu braucht man medientheoretische Zugänge genauso wie konstruktivistische Differenzierungen der medial gestalteten Wirklichkeit, die das Denken der Zeitgenossen strukturiert, sofern man Politik aus