Iran und der Aufstieg von Reza Schah - Wolfgang von Keitz - E-Book

Iran und der Aufstieg von Reza Schah E-Book

Wolfgang von Keitz

0,0

Beschreibung

Iran ist wieder in den Fokus der Weltpolitik gerückt. Die Bevölkerung im Iran begehrt gegen ein islamistisches Regime auf, das nach dem Sturz der konstitutionellen Monarchie eine Islamische Republik errichtet hat. Auf den Straßen Irans hört man Rufe nach "Reza Schah, Reza Schah". Die Iraner und vor allem die Iranerinnen sehen ihre Zukunft in der Rückkehr zu einem Staatswesen mit einem frei gewählten Parlament und einem Schah an der Spitze als Staatsoberhaupt, der als Garant für Stabilität und Wohlstand gilt. Wer war Reza Schah, und warum werden heute im Iran Rufe nach einem Mann laut, der vor beinahe hundert Jahren durch eine Verfassungsänderung Schah wurde? Als Reza Khan mit einem Staatsstreich im Februar 1921 die politische Bühne betrat, war die staatliche Einheit Irans gefährdet. Iran drohte zu einer bolschewistischen Republik zu werden. Im Norden Irans war eine Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen worden. Und auch hier muss man sich wieder fragen, wie es möglich war, dass im Norden Irans eine bolschewistische Bewegung entstehen konnte? Wo-ran ist die Übernahme der Macht der Bolschewiken in ganz Iran gescheitert? Und welche Rolle spielte Reza Kahn, ein bis dato vollkommen unbekannter Offizier der persischen Kosaken, bei der Niederschlagung dieser bolschewistischen Bewegung? Dass wir heute sehr detaillierte Informationen über die damaligen politischen Vorgänge im Iran haben, haben wir einem Glücksfall zu verdanken. Die deutsche Gesandtschaft war im Laufe des Ersten Weltkrieges auf Drängen von England und Russland geschlossen worden. Nur Rudolf Sommer, der Geschäftsträger der Deutschen Gesandtschaft, blieb in Teheran und schrieb detaillierte Berichte, telegrafierte nach Berlin, was er eilig übermitteln wollte. Er übersetzte Artikel aus den Tageszeitungen, um Hintergrundinformationen über die politischen Geschehnisse an das Auswärtige Amt zu senden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 879

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



IRAN UND DER AUFSTIEG VON REZA SCHAH

TELEGRAMME UND BERICHTE DES GESCHÄFTSTRÄGERS DER DEUTSCHEN GESANDTSCHAFT FÜR PERSIEN RUDOLF SOMMER UND DES GESANDTEN GRAF VON DER SCHULENBURG BERICHTSZEITRAUM 1920‒1925

WOLFGANG VON KEITZ (HRSG.)

INHALT

Frontispiz

Vorwort des Herausgebers

I. Siebzehn Monate Revolution in Gilan – Bericht eines Neutralen

1. Die wirtschaftliche Lage Gilans vor dem Eintreffen der Roten Armee

2. Kutschak Khan und die Bolschewiken

3. Der Beschuss von Anzali

4. Die Bolschewiken besetzen Anzali

5. Kutschak Khan kommt nach Anzali

6. Die Revolution in Gilan

II. Die gegenwärtige Lage in Persien

1. Russlands Haltung gegenüber Persien

2. Persische Erklärungen und Proteste

3. Der Bolschewismus in Persien

4. Stellung des Kabinetts Vosough-ed-dowleh

5. Neuwahlen zum Parlament

6. Das englisch-persisches Abkommen von 1919

7. Wird der Iran bolschewistisch?

III. Die sozialistische Sowjetrepublik Iran

1. Die Proklamation der Republik am 6. Juni 1920

2. Die Gründung der Kommunistischen Partei Irans (KPI)

3. Die Mobilmachung gegen die persische Sowjetrepublik

IV. Das erste Kabinett Moshir-ed-dowleh

1. Neuwahlen zum persischen Parlament

2. Die Bildung eines „Revolutionskomitees Iran“

3. Die separatistische Bewegung in Täbris

4. Verhandlungen zwischen Teheran und Moskau

V. Das Kabinett Sepahdar

1. Die Kosaken-Brigade unter britischem Oberbefehl

2. Die Wahl zum vierten Parlament

3. Die Kabinettskrise

VI. Das Kabinett Ziaeddin

1. Der Staatsstreich

2. Reza Khan wird Kriegsminister

VII. Das erste Kabinett Qavam-es-saltaneh

1. Die Eröffnung des vierten Parlaments

2. Das Ende der Gilaner Republik

3. Komplott gegen die Regierung

VIII. Das zweite Kabinett Qavam-es-saltaneh

IX. Das zweite Kabinett Moschir-ed-dowleh

1. Ahmad Schah verlässt den Iran

2. Handstreich der Gendarmen in Täbris

X. Der Kriegsminister führt die Regierungsgeschäfte

1. Ismail Agha Simko und die kurdische Unabhängigkeit

XI. Das dritte Kabinett Qavam-es-saltaneh

1. Der Überfall der Bachtiaren auf Regierungstruppen

2. Der Kriegsminister droht mit Rücktritt

3. Pressekritik an Ahmad Schah und der Geistlichkeit

4. Ahmad Schah kehrt in den Iran zurück

XII. Das Kabinett Mostofi-ol-Mamalek

XIII. Das dritte Kabinett Moschir-ed-dowleh

XIV. Das erste Kabinett Sardar Sepah (Reza Khan)

1. Ahmad Schah verlässt endgültig den Iran

2. Republikanische Propaganda

XV. Das zweite Kabinett Reza Khan

1. Das Ende der republikanischen Bewegung

XVI. Das dritte Kabinett Reza Khan

1. Der Mordfall Imbrie

2. Reza Khan wird per Gesetz Oberkommandierender

3. Die Einführung von Standesämtern und Familiennamen

XVII. Das vierte Kabinett Reza Khan Pahlavi

XVIII. Staatsoberhaupt Reza Khan Pahlavi

1. Das Parlament löst die Dynastie Kadschar auf

2. Einsetzung Reza Khan Pahlavis zum König

Verzeichnis der Berichte und Analysen

Namensregister

Anmerkungen

© Copyright by Wolfgang von Keitz

Das Bild auf dem Umschlag zeigt Reza Schah.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Rudolf SommerGeschäftsträger der Deutschen Gesandtschaft

Der deutsche Diplomat Rudolf Sommer1 übermittelte ab April 1920 aus Teheran Berichte über die Entstehung und den Untergang einer bolschewistischen Räterepublik im Iran und den damit verbunden Aufstieg von Reza Khan, dem späteren Reza Schah Pahlavi. Seine Berichte werden durch die Übersetzung einer ab November 1921 erschienen Artikelserie von Grigor Eghikean in der Zeitung „Setareh Iran“ ergänzt. Berichte und Übersetzung von Rudolf Sommer und anderer deutscher Diplomaten bilden die Grundlage dieses Buches. Der Text der Übersetzung und der Berichte aus Teheran und Berlin wurden in Bezug auf die Namen von Personen, Städten und Regionen soweit möglich aktualisiert und an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Bilder und Karten sind, sofern nicht anders gekennzeichnet, dem Wiki www.mashruteh.org entnommen. Die Landesbezeichnung „Iran“ und „Persien“ sind synonym, werden aber abwechselnd je nach zitierter Quelle benutzt.

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Reza Khan, der Mann aus dem Volke, geboren am 15. März 1878 in Alaschat-Savadkuh, einem kleinen Dorf im Norden Irans wird am 12. Dezember 1925 durch eine Änderung der Verfassung mit 257 von 260 möglichen Stimmen des iranischen Parlaments zum Schah gewählt. Vorausgegangen waren die Absetzung der Kadscharendynastie und die Ernennung von Reza Khan zum Staatsoberhaupt durch ein Gesetz, das das Parlament am 31. Oktober 1925 verabschiedet hatte. Dieser in der Geschichte Irans bislang einmalige Vorgang, dass ein Parlament eine Dynastie absetzt und per Gesetz einen neuen Schah einsetzt, ist heute weitgehend in Vergessenheit gerade und könnte doch richtungsweisend für die zukünftige Entwicklung des iranischen Staatswesens werden.

Iran ist wieder in den Fokus der Weltpolitik gerückt. Die Bevölkerung im Iran begehrt gegen ein islamistisches Regime auf, das nach dem Sturz der konstitutionellen Monarchie eine Islamische Republik errichtet hat. Auf den Straßen Irans hört man Rufe nach „Reza Schah, Reza Schah“. Die Iraner und vor allem die Iranerinnen sehen ihre Zukunft in der Rückkehr zu einem Staatswesen mit einem frei gewählten Parlament und einem Schah an der Spitze als Staatsoberhaupt, der als Garant für Stabilität und Wohlstand gilt.

Wer war Reza Schah, und warum werden heute im Iran Rufe nach einem Mann laut, der vor beinahe hundert Jahren durch eine Verfassungsänderung Schah wurde? Reza Khan, der, bevor er Schah wurde, unter dem Namen „Sardar Sepah“ zunächst als Kriegsminister und dann als Ministerpräsident in zahlreichen Kabinetten seinem Land diente und als Schah vom iranischen Parlament den Titel „Der Große“ verliehen bekam, hat einen nachhaltigen Eindruck im Iran hinterlassen. Mit seiner modernen, an Europa ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik hat er Land und Leute verändert. Sein Reformprogramm wirkt bis heute nach. Man denke nur an den Tschador, der unter seiner Regentschaft weitestgehend aus den Straßen Irans verschwunden war.

Als Reza Khan mit einem Staatsstreich im Februar 1921 die politische Bühne betrat, war die staatliche Einheit Irans gefährdet. Iran drohte zu einer bolschewistischen Republik zu werden. Im Norden Irans war eine Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen worden. Und auch hier muss man sich wieder fragen, wie es möglich war, dass im Norden Irans eine bolschewistische Bewegung entstehen konnte? Woran ist die Übernahme der Macht der Bolschewiken in ganz Iran gescheitert? Und welche Rolle spielte Reza Kahn, ein bis dato vollkommen unbekannter Offizier der persischen Kosaken, bei der Niederschlagung dieser bolschewistischen Bewegung?

Dass wir heute sehr detaillierte Informationen über die damaligen politischen Vorgänge im Iran haben, haben wir einem Glücksfall zu verdanken. Die deutsche Gesandtschaft war im Laufe des Ersten Weltkrieges auf Drängen von England und Russland geschlossen worden. Nur Rudolf Sommer, der Geschäftsträger der Deutschen Gesandtschaft, blieb in Teheran und schrieb detaillierte Berichte, telegrafierte nach Berlin, was er eilig übermitteln wollte. Er übersetzte Artikel aus den Tageszeitungen, um Hintergrundinformationen über die politischen Geschehnisse an das Auswärtige Amt zu senden.

Diese Telegramme und Berichte von Hofrat Rudolf Sommer befinden sich seit vielen Jahren im Archiv des Auswärtigen Amtes. Die dichte Berichterstattung ermöglicht es uns heute, die dramatische politische Entwicklung Irans nachzuvollziehen und damit die heutige Situation im Iran besser zu verstehen. „Reza Schah, Reza Schah“ – wer die Berichte von Rudolf Sommer liest, wird verstehen, was dieser Mann in den wenigen Jahren auf dem Weg zu seiner Regentschaft als Schah geleistet hat. Als Kriegsminister hat er durch den Aufbau einer schlagkräftigen Armee die staatliche Einheit Irans gegen von Russland und England finanzierte separatistische Bewegungen verteidigt. Als Premierminister hat er die grundlegenden Reformen im Finanzwesen und der staatlichen Verwaltung durchgeführte, die die Basis für die weitere politische und gesellschaftliche Entwicklung Irans hin zu einem modernen, erfolgreichen Staatswesen waren.

Die Berichte und Telegramme von Rudolf Sommer geben uns einen Einblick in die politischen Vorgänge im Iran, wie wir sie bisher nicht kannten. Sie zeigen uns ein Land, das nach dem Ersten Weltkrieg um seine Staatlichkeit ringt; ein starkes Parlament, das während des Ersten Weltkrieges geschlossen wurde, nach dem Krieg erstmals wieder zusammentritt und dessen Abgeordnete sofort die politische Diskussion im Land bestimmten; nicht der Schah oder die Regierung, sondern das Parlament ist das politische Machtzentrum des Landes. Sommer berichtet über eine freie Presse, die weder vor Kritik an der Regierung noch vor Kritik an der Geistlichkeit zurückschreckt; die starke Einflussnahme der Kolonialmächte England und Russland auf die wirtschaftliche und politische Entwicklung Landes; die zaghaften Versuche der USA, im Iran Fuß zu fassen; das vollkommene Fehlen Deutschlands, dessen Diplomaten auf Betreiben Englands auf eine „schwarzen Liste“ gesetzt wurden und den Iran, mit Ausnahme von Rudolf Sommer, nicht mehr betreten durften.

Rudolf Sommer, der Geschäftsträger der Deutschen Gesandtschaft im Iran war am 19. August 1905 in den Dienst des Auswärtigen Amtes getreten. Am 27. Januar 1913 nahm er seine Tätigkeit als Mitarbeiter in der Gesandtschaft in Teheran auf. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es am 17. Juli 1916 zur Abberufung des deutschen Botschafters Heinrich XXXI. Prinz von Reuß und der zeitweiligen Schließung der Gesandtschaft. Sommer blieb in Teheran und agierte ab dem 22. Mai 1917 als Geschäftsträger der Deutschen Gesandtschaft zunächst unter dem Schutz und im Gebäude der Amerikanischen Gesandtschaft, später unter dem Schutz der Spanischen Gesandtschaft.

Erst 1923 verließ Rudolf Sommer nach dem Eintreffen des neuen Gesandten Graf von der Schulenburg die Gesandtschaft in Teheran und übernahm die Leitung der Konsulate in Charkiw, Tiflis, Kiew und Leningrad. Am 19. Oktober 1937 kehrte Rudolf Sommer nach der Schließung des Generalkonsulats Leningrad nach Berlin zurück und wurde am 9. März 1933 in den einstweiligen Ruhestand, am 20. September 1933 in den Ruhestand versetzt.

Wilhelm Litten, der vor Rudolf Sommer zunächst in der Gesandtschaft in Teheran und später als Konsul in Täbris bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges für das Auswärtige Amt tätig war, ehrt Sommer in seinem 1925 erschienen Buch „Persische Flitterwochen“ mit den Worten: „Noch eines Mannes müssen wir gedenken, wenn wir von Persien sprechen, eines Mannes, der während des ganzen Krieges und der Nachkriegszeit von 1913 bis 1924 ununterbrochen treu auf seinem Posten ausgehalten hat, des Hofrats Sommer in Teheran. Er hat sich mit großer Umsicht bis zuletzt dort halten können, und ihm verdanken die meisten Deutschen in Persien die Rettung ihres Eigentums. Er wurde dann zum Geschäftsträger ernannt und leitete die deutsche Gesandtschaft in Teheran, bis im Januar 1923 Graf von der Schulenburg als Gesandter in Teheran eintraf. Jetzt ist Herr Sommer Konsul in Russland. Hofrat Sommer ist es hauptsächlich zu verdanken, dass unsere Arbeit in Persien bald wieder aufgenommen werden konnte. Die meisten Deutschen, die früher in Persien waren, sind dorthin zurückgekehrt. Sie sind alle damit beschäftigt, in ruhiger Friedensarbeit mit Fleiß und Stetigkeit wieder aufzubauen, was der Krieg vernichtet hat.“1

Mein aufrichtiger Dank gilt Dr. Gerhard Keiper, dem Leiter des Politischen Archivs und Historischen Dienstes des Auswärtigen Amtes, ohne dessen Hilfe dieses Buch nicht entstanden wäre.

Wolfgang von Keitz

TEILI

SIEBZEHN MONATE REVOLUTION IN GILAN – BERICHT EINES NEUTRALEN

Deutsche Gesandtschaft ̶ Teheran, den 12. Dezember 1921, Nr. 606

Siebzehn Monate Revolution in Gilan

Die Teheraner Zeitung „Setareh Iran“ veröffentlicht seit Ende November des Jahres als Feuilleton unter der Spitzmarke „Siebzehn Monate Revolution in Gilan“ für die Geschichte der jetzt erloschenen Gilaner Bewegung nicht uninteressante Aufzeichnungen des Armeniers Eghikean1, von denen ich den ersten Abschnitt anliegend vorzulegen mich beehre. Die weiteren Abschnitte werde ich, wie es meine Zeit erlaubt, allmählich folgen lassen.

Sommer

Als die Rote Flotte Anzali2 beschoss, war ich in Gilan3. Siebzehn Revolutionsmonate habe ich dort verbracht, bis die Regierungstruppen in Rascht eintrafen. Alles, was ich während dieser siebzehn Monate erlebt habe, werde ich meinen Lesern erzählen, damit auch sie über die Gründe und die Lehren der Gilaner Bewegung unterrichtet werden.

Während dieser siebzehn Monate gehörte ich keiner revolutionären Partei an. Ich war weder Anhänger des Ehsanulla Khan4 noch Kutschak Khans5 noch der persischen Kommunisten oder russischen Bolschewisten. Die freundschaftlichen Beziehungen, die ich zu den Führern der Revolution unterhielt, erleichterten mir aber den Überblick über die Lage.

Alles, was ich erzähle, wird völlig unparteiisch sein. Meine Leser werden dies zugeben, denn alle meine Angaben stützen sich auf Dokumente. Die Bewohner Teherans, Persiens und der Welt hörten von der Gilaner Bewegung, wussten aber über die Tatsachen wenig Bescheid, lobten doch Vertreter und Führer jeder Partei ihre eigenen Leute und beschimpften die anderen.

Ich werde nur wirklich Geschehenes berichten. Einige meiner Angaben werden von den einen mit Befriedigung, von den anderen mit Widerwillen aufgenommen werden. Die Wahrheit jedoch steht über allem.

Mit den meisten Revolutionsführern war ich persönlich befreundet. Nach diesen einleitenden Worten gehe ich zu den Tatsachen über.

Ehsanulla Khan Dustdar

1DIE WIRTSCHAFTLICHE LAGE GILANS VOR DEM EINTREFFEN DER ROTEN ARMEE

Bevor ich die Geschichte der siebzehn Revolutionsmonate wiedergebe, werde ich die politische und wirtschaftliche Lage Gilans vor dem Eintreffen der roten Garde beschreiben.

Die Zustände in Gilan vor der Beschießung Anzalis durch die roten Schiffe „Wolga“ und „Kaspia“ am 18. Mai 1920 waren für die Bolschewisten sehr günstig. Die Bolschewisten waren aber nicht im Stande, diese Lage für ihre politische Revolution auszunutzen.

Ein englischer Vertreter in Rascht sagte zu seinen Freunden zwei Monate vor dem Eintreffen der Bolschewisten: „Die Bolschewisten können in Gilan Erfolg haben, denn die Teheraner Regierung hat kein Vertrauen in ihre eigenen Beamten und ist nicht imstande, die nordpersischen Provinzen, namentlich Gilan, zu pazifizieren. Wäre es der Regierung möglich, dies zu tun, so würden die Bolschewisten in Persien keinen Eingang finden. Da dies aber außer den Bereichen der Möglichkeit liegt, werden die Bolschewisten gewiss Persien besetzen.“

Dieser politische Vertreter hatte Recht. Denn in keinem Land wird die Revolution ausbrechen, wenn dort Ruhe und Ordnung herrschen. Da aber in Persien und vor allem in Gilan Anarchie herrschte, brach die Revolution aus.

In den Tagen, wo Petrowsk1 und andere Hafenstädte des Kaspischen Meeres sich im Besitz der Denikinschen2 Truppen befanden, war der Handelsverkehr zwischen Gilan und Südrussland wiederaufgenommen worden. Obwohl die Bewohner von Gilan manchen Schaden durch die Weiße Armee erlitten hatten, hatte doch die Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zwischen Gilan und Südrussland ihnen reiche Hoffnungen gebracht. Nach der Niederlage und Vernichtung der Denikinschen Armee, vor allem aber nach der Flucht seiner Schiffe in die persischen Häfen, wurden diese von den Bolschewiken gleichsam blockiert. Diese Blockade hatte bei den Gilanern großen Schrecken und Unzufriedenheit erregt. Die Stimmung gegen die Engländer3 verschärfte sich immer mehr, sahen doch die Bevölkerung und ihre Führer in den Engländern die Ursache dieser Blockade. Alle hofften, nach dem Rückzug der Engländer aus Gilan, vor allem aus Anzali, und nach dem Abschluss eines Freundschafts- und Handelsvertrages zwischen Persien und Moskau werde die Wirtschaftslage in Gilan sich zum Besseren wenden und die Bewohner wieder ihre Freiheit bekommen. Da aber die Bevölkerung die Teheraner Regierung als anglophil betrachtete, setzte sie keine Hoffnung auf sie und wartete auf eine Revolution.

Die damalige Wirtschaftslage war eine Folge des Weltkrieges, unter der sowohl die siegreichen Länder als auch Persien und Gilan litten. Da aber unser großer Nachbarstaat Russland wirtschaftlich besonders schwer darniederlag, so war namentlich die Wirtschaftslage Persiens und vor allem die der Nordprovinzen besonders schlimm. Der Handel lag vollkommen still, die Ernte lag in den Scheunen der Grundbesitzer und Kaufleute, die Arbeitslosigkeit war groß und die Bevölkerung sowie ihre Führer, die von der Weltwirtschaftslage keine richtige Vorstellung hatten, glaubten, ihre Lage würde sich mit dem Rückzug der Engländer bessern. Sie hatten zum Teil recht, denn die englischen Militärbehörden erlaubten nicht den geringsten Warenaustausch. Von Gilan wurde kein Korn Reis, kein Pfund Tabak, kein Pud4 Eisen, Petroleum usw. ausgeführt. Das Unglück liegt darin, dass die Zentralregierung in Persien nicht imstande war, ihren Staatsbürgern den Handel zu ermöglichen. Die Arbeitslosigkeit stieg von Tag zu Tag.

Die Leser wissen besser als ich, dass das Kabinett Vosough5 beim Volk verhasst war, besonders nach Abschluss des anglo-persischen Vertrages. Obwohl Vosough den Vertrag selbst nicht durchführen konnte6, fasste das Volk den Vertrag als einen Verkauf Persiens an England auf, hauptsächlich nachdem die mit unbeschränkter Vollmacht ausgestatteten englischen Finanzberater, die Persiens wirtschaftliche und finanziellen Kräfte kontrollieren sollten, in Teheran eingetroffen waren und ihre Tätigkeit begonnen hatten.

Das Volk war gegen solche Zustände und hatte keinerlei Neigung, den Vertrag durchgeführt zu sehen. Da es aber über keine Kraft verfügte und die Schaffung einer solchen auch nicht möglich war, wartete es auf fremde Hilfe.

Welche Kraft gäbe es außer den Bolschewiken, die den persischen Freiheitskämpfern zu Hilfe kommen konnten? Räterussland war es, das jahrelang einen blutigen Kampf auf Leben und Tod für seine Unabhängigkeit gegen England führte; Russland, das seiner eigenen Sicherheit halber den Einmarsch in Persien für nötig hielt, um die Engländer auch von dort zu vertreiben. Nach den feierlichen amtlichen Erklärungen Trotzkis7 und Bravins8 im ersten Revolutionsjahr, Tschitscherins9 und Narimanovs10, des Präsidenten der Sowjetrepublik Aserbaidschan, im dritten Jahr der Revolution fühlten die Perser sich sicher, dass Russland ihre wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit nicht antasten würde, dass der Einmarsch der roten Truppen in Persien dem Land keinerlei Schaden bringen würde. Die Gilaner spannten ihre Hoffnung noch weiter. Sie glaubten, nach der Öffnung des Handelsverkehrs mit Russland werde die Provinz wirtschaftlich und politisch emporsteigen und der Wohlstand unter der Bevölkerung wachsen. Aus diesem Grund ersehnten auch sie den Einmarsch der Russen.

Vosough-ed-dowleh

Infolge der Bewegung Kutschak Khans11 und der Verhältnisse in Talesch12 war die Lage Gilans besonders verwickelt. Obwohl die Regierung Truppen nach Gilan entsandt hatte, war sie nicht in der Lage, die Frage Kutschak Khans zu lösen. Nach vielen Kämpfen sah sie sich vielmehr gezwungen, mit ihm Waffenstillstand zu schließen.

Kutschak Khan erfüllte seine Pflichten aus dem Waffenstillstandsabkommen aber nicht. Er fühlte sich nicht sicher und in der Gegend von Fuman13 wurde weitergekämpft. Trotz des Waffenstillstands wurden die Gefolgsleute Kutschak Khans immer zahlreicher.

Mirza Kutschak Khan

Fünf Monate waren seit der Unterzeichnung des Abkommens verstrichen. Der interimistische Gouverneur konnte oder wollte die Waffenstillstandsbedingungen nicht erfüllen. Auch die Schritte, die der englische Konsul in dieser Richtung unternahm, blieben erfolglos.

Nach monatelangem Schriftwechsel und nach der Einnahme von Baku durch die Bolschewiken sollte der neue Vertreter der Regierung den Waffenstillstand umsetzen. Er gab Kutschak Khan dementsprechende Garantien. Es war zu spät. Bis in die letzten Tage der Anwesenheit der Beamten der Regierung in Gilan hinein meinte Kutschak Khan, die Regierung werde ihre Verpflichtungen aus dem Waffenstillstandsabkommen nicht erfüllen.

Unter dem Druck der Bakuer Bolschewiken sah sich die Regierung gezwungen, ihr Versprechen zu erneuern. In Regierungskreisen war bekannt, dass Mirza Kutschak Khan Beziehungen zu den Bolschewiken unterhielt. Er hatte nach dem Waffenstillstand einen großen Betrag aus den Steuern und Fischereiabgaben eingezogen und mit diesen Mitteln mithilfe der Bolschewiken seine Truppe neu ausgestattet.

Die Regierung hatte Sergam-es-saltaneh, auch bekannt unter seinem neuen Titel Sardar Muchtadir, wegen seiner ihr geleisteten Dienste zum Gouverneur der fünf Bezirke von Talesch (Karganrud, Ossalum, Talesch-Dulab, Schandermin und Masal) ernannt. Dies bedeutete, dass sie ihm die fünf Bezirke als Lehen verliehen hatte. Obwohl Sardar Muchtadir die Regierung nicht hinreichend gegen Kutschak Khan unterstützte, setzte der Gouverneur von Gilan doch viel Vertrauen in ihn.

Die Bevölkerung von Talesch war über die Übergriffe der Untergouverneure von Sardar Muchtadir erbittert und erhob sich gegen ihn. Ihre Klagen fanden in der Hauptstadt der Provinz Gilan, in Rascht, beim Gouverneur kein Gehör. In Schandermin und Masal brachen Aufstände aus. Nach und nach schlossen sich die anderen Bezirke den Aufständischen an und bildeten gegen den Gouverneur von Talesch eine geschlossene Front.

Der Untergouverneur von Schandermin wurde ermordet, und da den Forderungen der Bauern weder in Rascht noch in Teheran Folge geleistet wurde, sahen sie sich gezwungen, ihre Unabhängigkeit zu erklären und den Gouverneur ihrer Wahl zu ernennen. Dieser Bewegung stand die Regierung ratlos gegenüber. Sonderbar war, dass einerseits der Befehlshaber der Regierungstruppen Hauptmann Bulatseff Patronen und Geld an Sardar Muchtadir schickte, damit er gegen die Aufständischen kämpfe, und dass andererseits der interimistische Gouverneur von Gilan den Aufständischen Hilfe versprach.

Während dieser Kämpfe blieb Kutschak Khan nicht neutral. Er unterstützte im Geheimen die Aufständischen von Schandermin und Masal. Ohne seine Hilfe hätten sie sich der Truppen des Vizegouverneurs nicht erwehren können. Sardar Muchtadir war gezwungen, ins Gebirge zu fliehen.

Nicht nur in Fuman und den fünf Bezirken von Talesch, sondern in ganz Gilan ließen die Verhältnisse viel zu wünschen übrig. Die Khans verfolgten ihre eigenen Interessen und unterdrückten die Bevölkerung. Deren Klagen verhallten ungehört. Grund war die Bestechlichkeit der Beamten der Zentralregierung.

Die Bevölkerung erhoffte sich nichts mehr von der Regierung und lenkte ihre Augen auf Kutschak Khan. Teilweise verlangten sie von den Engländern Hilfe, teils warteten sie auf die Russen. Kutschak Khan verfügte jedoch nicht über die erforderlichen Kräfte, um etwas ausrichten zu können, und die Engländer verhielten sich ablehnend. So blieben nur die Russen.

Ein weiterer Grund der Unzufriedenheit der Bevölkerung lag darin, dass die Abgaben, die ohne Genehmigung des Parlaments erhoben wurden, ständig zunahmen. So wurde die Wirtschaftslage immer schlimmer. Von dem Ministerrat unterstützt, erhob der oberste Finanzbeamte der Regierung in Gilan willkürlich Abgaben, ohne dass die Bevölkerung die Möglichkeit gehabt hätte, sich zu beschweren. Erst nach dem Waffenstillstand mit Mirza Kutschak Khan wurden die Steuern auf Vermittlung von Kutschak Khan gesenkt.

Der oberste Steuerbeamte hatte besondere Reiter angeworben, durch die er die Steuern rücksichtslos eintreiben ließ. Diese Reiter folgten ausschließlich den Befehlen des Steuerbeamten der Zentralregierung. Der Gouverneur von Gilan hatte keine Befehlsgewalt über sie. Und obwohl diese Truppe viel Geld verschlang, ließ die Zentralregierung sie nicht auflösen, in der Hoffnung, sie könne durch sie die Steuerrückstände einziehen und mit diesen Einnahmen die Streitkräfte verstärken. Im Grunde war diese Reitertruppe, wie die Regierung am Ende einsehen musste, völlig nutzlos.

Der oberste Steuerbeamte in Gilan war für die Zentralregierung keine Hilfe. Die Regierungsbeamten wurden nicht regelmäßig bezahlt, die Gendarmen erhielten keinen Sold und desertierten, die Lehrer, deren Gehälter aus einer besonderen Abgabe bestritten wurden, erhielten nichts. Da blieb es nicht aus, dass die Unzufriedenheit immer mehr wuchs.

In dieser Zeit nahmen bolschewistische Propagandisten in Rascht und Anzali ihre Tätigkeit auf. Vertreter der Edalat-Partei14 (Gerechtigkeitspartei) gingen frei umher. Auch aus Astrachen kamen Propagandisten nach Gilan. Der Gouverneur und die Polizei gingen zwar gegen sie vor, sperrten sie ein oder schoben sie nach Teheran oder Baku ab, vermochten aber die Propaganda nicht vollständig zu unterbinden. Der Bolschewismus fand täglich neue Anhänger.

Die Befestigung Anzalis durch die Engländer fiel in diese Zeit. Kutschak Khan und andere Stammesführer sahen dem zwar ruhig zu, ohne sich des Glaubens erwehren zu können, dass sich die Festungswerke der Engländer nicht nur gegen die Bolschewisten, sondern auch gegen sie richteten. Die Bevölkerung war jedenfalls sehr unzufrieden über die Anwesenheit und das Vorgehen der englischen Truppen.

Zu jener Zeit wurde Baku von den russischen Bolschewiken besetzt. Dies sorgte in Gilan für erhebliche Aufregung. Die Bevölkerung erwartete, dass nun auch Anzali von den Bolschewiken besetzt und damit der Handel und freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetregierung aufgenommen würden. Nicht nur würde nach den Hoffnungen der Bevölkerung Gilans der Wohlstand wachsen, sondern auch die öffentliche Meinung frei werden.

2KUTSCHAK KHAN UND DIE BOLSCHEWIKEN

Kutschak Khan war besonders froh. Nach der Besetzung von Lankaran1 hatten die Bolschewisten ein Schreiben an ihn gerichtet und ihm Hilfe versprochen. So glaubte er, er werde nach dem Eintreffen der roten Truppen die Herrschaft an sich reißen können. Einige Monate vor der Ankunft der Bolschewiken in Baku sagte mir Kutschak Khan auf die Seidach-Berge weisend: „Ich weiß nicht, soll ich beim Eintreffen der Bolschewiken mich dort verbergen oder mich mit ihnen vereinigen?“ Als aber die roten Truppen Baku besetzt hatten, meinte er, es bliebe ihm nichts anderes übrig, als mit den Bolschewiken Beziehungen zu unterhalten, um dadurch etwaigen Übergriffen von ihrer Seite vorzubeugen.

Nach der Ankunft der Bolschewiken in Astara2 schrieb ich Mirza Kutschak Khan: „Vor einigen Jahren haben Sie Gilan vor Plünderungen durch die aufgelösten russischen Truppen3 bewahrt. Auch heute wartet die Bevölkerung auf Ihre Hilfe. Sie sollen deshalb in der Stadt und deren Umgegend bewaffnete Gruppen bilden und Ihre Truppen in die Nähe der Stadt marschieren lassen.“

Die Abwesenheit des Schahs bot eine gute Gelegenheit zur Ausrufung der Republik. Keiner fragte danach, ob der Einmarsch der Bolschewiken im Iran nützlich oder schädlich wäre. Es lag auf der Hand, dass die iranische Regierung den Einmarsch der Bolschewiken nicht verhindern konnte und auch die Engländer waren nicht geneigt, Tausende von Farsakhs4 von ihrem Hauptquartier entfernt mit den roten Truppen zu kämpfen. Deswegen schrieb ich noch einen weiteren Brief an Mirza Kutschak Khan, worin ich ihn einlud, in die Stadt zu kommen, und ihm sagte: „Die englischen Truppen werden ganz gewiss Gilan räumen. Sie werden allein stehen. Stärken Sie deshalb Ihre Organisation, damit Sie in der Lage sind, nach Ankunft der Bolschewiken deren Willkürherrschaft und Übergriffe zu verhindern.“ Ich hatte damit keine andere Absicht, als dass eine Truppe geschaffen würde, die etwaige Unruhen unterdrücken könnte.

Die meisten Leute in Gilan teilten diese meine Ansicht. Jede Revolution hat Unordnung und Unruhen zur Folge. Ist keine disziplinierte Truppe vorhanden, diese zu ersticken, so muss das Volk viel leiden. Wir wussten, dass die Bolschewiken Beziehungen zu Mirza Kutschak Khan unterhielten und ohne ihn zu befragen nichts in Persien unternehmen würden.

Neben Mirza Kutschak Khan und seinen Anhängern gab es keine politischen Parteien in der Stadt. Sardar Mohi und seine Freunde hatten sich zwar zusammengeschlossen, waren jedoch ohne Einfluss, und die Bolschewiken hatten keine Beziehungen zu ihnen. Die Demokraten5 entbehrten jedweder Organisation. Anders verhielt es sich mit den Armeniern. Sie hatten aber keine Beziehungen zu Mirza Kutschak Khan, mischten sich nicht in die Lokalpolitik ein und beschäftigten sich nur mit der Vertretung der Armenier.

Schon vor der Besetzung Bakus hatten die Bolschewiken einen Vertreter nach Rascht entsandt. Bei einem Zusammentreffen sagte er mir, seine Genossen würden Ende Mai oder Anfang Juni in Gilan eintreffen.

Über ihre Streitkräfte waren nicht nur ich, sondern auch die Regierung gut unterrichtet, denn einige Tage vor seinem Eintreffen seien eine Anzahl Bolschewiken festgenommen und dabei eine Kiste mit Büchern, Proklamationen, Zeitungen und sogar ihr Operationsplan gefunden worden.

Zu derselben Zeit, als die Beamten der Zentralregierung in Gilan zu einer festlichen Illumination rüsteten, fuhr die Rote Flotte von Astrachan nach Anzali. Ob dies auf eine Einladung Mirza Kutschak Khans geschah, vermag ich nicht zu sagen. Ich verfüge aber über folgendes Schreiben der Bolschewiken an ihn, und der Wahrheit zuliebe will ich es hier abdrucken:

Lenkeran6, den 30. April 1920

Geehrter und lieber Genosse Kutschak Khan!

Die roten Arbeiter, Bauern und Soldaten Russlands und Aserbaidschans begrüßen Sie und alle Proletarier Irans. Deren Leiden sind groß. Sie arbeiten vom Morgengrauen bis zur Abenddämmerung und ihre Mühen Frucht fließt in die Taschen englischer Kapitalisten. Das alte ehrwürdige iranische Volk ist von der Regierung den Engländern verkauft worden. Es ist zum Werkzeug der englischen Bourgeoisie geworden, die es blindlings nach ihrem Willen führen lässt.

Für seine Rettung möchten wir gerne etwas tun. Leider stand uns bisher kein Weg offen, Iran zu unterstützen. Wir vergessen nicht die Tage des zaristischen Regimes, von dem wir ebenfalls, wie das iranische Volk, unterdrückt wurden. Englische Kapitalisten zwangen uns damals dazu, Iran zu unterjochen und zu vernichten.

Der Zarismus wurde gestürzt. Kerenskis käufliche Regierung ging unter und die Macht ging über in die Hände der Arbeiter und Bauern Russlands. Unser erster Schritt war die Bekanntgabe der Nichteinmischung in Irans Angelegenheiten. Die schwere Last, die auf den Schultern des iranischen Volkes ruhte, wurde aber dadurch nicht gemildert. Sie wuchs nur noch, denn die englische Bourgeoisie konnte nunmehr als Alleinherrscherin ihre imperialistischen Pläne verfolgen.

Wir Arbeiter und Bauern Russlands konnten bis heute nichts tun, um unsere iranischen Brüder vor dem Übergriff der englischen Kapitalisten zu schützen. In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir blutige Kämpfe gegen unsere inneren und äußeren Feinde geführt, um unsere Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen. Kapitalisten anderer Staaten stritten unter Führung der englischen Kapitalisten gegen uns. Die kapitalistische Regierung Englands, Japans, Amerikas und Frankreichs schickten Truppen, um die Arbeiter- und Bauernregierung Russlands zu stürzen und eine zaristische Regierung an ihre Stelle zu setzen. Frankreichs, Japans, Englands und Amerikas Soldaten, gleich uns Arbeitern und Bauern, wollten aber nicht gegen uns kämpfen. Ihre Regierungen sahen sich gezwungen, sie in ihre Heimat zurückzurufen. Nun ging das kapitalistische England dazu über, russische Reaktionäre wie Koltschak7, Judenitsch8, Denikin9 usw. gegen uns ins Feld zu setzen, sie mit Geld, Munition, Proviant usw. zu unterstützen. Sogar Panzer und Flugzeuge erhalten sie.

Auch diese Gefahr verschwand. Wir mobilisierten einige Millionen roter Truppen und vernichteten die Reaktionäre. Der letzte der Reaktionäre, General Denikin, ist, wie Sie wissen, aus Russland geflohen. Heute gebietet die Räteregierung über ganz Russland, vom Stillen Ozean bis zum Baltischen Meer, vom Schwarzen bis zum Weißen Meer.

Nun wollte die Bourgeoisie Westeuropas unter der Führung der englischen Kapitalisten unsere kleinen Nachbarn wie Finnland, Estland, Litauen und Polen zwingen, gegen uns Krieg zu führen. Auch dies scheiterte an dem Widerstand dieser Staaten. Mit Estland haben wir bereits Frieden geschlossen. Friedensverhandlungen mit den anderen Ländern sind im Gange. Das Ziel der englischen Bourgeoisie ist uns wohl bekannt. Nie wird der Wolf mit dem Schaf Frieden schließen. Die englische Bourgeoisie will uns irreführen und plant eine Offensive gegen uns. Wir sind aber stark und mächtig und fürchten die englischen Kapitalisten nicht. Nur ein Ziel und ein Gedanke leitet uns: Wir wollen uns mit den unterdrückten Völkern des Orients verbünden, die englischen Kapitalisten im Orient niederschlagen und sie aus Asien vertreiben.

Mit der Unabhängigkeit und Freiheit Aserbaidschans, Persiens, der Türkei, Afghanistans und Indiens wird die englische Bourgeoisie, die sich auf Kosten dieser Länder bereichert, einen schweren Schlag erhalten. So lange die Macht der englischen Bourgeoisie andauert, werdet ihr – Proletarier des Orients, und wir, Proletarier Russlands – auf Ruhe und Frieden vergeblich warten.

Die Arbeiter und Bauern Aserbaidschans haben ihre bürgerliche Regierung, die ein Werkzeug der englischen Kapitalisten ist, gestürzt, und sie durch eine Räteregierung ersetzt. Als diese die russische Räteregierung um Hilfe anging, kamen dieser Bitte Arbeiter und Bauern Russlands freudig nach. Der Hilferuf, den die Bauern und Arbeiter Aserbaidschans an Räterussland richteten, bewies, dass sie unseren guten Willen den unterdrückten Völkern Asiens gegenüber glaubten. Mit unserer Hilfe wollten sie das Joch des Abendlandes abschütteln. Wir wünschen, dass auch andere unterdrückte Völker Asiens daran mitarbeiten, dass wir Aserbaidschan von diesem Joch befreien und ihm seine Selbstständigkeit geben. Freudig haben wir unseren Brüdern in Aserbaidschan geantwortet und sie durch unsere roten Truppen gegen die Angriffe der englischen Bourgeoisie geschützt. Unser Ziel war eine unabhängige Arbeiter- und Bauerrepublik in Aserbaidschan.

Der einzige Mann, der es im Iran gewagt hat, die rote Flagge gegen England an den Fahnenmast zu binden, warst Du. Du warst der Erste, der gegen England blutige Fehde erklärte. Du bist der Mann, der das edle, unterdrückte iranische Volk vom fremden Joch befreien kann. Namens der Arbeiter und Bauern sowie der roten Truppen Russlands und Aserbaidschans sagen wir Dir, dem Führer des iranischen Proletariats: „Sobald das iranische Volk es wünscht, werden wir unsere iranischen Brüder unterstützen und ihnen helfen, die Engländer aus Iran zu vertreiben. Wir werden das iranische Volk befreien.“

Genosse, sei versichert, das iranische Volk kann auf uns zählen. Als Zeichen unserer Achtung und unserer Dankbarkeit senden wir Dir einen Revolver und eine Medaille und hoffen, dass dieser Revolver in Deiner Hand den letzten Unterdrücker Persiens vernichten wird. Stets müssen unsere Beziehungen zueinander wach bleiben und stets müssen wir uns gegenseitig helfen.

Stempel des Lenkeraner Komitees der Kommunistischen Partei Russlands

Aus diesem Schreiben wird deutlich, dass die Bolschewiken Kutschak Khan Hilfe zugesagt haben, es wird aber nicht klar, ob er sie in den Iran eingeladen hat.

Einige Tage vor der Landung der Bolschewiken in Gilan fragte mich ein Vertreter Mirza Kutschak Khans: „Glaubst Du, dass die Bolschewiken in den Iran kommen werden?“ Ich antwortete verneinend, worauf er erwiderte: „Auch nicht, wenn sie Kutschak Khan bittet?“ Ich sagte, dies wäre etwas anderes, worauf er antwortete, Kutschak Khan habe sie gebeten zu kommen. Dagegen sagte ein Führer der roten Truppen später, die Bolschewiken wären auf jeden Fall in den Iran einmarschiert. Derselbe Führer warf in einem Gespräch, das ich mit ihm hatte, Mirza Kutschak Khan vor, dass er ein Panislamist, Reaktionär, Dieb und Scharlatan sei, worauf ich ihn fragte, warum die Bolschewiken sich mit einem solchen Mann zusammengetan und ihn zum Führer der Revolution im Iran auserkoren hätten. Hierauf entgegnete er: „Wir verfolgen besondere Ziele im Iran. Auf andere Art und Weise konnten wir nicht in den Iran kommen. Mirza Kutschak Khan genoss den Ruf eines Anführers und war beim persischen Volk beliebt. Deshalb stellten wir ihn an die Spitze der Bewegung. Wäre er es nicht, so fänden wir einen anderen Kutschak Khan, z. B. Ehsanolla Khan, Hossein Gholi oder Mohammed Ali.“

Welche Ziele die Bolschewiken in den Iran führten, ob politische oder militärische, ist uns nicht bekannt. Jedenfalls waren sie mit Kutschak Khan verbündet. Die Revolution in Gilan begann und siebzehn Monate lang war die Provinz der Schauplatz blutiger Kämpfe und großer Unruhe. Diese siebzehn Monate will ich unparteiisch schildern.

3DER BESCHUSS VON ANZALI

Am 18. Mai 1920 beschoss die russische Rote Flotte Anzali und ihr Kommandant erklärte feierlich: „Da Denikins Flotte und seine Offiziere sich nach Anzali geflüchtet haben, hält der Admiral des Kaspischen Meeres die Ruhe dort für nicht gesichert. Die Rote Flotte ist gekommen, um sich in den Besitz der Flotte Denikins zu setzen.“

Die Engländer1 hatten Anzali befestigt. Ohne Krieg zu führen, begannen sie zu verhandeln. Während die Flotte Anzali beschoss, landeten rote Truppen im Rücken der Engländer, um ihnen die Flucht oder den Rückzug zu verlegen. Die Russen erreichten ihr Ziel. Einige englische Generäle weilten damals in Anzali. Sie drückten den Wunsch aus, ihre Truppen ohne Kampf zurückzunehmen. Die Russen gewährten ihnen hierzu eine Frist von einigen Stunden. Eiligst zogen die Engländer nach Rascht ab. Die Vertreter der iranischen Zentralregierung begannen, mit dem Admiral zu verhandeln, und zwar zuerst der Vizegouverneur von Anzali und dann der Gouverneur von Gilan selbst. An diesen Verhandlungen nahm auch Genosse Ordschonikidse2 als Vertreter der Sowjetregierung teil.

Mikojan, Stalin, Ordschonikidse (Tiflis, 1925)

Fjodor Fjodorowitsch Raskolnikow (1920)

Fjodor Fjodorowitsch Raskolnikow3, der Befehlshaber der Wolga- und Kaspischen-Flotte, erklärte, er habe ohne Befehl der Moskauer Regierung Anzali beschossen und er selbst sei für diese Maßnahme verantwortlich. Wenn er willkürlich und ohne Zustimmung der Regierung gehandelt habe, so käme dies daher, dass er für die Ruhe auf dem Kaspischen Meer einzustehen habe. Da Denikins Flotte und seine reaktionären Offiziere sich in Anzali verschanzt hätten, sei er gezwungen gewesen, den Ort zu beschießen. Raskolnikow schlug den Engländern und Iranern folgende Bedingungen vor:

Von den Engländern forderte er:

Alles russische Vermögen, das durch Denikins Anhänger von Russland in den Iran gebracht worden war, sowie alle Handels- und Kriegsschiffe, Geschütze, Munition und Proviant werden dem Admiral der russischen Sowjetregierung ausgehändigt.Denikins Anhänger sind auszuliefern.Englische Truppen müssen Anzali räumen.

Von den Iranern forderte Raskolnikow:

Iran erkennt feierlich die Moskauer Regierung an und nimmt Verhandlungen wegen eines Freundschafts- und Handelsvertrages auf.Iranische Häfen sind für den Handel mit Russland offen.

Raskolnikow erklärte weiter, er und die russische Regierung beabsichtigten nicht, Feindseligkeiten gegen Iran zu eröffnen. Sie würden vielmehr das iranische Volk äußerst freundschaftlich behandeln. Seine Regierung wünsche nur den Abschluss eines Freundschaftsvertrages und die Wiederaufnahme des Handels mit Russland.

Von den Vorschlägen nahmen die Engländer den ersten und dritten Vorschlag an. Die iranische Regierung nahm alle Vorschläge an, widersetzte sich aber der Auslieferung der Gefolgsleute von Denikin. Zwei englische Offiziere begaben sich auf das russische Flaggschiff. Die englischen Truppen begannen sich zurückzuziehen und die Schiffe Denikins wurden übergeben.

Bevor sie Anzali räumten, hatten die Engländer die Gefolgsleute Denikins landeinwärts geschickt. Als der Admiral der russischen Flotte darüber Aufschluss forderte, antworteten sie ihm: „Sowohl in England als auch im Iran sei das Zufluchtsrecht heilig. Unter der Zarenregierung hätten russische Revolutionäre in England und im Iran Zuflucht gesucht. England und Iran, letzteres trotz seiner Schwäche, hatten ihnen Schutz gewährt und sie nicht ausgeliefert. Anarchisten, die nirgendwo ein Asyl fänden, hätten in England Aufnahme gefunden und sogar von dort aus Propaganda getrieben. England vermöge deshalb nichts anderes zu tun, als die Gefolgsleute Denikins zu schützen.“

Hierauf erklärten sich die Russen bereit, mit den Gefolgsleuten Denikins zu verhandeln. Sie schlugen den Engländern vor, ihnen die Gefolgsleute Denikins auszuliefern, soweit die selbst damit einverstanden wären, die Übrigen aber nach Bagdad4 zu senden. Etwa ein Viertel der Anhänger Denikins erklärte sich bereit, ausgeliefert zu werden. Sie blieben in Rascht und Anzali; die anderen gingen nach Qazvin5.

Als die russischen Schiffe Anzali beschossen, hatte sich eine Volksmenge an der Küste versammelt und begrüßte die Schüsse mit Hurra-Rufen. Es machte den Eindruck, als seien die russischen Kriegsschiffe iranische Schiffe, die einen iranischen Hafen vom Feind säubern wollten. Besonders jubelte das Volk, als die Engländer Ghasian räumten.

4DIE BOLSCHEWIKEN BESETZEN ANZALI

Nach dem Rückzug der Engländer spaltete sich die Bevölkerung in zwei Parteien. Die eine Gruppe begann, englische Geschäftshäuser und Wohnungen zu plündern, während die andere den Hafen mit iranischen und roten Fahnen schmückte. Stundenlang ertönten Rufe wie: „Hoch das freie Iran!“, „Hoch Sowjetrussland!“, „Nieder mit England!“, „Nieder mit dem Kabinett Vosough-ed-dowleh, nieder mit den Verrätern!“

Der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als das erste russische Schiff unter den Klängen der Marseillaise, der Internationale und der iranischen Nationalhymne in den Hafen einlief. Rufe „Lang lebe Sowjetrussland!“ und „Hoch das freie Iran!“ wurde zwischen der am Strand zusammengelaufenen Bevölkerung und der Schiffsmannschaft ausgetauscht. Sofort nach dem Festmachen eines Schiffes stiegen zwei Marineoffiziere an Land und hielten Ansprachen. Der Verkehr in den Straßen und im Hafen dauerte die ganze Nacht fort.

Vertreter Mirza Kutschak Khans, wie Seyed Habibollah Khan und Mir Saleh Misaffersadeh, trafen an der Spitze von Freiwilligen in Anzali ein und besuchten den Kommandanten des Schiffes und den Sowjetvertreter. Auch der Chef der Stadtverwaltung begab sich mit einer Anzahl Notabeln auf das Schiff, um den Admiral zu seiner Ankunft zu beglückwünschen.

Um diese Zeit verschwand der Vizegouverneur. Die Polizei wurde der Stadtverwaltung untergeordnet. Auf russische Initiative wurde eine rote Polizei aufgestellt, die aber schon nach einigen Stunden durch den Admiral aufgelöst wurde.

Die Vertreter Kutschak Khans quartierten sich im Rathaus ein, empfingen Leute aller Klassen der Bevölkerung und versprachen ihnen die Freiheit Irans. In Anzali herrschte unter den Einwohnern große Begeisterung; alle hofften auf die Freiheit des Landes. Selbst Geistliche und Kapitalisten besuchten den Chef der Stadtverwaltung, den Admiral und Kutschak Khans Vertreter. Auch Ghasian war von den Russen besetzt worden.

Rathaus von Anzali

Als die Einwohner von Rascht die Vorgänge in Anzali erfuhren, kam auch dort eine freudige Stimmung auf. Diese wurde aber weniger öffentlich gezeigt, da die Engländer noch in der Stadt waren. Gleichwohl beglückwünschten sich die Bewohner zum Sieg der roten Flotte und zur Niederlage der Engländer. Auch große Geistliche und Kapitalisten, die im Innern die Ankunft der Bolschewiken nicht gern sahen, ließen sich hiervon nichts anmerken und jubelten wie die anderen. Allgemein fürchtete man einen Zusammenstoß der Engländer und der Russen in unmittelbarer Nähe der Stadt Rascht.

Nach seiner Rückkehr aus Anzali machte der Gouverneur von Gilan in Rascht bekannt, die Bolschewiken würden nicht weiter in den Iran einmarschieren, die Engländer würden Gilan räumen, er selbst werde die Ruhe aufrechtzuerhalten suchen. Die Bevölkerung solle sich ruhig verhalten und ihn nicht zwingen, Gewalt anzuwenden. Die russische Flotte habe keine schlechten Absichten Irans gegenüber und wolle nur das nach Anzali überführte Eigentum der Denikinschen Armee in Besitz nehmen und nach Russland zurückbringen.

Nachdem die Vertreter Kutschak Khans bereits nach Anzali gekommen waren, schrieb er selbst durch seinen Raschter Vertrauensmann an den englischen Konsul, die Engländer möchten, wenn sie nicht ausreichend Truppen hätten, Widerstand gegen die Bolschewiken zu leisten, Gilan räumen, damit der unglücklichen und unterdrückten Bevölkerung nicht neue Leiden zugefügt würden. Darauf antwortete der englische Konsul, die Truppen würden gemäß einem mit den Bolschewiken getroffenen Abkommen Gilan räumen; er selbst freue sich, dass der Gouverneur Kutschak Khan gebeten habe, in die Stadt zu kommen, um der Bevölkerung neues Leid zu ersparen.

Einer zweiten Bekanntmachung des Raschter Gouverneurs war zu entnehmen, dass die Teheraner Regierung gegen das Vorgehen der Bolschewiken Protest eingelegt hatte, worauf der Genosse Tschitscherin1 erwiderte, dass die Rote Flotte keine bösen Absichten habe; sie werde zurückkehren, sobald sie alle russischen Schiffe, Geschütze usw. in Besitz genommen habe. In seiner Antwort hatte Tschitscherin zum Schluss versichert, die Sowjetregierung sei dem iranischen Volk aufrichtig freundschaftlich gesinnt und hat die Versprechen Trotzkis und Bravins erneuert. Er schlug weiter vor, Vertreter Irans möchten nach Moskau kommen, um über einen Freundschafts- und Handelsvertrag zu verhandeln. Diese beruhigenden Versicherungen verfehlten ihre Wirkung auf die Bevölkerung nicht. Die Begeisterung Kutschak Khans und seiner Anhänger für die Russen nahm zu.

Als die englischen Truppen abzogen, begannen die Dschangali der Bevölkerung übertriebene Dinge aufzutischen. So erzählten sie, dass ein Bolschewik es mit zehn Engländern aufnehmen könne; die Engländer seien vor den Bolschewiken geflohen; die Inder2 hätten ihren Offizieren den Gehorsam verweigert und nicht gegen die Bolschewiken kämpfen wollen; die Engländer hätten die Einwohner von Anzali gezwungen, Schützengräben zu bauen und Munition zu transportieren und sie den Kugeln der Bolschewiken ausgesetzt.

Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin

Auch die Anhänger Sardar Mohids redeten in diesem Sinne. Bald galten die Russen den Einwohnern von Gilan als reine Engel und wurden als Retter Irans aus den englischen Krallen begrüßt. Ein Sieg der Bolschewiken galt als iranischer Sieg. Aus Anzali geflohene Europäer erzählten dagegen, die Engländer hätten mehrere russische Schiffe in den Grund geschossen, hunderte Russen gefangen genommen und zwei oder drei Schiffe erbeutet. Beide Teile logen.

Wie vereinbart räumten die Engländer Anzali, ohne einen Schuss abzugeben. Die Rote Flotte hörte auf, Anzali zu beschießen. Auch Bewaffnete, die die Bolschewiken in Hassanrud ausgeschifft hatten, um die Engländer zu verfolgen, gaben jede Feindseligkeit auf. Auch hieß es, ein indischer Offizier, der Befehl bekommen hatte, die Landung der Bolschewiken nicht zu verhindern, habe Selbstmord begangen, da er, wie er seinen Kameraden sagte, nicht zulassen könne, dass der Feind im Angesicht seiner zur Untätigkeit verdammten Truppe lande.

Warum, fragten wie uns, räumten die Engländer ohne Kampf Anzali und zogen sich nach Mandschil zurück, obwohl sie über 3.000 wohldisziplinierte Soldaten und schwere Geschütze verfügten und den russischen Kriegsschiffen mit der unter ihrem Befehl stehenden Denikinschen Flotte hätten Widerstand leisten können? Einige meiner Freunde hielten den Abmarsch für ein Zeichen der Schwäche. Ich glaubte dagegen, mir den Abzug aus zwei Gründen erklären zu können: Erstens lag Baku sehr nahe und war voll roter Truppen. Zweitens konnte Mirza Kutschak Khan die Bolschewiken durch den Wald nach Siahrud führen, wo sie die Engländer leicht hätten umzingeln und gefangen nehmen können.

5KUTSCHAK KHAN KOMMT NACH ANZALI

Die Bevölkerung deutete den Abzug als ein Zeichen der Schwäche der Engländer. Außer Kutschak Khan hatten Männer aus allen Volksschichten die Engländer gebeten, Gilan zu verlassen. Eine Anzahl Einwohner dagegen schickte Vertreter zu den Bolschewiken nach Anzali und lud sie ein, nach Rascht zu kommen. Auch der Kosakenhauptmann im Iranischen Dienst Bulateff begab sich persönlich nach Anzali, um mit dem Admiral und dem Sowjetvertreter zu verhandeln.

Als Kutschak Khan sich der Stadt näherte, versicherte er auf sein Ehrenwort, er werde Ruhe und Ordnung aufrechterhalten. Täglich verhandelte der Gouverneur mit ihm, um den Abzug der Russen aus Anzali zu erreichen.

Bevor Kutschak Khan von Anzali nach Rascht marschierte, begab ich mich zu ihm nach Anzali und traf dort den Gouverneur und einige Notabeln. Als diese sich entfernt hatten, begann ich mit Kutschak Khan zu verhandeln. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass die Bevölkerung große Hoffnung auf ihn setze und von ihm die Verteidigung der Provinz vor den Feinden erwarte. Man war sich dessen sicher, dass Kutschak Kahn dank seines Rufes als Revolutionär und dank seiner Freundschaft mit der Sowjetregierung Rascht vor einer Besetzung durch die Russen retten konnte. Da er sich andererseits mit der Zentralregierung verständigt hatte, glaubte man, er werde die Bevölkerung vor Übergriffen der Regierungsbeamten und Gilaner Größen schützen können. Wäre er diesem Ruf als Patriot treu geblieben, so hätte er diese Erwartungen erfüllen können und müssen. Stattdessen zog er die rote Fahne auf und rief die Sowjetrepublik aus.

In unserer eineinhalbstündigen Unterredung gab Mirza Kutschak Khan eine Einschätzung ab, die in der Geschichte der Iranischen Revolution aufgezeichnet zu werden verdient. Er sagte: „Mit den Bolschewiken zu arbeiten, ist sehr schwer, denn sie sind dieselben Russen, die unter der Regierung der Zaren gelebt haben. Drei Jahre Revolution konnten ihre Geistesverfassung nicht ändern. Alles was die Russen bis vor drei Jahren taten, war eine Folge des Despotismus. Die Revolutionäre der ganzen Welt, Russland und Iran eingeschlossen, bäumten sich dagegen auf. Was sie heute tun, tun sie unter der Maske der Revolution; wir können uns nicht dagegen auflehnen. Mit den Engländern ist es möglich zu verhandeln; sie ziehen die politischen Umstände in Betracht. Mit den Russen lässt sich überhaupt nicht reden. Tausend Engländer schaden nicht so viel wie ein einziger Russe. Sie fürchten die öffentliche Meinung ihres und unseres Landes. Wollen sie gegen die Djangali kämpfen, so können wir uns mit unserer Beschwerde an alle Demokraten der Welt wenden. Viele Sympathien werden wir dadurch gewinnen. Die Bolschewiken dagegen legen keinen Wert auf die öffentliche Meinung und fürchten sie nicht. Unter dem Vorwand, wir seien Reaktionäre und Kapitalisten, können sie uns alle eines schönen Tages festnehmen und die Wälder mit all seinen Dörfern verbrennen. Bevor wir unsere Stimme erheben und die Revolutionäre der Welt auf uns aufmerksam machen können, werden sie uns vernichten.“ Die kommenden Ereignisse sind ein Beleg dafür, dass die Einschätzung Mirza Kutschak Khans richtig war. Ob dies auch für seine übrigen Äußerungen zutrifft, vermögen wir nicht zu sagen.

Am 21. Mai 1920 ging Mirza Kutschak Khan nach Anzali, um Raskolnikow und Ordschonikidse (zwei Kommunistenführer) zu besuchen. Einige Engländerfreunde und Regierungsbeamte wurden festgenommen. Bücher und andere Broschüren wurden in großer Menge unter den Einwohnern unentgeltlich verteilt. Die russischen Kommissare hatten mit den Vertretern der Bevölkerung über die Unabhängigkeit und Freiheit der Völker des Ostens, besonders des iranischen Volkes gesprochen und verhandelten auch mit Vertretern Kutschak Khans täglich darüber. Sie redeten offen dem Umsturz das Wort und hatten Kutschak Khan zu sich nach Anzali gebeten, um durch ihn die Revolution ins Werk zu setzen.

Auch die Vertreter der Edalat-Partei (Gerechtigkeitspartei)1 aus Baku waren in Gilan eingetroffen. Kamran Aghajev und Dschafar Dschawadzadeh trieben bolschewistische Propaganda.

Das Zentrum der bolschewistischen Propaganda war nach Anzali verlegt worden. Von hier aus sollten bolschewistische Ideen ihren Weg in den Süden nehmen.

Aus Furcht, Dschawadzadeh und Aghajev könnten mit ihren Freunden Führer der iranischen Revolution werden, begab sich Mirza Kutschak Khan nach Anzali. Er wollte der Revolution einen nationalen Charakter geben.

Nach seiner Zusammenkunft mit den Sowjetvertretern gab sich Kutschak Khan selbst als Sozialist aus. Hätte er dies nicht getan und die Führung der Revolution nicht übernommen, so wären die Anhänger der Edalat-Partei an seine Stelle getreten. Obwohl Mirza Kutschak Khan in einem Brief an Lenin erklärte, er habe die Bolschewiken aufgehalten, verbreiteten russische Kommunisten das Gerücht, nur auf dringendes Verlangen Mirza Kutschak Khans seien die Bolschewiken im Iran geblieben. Aber sie meinten, auch ohne ein solches Verlangen würden sie die Revolution anfachen und gegen englische und iranische Regierungstruppen kämpfen.

Dschafar Dschawadzadeh (Pischewari)

Dschafar Dschawadzadeh (1893‒1947) wurde später unter dem Namen Dschafar Pischewari bekannt. Er war Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Iran (KPI) und an der Gründung der Sozialistischen Sowjetrepublik Iran (später Gilan).

Die Ankunft Mirza Kutschak Khans in Anzali wurde wie ein Siegesfest gefeiert. Die Begeisterung der Bevölkerung war noch größer als am Tag des Einlaufens der roten Flotte. Die meisten Gebäude waren mit roten und iranischen Fahnen geschmückt. Die meisten Straßen, durch die Kutschak Khan und seine Gefolgsleute kommen sollten, waren reich mit Teppichen geschmückt. Viel Volk erwartete auf Dächern und Straßen zusammengerottet seinen Einzug. Die russischen Kapellen spielten, Hurra wurde gerufen, als Mirza Kutschak Khan sich zeigte. Er begab sich in das Haus der Stadtverwaltung. Leute aller Klassen begaben sich zu ihm und beglückwünschten ihn zu seiner Ankunft. Vor dem Gebäude hatte sich viel Volk gesammelt. Sobald es seiner am Fenster ansichtig wurde, begannen der Jubel und das Hurrarufen von Neuem. Kriegs- und Handelsschiffe im Hafen waren beflaggt. Kurz: Es war ein großer Festtag für die Einwohner von Anzali. Die Bevölkerung war fest davon überzeugt, Mirza Kutschak Khan habe Iran vor den Fremden gerettet und werde das Land vor Unruhen schützen. Kaufleute und Kapitalisten besonders unterstützten ihn. Der Chef der Stadtverwaltung stellte sich als Revolutionär an seine Seite.

Die unteren Volksklassen, wie Fischer und Lastenträger, sahen sich nach den Reden der Ankömmlinge schon als Kapitalisten und Besitzer schöner Häuser. Nicht in Kutschak Khan, sondern in die Edalat-Partei setzten sie ihre Hoffnung. Nach seiner Ankunft stattete Kutschak Khan den russischen Vertretern einen Besuch ab. Sofort begann er, mit ihnen über den Abschluss eines Vertrages zu verhandeln. Ohne längere Besprechung gab er nach und verpflichtete sich, die Bolschewiken zu unterstützen und eine Revolution in Persien anzufachen. Raskolnikow und Ordschonikidse sandten ein Telegramm nach Moskau und meldeten, Kutschak Khan habe sich der Moskauer Ansicht über die Revolution im Iran angeschlossen und sei geneigt, eine Sowjetregierung zu bilden. Folgende Antwort lief aus Moskau ein:

Moskau, den 22. Mai 1920. Nr. 1310

An die Genossen Raskolnikow und Ordschonikidse: irza Kutschak Khan ist geneigt, eine Räteregierung im Iran zu bilden und will dadurch die Regierungsgewalt an sich reißen. Sie sollen sehr vorsichtig sein und von der Stimmung der Bevölkerung in Gilan und anderen Aserbaidschan benachbarten Landstrichen nicht auf die Stimmung des ganzen iranischen Volkes schließen. Vorläufig muss Folgendes gemacht werden: Alle Proletarier und Demokraten sind gegen den Schah zu vereinigen. Die Engländer müssen aus dem Iran vertrieben, der Schah entthront und Iran von der Herrschhaft der Großgrundbesitzer und Adligen befreit werden. Der Kampf gegen England und seine Parteigänger soll beginnen. Eine dem Sowjetsystem ähnliche Regierung muss im Iran gebildet werden. Eine strikte Durchführung des Sowjetsystems wird Zwietracht unter den Volksklassen erzeugen und große Schwierigkeiten für uns zur Folge haben. In einem solchen Fall können wir das iranische Land und Volk von den Engländern nicht retten. Berichten Sie, welchen Eindruck unser Einmarsch in Teheran und an anderen Orten gemacht hat. Und berichten Sie über Ihre Beziehungen zu anderen Parteien außer der Gruppe Mirza Kutschak Khans.

Karakhan2

Diese Depesche zeigt, dass der stellvertretende Kommissar für Außenangelegenheiten besser als Mirza Kutschak Khan und andere verstand, was Iran nottat. Das iranische Volk hatte damals zwei Ziele: die Vertreibung der Engländer und die Eröffnung des Parlaments. Raskolnikow begriff dies nicht und Mirza Kutschak Khan konnte es ihm nicht begreiflich machen. Ein wirklicher Revolutionär in Moskau begriff dies aber sehr gut und erteilte Weisungen in diesem Sinne.

Obwohl Karakhan die Lage richtig beurteilte und den Sowjetvertretern befahl, die iranischen Demokraten mit Kutschak Khan und den Anhängern der Edalat-Partei zu vereinigen, handelten Raskolnikow und Ordschonikidse nicht dementsprechend und wandten sich an den Kriegskommissar Trotzki um Weisungen. Auch Kutschak Khan war der Meinung, Demokraten und Edalat-Partei dürfen sich in die Sache der Revolution nicht einmischen. Vom ersten Tag an kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Karakhan und Kutschak Khan über die Bildung des Revolutionären Komitees. Kutschak Khan meinte, alle wichtigen Fragen sollten bis zur Einnahme von Teheran aufgeschoben werden, während die Moskauer Vertreter sie vom Kriegsschiff aus lösen wollten.

Trotzki antwortete am 26. Mai 1920 (Nr. 692):

Nachstehend gebe ich Ihnen die Richtlinien der russischen Politik im Iran bekannt.

Keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes unter russischer Flagge.Keine Verwendung russischer Truppen im Iran.Geben Sie Kutschak Khan bekannt, Russland könne mit Rücksicht auf die der iranischen Regierung gegebenen Neutralitäts- und Freundschaftsversicherungen die Revolution nicht offen unterstützen. Die russischen Truppen und die Flotte sollten Anzali verlassen, damit nicht die Ansicht entsteht, Russland wolle Anzali oder Gilan besetzen.Helfen Sie Kutschak Khan, bringen Sie die iranische Revolution in Ihre Hand und geben Sie den Revolutionären, falls nötig, Freiwillige, Waffen, Geld usw.Das von russischen Truppen besetzte iranische Gebiet ist Kutschak Khan zu übergeben.Sollte Kutschak Khan die Gegenwart von Kriegsschiffen in iranischen Gewässern für nötig halten, so lassen Sie einige Schiffe mit aserbaidschanischer Flagge in Anzali und an anderen Orten.Jede Unterstützung Kutschak Khans durch Sie erfolgt im Namen der Aserbaidschanischen Republik.Bilden Sie im Geheimen einen Sowjet im Iran.Lassen Sie die Engländer wissen, wir beabsichtigen nicht, sie im Orient, besonders nicht im Iran, anzugreifen.

Aus der Depesche Trotzkis ist klar zu sehen, dass innerhalb weniger Tage die Moskauer Regierung ihre Position geändert hatte. Während vorher Karakhan die Bildung eines Sowjets im Iran nach dem Beispiel der sowjetischen Sowjets als untunlich bezeichnet hatte, befahl Trotzki dies. Auch ergibt das Telegramm, dass die Moskauer Regierung es im Interesse des Fortgangs der Verhandlungen mit der englischen Regierung für nötig hielt, sie wissen zu lassen, dass Russland weder im Orient noch im Iran einen Angriff gegen England beabsichtige.

Nachdem die Telegramme aus Moskau eingegangen waren und Kutschak Khan einige Tage mit den Sowjetvertretern verhandelt hatte, kam folgendes Abkommen zwischen ihnen zustande:

Art. 1. Die Russen werden sich nicht in die inneren Angelegenheiten Irans einmischen.

Art. 2. Die Russen werden Kutschak Khan die zur Revolution nötigen Waffen geben.

Art. 3. Aus Russland oder Aserbaidschan werden die zur Revolution nötigen Truppen gestellt werden.

Im Gegenzug verpflichtete sich Kutschak Khan, mit der Revolution zu beginnen, die englischen Truppen aus Iran zu verjagen und das Königtum im Iran zu stürzen.

Nach Abschluss dieses Vertrages kehrte Kutschak Khan nach Passikhan zurück und begann, seinen Plan durchzuführen. Allerdings gab es einige Schwierigkeiten, die gelöst werden mussten:

Beendigung der Einmischung der Edalatisten in die iranische Revolution;Beschlagnahme iranischen Eigentums in Baku;Bündnis mit anderen demokratischen Kräften Irans;Bildung der Sowjets etc.

Raskolnikow folgte Trotzkis Befehl und übergab die von den roten Truppen besetzte Stadt Anzali an Kutschak Khan und seine Gefolgsleute. Die Vertreter der Dschangali verjagten den Gouverneur und andere Regierungsbeamte wie den Kargosar3, den Steuerbeamten usw. Der Verkehr auf der Straße Rascht‒Teheran war gestattet und jeder, der sich nach Teheran begeben wollte, konnte ungehindert reisen.

6DIE REVOLUTION IN GILAN

Die Engländer waren zu diesem Zeitpunkt noch in Rascht. Die Begeisterung der vermögenden Klasse über die Ankunft der Russen wandelte sich bald ins Gegenteil, namentlich als verlautete, dass das Vermögen der iranischen Staatsangehörigen in Baku nebst ihren Häusern beschlagnahmt worden sei. Der Verlust der Iraner durch die Beschlagnahmung wurde auf 20 Millionen Toman geschätzt. Kutschak Khan verhandelte mit den Sowjetvertretern und versuchte, die Herausgabe zu verlangen, was ihm auch versprochen wurde. Kutschak Khan vertraute auf dieses Versprechen und stellte den Kaufleuten aus Gilan und Baku, die Vertreter zu ihm entsandt hatten, in Aussicht, sie würden durch ihn ihr Vermögen zurückerhalten. Dies beruhigte die Kaufleute etwas, aber bald merkten sie, dass es mit ihren Kapitalien zu Ende ging und sie alles verlieren würden. Beim Eintreffen der roten Flotte in Anzali waren die Lagerräume der Kaufleute in der Nähe des Zollamts versiegelt worden. Nach einigen Tagen wurden sie geöffnet und ihr gesamter Inhalt nach Russland gebracht. Gegen derartige Übergriffe der Russen protestierten die Kaufleute bei Kutschak Khan und seinen Vertretern. Abhilfe wurde zwar zugesagt, doch mit jedem Tag wurden die Vorräte in den Lagerräumen weniger. Kutschak Khan und seine Leute sahen dem ohnmächtig zu. Die Kaufleute waren verzweifelt.

Hinzu kam, dass die Edalatisten (d. h. die iranischen Kommunisten) in Anzali eintrafen und mit ihrer Propaganda begannen. Sie besetzten die Armenische Schule und ließen täglich Musikkapellen Konzerte geben. Sie luden die Bevölkerung ein, Mitglied in ihrer Partei zu werden und hielten auch Versammlungen im Freien ab. Unter den Bootsleuten, Fischern und Lastenträgern hatten sie viel Zulauf. In ihren Reden verurteilten sie die Kapitalisten und Adligen und versetzten dadurch die vermögende Klasse in Angst und Schrecken.

Die Engländer, die noch vor einigen Tagen den Kaufleuten und Kapitalisten als Ungeheuer galten, wurden in ihren Augen jetzt zu Engeln. Kaufleute und Kapitalisten verließen fluchtartig Anzali; einer von ihnen war sogar zum englischen Konsul in Rascht gegangen und hatte ihn gebeten, er möge sich dafür verwenden, dass die englischen Truppen zum Schutz der Iraner gegen die Übergriffe der Russen nach Anzali zurückkehren sollten. Dies konnten die Engländer natürlich nicht mehr tun.

Die Edalatisten begnügten sich aber nicht mit Propaganda. Sie begannen vielmehr, Matrosen und Arbeiter zu bewaffnen. Bald waren 300 Männer unter Waffen. Die Unruhe unter den Kaufleuten und Kapitalisten nahm zu, als einige von ihnen festgenommen, andere unter Aufsicht gestellt wurden, um sie an der Flucht zu hindern.

Nach dem Eintreffen der roten Truppen in Anzali durfte ohne ihre Erlaubnis niemand mehr Anzali verlassen. Den Gegnern der Revolution wurde die Erlaubnis generell verweigert. In derselben Zeit, in der Kutschak Khan mit den Sowjetvertretern über die revolutionären Pläne verhandelte, sprach er im Stadthaus mit den Kaufleuten und versprach ihnen, ihr Hab und Gut zu schützen. Dies bewies, wie wenig Kutschak Khan und seine Leute begriffen, warum die Russen in den Iran gekommen waren, was sie dort wollten und welche Revolution eigentlich im Iran angestiftet werden sollte. Auch die Bevölkerung hatte keine klaren Vorstellungen darüber, was sie erwartete.

Die sozialistische Revolution brach schließlich in Anzali aus. Keiner wusste, ob sie mit einem Sieg oder einer Niederlage enden würde. Zu verhindern war sie jetzt nicht mehr. Kutschak Khan sollte ihr einen nationalistischen Charakter geben, eine Absicht, die er nicht verwirklichen konnte.

Welchen Plan Kutschak Khan verfolgte, was er von den Russen verlangte und weshalb er nach monatelanger Zusammenarbeit mit ihnen verzweifelt in die Wälder Gilans floh, werden wir später sehen. Den Grund seines Misserfolges begriff er nicht. Er gab die Schuld daran den Bolschewiken und seinen Landsleuten. Wäre sich Kutschak Khan von Anfang an klar darüber gewesen, wohin die Revolution führen würde, hätte er sich nie in die Sache eingemischt. Anfangs hatten ihm die Russen versprochen, er werde der Führer der Revolution sein; die Edalatisten würden nur Propaganda treiben, sich aber sonst in revolutionäre Dinge nicht einmischen. Fünfzehn Tage hielten die Russen ihr Wort. Dann sahen sie sich gezwungen, auch die Edalatisten aktiv an der Revolution zu beteiligen. Im Folgenden werden wir anhand von Urkunden zeigen, was sie dazu veranlasste.

Dem Rat Kutschak Khans und seiner Vertreter folgend, bildeten Kaufleute und Kapitalisten aus ihren Reihen in Anzali bewaffnete Gruppen. An deren Spitze stellten sie den bekannten Hadschi Mohammed Khan, den der frühere russische Konsul Nekrassow zum Polizeimeister von Anzali ernannt und der später unter Baratov1 gedient hatte. Nekrassow war ein bekannter Kommunist aus Baku.

Kaufleute und Kapitalisten begannen zu fürchten, dass die von ihren Gegnern aufgestellten Gruppen Bewaffneter mit ihren eigenen Leuten aneinandergeraten könnten und so das Leben und Vermögen der Einwohner gefährden könnten. In dieser Hinsicht hatten sie recht. Wären die russischen Truppen nicht in Anzali gewesen, so wäre es sicher zu einem Zusammenstoß zwischen den Bewaffneten der Kaufleute einerseits und den Anhängern der Edalat-Partei andererseits gekommen.

Nachdem sich Kutschak Khan einige Tage in Passikhan aufgehalten hatte, kehrte er nach Anzali zurück und beendete seine Verhandlungen mit den Russen. Sie vereinbarten, die Russen sollten alle zaristischen Einrichtungen, Konzessionen usw. Kutschak Khan überlassen und ihn an die Spitze der Revolution stellen. Dagegen verpflichtete sich Kutschak Khan, überall im Iran das Volk gegen den Schah und die Engländer aufzuwiegeln und die ihm überlassenen russischen Hilfstruppen und Spezialisten zu besolden. Ein einfacher Soldat sollte monatlich 150 Kran, Ärzte und Kommissare 1.500–6.000 Kran monatlich erhalten.

Des Weiteren versprachen die Russen, die Anhänger der Edalat-Partei und die von den Kaufleuten aufgestellten Gruppen zu entwaffnen. Nur Freiwillige sollten in Anzali bleiben.

Nach Abschluss der Verhandlungen kehrte Kutschak Khan wieder nach Passikhan zurück und begann seine Übersiedlung nach Rascht vorzubereiten. Der Gouverneur von Rascht sah ein, dass auf die Regierungstruppen kein Verlass war. Er begab sich deshalb des Öfteren nach Passikhan und verhandelte dort mit Kutschak Khan, damit er den Schutz der Provinz übernehme, worum ihn auch die Kaufleute gebeten hatten. Kutschak Khan versprach, er werde die Übergriffe der Russen bald zu verhindern wissen.

Inzwischen begannen die Engländer Rascht zu räumen. Die Imperial Bank2 forderte die Einwohner auf, die in ihren Händen befindlichen Banknoten in Silbermünzen zu wechseln und ihre Depots aus der Bank zu nehmen. Die Kaufleute gerieten dadurch in große Besorgnis.

Fünfzehn Tage später war die Räumung von Rascht vollendet und die Engländer verlegten ihr Hauptquartier nach Mandschil3. Die Zweigstelle der Imperial Bank verlagerte ihren Geschäftssitz mit dem Tresor von Rascht nach Qazwin.

Der englische Konsul begab sich vor seiner Abreise zu Kutschak Khan nach Passikhan und am Schluss einer halbstündigen Unterredung sagte er ihm beim Abschied: „Ich vertraue Ihnen Gilan an. Hoffentlich verwalten Sie es gut.“

Auch während der fünfzehntägigen Verhandlungen mit den Russen ließ Kutschak Khan die Engländer zum wiederholten Male wissen, er führe nichts gegen sie im Schilde. Er hat sein Wort gehalten und bis zu dem Tag, an dem der letzte englische Soldat Rascht verließ, nichts gegen sie unternommen.