Irenas Liste oder Das Geheimnis des Apfelbaums - Tilar J. Mazzeo - E-Book

Irenas Liste oder Das Geheimnis des Apfelbaums E-Book

Tilar J. Mazzeo

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Beschreibung

Ein Zeugnis von unglaublichem Mut

Was vermag ein einzelner Mensch gegen die Grauen einer ganzen Epoche auszurichten? Eine Menge, wie die wahre Geschichte Irena Sendlers zeigt: Warschau, 1942. Als Sozialarbeiterin hat die junge Polin Zugang zum hermetisch abgeriegelten Ghetto. Was niemand weiß: Sie geht von Tür zu Tür, um verzweifelten Eltern ihre Hilfe anzubieten und ihre Kinder vor der Deportation und dem sicheren Tod zu retten.

Unter abenteuerlichsten Umständen schmuggelt Irena nach und nach über 2500 Kinder aus dem Ghetto – in Säcken, Kisten und Särgen, mit Schlafmitteln betäubt, durch Keller und Abwasserkanäle. Mit gefälschten Papieren gibt sie den Kindern eine neue Identität und verschafft ihnen in polnischen Familien, bei Freunden, in Waisenhäusern und Klöstern ein neues Zuhause. Die Namen der geretteten Kinder notiert sie und vergräbt die Liste unter einem Apfelbaum. Selbst als die Gestapo sie fasst und foltert, gibt sie ihr Geheimnis nicht preis und überlebt wie durch ein Wunder. Die Geschichte einer fast vergessenen Heldin – neu erzählt auf der Gundlange jahrelanger Recherchen und Interviews mit Überlebenden. Zutiefst berührend, spannend wie ein Roman und zugleich unglaublich inspirierend.

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Ein Zeugnis von unglaublichem Mut

Was vermag ein einzelner Mensch gegen das Grauen einer ganzen Epoche auszurichten? Eine Menge, wie die wahre Geschichte Irena Sendlers zeigt: Warschau, 1942. Als Sozialarbeiterin hat die junge Polin Zugang zum hermetisch abgeriegelten Ghetto. Was niemand weiß: Sie geht von Tür zu Tür, um verzweifelten Eltern ihre Hilfe anzubieten und ihre Kinder vor der Deportation und dem sicheren Tod zu retten.

Unter abenteuerlichsten Umständen schmuggelt Irena nach und nach über 2 500 Kinder aus dem Ghetto – in Säcken, Kisten und Särgen, mit Schlafmitteln betäubt, durch Keller und Abwasserkanäle. Mit gefälschten Papieren geben sie und ihre vielen Helfer den Kindern eine neue Identität und verschafften ihnen in polnischen Familien, bei Freunden, in Waisenhäusern und Klöstern ein neues Zuhause. Die Namen der geretteten Kinder notiert sie und vergräbt die Liste unter einem Apfelbaum. Selbst als die Gestapo sie fasst und foltert, gibt sie ihr Geheimnis nicht preis und überlebt wie durch ein Wunder. Die Geschichte einer fast vergessenen Heldin – neu erzählt auf der Grundlage jahrelanger Recherchen und Interviews mit Überlebenden. Zutiefst berührend, spannend wie ein Roman und zugleich unglaublich inspirierend.

TILAR J. MAZZEO

IRENAS LISTEODER

DAS GEHEIMNIS DES APFELBAUMS

Die außergewöhnliche Geschichte der Frau,

die 2 500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete.

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schmalen

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Irena’s Childernbei Gallery Books, einem Imprint von Simon & Schuster, New York.

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Copyright © 2016 by Trifecta Creative Holdings Inc.

© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Amelie Roth, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von © Yad Vashem (oben) und © picture alliance/United Archives/WHA (unten)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16570-3V001

www.heyne.de

Für Robert Miles

Reif sein ist alles

Inhalt

Vorwort

Prolog

KAPITEL 1

Irenas frühe Jahre

KAPITEL 2

Dr. Radlińskas Mädchen

KAPITEL 3

Diese Mauern der Schande

KAPITEL 4

Der Jugendkreis

KAPITEL 5

Anruf bei Dr. Korczak

KAPITEL 6

Der Moloch Ghetto

KAPITEL 7

Die Gleise nach Treblinka

KAPITEL 8

Die gute Fee vom Umschlagplatz

KAPITEL 9

Die letzte Meile

KAPITEL 10

Agenten des Widerstands

KAPITEL 11

Die Żegota

KAPITEL 12

Auf den Abgrund zu

KAPITEL 13

Alas Aufstand

KAPITEL 14

Aleja Szucha

KAPITEL 15

Irenas Hinrichtung

KAPITEL 16

Warschau kämpft

KAPITEL 17

Wie die Geschichten ausgingen

Schluss

Nachwort

Dank

Personenübersicht

Anmerkungen

Bibliografie

Vorwort

Krakau, 2009

Als ich zum ersten Mal in Polen war, irgendwann im Jahr 2009, war ich gekommen, um dort Urlaub zu machen. Mein Bruder und meine Schwägerin, beide für das US-Außenministerium tätig, lebten seit mehreren Jahren in Krakau und hatten davor bereits einige Zeit in Breslau verbracht. Sie hatten die Aufnahme Polens in die Europäische Union und den damit einhergehenden raschen zweiten postkommunistischen Wandel miterlebt. Ihre beiden kleinen Kinder – Zwillinge, die damals noch nicht einmal laufen konnten – lernten ihre ersten Worte auf Polnisch, und meine Schwägerin leitete eine internationale Schule außerhalb der Stadt.

Auf dem Papier sind wir alle drei katholisch, auch wenn wohl keiner von uns je ein besonderes Interesse an Religion gehegt hat. Da Krakau im Gegensatz zu Warschau während des Zweiten Weltkrieges nicht bombardiert oder zerstört wurde, ist die Architektur der Altstadt vom katholischen Erbe des Landes geprägt. Krakau ist eine schöne und in mancherlei Hinsicht mittelalterlich anmutende Stadt. Doch nur wenige Gegenden besitzen so viel Atmosphäre wie das historische jüdische Viertel in Kazimierz, in das viele Touristen pilgern, die Oskar Schindlers Fabrik und die gewundenen Straßen sehen wollen, in denen Teile von Spielbergs Film Schindlers Liste gedreht wurden. Wenn man sich allerdings ein Bild davon machen möchte, wie es in den 1940er-Jahren im Warschauer Ghetto aussah, ist es zwecklos, nach Warschau zu fahren. Es ist kaum mehr etwas davon übrig geblieben, da das Ghetto im Frühjahr 1943 zerstört wurde. Nach dem Warschauer Aufstand gut ein Jahr später wurde auch der Rest der Stadt weitestgehend dem Erdboden gleichgemacht, und nur zehn bis zwanzig Prozent der Gebäude blieben stehen. Warschau ist heute deshalb im Wesentlichen eine moderne Stadt.

Im Jahr meines Besuchs befand sich die Schule meiner Schwägerin gerade in der Endphase umfassender Bauarbeiten, der Schulhof wurde erneuert und war von Zäunen umstellt. Meine Schwägerin verbrachte, wie sie im Scherz erklärte, ihre Tage hauptsächlich damit, sich mit den Arbeitern ortsansässiger Baufirmen herumzustreiten, und hatte sich ein bunt gemischtes Arsenal an polnischen Schimpfwörtern zugelegt. Das Grundstück war jahrelang hügeliges Ackerland gewesen, und an einem seiner Ränder hatte man inmitten der Felder – und später der verstreut liegenden Vorstadthäuser – ein Wäldchen wachsen lassen. Als wir gemeinsam am Rand dieses Gehölzes standen, fragte ich, wem es gehörte und warum sich offensichtlich seit Jahrzehnten keiner darum kümmerte. Meine Schwägerin schwieg kurz und sagte dann mit einem Seufzer: »Weißt du, die Züge nach Auschwitz sind hier langgefahren. Nicht direkt hier, aber ganz in der Nähe.«

Anfangs war sie oft in diesem unberührten Wald spazieren gegangen. Doch am 1. November feiert man in Polen Allerheiligen, und überall im Land ist es Tradition, brennende Kerzen auf die Gräber der Toten zu stellen. Erst als sie diesen Feiertag das erste Mal in der Schule erlebte und am Straßenrand vor dem Wäldchen lauter Kerzen standen, begriff sie, dass dort etwas Schreckliches vorgefallen sein musste.

Später erzählten ihr Einheimische, dass sich der Vorfall 1945, zu Kriegsende, ereignet habe, als die Rote Armee die Deutschen zurückdrängte. Das Eintreffen der Sowjets war in Polen kein großer Anlass zur Freude. Viele Frauen – von Schulmädchen bis zu den ältesten Babcias – wurden in jenem Winter in Krakau von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Und nur wenige Deutsche, die auf Truppen der Roten Armee trafen, schafften es zurück über die Grenze in ihre Heimat. In ganz Polen fanden Hunderte Massaker wie jenes hier statt. Unter den Kommunisten hätte es niemand gewagt, Kerzen im Wald zu entzünden, doch nun war vieles anders. Es gab immer noch alte Männer und vor allem alte Frauen, die sich erinnerten. »So ist das hier überall«, sagte meine Schwägerin traurig. »Polen ist ein Friedhof voller anonymer Gräber, und was kann man schon tun, außer die Vergangenheit still und leise zu begraben?«

Wir gingen zurück in die Schule, und die hellen Stimmen fröhlicher Grundschulkinder schallten von überall her durch die Flure. Ich dachte an die Menschen, die hier gestorben waren, an die Gleise Richtung Auschwitz und die Geschichten von Babys, die ihren Müttern entrissen und gegen Backsteinmauern geschmettert worden waren. Ich dachte an meine kleine Nichte und meinen kleinen Neffen und daran, dass ich jeden umbringen würde, der meinen Kindern so etwas antäte. Ein paar Tage später fragte mich mein Bruder, ob ich Auschwitz sehen wolle, und ich sagte Nein.

Wenige Jahre danach war meine Schwägerin die Erste, die mir die Geschichte eines »weiblichen Oskar Schindler« erzählte: Irena Sendler oder – da die Nachnamen von Frauen im Polnischen mit einer weiblichen Endung versehen werden – Irena Sendlerowa. Obwohl diese beiden Gespräche weder zeitlich noch räumlich in einem Zusammenhang miteinander standen, bildeten sie dennoch den Ausgangspunkt dieses Buches. Es gelang mir nie, die Fäden zu trennen, die Irena Sendlers Geschichte mit dem Anblick der verlassenen polnischen Erde und den Stimmen der Schulkinder verbinden – und als Schriftstellerin habe ich aufgehört, es zu versuchen.

In ihrer Heimat Polen wird Irena Sendler heute als Heldin angesehen, auch wenn das eine relativ neue Entwicklung der postkommunistischen Ära ist. Jahrzehntelang war über ihre Geschichte – wie über so viele in ganz Polen – ein Mantel des Schweigens gebreitet worden. Gemeinsam mit ihren Freunden und einer Reihe engagierter Kollegen schmuggelte Irena Sendler Babys aus dem Warschauer Ghetto, in Koffern und Holzkisten an deutschen Wachen und der verräterischen Judenpolizei vorbei. Sie schleuste Kleinkinder und Kinder im Schulalter durch die stinkende und gefährliche Kanalisation nach draußen. Sie arbeitete mit jüdischen Jugendlichen zusammen – darunter viele vierzehn- und fünfzehnjährige Mädchen –, die später im Ghettoaufstand tapfer kämpften und ums Leben kamen. Und sie hielt durch diese Zeit hindurch an ihrer Liebe zu einem jüdischen Mann fest, den sie und ihre Freunde während des Krieges mühsam versteckten. Sie war ein zartes Persönchen mit eisernem Willen: eine ein Meter fünfzig kleine, zierliche junge Frau, bei Kriegsausbruch Ende zwanzig, die mit der Kraft und Klugheit eines erfahrenen Generals kämpfte und so in ganz Warschau und über die Religionsgrenzen hinweg aus Dutzenden normalen Menschen ein Heer von Helfern schuf.

Bevor sie von der Gestapo verhaftet und gefoltert wurde, rettete Irena Sendler das Leben von mehr als 2 000 jüdischen Kindern. Sie legte unter enormem Risiko eine Namensliste an, um die Kinder nach dem Krieg wieder mit ihren Eltern zu vereinen. Natürlich konnte sie nicht ahnen, dass mehr als neunzig Prozent der Familien ums Leben kommen würden, die meisten in den Gaskammern von Treblinka. Und genauso wenig konnte sie, eine Linksradikale und lebenslange Sozialistin, wissen, dass ihre Aktivitäten zu Kriegszeiten der Grund dafür sein würden, dass ihre Kinder im sowjetischen Kommunismus ins Visier der Herrschenden gerieten.

Doch obwohl Irena Sendler zweifelsohne eine Heldin war – eine Frau von gewaltigem, fast unermesslichem moralischem und physischem Mut –, war sie dennoch keine Heilige. Sie beim Erzählen ihrer Geschichte zu einer solchen zu stilisieren würde letzten Endes die Komplexität und Problematik der sehr menschlichen Entscheidungen, die sie treffen musste, herabwürdigen. Bei meinen Recherchen und Interviews in Israel und vor allem in Polen sagten die Überlebenden jener Zeit in Warschau immer wieder das Gleiche: »Über diese Jahre rede ich nicht gern mit jemandem, der sie nicht erlebt hat, denn wer nicht dort war, kann nicht verstehen, warum manche Menschen bestimmte Entscheidungen trafen und welchen Preis sie dafür zahlten.« Irenas Liebesleben war wild und chaotisch, und das Wissen, dass sie weder eine gute Ehefrau noch eine gute Tochter war, machte ihr zu schaffen. Sie setzte ihre schwache, kranke Mutter ohne deren Wissen großer Gefahr aus. Sie war leichtsinnig und hin und wieder kurzsichtig, ordnete das Konkrete dem Abstrakten unter und war bei aller Selbstlosigkeit manchmal vielleicht sogar selbstsüchtig. Später war sie im Grunde eine größtenteils abwesende und abgelenkte Mutter. Sie war gleichzeitig eine Heldin – obwohl sie das Wort verabscheute – und ein normaler Mensch mit Schwächen. Doch sie fühlte in sich eine Bestimmung und besaß ein starkes Gespür für Gerechtigkeit, was es ihr ermöglichte, durch ihr eigenes Beispiel andere in ihrer Umgebung zu besserem Handeln anzuspornen, als sie es sonst vielleicht an den Tag gelegt hätten, und gemeinsam etwas beeindruckend Richtiges und Mutiges zu leisten.

Beim Schreiben dieses Buches hat mich auch der Mut dieser »Anderen« beeindruckt, Dutzender Männer und hauptsächlich Frauen, die sich Irena stillschweigend anschlossen. Sie selbst sagte, für jedes Kind, dessen Rettung sie organisierte, hätten durchschnittlich zehn Warschauer ihr Leben riskiert. Ohne den Mut und die Opferbereitschaft ihrer Mitstreiter wäre ein Erfolg unmöglich gewesen. Irenas Unterstützer standen vor einer furchtbaren Wahl. Wer Juden half, wurde bestraft, indem man seine Familie vor seinen Augen hinrichtete, zuallererst die Kinder. Jedem, der ein Kind liebt, muss nicht erklärt werden, welche Qualen es mit sich bringt, um die Fragilität seines Lebens zu wissen, und die meisten von Irenas Helfern hatten kleine Kinder. Dennoch schrak keiner dieser Menschen zurück, wenn Irena Unterstützung brauchte. Niemand, so sagte Irena einmal, weigerte sich je, eines der jüdischen Kinder aufzunehmen.

Dies ist die Geschichte von Irena Sendler, den Kindern, die sie rettete, und den mutigen »Anderen«. Außerdem ist es die komplizierte und manchmal düstere, aber auch couragierte Geschichte des polnischen Volkes. Wenn Ihnen zu Beginn des Buches zu viele Namen vorkommen, bedenken Sie bitte, dass ich hier nur die Geschichten eines kleinen Teils der Menschen erzähle, von denen bekannt ist, dass sie Irena halfen. Und bedenken Sie, dass sich die Anzahl der Namen im Verlauf des Buches leider verringert. Ich erzähle die Geschichten all dieser Menschen, um ihnen zumindest eine gewisse Ehre zu erweisen. Ihr Leben und manchmal auch ihr Tod zeigen uns, wozu wir normalen Menschen angesichts des Bösen und des Schreckens fähig sind.

Prolog

Warschau, 21. Oktober 1943

Aleja Szucha. Irena Sendler kannte das Ziel. Die Vordertür schlug zu, und der schwarze Gefangenenwagen fuhr an. Sie hatte nur wenige Minuten gehabt, um sich anzuziehen, und ihr helles, kurzes Haar war vom Schlaf zerzaust.

Janka Grabowska war mit ihren Schuhen aus dem Haus angerannt gekommen und hatte sie ihr im letzten Augenblick in die Hand gedrückt, ohne sich um die brutalen Gestapo-Männer zu scheren. Irena hatte keinen Gedanken daran verschwendet, sie zuzuschnüren. Sie konzentrierte sich ganz auf eines: ruhig zu bleiben und ihren Gesichtsausdruck leer und gelassen zu halten. Nicht traurig zu gucken. Das war die Weisheit, die jüdische Mütter ihren Kindern mitgaben, wenn sie sie Fremden überließen. Irena war keine Jüdin, aber es stimmte trotzdem, dass eine kummervolle Miene gefährlich für sie gewesen wäre.

Sie dürfen nicht glauben, dass ich einen Grund zur Angst hätte. Sie dürfen nicht glauben, ich hätte Angst, wiederholte Irena stumm im Kopf. Wenn die Polizisten eine Ahnung davon bekämen, was sie verbarg, würde das, was ihr bevorstand, nur noch schlimmer werden.

Doch Irena hatte Angst. Große Angst. Im Herbst 1943 gab es im von den Nazis besetzten Polen keine Worte, die mehr Entsetzen auslösten, als »Aleja Szucha«, Szucha-Allee. Vielleicht galt das während des Krieges sogar für ganz Europa. Denn in dieser Straße befand sich der Warschauer Hauptsitz der Gestapo. Die Rohheit des Gebäudeäußeren schien dem, was die Deutschen drinnen taten, grausam angemessen zu sein. Aus dem Inneren des gedrungenen Komplexes hallten die Schreie derer, die verhört wurden. Wer überlebte, erinnerte sich hinterher an den Gestank von Angst und Urin. Zweimal täglich, gegen Mittag und am frühen Abend1, fuhren pünktlich schwarze Wagen des Pawiak-Gefängnisses vor, wo die Gefangenen in Zellen festgehalten wurden, und holten die geschundenen und gebrochenen Körper ab.

Irena schätzte, dass es jetzt gerade etwa sechs Uhr morgens war. Vielleicht schon halb sieben. Bald würde die Spätoktobersonne über Warschau aufgehen. Doch Irena war bereits seit Stunden wach, ebenso wie alle anderen Bewohner ihres Hauses. Janka, ihre treue Verbindungsfrau und gute Freundin, war am Vorabend zu einer kleinen Familienfeier anlässlich von Irenas Namenstag vorbeigekommen. Nachdem sie sich an Schnittchen und Kuchen gütlich getan hatten, zogen sich Irenas kranke Mutter und ihre Tante, die zu Besuch war, ins Schlafzimmer zurück. Janka hatte den Beginn der Sperrstunde bereits verpasst und musste über Nacht bleiben. Also bauten sich die jüngeren Frauen ein Schlaflager im Wohnzimmer und saßen bis spät in die Nacht wach, unterhielten sich und tranken Tee und Likör.

Es war schon nach Mitternacht, als ihnen die Augen zufielen, und um drei Uhr schliefen beide tief und fest in ihren provisorischen Betten. Doch im Hinterzimmer fand Irenas Mutter Janina keine Ruhe. Wie sehr sie es genossen hatte, das unbekümmerte Gemurmel der Mädchen zu hören! Die angespannte Kiefermuskulatur ihrer Tochter allerdings sagte ihr, dass Irena ein hohes Risiko einging, und das bereitete ihr als Mutter große Sorgen. Da ihre Schmerzen sie vom Schlafen abhielten, hing Janina ihren Gedanken nach. Plötzlich hörte sie im Dunkeln ein Geräusch, von dem sie wusste, dass es nicht hergehörte. Irgendwo trampelten schwere Stiefel durch ein Treppenhaus. Irena! Irena, zischte Janina so scharf, dass es bis in Irenas Träume drang. Die junge Frau fuhr hoch und wusste sofort, was die Angst in der Stimme ihrer Mutter zu bedeuten hatte. Diese wenigen Augenblicke, die Irena hatte, um einen klaren Kopf zu bekommen, retteten ihnen allen das Leben.

Was dann folgte, war das Getöse von elf Gestapo-Männern, die an die Wohnungstür hämmerten und Einlass verlangten. Die Angst verursachte Irena einen seltsamen, metallischen Geschmack im Mund, und durch ihren Brustkorb zuckten Wellen der Furcht, die sich wie elektrische Schläge anfühlten. Stundenlang spuckten die Deutschen Drohungen und Beleidigungen aus, stachen Kissen auf und wühlten in allen Ecken und Schränken. Sie rissen Bodendielen heraus und zertrümmerten Möbelstücke.2

Aber die Listen mit den Namen der Kinder fanden sie nicht.

Diese Listen waren alles, was zählte. Es handelte sich um dünne, leicht zerreißbare Stücke Zigarettenpapier, kaum mehr als aufgerollte Fetzen mit Irenas privaten Aufzeichnungen. Doch sie enthielten – verschlüsselt mithilfe eines Codes, den Irena selbst erfunden hatte – die Namen und Adressen von den vielen jüdischen Kindern, die Irena und ihre Freunde vor den Schrecken der Verfolgung durch die Nazis bewahrt hatten – Kinder, die immer noch an geheimen Orten in ganz Warschau und darüber hinaus versteckt und versorgt wurden. Im letzten Augenblick, bevor die Wohnungstür unter den Schlägen und Hieben nachgab und aufflog, hatte Irena die Listen, die auf dem Küchentisch gelegen hatten, zu Janka hinübergeworfen, die sie mit kühner Gelassenheit in ihren ausladenden Büstenhalter schob, tief unter die Armbeuge. Wenn die Gestapo Janka durchsucht hätte, wäre alles vorbei gewesen. Noch schlimmer wäre es gekommen, wenn sie sich Jankas Wohnung vorgenommen hätten, wo sich Juden versteckten. Irena konnte es kaum glauben, als die Deutschen selbst dafür sorgten, dass die belastendsten Beweise verschwanden: Sie sah gebannt zu, wie eine kleine Tasche voller gefälschter Ausweispapiere und ganzer Bündel illegaler Barmittel unter den Trümmern zerstörter Möbel begraben wurde. In jenem Augenblick wäre sie am liebsten auf die Knie gefallen. Und als sie begriff, dass die Deutschen weder Janka noch ihre Mutter, sondern nur sie selbst verhafteten, wurde ihr schwindelig vor Glück. Doch sie wusste, dass das Lachen, das in ihr aufstieg, gefährlich viel mit Hysterie zu tun hatte. Zieh dich an, befahl sie sich selbst. Zieh dich an und sieh zu, dass sie dich wegbringen. Sie stieg in den abgetragenen Rock, den sie nur wenige Stunden zuvor zusammengefaltet über die Rückenlehne eines Küchenstuhls gelegt hatte, knöpfte ihren Pullover so schnell sie konnte zu, um die Wohnung möglichst bald zu verlassen, bevor die Gestapo-Männer es sich anders überlegten, und lief barfuß hinaus, obwohl es ein kalter Herbstmorgen war. Das fiel ihr nicht einmal auf, bis Janka angerannt kam.

Doch nun, während das Auto sich in jeder Kurve neigte, hatte sie Zeit, über die Klemme nachzudenken, in der sie steckte. Es stand außer Frage, dass man sie früher oder später umbringen würde. Das war Irena bereits klar. So würde ihre Geschichte enden. Aus der Aleja Szucha oder aus dem Ghettogefängnis Pawiak, wo die Gefangenen zwischen den Folterverhören festgehalten wurden, war bislang niemand zurückgekehrt, genauso wenig wie aus den Arbeitslagern in Auschwitz oder Ravensbrück, in welche die unschuldigen »Überlebenden« der Gestapo gebracht wurden. Und Irena Sendler war nicht unschuldig.

Der Mercedes neigte sich scharf nach rechts, als er auf der Fahrt durch die noch schlafende Stadt nach Südosten abbog. Der direkteste Weg zu ihrem Ziel führte über die aus Vorkriegszeiten stammenden breiten Alleen Warschaus, erst westlich und dann südlich an der Trümmerwüste vorbei, die einst das jüdische Ghetto gewesen war. Während der ersten Jahre der Besetzung durch die Nazis war Irena manchmal drei- bis viermal täglich im Ghetto ein und aus gegangen und hatte jedes Mal eine Verhaftung oder die sofortige Hinrichtung riskiert, um andere zu retten: alte Kommilitonen, ihre jüdischen Dozenten … und Tausende kleiner Kinder. Jetzt, Ende 1943, gab es dort nur noch Ruinen und Schutt. Es war ein Totenfeld, ein endloser Friedhof. Das Ghetto war nach dem jüdischen Aufstand im Frühjahr desselben Jahres zerstört worden, und Irenas Freundin Ala Gołąb-Grynberg war seit dem Inferno verschwunden. Im Untergrund hieß es, Ala sei noch am Leben und befinde sich im Arbeitslager in Poniatowa, wo sie als eine von mehreren jungen Widerstandskämpfern heimlich den Ausbruch plane. Irena hoffte, Ala werde nach dem Ende dieses barbarischen Krieges zurückkehren und ihre kleine Tochter Rami aus dem Waisenhaus abholen, in dem Irena sie untergebracht hatte.

Das Auto kam ein paar Blocks nördlich der Stelle vorbei, wo einst die Freie Polnische Universität gestanden hatte. Auch diese Einrichtung war dem Krieg zum Opfer gefallen. Irena hatte ihr Sozialfürsorgestudium auf der anderen Seite der Stadt absolviert, an der Universität Warschau, doch sie hatte sich in den 1930er-Jahren oft auf dem Campus der Freien Polnischen Universität aufgehalten, wo dank der Dozentin Helena Radlińska ihre Widerstandszelle entstanden war. In den Tagen vor der deutschen Besetzung waren deren Mitglieder fast ausschließlich ehemalige Studentinnen von Dr. Radlińska gewesen. Jetzt war die Zelle Teil eines gut organisierten und unerschrockenen Netzwerks, und auch dazu hatte die Dozentin beigetragen. Dieses Netzwerk war für Irenas Häscher von großem Interesse. Die mädchenhaften, zarten Züge der Anfang-dreißigjährigen Irena trogen: Der Gestapo war gerade eine der wichtigsten Figuren des polnischen Untergrunds ins Netz gegangen. Irena konnte nur hoffen, dass die Deutschen das nicht wussten.

Die Wachsamkeit des Mannes in hohen Lederstiefeln, der mit verhedderter Peitsche und Gummiknüppel dicht an sie gedrängt saß, ließ nach. Seine Terrornachtschicht ging nun zu Ende. Irena saß auf dem Schoß eines anderen, den sie auf nicht älter als achtzehn oder neunzehn schätzte. Es kam ihr sogar so vor, als dösten beide. Irenas Gesichtsausdruck blieb unverändert, doch ihre Gedanken rasten. Sie hatte so vieles zu bedenken und so wenig Zeit.

Janka wusste genau, wie wichtig die Listen waren – und wie gefährlich. Würden sie entdeckt, würde eine Ganze Kette von Hinrichtungen folgen. Die Gestapo würde die jüdischen Kinder finden. Sie würde die polnischen Männer und Frauen umbringen, die für sie sorgten und sie versteckten. Zofia und Stanisław. Władysława und Izabela. Maria Palester. Maria Kukulska. Jaga. Und sie würde Irenas Mutter töten, auch wenn die kränkliche, bettlägerige Frau kaum erahnen konnte, welches Ausmaß Irenas undurchsichtige Aktivitäten angenommen hatten. Die Deutschen verfolgten strikt eine Strategie der kollektiven Bestrafung. Ganze Familien wurden aufgrund der Verfehlungen eines einzelnen Mitglieds erschossen. Irena konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie einmal mehr eine schlechte Tochter gewesen war. Sie war immer schon ihrem unbedacht idealistischen Vater ähnlicher gewesen, das wusste sie.

Wenn die Listen verloren gingen oder Janka sie aus Sicherheitsgründen vernichtete, hatte das ebenfalls dramatische Folgen. Wenn Irena tot war, konnte niemand die Informationen rekonstruieren. Irena war die Generalin dieser Bürgerarmee, und nur sie kannte alle Details der Aufzeichnungen. Sie hatte Müttern und Vätern, die nach Treblinka deportiert wurden, versprochen, ihren Kindern zu erzählen, wer sie geliebt hatte. Wenn sie starb, gab es niemanden, der dieses Versprechen einhalten konnte.

Außerdem quälte sie eine weitere Frage: Wer würde es Adam Celnikier sagen? Adam. Ihrem Adam. Irenas Mann Mietek Sendler saß irgendwo in Deutschland in einem Kriegsgefangenenlager und würde erst nach Wochen oder vielleicht Monaten von ihrer Hinrichtung erfahren. Doch wenn er noch lebte, würde die Nachricht irgendwann zu ihm durchdringen. Mietek und sie hatten sich allerdings bereits vor dem Krieg getrennt, und ihre Liebe galt nun Adam – Adam, der gerade von Freunden unter falschem Namen versteckt wurde. Als einer der wenigen überlebenden Juden Warschaus zählte er zu den Gejagten, und sein Leben war ständig in Gefahr.

Der Motor des Gestapo-Mercedes röhrte durch die ruhigen morgendlichen Straßen Warschaus. In jeder Kurve schraken die Männer kurz hoch. Irena musste sich nun auf das vorbereiten, was ihr bevorstand. Sie musste sich darauf vorbereiten, nichts preiszugeben, egal welcher Folter man sie aussetzte. Zu viele Leben hingen davon ab. Irena hatte ihr eigenes riskiert, um die Kinder vor der Entdeckung zu bewahren. Jetzt war sie entschlossener denn je, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Doch was, wenn ihre Kraft dafür nicht ausreichte? Würde sie selbst Adam und sein Versteck verraten, wenn die Schmerzen stark genug wären? Sie fragte sich, was sie wohl ertragen könnte. Als man ihr in den folgenden Tagen mit Knüppeln und Rohren die Knochen brach, kam sie von diesem Gedanken nicht los.

Es war ein kühler Morgen, und auch die Furcht ließ Irena frieren. Das Auto rollte nun geradewegs über eine breite Allee nach Osten und beschleunigte zum Ende der Fahrt noch einmal. Bald würden sie die Aleja Szucha und ihr Ziel erreichen. Dort würde man sie ausziehen, durchsuchen, schlagen und verhören. Die Gestapo würde sie mit Drohungen einschüchtern und mit Peitschenhieben und grausamen Foltern quälen, die im Augenblick noch unvorstellbar waren. Ihr standen ungleich kältere Zeiten bevor. Irena schob die Hände in die Manteltaschen, um sie kurz zu wärmen.

Als ihre Finger etwas Leichtes, Dünnes, Knisterndes berührten, blieb ihr fast das Herz stehen. Zigarettenpapier. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie einen Teil der Liste vergessen hatte. Darauf stand eine Adresse. Diese würde diejenigen verraten, die sie an jenem Morgen hatte besuchen wollen. Sie hielt ihr Leben zwischen den Fingern.

KAPITEL 1

Irenas frühe Jahre

Otwock, 1910 bis 1932

In der jiddischen Überlieferung beginnt die Geschichte Polens in der Dämmerung eines ruhigen Sommerabends. Am Rand des Himmels wächst der Wald dunkel empor. 3 Eine erschöpfte Familie legt ihre Habe am grasbewachsenen Saum einer langen Straße ab und fragt sich: Wie weit müssen wir wandern, bis wir eine Heimat finden? Sie warten auf ein Zeichen, das die Alten ihnen versprochen haben, doch sie rechnen nicht an jenem Abend damit. Ihnen schmerzen die Füße, und jemand weint leise vor lauter Heimweh und Verzweiflung.

Da stößt ein Vogel im ansonsten stillen Wald plötzlich zwei wunderschöne Töne aus. Es sind die Laute, auf die die Familie – wie sie nun weiß – gewartet hat. Der Vogel singt: Po lin, po lin. In der Sprache der Familie bedeutet das Lebt hier. Hier, an diesem Ort, den sie seitdem Polen nennen.

Wo genau befindet sich dieser Ort im Herzen Polens? Niemand weiß es. Doch er mag dem kleinen Städtchen Otwock, das 25 Kilometer südöstlich von Warschau an einem Fluss liegt und an einen großen Kiefernwald grenzt, sehr ähnlich gewesen sein. Im 19. Jahrhundert, als dieses jiddische Märchen aufgeschrieben wurde, lebte in Otwock bereits eine alteingesessene Gemeinschaft chassidischer Juden.

Und nicht nur die Chassiden waren Ende des 19. Jahrhunderts dort beheimatet. Der Ort gelangte um 1890 still und leise zu rascher Berühmtheit. 1893 gründete Dr. Józef Marian Geisler eine Kurklinik zur Behandlung von Tuberkulose. Neben der guten Lage am rechten Weichselufer und hohen Bäumen rundherum konnte Otwock auch mit einer Luft aufwarten, die als besonders gesund galt. Schon bald schossen Dutzende ausladender Holzvillen in der idyllischen Umgebung aus dem Boden, mit großen, offenen Veranden und kunstvoll geschnitztem Gitterwerk entlang der Dachvorsprünge der schönsten Häuser. Das Dorf wurde zu einem angesagten Kurort. 1895, nur zwei Jahre später, eröffnete ein gewisser Józef Przygoda dort das erste Sanatorium für Juden, denn Juden und Polen lebten zu der Zeit bewusst in größtenteils getrennten Welten. Auch jene Klinik war schnell sehr beliebt. Es dauerte nicht lange, bis Otwock, bisher die Heimat einer großen Zahl armer Juden4, ein beliebter Sommerurlaubsort für die Juden der oberen Mittelschicht aus Warschau und kleineren polnischen Städten geworden war.

Irena Stanisława Krzyżanowska – so lautete ihr Mädchenname5 – kam nicht in Otwock zur Welt, auch wenn der Ort in den folgenden Jahren eine wichtige Rolle in ihrer Geschichte spielen sollte. Sie wurde am 15. Februar 1910 im katholischen Heilig-Geist-Krankenhaus in Warschau geboren, wo ihr Vater, Stanisław Henryk Krzyżanowski, als Arzt arbeitete und Infektionskrankheiten erforschte. Eine wechselhafte Geschichte hatte Dr. Krzyżanowski und seine junge Frau Janina zurück in die Gegend geführt, aus der er stammte. Irenas Mutter war eine temperamentvolle und hübsche junge Frau, die nicht berufstätig war. Irenas Vater war politisch sehr aktiv und stolz darauf, zu den ersten Mitgliedern der bald weitverbreiteten Polnischen Sozialistischen Partei zu gehören. Als junger Mann hatte er einen hohen Preis für seine Überzeugungen gezahlt.

Heute kommt einem die »radikale« Agenda dieser Partei eher bescheiden vor. Stanisław Krzyżanowski glaubte an die Demokratie, an gleiche Rechte für alle, gerechten Zugang zu medizinischer Versorgung, einen Acht-Stunden-Tag und die an die Notwendigkeit, endlich die Kinderarbeit abzuschaffen. Doch gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren das, insbesondere in einem Teil der Welt mit ausgeprägter Feudalgeschichte, zutiefst verstörende politische Ziele. Als Medizinstudent, zunächst an der Universität in Warschau und später in Krakau, flog Stanisław zweimal kurz nacheinander hinaus, weil er auf dem Campus im Kampf für diese revolutionären Werte Streiks und Proteste organisiert hatte. Man müsse sich gegen das Unrecht in der Welt erheben, beharrte er. »Wenn jemand zu ertrinken droht, reicht man ihm die helfende Hand.«6 So lautete einer der Lieblingssprüche von Irenas Vater.

Zu seinem Glück lagen die Dinge an der Universität in Charkow, 1200 Kilometer weiter östlich in der Ukraine, anders. Sie war eine Brutstätte revolutionärer Ideen, und dort schloss Dr. Krzyżanowski schließlich sein Medizinstudium ab. Die Stadt Charkow gehörte zudem zu den intellektuellen und kulturellen Zentren des jüdischen Lebens in Osteuropa, und Irenas Vater konnte kein Verständnis für den Antisemitismus aufbringen, der in Polen um sich griff. Menschen waren einfach Menschen. Die Familie Krzyżanowski hatte ukrainische Wurzeln, ebenso wie die Familie von Irenas Mutter, die Grzybowskis. Nicht die Herkunft entschied, wer ein guter Pole war, lautete Dr. Krzyżanowskis Ansicht.

Nach Stanisław Krzyżanowskis Studienabschluss und seiner Hochzeit mit Janina kehrte das junge Paar nach Warschau zurück, und dort wäre die Familie vielleicht dauerhaft geblieben, wäre Irena nicht 1912 mit zwei Jahren schlimm an Keuchhusten erkrankt. Dr. Krzyżanowski sah, wie schwer seiner Tochter das Atmen fiel, wie sich ihre kleinen Rippen hoben und senkten, und er wusste, dass diese Krankheit für Kinder lebensgefährlich sein konnte. Sie mussten Irena aus der überfüllten Stadt bringen. Frische Landluft würde ihr das Atmen erleichtern. Otwock war die naheliegende Lösung. Stanisław war dort geboren, seine Schwester und sein Schwager betrieben dort ein Unternehmen, und an einem solchen Ort, der für sein gesundes Klima bekannt war, sollten sich einem dynamischen jungen Arzt eine Vielzahl von Möglichkeiten bieten. Also zog die Familie nach Otwock. Dr. Krzyżanowski konnte in einer Immobilie seines Schwagers7 Jan Karbowski eine Privatpraxis für Tuberkulosekranke eröffnen und wartete auf Patienten.

Die wohlhabenderen Einheimischen und die mondänen Besucher wurden nur langsam mit ihm warm. Die hart schuftenden Bauern und die große Menge armer Juden waren weniger wählerisch. Viele polnische Ärzte weigerten sich rundweg, arme Juden zu behandeln, vor allem zu Preisen, die diese sich leisten konnten. Dr. Krzyżanowski war anders. Ihm war es wichtig, etwas zu bewirken. Er begrüßte jeden Patienten mit einem freundlichen Lächeln8 und machte sich keine Gedanken ums Geld. Da die Juden beinahe fünfzig Prozent der ansässigen Bevölkerung ausmachten9, mangelte es ihm nicht an Patienten. Bald erzählte man sich in Otwock, Dr. Krzyżanowski sei ein guter Mensch, und viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde, reich oder arm, suchten den hart arbeitenden Arzt im Haus der Familie auf.

Obwohl Dr. Krzyżanowski aus einer wohlhabenderen und gebildeteren Schicht stammte als viele seiner Patienten – denn es gab immer mehr Arme, die auf die Hilfe eines großzügigen Mannes angewiesen waren, als Reiche –, war er kein bisschen überheblich. Sein Haus stand jedem offen, und Janina war eine sympathische, kontaktfreudige Frau, die gern unter Leuten war. Die beiden freuten sich, als ihre kleine Tochter Freundschaft mit den Kindern jüdischer Familien schloss – Familien, die die Tochter des Arztes mit offenen Armen empfingen. Im Alter von sechs Jahren sprach Irena fließend Straßenjiddisch und kannte alle Felsspalten hinter dem Sanatorium, die sich gut fürs Versteckspiel eigneten, und alle Wände, gegen die man am besten einen Ball werfen konnte. Sie war den Anblick von jüdischen Müttern mit bunten Kopftüchern gewöhnt10 und wusste, dass der Geruch von mit Kreuzkümmel gebackenem Brot eine Köstlichkeit verhieß, wenn die Kinder Glück hatten. »Ich wuchs mit diesen Leuten auf«11, sagte Irena. »Ihre Kultur und ihre Traditionen waren mir nicht fremd.«

Möglicherweise hieß eines der jüdischen Kinder, die Irena mit fünf oder sechs kennenlernte, Adam Celnikier. Heute kann niemand mehr mit Sicherheit sagen, wann sich die beiden das erste Mal trafen. Dies ist der frühestmögliche Anfang ihrer Geschichte und vielleicht nicht mehr als Wunschdenken. Adam mag ein verträumter Junge, ein Bücherwurm gewesen sein. Auf jeden Fall träumte und las er später gern. Er hatte lockiges, rotbraunes Haar und dunkle Haut, und seine lange, wohlgeformte Nase sah genau so aus, wie sich manche Leute damals eine jüdische Nase vorstellten. Vielleicht gehörte Adam zu Irenas ersten Spielkameraden, obwohl seine Familie sehr reich war und, anders als viele Juden, perfekt Polnisch sprach. Adams Mutter hieß Leokadia, und er hatte viele Onkel und Cousins mit Namen wie Jakob und Józef. Die Familie lebte nicht das ganze Jahr über in Otwock. Sie besaß mehrere Häuser und Unternehmen in Warschau. Doch eventuell begegnete Irena dem Jungen in diesen sorglosen Sommern hin und wieder.

Irenas frühe Erinnerungen an ihre Kindheit in Otwock waren traumhaft, und ihr Papa liebte seine kleine Tochter abgöttisch. Er hatte einen Schnauzbart, dessen Enden noch stärker nach oben zeigten, wenn er lächelte, und er überschüttete sein einziges Kind mit Zuneigung. Ihre Tanten nannten ihn »Stasiu«, und wenn er Irena umarmte und küsste, sagten die Tanten: »Verwöhn sie nicht, Stasiu.12 Was soll denn dann aus ihr werden?« Aber der Vater zwinkerte Irena nur zu und umarmte sie noch fester. Den Tanten erwiderte er: »Wir wissen nicht, wie ihr Leben verlaufen wird. Vielleicht werden meine Umarmungen ihre beste Erinnerung sein.« Und so sollte es auch kommen.

Andere Kinder hatten weniger Glück und lebten nicht in der weitläufigen Holzvilla eines reichen Onkels, das wusste Irena. Ihre Familie bewohnte ein großes, quadratisches Haus in der Kościuszki-Straße 2113, mit zwanzig Zimmern und einem Wintergarten aus Glas, der im Sonnenlicht glitzerte. Doch da viele der Patienten von Dr. Krzyżanowski aus schlechtesten wirtschaftlichen Verhältnissen kamen, erlebte Irena Armut und Entbehrungen schon als Kind aus nächster Nähe, wenn ihr Vater seine Runden durchs Dorf machte oder Patienten in die Praxis kamen. Außerdem verstand sie aus dem, was andere im Ort sagten, dass manche Polen nicht wie ihr Vater waren. Die jüdische Kultur war Irena vertraut14, und das Gleiche galt für das Leid der Juden, zu diesem Zeitpunkt wie auch später.

1916, als Irena sechs war, entschloss ihr Vater sich dazu, dieses Leid zu teilen. In jenem Jahr brach in Otwock eine Fleckfieberepidemie aus, und wie Dr. Krzyżanowski sagte, kam es gar nicht infrage, nicht die Hand auszustrecken und zu helfen, nur weil es Risiken barg. Die Reichen hielten sich von überfüllten, unhygienischen Orten fern, wo die Ansteckungsgefahr am höchsten war. Die Krankheit wütete vor allem in Haushalten ohne sauberes Trinkwasser und scharfe Seife zum Waschen. Die Armen mussten sich irgendwie behelfen, und die Seuche raffte einige von Irenas mittellosen jüdischen Freunden und ihre Familien dahin. Stanisław Krzyżanowski behandelte weiterhin alle kranken und infizierten Patienten, ganz wie zuvor.

Im Spätherbst oder frühen Winter 1916/1917 nahm er das erste Zittern und Frösteln wahr. Er wusste, das war der Auftakt zu einem gefährlichen Fieber. Schon bald glühte sein Körper nachmittags vor Hitze, und er flüsterte im Delirium vor sich hin. Die Tanten waren ganz beunruhigt. Das kleine Mädchen musste sich vom Krankenzimmer fernhalten und durfte seinen Papa nicht sehen. Alles musste desinfiziert werden. Irena und ihre Mutter wurden zu Verwandten geschickt. Bis der Vater sich wieder erholt hatte, würde Irena nicht mehr mit Umarmungen und Küssen verwöhnt werden. Das Risiko, dass sie sich ansteckte, war zu groß.

Wochenlang widersetzte sich der Arzt der Krankheit in einem einsam ausgefochtenen Kampf. Doch er erholte sich nicht. Am 10. Februar 1917 starb Stanisław Krzyżanowski am Fieber, fünf Tage vor Irenas siebtem Geburtstag.

Nach seiner Beerdigung versuchte Irenas Mutter Haltung zu bewahren und nicht zu oft zu weinen. Trotzdem hörte Irena sie manchmal, genauso wie das besorgte Flüstern der Tanten, wenn diese glaubten, sie bekäme es nicht mit. Würden sie nun so arm sein wie Papas Patienten? Denn das passierte schließlich, wenn man Waise wurde. In ihrer kindlichen Gedankenwelt überlegte sie, ob ihr Vater weg war, weil sie unartig gewesen war, und sie gab sich alle Mühe, hilfsbereit und brav zu sein, damit Mama sie nicht auch verließ. Ihre Mutter war traurig, und Traurigkeit bedeutete, dass Leute fortgingen. Aber es fiel Irena schwer, die ganze Zeit stillzusitzen und zu schweigen, obwohl sie lieber über die Felder rennen und hüpfen wollte. Sie trug einen kleinen Knoten der Angst im Herzen und eine schwere Last auf den schmalen Schultern.

Und es stimmte, mit dem Tod des Arztes war seine Witwe verarmt. Sie lebten in einem Haus, das der Familie gehörte, doch Stanisław hatte kaum Ersparnisse hinterlassen. Janina war jung, aber sie war Hausfrau und Mutter, keine Ärztin, und konnte die Praxis ihres Mannes nicht weiterführen. Zudem musste sie sich um die kleine Tochter zu kümmern. Die Praxis war nie ein großer finanzieller Erfolg gewesen. Stanisław hatte sich nicht für Zahlen interessiert. Er war kein kluger Geschäftsmann, sondern Idealist gewesen. Nun stand ihnen ein harter, mühseliger Kampf bevor. Ohne Hilfe konnte Janina auf keinen Fall für Irenas Ausbildungskosten aufkommen. Als sich die Notlage der Arztwitwe in Otwock herumsprach, überlegten die jüdischen Bewohner nicht lange. Dr. Krzyżanowski hatte ihren Kindern geholfen, als sie sich keine Behandlung leisten konnten. Jetzt wollten sie seiner Witwe und seiner Tochter helfen.

Als die Männer ihre Mutter aufsuchten, ging Irena ihnen still aus dem Weg. Der lange Bart des Rabbis zuckte, wenn er sprach. Er trug eine kleine Brille mit Drahtgestell, die seine Augen riesig wirken ließ. Irena fühlte sich wohler bei den jüdischen Müttern15, mit ihrem langen, geflochtenen Haar und den Händen, die sich wie flatternde Vögel bewegten, wenn die Frauen miteinander plauderten und ein Auge auf die Kinder hielten. Pani Krzyżanowska, sagten die Männer, wir werden die Ausbildungskosten Ihrer Tochter übernehmen. Pani ist die polnische Anrede für eine Frau. Mutter tupfte sich die Augen. Nein, nein, sagte sie fest. Ich danke Ihnen sehr, doch ich bin jung. Ich kann für meine Tochter sorgen. Janina war stolz, sie beharrte steif und fest auf ihrer Unabhängigkeit. Irena indessen fühlte sich wohl bei dem Gedanken, dass ihre Mutter sich um sie kümmern wollte.

Das Ergebnis von Janinas Unabhängigkeitsstreben war der ständige Kampf um jeden Groschen, da sie ohne Einkommen dastand. Irenas Onkel Jan hatte der Familie das Praxisgebäude und die Villa zur Verfügung gestellt, doch 1920 sagte er: Es reicht. Die Zeit war gekommen, die Praxis endgültig aufzulösen und alles zu verkaufen. Onkel Jan und Tante Maria16 waren reich, aber Irenas Mutter wollte ihnen nicht auf der Tasche liegen. Sie hasste es, anderen zur Last zu fallen. Stattdessen wollte sie lieber hart arbeiten und mit Stickereien etwas Geld verdienen. Janina zog es vor, bescheiden und sparsam zu leben, statt um einen Gefallen bitten zu müssen. Also streckte sie das Kinn in die Höhe und sagte zu ihrem Schwager: Mach dir keine Gedanken. In der Stadt würden sie schon zurechtkommen. Sie würden dorthin ziehen, wo Janinas Familie lebte, nicht zu weit von Warschau entfernt, in eine Stadt, deren Namen Irena nun lernte: Piotrków Trybunalski.

* * *

Das Leben in Piotrków war anders. Hier gab es keine rauschenden Kiefernwälder und Holzvillen wie in Otwock. Hier hatte Irena keine Freunde. Sie hatte Heimweh nach dem Leben auf dem Land. »Ich sehnte mich ständig nach der Gegend17 [rund um Otwock]«, sagte sie. Otwock war ein Idyll, in dem sich der perfekte polnische Sommer verbringen ließ. Es war Irenas Kindheit gewesen.

Doch ein Teil dieser Kindheit war vorbei. Als die Arbeiter die Kisten schulterten, in denen sie vorsichtig das beste Geschirr ihrer Mutter und die Weißwaren der Familie verstaut hatten, fragte Irena sich, wie all das in die neue Stadtwohnung passen sollte. Piotrków war ein geschäftiger Marktflecken mit 50 000 Einwohnern an der Bahnstrecke zwischen Warschau und Wien – somit waren die stillen Nächte auf dem Land und die Geräusche des Waldes Geschichte. In Piotrków schallten der Lärm der Straßenbahnen und die Rufe der Verkäufer zu den Fenstern hinauf. Und es gab noch weitere Stimmen zu hören. Nun war Irena von Leuten umgeben, die leidenschaftlich und voller Begeisterung über Politik und die Freiheit Polens redeten.

Polen kämpfte seit Jahrhunderten um die Unabhängigkeit von seinen aggressiven Nachbarn, den Russen im Osten und den Deutschen im Westen. In jenem Jahr, in dem Irena und ihre Mutter nach Piotrków zogen, stand der Konflikt mit Russland mal wieder vor einem Wendepunkt, und überall in der Stadt breiteten sich Patriotismus und linke Überzeugungen aus. Hätte es in der Revolutionsgeschichte Polens eine »Tea Party« gegeben, wäre Piotrków das polnische Boston gewesen. Hier blühte der Nationalstolz, und wenn Kinder wie Irena sich den Pfadfindern anschlossen, lernten sie dort nicht nur die üblichen Lieder, sondern auch paramilitärische Strategien, um ihr Heimatland an der Grenze gegen Invasoren zu verteidigen. Schließlich hatte Polen in jenem Sommer die Rote Armee zurückgeschlagen, obwohl die Chancen dafür denkbar schlecht gestanden hatten, wie alle sagten. Wenn es erneut zum Krieg käme, wären die Pfadfinder die jüngste Armee des Landes. Stolz lernte Irena die Worte des Pfadfinderschwurs auswendig. Sie würde sparsam und großzügig sein. Sie würde so zuverlässig wie der schwarzhaarige Ritter Zawisza Czarny sein. Die Kinder liebten die Geschichten, wie der kühne Zawisza in alten Zeiten für Polen gekämpft und niemals aufgegeben hatte. Doch insbesondere pochte Irenas junges Herz vor lauter Entschlossenheit, als sie bei ihrer Pfadfinderehre versprach, jedem, der um Freundschaft bat, eine Freundin zu sein.

Irena und ihre Mutter Janina zogen in dem Jahr, in dem Irena zehn wurde, in eine kleine Wohnung in der Maja-Allee in Piotrków, an dem Gebäude befindet sich heute eine Gedenkplakette. Die Wohnung war vollgestellt und vielleicht nicht immer perfekt aufgeräumt, aber schon bald füllte sie sich mit Freunden und Besuchern. Janina war schließlich immer noch eine junge Frau, bereits vor ihrem dreißigsten Geburtstag verwitwet, und durchaus dem Lebensstil der Boheme zugetan. Sie liebte Vergnügungen und das Theater. Auch wenn sie zu melodramatischen Auftritten neigte, war sie eine warmherzige und fürsorgliche polnische Mutter. Irena und Janina kauften am Wochenende oft am Marktplatz in der Altstadt von Piotrków ein, wo die Gebäude in fröhlichen Rosa-, Grün- und Gelbtönen leuchteten, und an warmen Frühlingstagen zogen die Pfadfinder zum Fluss hinaus, um dort Übungen und Picknicks abzuhalten. Die Mädchen zeigten stolz, wie gut sie die Erste-Hilfe-Maßnahmen beherrschten, und lernten wie die Jungen, in militärischen Formationen zu marschieren. Irenas makellose Uniform mit dem Fleur-de-Lis-Abzeichen – dem Symbol aller Pfadfinder auf der ganzen Welt – sah sehr schmuck aus. Als Irena auf die Helena-Trzcińska-Mittelschule kam, gelobte sie als Pfadfinderin zudem, »rein in Gedanken, in der Sprache und im Handeln zu sein18; nicht zu rauchen und keinen Alkohol zu trinken«.

Irena war jedoch ein lebenslustiges und ausgelassenes Mädchen und hatte bald einen festen Freund, eine Schülerliebschaft. Der Junge hieß Mieczysław »Mietek« Sendler.19 Im katholischen Polen der Vorkriegszeit reichte schon ein schüchterner Kuss zwischen Teenagern aus, um die auf Keuschheit bedachten Jugendlichen zur peinlichen Beichte hasten zu lassen, und gegen Ende der Schulzeit war aus der Romanze eine ernsthafte Beziehung geworden. Die Hochzeit erschien als der unvermeidliche nächste Schritt, der gleich nach dem Abschluss des Studiums erfolgen sollte, da waren sich ihre Familien einig. Als Irena und Mietek im Herbst 1927 beide an der Universität Warschau zugelassen wurden, mietete Janina für sich und ihre Tochter eine kleine Wohnung in der Hauptstadt, damit Irena während des Studiums zu Hause wohnen konnte. Die Zukunft war damit entschieden.

Schon bald allerdings ertönte ein zartes Stimmchen in Irenas Kopf, das sich wünschte, ihre Zukunft wäre nicht so festgelegt. Das Mädchen gab sich alle Mühe, die Stimme zum Schweigen zu bringen. Das Studentenleben war neu und aufregend. Mietek entschied sich für ein Studium der Altphilologie, und Irena sagte, sie wolle Anwältin werden. Jura war eine ungewöhnliche Wahl für ein siebzehnjähriges Mädchen, das eher scharfsinnig als pflichtbewusst oder zurückhaltend war, und der altmodische Lehrkörper des Instituts hielt den Beruf des Anwalts grundsätzlich nicht für Frauen geeignet. Ständig bremsten die Dozenten Irena in ihrem Ehrgeiz aus. Sie war entrüstet, resignierte aber schließlich und wechselte zur polnischen Kulturwissenschaft, um stattdessen Lehrerin zu werden. In ihrem Umfeld waren alle der Meinung, das sei eine weitaus angemessenere Tätigkeit für eine junge Polin aus gutem Hause.

Möglicherweise war es in diesem ersten Jahr an der juristischen Fakultät, dass sie Adam Celnikier wiedertraf, der ebenfalls dort studierte und ein sensibler junger Mann mit wallenden dunklen Locken und einer Vorliebe für romantische Lyrik und ausgefallene Gesten war. Erinnerte er sie vielleicht an den galanten schwarzhaarigen Ritter Zawisza, den legendären Helden der polnischen Pfadfinder? Schon bald war Irena Mitglied einer Lerngruppe, in der sie Adam oft traf, und die Stimmung zwischen den beiden war wie elektrisch aufgeladen. Sie verbrachten immer mehr Zeit miteinander. Manchmal saßen sie zusammen unter den wogenden Bäumen, die die Wege auf dem Campus säumten, und redeten über ihre Kindheit. Noch häufiger diskutierten sie über Kunst und Politik. Sie sprachen daüber, wie die Gesetze und die Zukunft eines freien Polens gestaltet sein sollten. Wenn sich ihre Hände zufällig berührten, schoss Irena das Blut in die Wangen; es war doch sicher nur ihre Begeisterung für die Ideen, die sie verband? Unterhaltungen mit Adam waren eine berauschende Erfahrung. Irena hatte die Ansichten ihres linksorientierten, patriotischen Vaters übernommen, doch Adam war ein Radikaler. Er war so lebendig, fest in der Gegenwart verankert. Mietek hingegen war ein Mann der Vergangenheit, ein Student der toten Sprachen und eine Erinnerung an ihr plumpes Teenager-Ich, das sie nun unbedingt abzuschütteln versuchte. Adam wollte über die Welt um sie herum sprechen, wollte die Zukunft mitgestalten.

Aber es war unmöglich. Auch wenn sich Irena manchmal an den Zwängen ihrer Jugendliebe rieb, blieb Mietek ihr Verlobter. Ihre Leben und Familien waren bereits eng miteinander verknüpft. Für Adam schwärmte sie nur, und eine vernünftige junge Frau trennte sich nicht von einem netten Jungen wie Mietek, bloß weil ihre Gefühle verrückt spielten. Sie hatte Pflichten. Außerdem war auch Adam bereits vergeben und konnte Irenas Dilemma gut nachvollziehen. Irgendwann um das Jahr 1930 beugte er sich den Wünschen seiner Familie und heiratete in einer orthodoxen Zeremonie20 eine Jüdin, die ebenfalls an der Universität studierte. Das Mädchen zählte zu Irenas Studienfreundinnen.

In den schlaflosen Nächten auf ihrem schmalen, harten Bett in der Wohnung ihrer Mutter quälten Irena auch andere Überlegungen. Natürlich könnte sie warten und die Hochzeit mit Mietek aufschieben. Bloß warum, wenn Adam vergeben war? Außerdem bedeutete die Ehe Freiheit, vor allem Freiheit für ihre Mutter. Das war Irena ihr doch wohl schuldig? Solange Janina eine Tochter zu versorgen hatte, musste sie weiterhin Geld von ihrer Familie annehmen, obwohl sie sich innig nach Unabhängigkeit sehnte. Irena wollte so gern eine gute Tochter sein. Durch die Hochzeit mit Mietek würde sie ihre Mutter befreien. Es war zu spät, um es sich anders zu überlegen. Also tat Irena Krzyżanowska im Alter von 21 Jahren kurz nach ihrem Studienabschluss 1931 das, was alle von ihr erwarteten, und wurde Frau Irena Sendlerowa. Im Deutschen wird ihr Name meist auf Irena Sendler verkürzt.

Das junge Paar begann, sich in Warschau ein gemeinsames Leben einzurichten, und zog in eine kleine Einzimmerwohnung, wo Irena versuchte, ihr Umfeld und ihre gedrückte Stimmung durch bunte Vorhänge und pflichtbewusste Haushaltsführung aufzuhellen. Es half nichts. Irena und Mietek waren nicht glücklich. Abends kam es immer öfter zum Streit, und Irena hatte mehr und mehr Geheimnisse vor ihrem Mann. 1932 arbeitete Mietek als wissenschaftlicher Assistent am altphilologischen Institut, ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Karriere als Universitätsprofessor, und Irena wollte weiterstudieren. Eines Tages verkündete sie Mietek frei heraus, sie wolle ein Aufbaustudium in den Fächern Sozialfürsorge und Pädagogik absolvieren, bevor sie Lehrerin werde. Mietek ahnte vielleicht schon damals, dass die Frage, welche Rolle seine Meinung bei dieser Entscheidung spielte, überflüssig war. Er wusste bereits, dass seine junge Ehefrau viel Eigensinn besaß. Wenn sie erst einmal Kinder hätten, würde sich ihre Einstellung schon ändern. Dann würde sie sicher zu Hause bleiben, oder? Doch Irena hatte es nicht eilig. Sie schrieb sich für das Sozialfürsorgestudium an der Universität Warschau ein.

Warum Sozialfürsorge? Wer Irena fragte, dem erzählte sie von ihrem Papa. »Mein Vater«, erklärte sie, »war Arzt21 – ein Humanist –, und meine Mutter liebte Menschen und unterstützte ihn sehr bei seinem sozialen Engagement. Mir wurde von klein auf beigebracht, dass Menschen sich entweder gut oder schlecht verhalten. Ihre Rasse, ihre Nationalität und ihre Religion sind ganz egal – was zählt, ist der Mensch an sich. Das war es, was mir schon in jungen Jahren immer wieder eingeprägt wurde.« Sie wünschte sich so sehr, eine Verbindung zu ihrem Vater zu schaffen, dass sie alles daransetzte, seiner Definition eines guten Menschen zu entsprechen.

Doch Irena war auch abenteuerlustig. Sie war schließlich erst 22, und die 1930er-Jahre waren eine aufregende Zeit in Polen. Die Sowjets hatten mit ihrem Angriff nach Ende des Ersten Weltkriegs keinen Erfolg gehabt, und Polen war nach Jahrhunderten der Unterdrückung und Fremdherrschaft endlich wieder ein souveränes Land. Aber die Gesellschaft war politisch gespalten und befand sich kurz vor einer Revolte. Der relativ neue Bereich der Sozialfürsorge trug diesen Entwicklungen Rechnung, und die Studieninhalte waren radikal und mitreißend. An der Universität Warschau wurden die Studenten dazu angehalten, im Rahmen des Studiums praktische Erfahrungen zu sammeln. Irena trug sich sofort für ein Praktikum ein, das vom innovativen Institut für Pädagogik der Freien Polnischen Universität gefördert wurde. Über die Leiterin dieses Instituts hatte sie erstaunliche Dinge gehört.

Die Universität Warschau mit ihrem gepflegten Campus rühmte sich ihrer edlen, ja sogar palastartigen Architektur und der weiten, offenen Räume. Sie war die Eliteinstitution Polens. Die Freie Polnische Universität stand ganz im Gegensatz dazu. Dort lehrten und arbeiteten die Dozenten in einem hässlichen, sechsstöckigen Gebäude mit kleinen, trüben Fenstern und der Aura eines tristen Sozialbaus. Wenn Scharen von Studenten aus den Hörsälen in die engen Korridore und durch das Treppenhaus strömten, füllte der Geruch warmer Körper die Luft. Von unten drangen das Klappern von Fahrrädern und die freundlichen Stimmen junger Frauen hinauf. Dann war es wieder ruhig. Bei ihrem ersten Besuch hielt Irena krampfhaft ein Stück Papier in der Hand und reckte den Hals, um die Raumnummern lesen zu können. Sie war auf der Suche nach einem Namensschild, auf dem Prof. Dr. H. Radlińska stand.

Irena hatte die Praktikumsmöglichkeiten sorgsam abgewogen und sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Manche ihrer Kommilitonen sammelten praktische Erfahrungen in der reformpädagogischen Waisenhausschule, die Dr. Radlińskas Kollege, der Pädagoge Dr. Janusz Korczak, gegründet hatte. Andere, vor allem die jungen Frauen, die Krankenschwestern werden wollten, unterstützten die Ärzte, die Dr. Radlińskas Institut angegliedert waren, in der Gesundheitsforschung und bei der Behandlung von Patienten. Dr. Radlińska kam aus einer bekannten Wissenschaftlerfamilie, und einer der renommiertesten Ärzte ihres Studiengangs war ihr Cousin, Dr. Ludwik Hirszfeld. Doch was Irena anzog, waren die basisdemokratisch organisierten Beratungsstellen der Dozentin selbst: gemeinnützige Fürsorgezentren, deren Ziel es war, die Armut aus der Welt zu schaffen. Dort konnten arbeitslose Stadtbewohner kostenlose Fortbildungen machen, und Obdachlose und Bedürftige erhielten juristischen Beistand.

Obwohl es heute schwer vorstellbar ist, zählte der Kreis um Dr. Radlińska in den 1930er-Jahren zu den spannendsten intellektuellen Bewegungen aus dem linken Spektrum in ganz Europa, und Irena war begeistert, ihm anzugehören. Dr. Radlińska, eine kräftige und robuste Frau Anfang sechzig, die aus einer jüdischen Familie stammte, aber schon vor langer Zeit zum Katholizismus konvertiert war, war eine ungewöhnliche Heldin. Ihr dünner werdendes weißes Haar und die weichen Rundungen hatten ihr auf dem Campus den Spitznamen »Oma« eingebracht, und ihr Blick wirkte stets gehetzt und besorgt. Doch gleichzeitig strahlte die Dozentin eine bestechende Intelligenz und Entschlossenheit aus, und die jungen Studenten, die sich um sie scharten – von denen ebenfalls viele aus jüdischen Familien stammten –, standen im Zentrum einer Bürgerrechtsbewegung, die vieles mit den glühenden Studentenrevolten der 1960er-Jahre in Europa und Nordamerika gemeinsam hatte. Zusammen mit einer Handvoll angesehener Psychologen, Pädagogen und Ärzte galt Dr. Radlińska in Polen als Pionierin in ihrem Bereich. Ihre Ansätze dienten später den meisten westlichen Demokratien als Vorbild für moderne Sozialarbeit und staatliche Fürsorgemodelle. Es ist unmöglich, das Bündnis zwischen Irena Sendler und ihren Mitstreiterinnen im Zweiten Weltkrieg zu verstehen, wenn man nicht mit einbezieht, dass Dr. Radlińska sie schon lange vor Beginn der Besetzung durch die Deutschen miteinander in Kontakt gebracht und so ein eng verwobenes Netzwerk geschaffen hatte.

In diesem Umfeld blühte Irena auf. Sie hatte sich nach intellektueller Herausforderung und nach einer Berufung gesehnt. Und der Dozentin wuchs die ernste und leidenschaftliche junge Frau schon bald ans Herz. Irena – die gut organisiert und sachlich war und aufrichtige Entrüstung über Ungerechtigkeit und Mitgefühl angesichts von Leid zeigte – eignete sich so offensichtlich zur Sozialarbeiterin, dass Dr. Radlińska ihrem neuesten Schützling nicht nur ein Praktikum22, sondern gleich eine bezahlte Stelle in einem ihrer Büros anbot, in der Mutter-Kind-Abteilung des Bürgerlichen Sozialhilfekomitees, die die unverheirateten Mütter der Stadt unterstützte.

Wenn Irena morgens aufwachte, sprang sie rasch aus dem schmalen Bett, das sie und Mietek sich teilten, und ihr Herz fühlte sich angesichts des Arbeitstages, der vor ihr lag, ganz leicht an. Mietek bemerkte sicherlich, dass es Irena fröhlicher machte, das Haus zu verlassen, als dorthin zurückzukehren. Das Paar lebte 1932 in einem modernen Mietshaus in der Ludwiki-Straße 3 im Warschauer Stadtteil Wola, und manchmal öffnete ein Nachbar die Tür, während Irena die Treppe hinunterpolterte, und lächelte die junge Frau von oben an, die es immer so eilig hatte. Unter den Sendlers wohnte eine nette Familie namens Jankowski, die kleine Kinder hatte und ebenfalls oft früh wach war, und der Hausmeister, Herr Przeżdziecki, kümmerte sich liebevoll um den gemeinsamen Garten und winkte Irena jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit zu. Eine weitere Nachbarin, Basia Dietrich23, leitete den gemeinschaftlichen Kindergarten des Wohnkomplexes, und vielleicht fragte Mietek sich manchmal, ob seine eigenen Kinder je dort im Hof spielen würden. Das geschah sicher nicht, solange es dem Paar nicht irgendwie gelang, die eheliche Leidenschaft wieder aufleben zu lassen, und Irenas allmorgendlicher Sprung aus dem Bett machte mehr als nur die Hälfte des Problems aus. Das Schlimme war, dass sie sich anscheinend nur für die Arbeit interessierte. Was sie tat, war so bedeutsam. Sie hatte keine Zeit für den Haushalt. Sie half Familien in Not, ihre Kinder behalten zu dürfen. Irena wünschte sich, Mietek würde verstehen, warum das so wichtig war. Mietek hingegen wünschte sich, Irena würde ihre Aufmerksamkeit zur Abwechslung mal auf ihre Familie richten.

Die Kluft zwischen den beiden wuchs, und das Feuer ihrer jungen Ehe war bereits erloschen. Was ihnen blieb, war eine seltsame Art alter Freundschaft. Es war nicht so, dass Irena Mietek nicht liebte. Doch er weckte keine Leidenschaft in ihr. Die Arbeit im Mutter-Kind-Zentrum fühlte sich für Irena zutiefst sinnvoll an. »Jeder hier war engagiert und hatte klare Ziele:24 Alles, was ich gelernt hatte, kam nun zur Anwendung«, versuchte Irena es zu erklären. Zudem fand sie unter den anderen Studenten und Mitarbeitern Dr. Radlińskas jeden Tag neue Freunde. »Das Arbeitsumfeld war toll«, sagte sie, und das galt auch für die Menschen, mit denen sie arbeitete.

Einen davon sah sie besonders häufig: Adam.

KAPITEL 2

Dr. Radlińskas Mädchen

1935 bis 1940

Die Vorlesung war vorüber, doch der Professor rührte sich nicht vom Fleck.

Auch die Studenten, die auf der linken Seite des Hörsaals standen, verharrten noch einen Augenblick, unbeweglich und atemlos. Irena war eine von ihnen. Sie war im Herbst 1935 fünfundzwanzig Jahre alt und mit einer Körpergröße von weniger als einem Meter fünfzig deutlich kleiner als alle anderen. Aber an ihren immensen politischen Überzeugungen zweifelte niemand, der sie kannte.

Die Sekunden zogen sich in die Länge. Jeder im Hörsaal wartete. Da erfolgte plötzlich eine Bewegung von rechts und der Luftstoß, als Körper auf Körper prallte, ging wie ein kollektives Ausatmen durch den Raum. Irena sah eine grüne Schleife am Jackett eines jungen Mannes aufblitzen. Das Ende seines erhobenen Stockes glänzte im Licht.25Rasierklingen. Die Schufte hatten Rasierklingen an die Enden ihrer Stöcke gebunden, mit denen sie auf sie einprügeln wollten, wurde Irena auf einen Schlag klar. Eines der Mädchen in ihrer Nähe schrie auf, gefolgt von Tumult und dem Geräusch von Schlagringen, die auf Knochen trafen. Das Handgemenge hatte wieder einmal begonnen.

Jetzt erhoben sich die Faust und der Schlagring vor Irena. Neben ihr stand ein jüdischer Kommilitone, ein junger Mann mit dunklem, lockigem Haar und Brille, und einer der Männer mit grünem Abzeichen hob seinen Stock in die Höhe und brüllte: »Warum stehst du?« Er antwortete mit fester Stimme: »Weil ich Jude bin.«

Der Schläger wandte sich Irena zu und fragte fordernd: »Warum stehst du?« Irena war furchtlos. So furchtlos, dass es ihren Freunden Sorge bereitete. Ihre eher engstirnigen Dozenten beklagten, ihr jugendlicher Idealismus sei von Starrsinn und Uneinsichtigkeit geprägt, doch Adam mochte beides an ihr. Die kühne Erwiderung, die sie jetzt gab, war darauf ausgelegt, den zornigen jungen Mann vor ihr in Rage zu versetzen. Ihre Blicke trafen sich. »Weil ich Polin bin«, blaffte sie.26 Als Antwort krachte ihr der Schlagring ins Gesicht. Irena nahm warmes Blut wahr und dann nur noch Dunkelheit.

Ausgelöst wurden die Unruhen auf dem Campus der Universität Warschau 1935, als Adam und Irena im Hauptstudium waren, durch die inoffizielle Einführung von »Ghettobänken«: einem Bereich des Hörsaals für die jüdischen Studenten27 abseits der Plätze der sogenannten Arier. Nicht nur im benachbarten Deutschland gewannen die Rechtsextremen an Macht. Auch Polen hatte seine Probleme. Nach Ansicht von Irena und Adam war das größte dieser Probleme eine Organisation namens ONR – Obóz Narodowo Radykalny, das Nationalradikale Lager, eine ultranationalistische, rechte politische Gruppierung, deren brutales Vorgehen und rassistische Rhetorik immer mehr Anklang fanden und hässliche antisemitische Ansichten förderten. Die ONR-Unterstützer stellten ihre politische Einstellung stolz zur Schau, indem sie grüne Schleifen trugen.

Die Ghettobänke sind ein Skandal! Irena, Adam und alle ihre Freunde schäumten vor Wut, wenn sie das sagten. Die jüdischen Studenten und ihre Unterstützer auf dem Campus organisierten zornige und leidenschaftliche Proteste, sie weigerten sich, sich in den Vorlesungen überhaupt hinzusetzen. Manche Dozenten verwiesen die aufmüpfigen Studenten des Hörsaals. Andere befürworteten die Aktion28 und hielten ihre Vorlesungen aus Solidarität ebenfalls im Stehen ab. Wie Irena es schlicht ausdrückte: »Die Jahre an der Universität waren sehr schwierig29 und sehr traurig für mich. Man führte dort eine Regel ein, um die katholischen von den jüdischen Studenten zu trennen. Die Katholiken sollten auf der rechten Seite sitzen, die Juden auf der linken. Ich setzte mich immer zu den Juden und wurde daher mit ihnen von Antisemiten zusammengeschlagen.« Doch wichtig war nur, dass sie sich an Adams Seite befand. Adam war von diesem Energiebündel von Frau fasziniert, und »ihr Liebesverhältnis bestand fort, obwohl sie mit jemand anderem verheiratet war«, wie Irenas Familie später aussagte.

An der Universität Warschau, einer zutiefst altmodischen Institution, wurde diese Diskriminierung jüdischer Studenten weithin stillschweigend befürwortet. Auf der anderen Seite der Stadt, an der Freien Polnischen Universität, lagen die Dinge allerdings anders. Als die ONR-Schläger dort auftauchten, um die jüdischen Studenten anzugreifen, versammelte sich die gesamte Universität und vertrieb sie mit Wasserschläuchen und Buhrufen. Dr. Radlińska und die jungen Frauen in ihrem Studiengang – darunter auch Irena – schlossen sich den Protesten und den Auseinandersetzungen an. Es war aufregend. Zu Hause verzog Mietek missmutig das Gesicht. Er sorgte sich um Irenas Sicherheit. Zudem beunruhigte es ihn zugleich, wer diese neue Person – diese risikofreudige Aktivistin – war, zu der seine Frau sich entwickelte.

Irenas neue Freundinnen aus Dr. Radlińskas Kreis waren begabte und temperamentvolle junge Frauen, die meisten von ihnen jüdischer Abstammung – auch wenn sie sich als linke Aktivisten nicht sonderlich für Religion interessierten. Zu Irenas engsten Vertrauten gehörte Ala Gołąb-Grynberg, eine Krankenschwester am Jüdischen Krankenhaus in der Dworska-Straße, die in enger Zusammenarbeit mit Dr. Radlińskas Cousin Dr. Hirszfeld Infektionskrankheiten erforschte. Alas Mädchenname war Gołąb, sie war sechs Jahre älter als Irena und schon seit Jahren mit einem jüdischen Schauspieler und Schuldirektor namens Arek Grynberg verheiratet. Die beiden hatten interessante Freunde: Varietésänger, Schauspielerinnen und andere Künstler. Manchmal lud Dr. Korczak Ala ein, in seinen Vorlesungen Vorträge zu halten, da allgemein bekannt war, dass Ala eine praktisch veranlagte Fachfrau im Bereich Geburtshilfe und Hygiene war. Irena fand ihre Freundin beflügelnd – und ab und zu sogar ein bisschen einschüchternd. Doch darüber hinaus war Ala eine unterhaltsame, lebenslustige Exzentrikerin mit kantigem Körperbau, sarkastischem Humor und einem furchtbaren Modegeschmack. Sie trug Männerkleidung, die nie richtig zu passen schien, und ihr borstiges schwarzes Haar wirkte immer wild und ungebändigt.