Das Blau des Sprachspiels - Hans-Martin Schönherr-Mann - E-Book

Das Blau des Sprachspiels E-Book

Hans-Martin Schönherr-Mann

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Beschreibung

Das Buch führt in Wittgensteins experimentelles Denken ein, das demjenigen Nietzsches ähnelt, und es zeigt ansatzweise, wie postmoderne und pragmatische politische Philosophien auf Wittgensteins späterer Sprachphilosophie aufruhen. Obgleich diese selbst kaum politische Perspektiven entfaltet, zerbröseln im Spiel der Sprache essentialistische und allgemeine Bestimmungen der Politik - man denke an Volk, Nation, Sozialismus, Kapitalismus oder an Geopolitik, Souverän und Entscheidung. So entwirft sich Politik vor dem Hintergrund von Sprachspiel, Ereignis und Verantwortung individualistisch und hedonistisch, aber kommunikativ. Denn die Sprache verbindet nun mal die Zeitgenossinnen, wiewohl im individuellen Interesse, was sich aber niemals atomistisch generieren kann, vielmehr Gesellschaft und Umwelt braucht und zwar als zivilgesellschaftliche und emanzipatorische Aktivitäten. Dabei kehren jenseits jeglicher Revolutionshoffnungen auch soziale Fragen wieder, in die jene ehemals einzige soziale Frage angesichts des Sprachspiels zerfällt. Politisches Denken entfaltet dabei eine spielerische Ironie, mit der man Nationalismus, Fundamentalismus und Totalitarismus am nachhaltigsten politisch begegnet, wenn sich dadurch deren besessene Bemühungen um Ernsthaftigkeit als zufällig, illusionär und gewalttätig entpuppen. Wie schrieb doch Wittgenstein: "Was ich lehren will: von einem nicht offenkundigen Unsinn zu einem offenkundigen übergehen."

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Zum Buch: Die Vorlesungen stellen Wittgensteins experimentelles Denken dar, das in dieser Hinsicht Nietzsche ähnelt, und sie zeigen ansatzweise, wie postmoderne und pragmatische politische Philosophien auf Wittgensteins später Sprachphilosophie aufruhen. Obgleich diese selbst zwar kaum politische Perspektiven entfaltet, führt die Vorlesung vor, wie essentialistische und allgemeine Bestimmungen der Politik sprachlich zerbröseln.

Sprachphilosophisch entwirft sich Politik vor dem Hintergrund von Sprachspiel, Ereignis und Verantwortung individualistisch und hedonistisch, aber kommunikativ. Denn Sprache verbindet nun mal die Zeitgenossinnen, wiewohl im individuellen Interesse, was sich aber niemals atomistisch generieren kann, vielmehr Gesellschaft und Umwelt braucht. Eine sprachphilosophische Orientierung des sozialen Bandes entspricht damit den zivilgesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit ihren diversen Emanzipationsprozessen. Dabei kehren jenseits jeglicher Revolutionshoffnungen auch soziale Fragen wieder, in die die soziale Frage sprachphilosophisch zerfällt.

Politisches Denken muss dabei eine spielerische Ironie entfalten, mit der man Fundamentalismus, Nationalismus und Totalitarismus am nachhaltigsten politisch begegnet, wenn sich dadurch deren besessene Bemühungen um Ernsthaftigkeit sprachphilosophisch als zufällig und illusionär entpuppen.

Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für Politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Inst. der Univ. München, Lehr- und Prüfungsbeauftragter an der Hochschule für Politik München, seit 2004 regelmäßiger Gastprof. an der Fak. für Bildungswiss. der Univ. Innsbruck; aktuelle Bücher: Involution oder Revolution – Vorlesungen über Medien, „Bildung und Politik“ an der Universität Innsbruck 2013-17, BoD 2017; Was ist politische Philosophie, Campus Studium 2012; Politik zwischen Verstehen und Werten – Hermeneutik als politische Philosophie. Vorlesungen am Geschwister-Scholl-Institut 2002/2003, SVH 2016; Die Macht der Verantwortung, Karl Alber – Hinblick 2010; Sexyness als Kommunikation – Die Geburt der Sexualität aus dem Geist der Massenmedien, BoD 2016

Für Irmi

Inhalt

Vorwort

V

ORLESUNG

: Macht und Sprache: Ein Anfang im

Tractatus logico-philosophicus

1.1. Die Macht der Sprache als Bedeutung

1.2. Die Sprache der Macht als Erlösung

1.3. Die endgültige (Er)lösung aller Probleme

V

ORLESUNG

: Sprache und Wirklichkeit beim frühen Wittgenstein

2.1. Die logische Welt der Tatsachen

2.2. Bild und Wirklichkeit

2.3. Satz und Wirklichkeit

2.4. Die Logik der Welt als Sprache der Naturwissenschaften

2.5. Das Denkbare und das Undenkbare

V

ORLESUNG

: Die Grenzen der Sprache in den

Philosophischen Bemerkungen

(1930) und in

The Big Typescript

(1933)

3.1. Hat das Wort nur im Satzzusammenhang Bedeutung?

3.2. Der Vorzug der Alltagssprache gegenüber der idealen Sprache

3.3. Der Sinn der Komplexität in der Philosophie

3.4. Das unabdingbare Verbleiben innerhalb der Grenzen der Sprache

V

ORLESUNG

: Die fragwürdig werdende Identität von Sprache und Wirklichkeit

4.1. Sinn und Bedeutung aus Absicht und Zweck: die Macht der Sprache

4.2. Das fragwürdige Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit

4.3. Die der Wirklichkeit geschuldete Macht der Sprache und die der Sprache geschuldete Wirklichkeit

V

ORLESUNG

: Die Frage der Bedeutung im

Blauen Buch

5.1. Die Sprache zwischen Macht und Gewalt

5.2. Sprachlicher Sinn im Gebrauch von Sprache

5.3. Was fügt der Geist dem Zeichengebrauch hinzu?

5.4. Denken als Operieren mit Zeichen

5.5. Bedeutung als der besondere Gebrauch der Sprache

V

ORLESUNG

: Unterwegs zum Sprachspiel im

Blauen

und

Braunen Buch

6.1. Grenzen der Regelhaftigkeit des Sprachgebrauchs

6.2. Welche Bedeutung gewinnt die Sprache als Form des Lebens?

6.3 Familienähnlichkeit anstatt Allgemeinheit: der Sinn der Deskription

6.4. Sprachgebrauch und Sprachspiele

V

ORLESUNG

: Die Frage von Sprachregeln in den

Philosophischen Untersuchungen

7.1. Die Macht der eindeutigen Bedeutung

7.2. Die Verunsicherung des Referenten im Alltag

7.3. Die Machtlosigkeit der Regel des Gebrauchs und die Macht der vagen Regel

V

ORLESUNG

: Das Sprachspiel und das Denken

8.1. Wo sind die Regeln des Verstehens im Labyrinth der Sprache?

8.2. Die Bedeutung des Denkens und die gedankenlose Bedeutung

8.3. Sprachspiele der Bedeutung als Unernst der Sprache

V

ORLESUNG

: Alltagssprache und Lebensform in den

Philosophischen Untersuchungen

9.1. Die Sprachspiele der Alltagssprache und die Alltäglichkeit des Sprachspiels

9.2. Macht und Gewalt in den Sprachspielen als Lebensformen

V

ORLESUNG

: Ethik und Psychoanalyse im Spätwerk Wittgensteins

10.1. Die sprachliche Mannigfaltigkeit und die Unschärfe des Ethischen

10.2. Ethik des Sprachspiels jenseits der Metaphysik

10.3. Psychoanalyse als wirkungsmächtige Mythologie

V

ORLESUNG

: Religion in Wittgensteins Spätwerk

11.1. Religiöser Glaube und wissenschaftliches Wissen

11.2. Religiöser Glaube im Labyrinth der Sprache

11.3. Der religiöse Glaube in der Alltagswelt

11.4. Die Distanz zwischen religiösen und nichtreligiösen Sprachspielen

V

ORLESUNG

: Was ist gewiss, wenn die Sprache ungewiss erscheint?

12.1. Die Beschränktheit der Regel und ihr Rekurs auf Gewissheit

12.2. Glauben als Vorform der Gewissheit

12.3. Welcher Zweifel bleibt angesichts der Gewissheit?

12.4. Kann man Gewissheiten überprüfen?

V

ORLESUNG

: Gewissheiten zwischen Erfahrungswelt und Weltbild

13.1. Die Erfahrungswelt als Horizont der Gewissheit

13.2. Sprachliche und nichtsprachliche Gewissheit

13.3. Keine, ferne und nahe Gewissheiten

13.4. „Die (ungewissen) ‚gewissen„“ Grenzen der Ungewissheit

13.5. Das Weltbild als subjektives wie objektives System der Vergewisserung

13.6. Die Ungewissheiten des Sprachspiels

Literatur

Personenregister

„Angenommen, ich sage, dass mein Leib verfaulen wird, und jemand anderes sagt: ‚Nein. Die Teile werden sich in tausend Jahren wieder zusammenfügen, und du wirst auferstehen.„ Wenn man mich fragte ‚Wittgenstein, glaubst du das?„ würde ich sagen ‚Nein„. ‚Widersprichst du ihm?„ Ich würde sagen ‚Nein„.“

(Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben, 1938)

VORWORT*

Philosophen, die aus dem Background des Marxismus denken, betreiben gemeinhin Sozialphilosophie, keine politische Philosophie. Diese war primär konservativen Theoretikern und Liberalen vorbehalten. Letztere entwerfen politische Philosophie primär als praktische Philosophie – man denke an Rawls und Kant. Erstere stützen sich dabei auf eine metaphysische Ontologie – z.B. Strauss und Voegelin – oder bei Schmitt auf einen Dezisionismus. Allen – das gilt auch für die linken Sozialphilosophen –, soweit sie im 20. Jahrhundert zuhause sind, darf man dabei Sprachvergessenheit attestieren.

Erst aus dem Horizont der postmodernen Philosophie und des Neopragmatismus heraus hat die Sprachphilosophie eine politische Beachtung gefunden. Dabei darf ich vor allem auf Foucault, Derrida, Lyotard, Rorty und Rancière verweisen – außerdem auf Taylor und Brandom. An Wittgenstein schließen primär Lyotard und Brandom an. Aber auch bei den anderen genannten spielt er hintergründig eine wichtige Rolle. Die Vorlesungen stellen Wittgensteins experimentelles Denken dar, das in dieser Hinsicht Nietzsche ähnelt, und sie zeigen ansatzweise, wie postmoderne und pragmatische politische Philosophien darauf aufruhen.

Alle essentialistischen oder universalistischen Ansätze kümmern sich kaum um die Grundlagen der Politik in der Sprache. Gerade die Sprachphilosophie Wittgensteins, die selbst zwar kaum politische Perspektiven entfaltet, führt dabei vor, wie alle essentialistischen und allgemeinen Bestimmungen der Politik sprachlich zerbröseln. Politisches Denken kann sich daher nur im Kontext von Ereignis und Verantwortung situieren und muss dabei eine spielerische Ironie entfalten, mit der man Fundamentalismus, Nationalismus und Totalitarismus am nachhaltigsten politisch begegnet, wenn sich dadurch deren besessene Bemühungen um Ernsthaftigkeit sprachphilosophisch als zufällig und illusionär entpuppen.

Sprachphilosophisch entwirft sich Politik vor dem Hintergrund von Sprachspiel, Ereignis und Verantwortung individualistisch und hedonistisch, aber kommunikativ. Denn Sprache verbindet nun mal die Zeitgenossinnen, wiewohl individuell, also im individuellen Interesse. Das kann sich aber niemals atomistisch generieren, braucht vielmehr Gesellschaft und Umwelt. Eine sprachphilosophische Orientierung des sozialen Bandes entspricht damit den zivilgesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte mit ihren diversen Emanzipationsprozessen. Dabei kehren jenseits jeglicher Revolutionshoffnungen auch soziale Fragen wieder, in die die soziale Frage sprachphilosophisch zerfällt.

Die Vorlesungen stammen aus dem Wintersemester 2003/04. Damals hatte ich ein Manuskript ausgearbeitet, das ich vortrug. Das habe ich in der Vorbereitung dieser Publikation überarbeitet und aktualisiert, so dass die Leserin gelegentlich über spätere Daten stolpert.

* Für Korrekturen danke ich Michael Löhr, Bernd Lienemann für meine Web-Seite, für kritische Nachhilfen Ulrike Popp, Hans-Georg Pfarrer und Bernd Mayerhofer.

1. Vorlesung

MACHT UND SPRACHE: EIN ANFANG IMTRACTATUS LOGICO-PHILOSOPHICUS

Politische Philosophie und Sprachphilosophie stellt keinen abstrusen Zusammenhang dar, wenn man sich allein zwei Angelegenheiten vergegenwärtigt: Jedes politische System, das sich auf eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Lehre beruft, was sich zwangsläufig nur mit dem massiven Einsatz staatlicher Gewalt durchsetzen lässt, entwickelt nicht nur eine bestimmte Sprache. Es versucht auch, diese mit repressiven Methoden durchzusetzen, indem es andere Sprachen ausschaltet, behindert, verfolgt. In jedem politischen System – auch jenen, die sich nicht explizit auf eine bestimmte religiöse oder weltanschauliche Lehre berufen – entwickelt sich politische Bedeutung, Sinn, bis hin zur Legitimation durch den Gebrauch bestimmter Sprachen. In der einen Richtung klingt das banal. Wo soll sich sonst Bedeutung entwickeln als in der Sprache als Bedeutungsträger und Bedeutungsproduzent!

Halt! Werden hier hartgesottene Materialisten rufen: Die Sprache produziert doch die Bedeutung nicht, sondern diese entwickelt sich in den Lebensumständen der Menschen, in den materiellen Bedingungen. Sind die entsprechenden Thesen von Marx denn auch weithin unbeliebt, umso emsiger werden sie bestätigt, gerade wenn man das dementiert. Denn auch Katholiken, Sozialdemokraten, liberale Rationalisten, Wirtschaftsführer und Gewerkschafter, der Sozialverband VDK gehen doch von materiellen Bedingungen aus, die das Leben der Menschen prägen und somit Bedeutung produzieren, die sich dann sprachlich ausdrückt. Ohne es zu wollen, frönen alle miteinander einem negativen mittelalterlichen Realismus. Wenn er denn wenigstens positiv wäre, dann wäre man gar nicht so weit weg von der modernen Fragestellung, bei der Realismus und Nominalismus zusammenfließen. Denn wie Heidegger gegen Marx einwendet, wer die Welt verändern will, muss sie zunächst interpretieren.

1.1. Die Macht der Sprache als Bedeutung

Die Situation ist indes noch tragischer, als die Kritiker des Verdiktes von Weber glauben, dass es keinen Übergang von deskriptiven zu normativen Sätzen gebe. Das Elend ist nicht evident. Das Elend muss als Elend sprachlichen Ausdruck finden: Erst dann ist es Elend. Elend ist erst der, dem das Wort Elend dies sagt. Oder umgekehrt, Präsident muss ein Wort sein, das demjenigen, der sich damit schmücken darf, beispielsweise Würde verleiht. Umgekehrt geraten hochangesehene politische Begriffe wie Allgemeinwohl zunehmend in Misskredit. Ihre Bedeutung verblasst, während Worte wie Volk und Demokratie, obgleich sie heftig befehdet werden, immer noch so etwas wie eine Meinungsführerschaft verteidigen. Nun will ich mich trotzdem nicht auf den Streit zwischen Idealismus und Materialismus einlassen. Vielleicht will ich ganz idealistisch oder wenigstens nominalistisch die Sprache deshalb untersuchen, weil auf jeden Fall jede Bedeutung sprachlich formuliert wird. Wie gesagt, das Elend ist so elend, weil das die Sprache sagt. Krebs ist ein schreckliches Wort, aber nur weil es eine Bedeutung hat, die aus der Diagnose und der Prognose stammt.

Diese an sich banale Feststellung hat doch bisher wenig Widerhall in der politischen Philosophie gefunden. Hier redet man lieber von Macht und Ordnung und glaubt zu wissen wovon man redet. Im Zweifelsfall muss man es eben definieren. Und schon sind wir wieder in der Sprache. Philosophische Probleme sind häufig banal . . . und trotzdem weitreichend. Unter sprachphilosophischer Perspektive gewinnt die aristotelische Tradition – also jene von Thomas, Hegel und Marx – einen nominalistischen Einschlag. Deren jeweilige Gegner werden mir da eilig zustimmen, dieselbe Diagnose für sich aber nicht gelten lassen. Geschichtsphilosophie und politische Philosophie präsentieren sich in gegenläufiger Interpretation als Interpretationsphilosophie, letztlich als Frage, wie sich in der Sprache bestimmte politische Bedeutungen entfalten, wie sich darin Interessen ausdrücken – im Hintergrund natürlich auch noch irgendwie die von Paul Ricoeur so benannte Schule des Verdachts. Doch diese folgt jenseits von Nietzsche noch dem Weg zur wahren Wirklichkeit und deren sprachlicher Entstellung. Wenn indes alle Wirklichkeit sprachlich gefasst ist – so lässt sich noch Hegel interpretieren – dann generiert sich die Wirklichkeit sprachlich. Und darunter fällt selbstredend auch die politische Wirklichkeit.

Die Macht der Sprache! Oder Die Sprache der Macht! Solche Titel bieten sich jetzt an. Man könnte an eine Reihe von Autoren denken, an Michel Foucault oder Eric Voegelin, der in der Geschichte nach Ordnungsstrukturen sucht, die gerade nicht allein sprachlich sein sollen. Doch zunächst bieten sich Umformulierungen an wie: Die Macht der Bedeutung! Und Die Bedeutung der Macht! Für Foucault beruht der Diskurs auf Einschließungs- und Ausschließungsregeln. Im Diskurs entfaltet sich derart die Macht, wie umgekehrt Macht Diskurse entstehen lässt. Indes was hier Diskurse entstehen lässt, muss selbst schon Diskurs sein.

Wie generiert sich die Macht der Sprache, die Macht in der Sprache? Wie generiert die Macht die Sprache? Ergo: Wie generiert sich die Macht der Bedeutung und die Macht in der Bedeutung? Wie generiert die Macht die Bedeutung? Oder: Wie bedeutet Macht? Wie erzeugt die Bedeutung Macht? Ob es dabei auch noch nichtsprachliche Anteile der Macht oder an der Macht gibt, das darf ich einfach offen lassen. Es geht mir um die Macht der Sprache und die Sprache der Macht, eben nicht um die Macht, die aus den Gewehrläufen kommt. Es geht somit darum, wie sich das Politische in der Sprache entfaltet.

Müssen wir da nicht schlicht in die politische Philosophie schauen, oder vielleicht in die Alltagspolitik? Sollen wir vielleicht einfach Worte zählen, einzelnen Worten nachgehen, ihren Veränderungen oder nach Worten fahnden, die in der Politik neu auftauchen? Das wäre sicher auch eine Möglichkeit, die sich anbietet. Nur möchte ich hier viel elementarer vorgehen, nämlich nach den Dimensionen fragen, innerhalb derer Sprache schöpferisch, bedeutungsgebend, Welt stiftend und womöglich erfindend wirkt. Wie also die Einsichten der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts letztlich auf die Politik rückwirken könnten, wie sich dementsprechend eben die Macht oder das Politische in der Sprache als Sprache entfaltet.

1.2. Die Sprache der Macht als Erlösung

Aber das ist noch nicht mein ganzes Anliegen. Ja, es ist eigentlich nur die Propädeutik desselben. Denn dass Macht in der Sprache auftritt, das wäre nun allerdings keine besondere Erkenntnis, die vielmehr beispielsweise bei Foucault oder auch bei Derrida und Lyotard weidlich diskutiert wird. Mir geht es primär um eine andere Tendenz. Die Sprache erscheint als das Organon der Vernunft, als das Medium der Kommunikation. Entweder ob ihres Vernunft entfaltenden Charakters oder dadurch, dass sie Kommunikation ermöglicht, gilt vielen die Sprache denn auch gerade als das Element, das sich der Macht entzieht, das der Macht sogar zu widerstreiten vermag. Und wenn nicht völlig der Macht, dann wenigstens der Gewalt. Der vernünftig argumentierende oder der sprachlich kommunizierende Mensch gilt als jemand, der sich Gewalt und Grausamkeit verweigert – eine Illusion, wie die Geschichte der Moderne und der Aufklärung vorführt, eventuell ihre Dialektik, der sie kaum entgeht, was man aber auch nicht ganz so pessimistisch einschätzen muss wie manche, beispielsweise wie Adorno. Insofern möchte ich vielmehr just danach fragen, inwieweit selbst dort, wo man explizit meint, man würde sich der Sprache vorbehaltlos nähern, man würde ihren Strukturen gerecht werden und ihr gerade keine Gewalt antun, eben im Begriff des Sprachspiels von Ludwig Wittgenstein, wie sich gerade dort die Macht und Gewalt generieren, ohne gleich in die Barbarei zurückzufallen. Und wenn man sich mit dem Sprachspiel der Sprache annähert, wenn man unterstellt, dass die Sprache spielt, wenn sie spricht, so könnte dieses Spiel womöglich nicht so harmlos und machtlos sein, und doch unabdingbar. Das Spiel der Kinder ist ebenfalls keineswegs so harmlos und ohne Gewalt bzw. Ausschluss- und Einschlussverfahren, wie man ihm gerne unterstellt. Aber genau darin könnten nicht nur die Macht der Sprache und die Sprache der Macht siedeln. Indem sich Bedeutendes, Bedeutsames, Deutendes durchsetzt, eben indem es deutet, wirkt es nicht schlicht kreativ, sondern immer auch ausschließend, abweisend, verbannend, implizit mächtig. „Ein Zeichen sind wir, deutungslos.“1 heißt es bei Hölderlin: Wenn das denn überhaupt geht, ein deutungsloses Zeichen zu sein! Aber im Deuten, davon ahnte offenbar schon Hölderlin, im Zeigen, Verweisen und Bezeichnen geht es nicht so schön friedlich und kommunikativ zu.

Das erweist sich aber als weniger schlimm, als es erscheint. Es verdirbt einige liebgewordene Werte und Gewohnheiten. Doch es befreit auch von Obsessionen. Es führt eventuell vor, dass Machtlosigkeit nicht so machtlos ist. Es setzt den Gedanken der Aufklärung vielmehr modern fort, nämlich sich aller vorschnellen Urteile zu entledigen und skeptisch gegenüber vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zu werden.

Zu den besonders liebgewonnenen Ideen gehört seit dem Ende des Marxismus die überall anklingende Berufung auf die Ethik. Wenn die Technik sich verselbständigt, wenn die Politik pragmatisch wird und sich die Menschen massenweise dem Hedonismus hingeben, wenn nur noch Konsum oder Ökonomie zählen, dann soll die Ethik helfen, diesem Wertezerfall zu begegnen. Entweder berufen sich eher traditionell oder platonisch gestimmte Intellektuelle auf das Gute, die Frage nach dem guten und richtigen Leben wie Leo Strauss. Oder sie fragen nach dem Rechten und Gerechten wie John Rawls. Nun, meine gängige These lautet, was die Ethik betrifft, dass es auch zu viel des Guten gibt, dass das Gute nicht selbstverständlich gut ist, dass die Ethik nicht selbstverständlich die Werte der Menschlichkeit realisiert. Wie bemerkt doch Montesquieu: „Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig.“2

Ob sich dasselbe für das Gerechte sagen lässt, ob es zu viel des Gerechten geben kann, wo auch immer dergleichen stattfinden sollte, will ich hier nicht explizit überprüfen. Mir geht es mit der Frage nach der Bedeutung, mit der Frage nach der sprachlichen Genese von Welt primär um die semantische Generierung von Werten, vor allem ethischen Werten, die der Legitimation des Politischen dienen und aus denen heraus sich auch die politische Macht erhebt.

Es geht mir also im weiteren darum, inwieweit die Macht der Sprache und die Sprache der Macht nicht allein ein politisches und vielleicht ontologisches Problem sind, das die Sprache sozusagen verschmutzt, so dass es darum gehen muss, sie davon zu reinigen, vielleicht dadurch dass man deren rationale oder kommunikative Strukturen stärkt. Nein die Macht der Sprache und die Sprache der Macht – das ist meine These – rekurriert auf den Zusammenhang von Bedeuten und Bewerten, Zeigen und Bezeichnen, rekurriert gerade also auf die vernünftigen und kommunikativen, also ethisch praktischen Strukturen der Sprache. Das Gute – und dieses könnte sich beispielsweise im Sprachspiel Wittgensteins zeigen, was momentan zumindest noch als eine wüste Hypothese erscheinen muss – entfaltet seine Macht in der vermeintlichen Schwäche der Sprache, die ja angeblich nur spricht und nicht schießt. Sprechen ist sicher angenehmer als schießen – das will ich gar nicht dementieren. Doch es ist nicht der Heiland, bzw. der Heiland selbst heilt nicht etwa durch Liebe allein, bzw. die Liebe, durch die er heilt, beruht selbst auf der Macht bzw. Gewalt des bedeutenden Charakters der Sprache. Der Protestantismus betont nicht umsonst das Wort der heiligen Schrift.

Nun ja, das ist alles nicht so schlimm. Ich will hier nicht in ein kulturpessimistisches Lamento verfallen. Ich will nicht einen Menschen im Stil von Hobbes beschwören, der aus der Perspektive von Nietzsches Willen zur Macht und ewigen Wiederkunft des Gleichen betrachtet in einer eiskalten Ewigkeit dahin vegetiert ohne Erlösung. Aber beim Wort Erlösung, darauf möchte ich denn schon bestehen, handelt es sich um eines der mächtigsten und gewalttätigsten Worte der christlichen Geschichte. Denn was heißt Erlösung und was soll dabei geschehen? Nichts, wenn es nicht in dieser Welt stattfindet! Vielmehr sollte sich die Moderne selbst ihrer gewaltsamen und machtbetonten Seiten versichern, aus der Einsicht in die Schwäche eine Macht gewinnen, die allerdings sich nicht in vermeintlicher Machtlosigkeit geriert wie die katholische Kirche, seit sie offiziell politisch abdanken musste, um dann hinterrücks das Missionierungswerk aus vermeintlich reinem guten Willen fortzusetzen. Nein, die Moderne weiß spätestens seit Nietzsche, Freud und Foucault, dass sie nicht so gut ist, wie sie einst sein wollte, dass sie keine Heilsversprechen geben kann, dass sie die Menschen daher auch nicht beschützen, sondern bestenfalls freisetzen kann in zweifellos problematische Freiheit, die nicht ohne Macht und Gewalt auskommt, wie sie der französische emanzipatorische Existentialismus entwirft. Wie dies geschieht – und vielleicht, dass man sich dessen bedienen kann, darf und sollte – dem nachzugehen, hat sich diese Vorlesung zur Aufgabe gemacht.

Im Zentrum der Vorlesung steht das Denken Wittgensteins, der vor allem in seinem Spätwerk mit dem Wort vom Sprachspiel den Stand des Denkens wohl in ihre typische Bewegung gesetzt hat, was einerseits der Sprache nachspürt, wie sie ist und dem ich nachspüren möchte, inwiefern just in diesem Sein der Sprache nicht nur das Kommunikative, das Befriedende, Vermittelnde, womöglich Gerechte, vor allem aber das Gute siedelt, sondern just weil sich in dem, was durch dieses alles erreichbar scheint, auch ein Wille zur Macht ausdrückt, der allen diesen Dingen ein schräges, ein gefährliches und vielleicht doch gerade dadurch ein menschliches und produktives Gesicht verleiht. Wenn man auf das Gute, Gerechte und Wahre nicht zurückgreifen kann, heißt das vielleicht das Ende eines positiv verstandenen Vernunftfortschritts, aber doch kein Aufgeben der Vernunft, sondern eine Einsicht in die Vernunft in ihrer Ambivalenz, der Humanität erst abzuringen wäre, die man auch erst zu konstruieren hat, die sich nicht aus der Überlieferung mehr selbstverständlich anweist. In dieser genealogischen Perspektive erweist sich der Fortschritt als schwieriger, komplexer, widersprüchlicher, rückschrittlicher, als man es je ahnte. Zudem hängt der Fortschritt auch noch vom Weltbild ab, das ihn deklariert.

1.3. Die endgültige (Er)lösung aller Probleme

Ludwig Wittgenstein, in Wien 1889geboren, im selben Jahr wie Heidegger und Gabriel Marcel, und 1951 in Cambridge gestorben, begründet die moderne Sprachphilosophie und damit die Disziplin, die für das 20. Jahrhundert nicht nur typisch, sondern auch besonders einflussreich werden wird. Ihre Ausläufer reichen bis in die Computersprachen hinein. Wittgenstein entstammt einer großindustriellen Familie jüdischer Herkunft. 1913 nach dem Tode des Vaters erbt er ein beträchtliches Vermögen, das er 1919 seinen Geschwistern schenkt.

Wittgenstein studiert in Berlin, Manchester und Cambridge Ingenieurwissenschaften, Mathematik und Philosophie unter anderem bei Bertrand Russell, neben George Edward Moore, einem der Begründer der analytischen Philosophie, die sich primär mit der logischen Klärung von Begriffen befasst. Im ersten Weltkrieg wird er freiwillig Soldat – ein traumatisches Erlebnis, das ihn religiös inspiriert. Denn die Kriegserfahrung an der Front erzeugt in ihm das Gefühl des Ausgeliefertseins, der totalen Zufälligkeit, ob man überlebt. In dieser tragischen Zeit neigt Wittgenstein, der katholisch getauft und auch beerdigt wurde, wohl aber nicht als praktizierender Katholik bezeichnet werden kann, zu einem tiefen Glauben, der jedoch eher demjenigen Kierkegaards ähnelt. Trotzdem dementiert er nie, Katholik zu sein. In dieselbe Zeit datieren auch seine aktiven philosophischen Anfänge.

Wittgensteins Werk muss man in zwei Phasen einteilen, die seine beiden Hauptwerke markieren: Erstens, eine starke positivistische Ausrichtung des jungen Wittgenstein an der Logik und den Naturwissenschaften in seinem einzigen von ihm selbst publizierten Buch, das 1921 unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus erscheint. Die Tagebücher von 1914-1916 enthalten dazu bereits die Rohfassung. Zweitens, eine gegenüber der naturwissenschaftlichen und logischen Methodologie skeptische Phase, in der er sich eher pragmatisch auf die Alltagssprache besinnt. Die wichtigsten Thesen dieser Zeit – vor allem ein sehr differenziertes Sprachverständnis – versammelt er in seinem zweiten Hauptwerk Philosophische Untersuchungen, an dem er bis zu seinem Tod arbeitet.

Mit einer Reihe berühmter Philosophen ist er befreundet gewesen, auch mit Bertrand Russell, der sich mit den logischen Grundlagen der Mathematik auseinandersetzt. Doch mit ihm kommt es zum Bruch. In den zwanziger Jahren entwickeln sich Kontakte zum Wiener Kreis um Moritz Schlick, dessen logischer Empirismus sich vor allem um die Frage bemüht, wie Erfahrungswissenschaft methodisch überhaupt möglich ist. Der Tractatus logico-philosophicus beeinflusst nachhaltig alle neopositivistischen Philosophien.

Anfang der zwanziger Jahre versucht er sich als Dorfschullehrer in Niederösterreich und probiert dabei vergeblich, seine Thesen aus dem Tractatus umzusetzen. Mitte der zwanziger Jahre baut er für seine Schwester Margarete ein Haus in Wien, das ebenfalls die philosophische Konzeption seines Tractatus verkörpert und das man heute noch bewundern kann.

Mehrere Lehr- und Forschungsaufträge in England bekommt er in den dreißiger Jahren. Währenddessen, 1935, plant er, nach Russland zu emigrieren. Er ist entsetzt über die Kultur, wie er sie besonders in England erlebt. Dann will er 1936 Medizin studieren. Eine bittere familiäre Erfahrung erleidet Wittgenstein unter der Herrschaft des Nazi-Regimes in Österreich ab 1938. Mit einer enormen Summe Goldes muss sich die Familie freikaufen: Ein Bruder emigriert, während seine beiden Schwestern in Wien bleiben dürfen. 1939 erhält er schließlich den Lehrstuhl von George Edward Moore in Cambridge, den er jedoch vorzeitig 1947 wieder aufgibt. Er lebt in diesen Jahrzehnten abwechselnd in seiner Hütte in Norwegen, in Cambridge, Wien, London, ganz zuletzt auch längere Zeit in Dublin. Während des zweiten Weltkrieges arbeitet er freiwillig als Laborant in einem Hospital in London. 1951 stirbt Wittgenstein am 29. April in Cambridge.

In seinem frühen Werk Tractatus logicophilosophicus, in dem er sich an der Logik und den Naturwissenschaften orientiert, stößt man in der Einleitung auf folgende Sätze:

„Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müssten wir beide Seiten dieser Grenze kennen können (wir müssten also denken können, was sich nicht denken lässt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.“3

Bereits in seinem frühen Werk vermeidet Wittgenstein die Bemühung um eine herausgehobene Position. Wir sind immer in der Sprache, nie jenseits von ihr und sagen lässt sich nur das Sagbare nicht das Unsagbare – eine Perspektive, die sich bis ins Spätwerk durchhalten wird, die ob gezwungenermaßen oder nicht aber die Augen vor dem Anderen der Sprache zu verschließen scheint. Doch wer will schon gegen ein solches Ausschlussverfahren Einwände erheben, wenn man das Unsagbare eben schlicht nicht sagen kann, wäre es sonst nicht das Unsagbare.

Und etwas weiter heißt es voller Hybris, schwerlich voller Ironie: „Dagegen scheint mir die Wahrheit der hier mitgeteilten Gedanken unantastbar und definitiv. Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben.“4 Wittgenstein war ein ernsthafter Mensch. Die Vorstudien zum Tractatus schreibt er im Schützengraben. Darüber spaßt man nicht. Und er wollte immer perfekt sein, so perfekt, dass er daran notorisch bis hin zu selbstmörderischen Gedanken litt. Er verweigerte angesichts der Krebsdiagnose gar die Therapie. 20 Jahre lang hätte er sich gegen den Selbstmord gewehrt, jetzt würde er sich nicht mehr wehren.

Als Wittgenstein jene arroganten Sätze schreibt, tobt gerade der ideologische Bürgerkrieg. Auf dem politischen Schlachtfeld steht der Siegeszug der faschistischen Bewegungen kurz bevor. Auf der geistigen Ebene erringt der Marxismus zunehmend die Lufthoheit. So richten sich diese Worte natürlich gegen alle Formen der Geschichtsphilosophie, die sich gerade nicht an den Gesetzen der Logik orientieren oder sich auf Erfahrungswissen beschränken würden, genauso wie gegen religiöse Welterklärungen. Doch seine Sätze schließen ob ihrer scheinbaren Bescheidenheit und Schwäche auch den Wahnsinn oder das Begehren aus. Zumindest im offiziellen Diskurs der Naturwissenschaften spielt dieser Diskurs denn auch keine Rolle, worauf Foucault ja hinwies. Man darf in der Tat auch fragen, ob er eine und wenn ja gar welche Rolle er spielen soll?

Dagegen akzeptiert der junge Wittgenstein philosophisch vornehmlich im Anschluss an Frege und Russell nur, was sich logisch und klar sagen lässt. Später heißt es im Tractatus daher:

„Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, dass wir unsere Sprachlogik nicht verstehen. (Sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne.) Und es ist nicht verwunderlich, dass die tiefsten Probleme eigentlich keine Probleme sind. Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik„.“5

Wittgenstein war damit einer der ersten im 20. Jahrhundert, der au fond bereits 1921 das Ende der Philosophie erklärt: Die große Theorie, die universale Spekulation hat angesichts des naturwissenschaftlichen Empirismus und der Mathematisierung ihren Sinn verloren. Die Soziologie wird im Laufe des Jahrhunderts diese Entwicklung nachholen. Empirische Detailstudien sind gefragt. Die umfassende marxistische Gesellschaftstheorie ist nicht nur grundlos. Sie verliert im Laufe des Jahrhunderts und gegen Ende umso schneller alle ihre Anziehungskraft, ihre Erotik. Wieweit sie im ersten Viertel des 21. wiederkehrt, muss sich erst noch zeigen.

1 Zit. bei Martin Heidegger, Was heißt Denken? (1951-52), 4. Aufl. Tübingen 1984, 6

2 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Stuttgart 1965, 211

3 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus (1921), Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, 9

4 Ebd., 10

5 Wittgenstein, Tractatus, 4.003-4.0031, 26

2. Vorlesung

SPRACHE UND WIRKLICHKEIT BEIM FRÜHEN WITTGENSTEIN

Mit den zuletzt zitierten Worten erklingt aber auch bereits das zentrale Thema des Tractatus: An sich, wenn man sie richtig verwenden würde und darauf auch achtete, besitzt die Sprache eine logische Struktur, die durch die Alltagssprache häufig verzerrt wird, oder durch metaphysische Gehalte – also durch vermeintlichen Sinn und vage Bedeutungen, die sich nicht auf Erfahrungstatsachen zurückführen lassen. Vielmehr verschärft der Kampf der Ideologien metaphysische Interpretationen der Wirklichkeit, die sich darum wenig scheren, was naturwissenschaftlich begründbar ist oder gar den Regeln der Logik entspricht. Wer nicht mehr den „Traum von einer Sache“ – wie Marx 1843 in einem Brief an Arnold Ruge schreibt6 – bloß träumen will, wer den Fortschritt befördern möchte, der muss sich an der Logik und den Naturwissenschaften orientieren – eine Bemühung wie sie sich im Wiener Kreis, beispielsweise bei Otto Neurath gleichfalls ausbuchstabierte und nicht viel später etwas anders bei Popper und dann in der Erlanger Schule. So schreiben Neurath, Rudolf Carnap und Hans Hahn:

„Weiter gediehen ist die Klarlegung des logischen Ursprungs der metaphysischen Irrwege, besonders durch die Arbeiten von Russell und Wittgenstein. In den metaphysischen Theorien und schon in den Fragestellungen stecken zwei logische Grundfehler: eine zu enge Bindung an die Form der traditionellen Sprachen und eine Unklarheit über die logische Leistung des Denkens.“7

2.1. Die logische Welt der Tatsachen

Anstatt sich also von ideologischen Hoffnungen beseelen zu lassen, insistiert Wittgenstein bereits mit seinen folgenden berühmten Anfangssätzen des Tractatus darauf, dass man in den Wissenschaften die Logik der Sprache beachten müsse:

„Die Welt ist alles, was der Fall ist. Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind. Denn, die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt, was der Fall ist und auch, was alles nicht der Fall ist. Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt. Die Welt zerfällt in Tatsachen.“8

Die Welt stellt den Zusammenhang der Ereignisse dar, nicht die Ansammlung der einzelnen Dinge. Solche Zusammenhänge zeigen sich als das, was der Fall ist. Sie lassen sich sehen, präsentieren sich als Tatsachen. Man kann sie derart sprachlich formulieren; d.h. die Sprache drückt mit ihrer Struktur die Zusammenhänge, somit die Welt selbst aus, kann diese richtig wiedergeben, nicht notgedrungen verzerrt, einseitig oder gar falsch.

Offenbar gibt es für Wittgenstein auch keine andere, geheime Welt hinter den Tatsachen, die ihrer Entwicklung plötzlich eine unerwartete Wende geben könnte. In der marxistischen Dialektik dagegen spricht man von einem Umschlag von Quantität in Qualität: Der soziale Druck wächst, bis es zur sozialen Revolution kommt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei zahlreiche Widersprüche, z.B. Klassengegensätze, die sich auch unterschwellig entwickeln können. Nach Wittgensteins Logik liegt die Welt in der Vielfalt der Tatsachen vor, die sich genau und klar beschreiben lassen. Widersprüche im dialektischen Sinn gibt es nicht; denn sie würden der Logik widersprechen. Wenn es sie denn gibt, so entspringen sie unlogischem Sprechen, einem Sprechen das Philosophie ja zu kritisieren hat:

„Was der Fall ist, die Tatsachen, ist das Bestehen von Sachverhalten. Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). Es ist dem Ding wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können. In der Logik ist nichts zufällig: Wenn das Ding im Sachverhalt vorkommen kann, so muss die Möglichkeit des Sachverhaltes im Ding bereits präjudiziert sein.“9

Aus Tatsachen ergeben sich Sachverhalte. Derart, als Sachverhalt, lässt sich das, was der Fall ist erfassen und beschreiben. Die einzelnen Dinge existieren nicht für sich alleine, sondern nur in den Zusammenhängen, bezogen auf andere Dinge, eben in Sachverhalten, wie sich die einzelnen Sachen zueinander eben verhalten. Sachverhalte gehorchen der Logik, d.h. sie werden durch die Strukturen des Sachverhalts und der Zusammenhänge der Dinge geprägt: Wenn zu einem Mord ein Messer verwendet wurde, kann zu diesem Mord keine Pistole benutzt worden sein. Oder wenn ich sagen will, dass einige Menschen schwarze Haare haben, darf ich nicht formulieren: Menschen haben schwarze Haare; denn damit impliziere ich, dass alle Menschen diese Haarfarbe haben, was ich ja auch gar nicht ausdrücken wollte und was evidenter Weise auch falsch ist.

Aus den Zusammenhängen, nicht aus den Einzeldingen entsteht die Welt. Dazu zählen nicht die nicht existierenden Sachverhalte, die aber zur Wirklichkeit gehören: „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt. Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte bestimmt auch, welche Sachverhalte nicht bestehen. Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit.”10

Welt und Wirklichkeit begegnen dem Menschen also nicht dunkel und unübersichtlich, nicht widersprüchlich und paradox, nicht esoterisch oder mystisch. Vielmehr ergeben sie sich eindeutig und zweifelsfrei aus den insgesamt – d.h. sowohl positiv wie negativ – vorliegenden Sachverhalten, positiv aus den wirklich vorhandenen und negativ aus dem, was es folglich nicht gibt bzw. nicht geben kann. Wenn der Stein auf der Erde immer nach unten fällt, dann kann er dort nicht plötzlich nach oben fallen, es sei denn eine andere angebbare Kraft bewegt ihn nach oben, z.B. der Arm eines Menschen, der den Stein nach oben wirft. Dass sich der Mensch allein durch gedankliche Kraft beispielsweise durch bestimmte Formen der Meditation, vom Boden erheben kann, gilt als ausgeschlossener, nicht bestehender Sachverhalt. Dahinter stecken entweder andere benennbare Kräfte oder es gilt einer solchen positivistischen Sicht als Aberglauben. Da mag die ehemalige Naturgesetzpartei auch noch so viele Yogis vor den Kameras hüpfen lassen und man muss nicht mal an special effects denken. Revolutionstheorien wie jene von Marx erscheinen vor diesem Hintergrund gleichfalls als fragwürdig.

2.2. Bild und Wirklichkeit

Tatsachen und Sachverhalte drückt die Sprache genauso wie Bilder aus. Auf der Fotografie meines Zimmers sehe ich den Schreibtisch vor dem Fenster und auf dem Schreibtisch den PC stehen. Das Fenster befindet sich sowenig unter dem Schreibtisch wie der PC. Ich kann dieses Foto mit der Realität vergleichen. Auch hier steht der PC auf dem Schreibtisch und beide befinden sich zusammen vor dem Fenster. Wittgenstein schreibt:

„Die gesamte Wirklichkeit ist die Welt. Wir machen uns Bilder der Tatsachen. Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor. Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit. Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände. Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten. Das Bild ist eine Tatsache. Dass sich die Elemente des Bildes in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten, stellt vor, dass sich die Sachen so zu einander verhalten. (. .) Das Bild ist so mit der Wirklichkeit verknüpft; es reicht bis zu ihr.“11

Wenn der PC auf dem Bild unter dem Schreibtisch steht, man im Zimmer den Schreibtisch aber auf dem Schreibtisch sieht, würde man wahrscheinlich sagen, dass dieses Foto einen anderen früheren oder späteren Sachverhalt wiedergibt. Wenn aber das Fenster ebenfalls unter dem Schreibtisch zu sehen wäre, in der Realität offenbar aber nicht, dann würde man wohl an eine Fotomontage glauben. Man könnte feststellen, dass dieses Bild den Sachverhalt offenbar nicht wiedergibt, weil die Beziehungen zwischen den Gegenständen in der Realität und den Elementen des Bildes nicht übereinstimmen. Das Bild entspricht nicht der Logik der Realität:

„Was jedes Bild, welcher Form immer, mit der Wirklichkeit gemein haben muss, um sie überhaupt – richtig oder falsch – abbilden zu können, ist die logische Form, das ist, die Form der Wirklichkeit. (. .) Das Bild hat mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein.“12

Das ist ein entscheidender Satz, drückt sich in ihm die Pointe im Denken des frühen Wittgenstein aus: Ob im Bild oder in der Welt, es herrscht dieselbe Logik, d.h. dasselbe Strukturverhältnis, das die Dinge zueinander einnehmen.

Beispielsweise entspricht ein surreal verfremdetes Bild nicht der logischen Form der Wirklichkeit. Man denke an die Traumdeutung Freuds: Träume folgen nicht der Logik der realen Welt des Wachbewusstseins, gilt in ihnen beispielsweise nicht das Kausalgesetz. Daher gibt das surreale Bild bzw. das Traumbild für Wittgenstein die Welt überhaupt nicht wieder, auch nicht falsch. Freud hat dazu eine Logik der Übersetzung bzw. der Interpretation erfunden, die Traumbilder auf ihre reale Bedeutung hin analysiert. Wittgenstein lässt dergleichen nicht gelten: die Macht der Sprache und zugleich die Sprache der Macht.

Eine ölverschmierte Möwe, die vielleicht bei einem Tankerunglück fotografiert wurde, gibt die Wirklichkeit des zweiten Golfkrieges von 1991 falsch wieder, obgleich der Irak damals kuweitisches Öl ins Meer fließen ließ. Die Möwe könnte auch dort fotografiert worden sein. Die logische Struktur des Bildes stimmt mit der logischen Struktur der Realität überein und entfaltet derart Bedeutung: Die ölverschmierte Möwe klagt an, ursprünglich die Ölfirma, später fälschlich richtig Saddam Hussein.