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Wohin kannst du fliehen, wenn die Welt untergeht? Die Erde in ferner Zukunft. Der Mond ist längst zerborsten, die Wissenschaft hat sich in Bedeutungslosigkeit verloren und die Magie bestimmt über die Naturgesetze. Die Errungenschaften der alten Menschheit existieren nur noch als Artefakte oder im Verborgenen. Die Zeichen für das Ende der Erde mehren sich. Feuer brechen aus, Bodenlose Löcher reißen alles in den Abgrund. Die einzige Hoffnung besteht in einem unbekannten Himmelskörper und im Samen der Mondpflanze, durch den man dorthin reisen kann. Irodis, ein mächtiger Naturzauberer, lebt mit seinem mechanischem Diener Slawek abseits der großen Ansiedlungen in einem alten Anwesen. Nachdem sie den neuen Himmelskörper entdeckt und Albträume Irodis auf den Fundort des Samens der geheimnisvollen Mondpflanze aufmerksam gemacht haben, bereiten sie die Abreise vor. Was müssen Irodis und Slawek auf sich nehmen, um die Reise antreten zu können? Und was erwartet sie am Ziel?
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2023
Gerd Frey
Magische Science-Fiction
AndroSF 169
Gerd Frey
IRODIS' STERN
Magische Science-Fiction
AndroSF 169
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: März 2023
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Gerd Frey
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Kai Beisswenger
Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: Schaltungsdienst Lange oHG, Berlin
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 325 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 777 0
Jede hinreichend fortschrittliche Magie ist von Technologie nicht zu unterscheiden.
Larry Niven
Lichter tanzten in der Dunkelheit. Blasse Lichtflecken, die über schartige Höhlenwände wischten. Der Boden unter seinen Füßen gab nach. Bei jedem Schritt gluckste es. Irodis hetzte den Lichtern hinterher. Er spürte, dass sie ihn führten. Verlor er den Anschluss zu ihnen, schienen auch sie langsamer zu werden. Als würden sie auf ihn warten.
Die Höhle stank nach Verwesung. Vermutlich hatte sich ein Tier hierher verkrochen und war verendet. Ein Festessen für Aasfresser, aber ein mit Sicherheit unappetitlicher Anblick, den er gern vermeiden würde.
Irgendwann sickerte Helligkeit in die Dunkelheit. Er folgte dem Weg nach links. Der Boden war hier fester. Er spürte eine Vielzahl kleiner Steine unter seinem Schuhwerk, das vom Matsch des vorherigen Weges vollständig schlammverkrustet war. Wenige Schritte weiter wurde das Ende der Höhle sichtbar. Ein heller Fleck, in dem sich das karge und blätterlose Geäst von Bäumen abzeichnete. Die tanzenden Lichter jagten ins Helle hinaus und waren dort kaum noch auszumachen. Irodis stolperte hinterher. Trat ins Freie. Schwer atmend hielt er einen Augenblick inne. Ließ den Anblick auf sich wirken.
Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene. Kahle graue Bäume, wohin er auch blickte. Einige waren dicht mit Spinnweben verhangen. Auch hier roch es nach Verwesung. Alles um ihn herum glich einem naturgewordenen Gemälde über Tod und Vergänglichkeit. Der Himmel überspannte die leblosen Bäume wie eine strukturlose graue Fläche. Bis auf das trockene Rascheln der Äste drang kein weiterer Ton an seine Ohren. Der Wind bewegte sie sanft hin und her. Im Gegensatz zum Höhlengrund, auf dem sich Feuchtigkeit gesammelt hatte, war der Boden unter seinen Füßen trocken. Tiefe Risse durchzogen ihn und bildeten unzählige kleine Inseln. Monatelang schien hier kein Tropfen Wasser die Erde benetzt zu haben.
Die Lichter – sie waren bei Tageslicht kaum noch wahrzunehmen – tanzten wenige Meter vor ihm wild über dem Boden. Irodis näherte sich der Stelle. Ein faustgroßer Stein lag dort. Dunkel, mit schwach schimmernder Oberfläche. Er wirkte wie poliert. Der Stein ruhte in einem Wall lockerer Erde, als hätte man ihn aus großer Höhe zu Boden fallen lassen. Irodis trat einen weiteren Schritt näher.
Lautes Knacken übertönte deutlich das beständige Rascheln der Äste, das einen Menschen ähnlich in Trance versetzen konnte, wie das monotone und einschläfernde Flüstern der Meereswellen.
Irodis war sich sicher, dass der Riss im Stein vorher nicht da gewesen war. Eine glatte schwarze Bruchstelle, die sich quer über die ungemaserte Oberfläche zog. Grünlicher Schleim quoll daraus hervor. Erneutes Knacken. Der Riss vergrößerte sich langsam. Schließlich klappte der Stein auseinander, zerfiel in zwei Hälften. Sichtbar wurde eine dunkelgrüne Kugel. Einem diffusen Gefühl der Bedrohung folgend, trat Irodis einen Schritt zurück. Wie von einer unsichtbaren Schnur gezogen, rollte die Kugel plötzlich über den lockeren Wall aus Sand, hüpfte in kleinen Sprüngen über den Boden, kullerte schließlich in eine Senke und blieb dort regungslos liegen.
Irodis schaute sich irritiert um. Die Veränderung war nicht mit bloßem Auge auszumachen. Dennoch fühlte er in seinem Innern, dass etwas anders war. Etwas, das spürbar, aber nicht unbedingt greifbar erschien. Das Rascheln der Bäume verstummte. Die Stille lag wie Watte in seinen Ohren. Er kannte diesen tonlosen Zustand. Als Kind hatte er ihn besonders stark empfunden. Es war die Stille vor einem großen Sturm. Als würde Mutter Natur für einen winzigen Augenblick die Luft anhalten. Eine kleine, vorbereitende Verschnaufpause, bevor das Chaos hereinbrach. Es war jene Geräuschlosigkeit, die den meisten großen Veränderungen vorausging. Manch einer erlag der trügerischen Ruhe. Verpasste die kurze Zeitspanne, in der er entweder Schutz suchte oder den Mut aufbrachte, sich den hereinbrechenden Gewalten entgegenzustellen.
Irodis hingegen fühlte sich in diesem Augenblick teilnahmslos. Er stand da und ließ kostbare Zeit verrinnen. Ihm kam gar nicht in den Sinn, irgendwo Schutz zu suchen. Er hätte sich einfach in die Höhle zurückziehen können. Stattdessen blieb er stehen und wartete.
Gebannt beobachtete er, wie die winzige Kugel zu wachsen begann. Eine Samenkapsel! Zarte Ausläufer brachen aus ihr hervor. Hellgrün schlängelten sie sich über den Boden, um sich schließlich in die Erde zu bohren. Irodis war über die enorme Kraft der Pflanze und über die Geschwindigkeit, mit der sich diese entfaltete, erstaunt.
Der Boden bebte. Zuerst schwach, kaum wahrnehmbar, dann immer stärker, sodass Irodis aufpassen musste, nicht umgeworfen zu werden. Die Kugel wuchs, während sich gleichzeitig immer mehr Ausläufer um sie herum in den Boden gruben. Kleine Wurzeln, die schnell dicker wurden. Obwohl Irodis in seinem langen und ereignisreichen Leben als Magier schon einiges gesehen und erlebt hatte, war er von der Energie, die von der Samenkapsel ausging, überwältigt. Nur wenige Augenblicke später hatte sich das Gewächs zur Größe eines stattlichen Kürbisses aufgebläht. Die äußere Hülle, inzwischen von braun-schwarzen Flecken übersät, dehnte sich aus. Immer schneller. Dann erklang ein lautes und grässliches Geräusch, als würde man Stoff auseinanderreißen. Die Außenhülle gab dem inneren Druck nach. Ein großer dunkelroter Ausläufer zwängte sich durch den sich weitenden Spalt, strebte höher und höher. Irodis wusste aus eigener Erfahrung, dass ein solches Wachstum selbst mit mächtiger Magie kaum in Gang zu bekommen war. Der Ausläufer, der so schnell dem Himmel entgegenstrebte, wurde dicker und dicker und erreichte schließlich den Umfang eines alten Yagg-Baumes. Der Boden um die aufstrebende Wunderpflanze brach weiter auf. Tiefer und breiter werdende Risse suchten sich, den Verzweigungen eines Blitzes ähnlich, einen Weg über den ausgedörrten Boden. Unter heftigen Erschütterungen schwang die Erde unter seinen Füßen auf und ab. Irodis schaute nach oben. Die in die Höhe wachsende Spitze der Pflanze öffnete sich zu einem dunkelroten Kelch, aus dessen Zentrum grellweißes Licht in den grauen Himmel sprang.
Das war der Augenblick, in dem er erwachte.
Die Strahlen der Morgensonne schimmerten durch die trüben Scheiben des Arbeitszimmers. Feiner Staub schwebte fast regungslos im Licht. Winzige Staubpartikel leuchteten in der Sonne hin und wieder hell auf.
Obwohl sein Arbeitszimmer einmal sehr geräumig gewesen war, hatten Jahr für Jahr schwere und sperrige Bücherregale den Raum erobert. Sie standen nicht nur an den Wänden, sondern verteilten sich inzwischen kreuz und quer im Zimmer. Slawek hatte ihm schließlich ans Herz gelegt, nicht auch noch die Fenster mit Regalen zuzustellen. »Kerzenlicht schadet auf Dauer den Augen und verrußt zudem den Raum«, behauptete er.
Irodis war am gestrigen Abend, wie schon viele Male zuvor, in seinem Arbeitszimmer vor einem aufgeschlagenen Buch eingeschlafen. Sanft berührte er mit seinen Fingerspitzen das trockene und vergilbte Papier. Es war eines der seltenen noch erhaltenen Exemplare über die Verzauberung von Rüstungen sowie weitere Tricks der Defensivmagie. Der größte Teil der Magier, die Irodis kannte, bevorzugte spektakuläre und laute Zaubereien: riesige Feuerbälle, tosende Wirbelstürme oder vor Energie knisternde Blitzgewitter. Sie liebten es, wenn dümmlich dreinblickende Bauern mit offenem Mund dastanden und sich vor Ehrfurcht in die Hosen schissen. Traten diese Zauberer aber einem Konkurrenten entgegen, entschieden meist die weniger auffälligen Zaubersprüche über Sieg oder Niederlage. Das Problem vieler Zauberer war ihr krankhafter Ehrgeiz, der ihrem mangelnden Selbstbewusstsein entsprang. Magiebegabte Menschen litten häufig unter körperlichen Gebrechen. Ihre Konstitution lag oft unter dem Durchschnitt und was ihren Charakter betraf, galten sie als hinterhältig und verschlagen. Deshalb litten viele Magier während ihrer Kindheit und Jugend unter dem Gespött der Gleichaltrigen. Sie wurden ausgeschlossen, verprügelt und gedemütigt, was sich erst im Laufe ihrer Ausbildung in einer Akademie für Magie änderte. Die Akademien galten als streng und jede hatte ihr eigenes Aufnahmeritual. Es gab nicht wenige, welche die perfide Prozedur mit dem Leben bezahlten. In den Akademien wurde den angehenden Magiern vermittelt, dass sie etwas ganz Besonderes seien. Magiebegabung sei ein großes Geschenk, das nur wenigen offenstand. Verschwiegen wurde dabei jedoch, dass sich der Quell der magischen Energien nicht einfach aus dem Nichts heraus speiste. Die enorme Kraft, auf die ein Magier zurückgreifen konnte und die er zu bündeln wusste, stammte aus der Welt der Dämonen und Geister. Es gab viele Begriffe für diesen unheilvollen Ort. Totenwelt, Hölle, Hort des Feuers oder Schlund des Todes. Es waren aus gutem Grund keine allzu vertrauenerweckenden Bezeichnungen. In jedem Fall galt für jeden Magier, der seine Kraft aus den Energien jener Sphäre heraus speiste, die Regel vom Geben und Nehmen. Diese Regel konnte nicht gebrochen werden. Es gab kein Entkommen, selbst über den Tod hinaus nicht. Der einzige Gegenwert, für die Fähigkeit, Magie wirken zu können, war eine spirituelle Substanz, die man profan als Seelenessenz bezeichnete. Schattenmagier lockten deshalb gern ahnungslose Reisende in die Falle, um nicht mit eigener Seelenessenz zahlen zu müssen. Weniger skrupellose Magier begannen jedoch mit einem verhängnisvollen Kreislauf der Selbstausbeutung, bis nur noch ein starrer und fast toter Geist in ihrem Körper hauste. Manche von ihnen, so erzählte man sich, zerfielen von einem Augenblick zum andern einfach zu Staub.
Es gab Dämonen, die ermöglichten es einigen Schattenmagiern, ihre Lebenszeit weit über die natürliche Grenze hinaus auszuweiten. Es gab Magier, die waren so alt, dass sie sich noch an die wandelbare Form des Mondes erinnerten, der einst die Erde umkreiste und nur nachts und hin und wieder in den Morgen- und Abendstunden zu bestaunen war. Eine blassgelbe Scheibe, die bei klarem Himmel die Nacht erhellte.
Irodis waren Darstellungen vom Mond nur aus alten Zeichnungen bekannt. Heutzutage war die Nacht dunkel und zu jeder neuen Nachtphase verschwanden mehr Sterne vom Firmament. Es gab Astronomen, die beschworen schon seit vielen Jahren den Untergang des Universums. Sterne erloschen. Galaxien und Galaxienhaufen entfernten sich immer weiter voneinander. Kosmologisch breitete sich eine alles verschlingende Kälte aus. Doch das Universum ließ sich Zeit … und was konnte man dieser Entwicklung auch entgegensetzen?
Andererseits gab es Magier, die sich allein den Kräften der Natur verschrieben. Naturkräfte waren nur selten zerstörerisch und man benötigte einen starken und klaren Geist, um sie zu bändigen und in einen Fokus zu zwingen.
Irodis rieb sich die Augen und schüttelte zögerlich den Kopf, als wolle er seine Gedanken neu ordnen. Schließlich erhob er sich und ging in seinen alten, löchrigen Pantoffeln zum Fenster. Das Glas des Fensters war alt und die Oberfläche uneben, sodass die dahinterliegende Landschaft aus mit dichten Wäldern bewachsenen flachen Bergen verzerrt hindurchschien. Irodis’ Anwesen war in ein unberührtes Naturpanorama eingebettet. Nur einen kurzen Spaziergang vom nördlichen Hauptturm entfernt – in dem sich auch sein Arbeitszimmer befand – glitzerte das Sonnenlicht in einem von einer unterirdischen Quelle gespeisten, kleinen See. Der See war fast kreisrund. Nur an seinem östlichen Rand beulte er ein wenig aus. Ein Bach suchte sich von dort seinen Weg in tiefer gelegene Ebenen. Mithilfe des abwärtsfließenden Wassers und einem alten Mühlenantrieb wurden dort Licht für seinen Garten und die Ladungsenergie für den Blitzspeicherturm erzeugt. Den Blitzspeicherturm benötigte er für den Betrieb seines mechanischen Hausdieners Slawek.
Slawek war etwas ganz Besonderes. Er hatte damals von einem Händler nur den Kopf des mechanischen Butlers erworben. Das Gesicht war außergewöhnlich. Keine Massenanfertigung, sondern ein aus Bronze und Gold handgefertigtes Einzelstück. Zum Kopf gehörte zudem ein kleiner schwarzer Behälter aus einem glatten, matt schimmernden Material. Obwohl er einen sehr robusten Eindruck machte, bestand der Behälter nicht aus Metall. Dafür war er viel zu leicht.
»Seine Seele …«, hatte der Händler damals spöttisch erklärt. Er klappte daraufhin den Deckel auf und Irodis’ Blick fiel auf eine blaue Kugel, die in einer mit Samt beschlagenen Fassung ruhte. Im Innern der durchsichtigen Kugel bewegten sich dunkle Schatten, die sich umkreisten. Ein unruhiger und unheimlicher Tanz.
»Ihr müsst die Kugel nur in die kleine Öffnung über seinem Nacken fallen lassen. Er ist dann sofort einsatzbereit. Natürlich benötigt Ihr vorher noch die fehlenden Teile seines Körpers. Bedauerlicherweise befindet sich nichts davon in meinem Besitz. Ich werde mich aber bei meinen nächsten Reisen danach umsehen.«
Der Händler wurde auch fündig und präsentierte ihm schon im Herbst darauf zwei fehlende Arme und den grauen Zylinder des Elektrizitätsspeichers. Es sollten jedoch noch sieben Sonnenumläufe vergehen, bevor Irodis alles beisammenhatte.
Die unzähligen mechanischen Wunderdinge der Vorzeit faszinierten ihn. Ein guter Freund, ebenfalls Magier, besaß einen Chronografen, der nicht nur die Zeit anzeigte, sondern auch den Verlauf der Gestirne sichtbar machte. Das Gerät, hinter dessen schwerer Verkleidung unzählige Zahnräder ratterten und klickten, befand sich innerhalb eines kuppelförmigen Bauwerks. Ins Innere drang kein Sonnenlicht. Befand man sich direkt unterhalb der Kuppel und wartete einen Augenblick – die Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen – wurden nach und nach unzählige Sterne sichtbar, die das Gerät an die Kuppelinnenseite projizierte. Ein weißer Kristall erzeugte das dafür notwendige Licht.
Die für diesen komplexen Vorgang entwickelte Mechanik funktionierte nun schon seit Hunderten von Jahren. Das lag einerseits an den speziell gehärteten Zahnrädern, die sich kaum abnutzten und andererseits an der automatischen Schmiereinrichtung, die dafür sorgte, dass keines der Teile heiß lief. Sollte das Gerät dennoch einmal ausfallen, bestand die Gefahr, es niemals wieder in Betrieb zu nehmen, weil der Bauplan der Maschine nicht mehr existierte oder in irgendwelchen Archiven abgelegt und vergessen worden war.
Irodis öffnete das Fenster und ließ kühle Morgenluft in den Raum. Eine Hummel, die sich versehentlich in das Arbeitszimmer verirrt hatte, jagte er schnell wieder hinaus. Wenn man nach rechts aus dem Fenster blickte, konnte man die schmale goldene Spitze seines Zeppelinbahnhofs erkennen, die dort in den Himmel ragte. Neben Slawek gehörte der betriebsfähige Zeppelin zu Irodis’ liebsten Habseligkeiten aus der Vormagischen Zeit. Der Zeppelin war eine Einzelanfertigung für einen superreichen Industriellen kurz vor dem Zeitalter der Dürre. Wie Irodis aus einem Geschichtsbuch erfahren hatte, war der Auslöser für das Zeitalter der Dürre kein weltumspannender Krieg. Eine der düstersten Zeitepochen der Menschheit war auf die stumpfsinnige Ausbeutung aller Rohstoffe zurückzuführen. Irgendwann war nichts mehr da, was man verbrennen und in Energie für die unzähligen Maschinen umsetzen konnte. Es folgten Elend, Hunger und Tod. Spöttisch wird unter einigen Altertumsforschern jene Epoche auch als das Zeitalter der Dummheit bezeichnet.
Eine Besonderheit des Zeppelins war seine einfache Handhabung. Eine Art elektrisches Gehirn arbeitete im Herz des Fluggerätes und übernahm alle Steuerungsaufgaben. Mithilfe speziellen Kartenmaterials, bei dem man Start- und Zielpunkt nur zu markieren brauchte, konnte man ohne Navigationskenntnisse durch die Welt reisen. Leider war das Kartenmaterial inzwischen veraltet, sodass Irodis über die letzten Jahre ein ganzes Buch mit Aktualisierungen zusammengestellt hatte, um vernünftige Flugrouten planen zu können.
In drei Tagen wurde er zu einem Treffen von Naturmagiern in der Akademie Zil erwartet. Zil befand sich nicht in der Nähe einer größeren Metropole, sondern war etwas abseits der Handelswege auf einem steinigen Berg des Turll-Gebirges erbaut wurden. Obwohl er die Akademie schätzte, war er bisher nur drei Mal vor Ort gewesen. Die dort lebenden Zauberer teilten die Räumlichkeiten mit einem Mönchsorden, der den Zauberern hauptsächlich wegen der einfachen Dinge des Lebens zur Seite stand. Das betraf die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gebrauchsgütern, die Abfallentsorgung und die Wasserspeicherung. Weil Regen nur in größeren Abständen fiel, konnte es bei einer Dürre schnell zu Engpässen kommen.
In Zil musste man sich als Schüler auf Entbehrungen einstellen. Karge Speisen, abgestandenes Wasser und Einsamkeit waren die ständigen Begleiter während der fünf Sonnenumläufe dauernden Ausbildungszeit. Nur wer es wirklich ernst mit seiner Passion zur Naturmagie meinte, setzte sich diesen Strapazen aus. Die Anzahl der Adepten war daher auch recht übersichtlich. Dies betraf leider auch die Anzahl der Lehrmeister.
Der einzige Weg, der zur Akademie führte, war ein schmaler und steiniger Gebirgspfad, der sich viele Meilen den Berg hinauf schlängelte. Es gab kaum Schatten und meist brannte die Sonne erbarmungslos auf die Wanderer nieder. Es schien so, als wollte man den künftigen Magiern den Weg nach Zil absichtlich schwer gestalten. Der junge Schüler merkte schnell, dass kein Ort für die Aufgabe zur Ausbildung zum Naturmagier besser geeignet war als die abgelegene Magieschule. Naturmagie war nicht nur ein Handwerk, sondern eine Weltanschauung. Kenntnisse in der Meditation und ein starker Geist waren Grundvoraussetzungen, um sich das wunderbare Wissen über die Naturkräfte zu eigen zu machen.
Das Knarren der Dielen riss Irodis aus seinen Gedanken. Die Tür öffnete sich und Slawek betrat mit langsamen Schritten das Arbeitszimmer. Das polierte Metall seines Körpers schimmerte matt.
»Herr.« Slaweks synthetische Stimme klang wie immer sanft und einfühlsam. »Das Auge – es ist trüb.«
»Kein gutes Zeichen«, konstatierte Irodis. »Ich hoffe nur, es ist keine Warnung für meine Reise nach Zil. Bist du sicher, dass keine Verunreinigung ins Wasser gelangt ist?«
»Das ist ausgeschlossen«, versicherte Slawek. »Die Kuppel ist unversehrt und ich kümmere mich persönlich um die Sauberkeit vor Ort.«
Das Auge – eigentlich das »Auge der Vorhersehung« – war ein mit Wasser gefülltes Gefäß, in dem Tausende winziger Lebensformen hausten. Standen große Veränderungen an, starb ein Teil der Lebewesen und das Wasser wurde trüb. Keine besonders präzise Art, die Zukunft vorherzusagen. Das »Auge der Vorhersehung« wurde daher auch unter Magiern belächelt. Irodis fand es trotz allem nützlich, bei anstehenden Veränderungen vorgewarnt zu sein. Bisher hatte das Auge auf drei heraufziehende Katastrophen angeschlagen.
Irodis schaute gedankenverloren aus dem geöffneten Fenster. Sein Blick fiel dabei auf die längliche Erscheinung eines Schweifsterns am Himmel. Warum war ihm der Komet vorhin nicht aufgefallen? Möglicherweise war er vorher noch gar nicht zu sehen gewesen. Das erschien ihm jedoch unwahrscheinlich. Kometen erschienen nicht einfach so am Himmel. Sie entwickelten sich meist über Wochen und Monate. Wuchsen von einem blassen Leuchtpunkt zu einem majestätischen Schweifstern heran, bevor sie sich wieder von der Sonne entfernen, kleiner wurden und in der Unendlichkeit des Kosmos verschwanden. Irodis nahm sich vor, morgen – noch weit vor Sonnenaufgang – sein Observatorium aufzusuchen und mit seinem großen Refraktor einen Blick auf den Kometen zu werfen. Früher hatte er viele Nächte hinter seinen Teleskopen verbracht und in die dunkle Leere des Kosmos geschaut. Hin und wieder hatte er von auffälligen und interessanten Beobachtungsobjekten Zeichnungen mit einer besonders feinen Feder angefertigt. Leider kannte Irodis nur einen weiteren Magier, der sich ebenso begeistert für Kosmologie interessierte wie er selbst: Ikondrar. Sein Astronomiepartner lebte unglücklicherweise viele Tagesreisen von seinem Anwesen entfernt. Ein fruchtbarer Informationsaustausch zog sich daher unangenehm in die Länge. Ikondrar nutzte zwar einen dressierten Falken, um ihm neue Beobachtungsergebnisse und Korrespondenz zukommen zu lassen. Doch oft genug wurde der Falke Opfer von Harpyienattacken und verlor dabei die ihm angeschnallten Aufzeichnungen. Trotz sichtbarer Blessuren hatte der Falke bisher alle Angriffe überlebt.
Neben zwei einfachen Linsenteleskopen, von denen sich eines in Einzelteilen in einem extra dafür angefertigten Transportkoffer zerlegen ließ, zählte ein eindrucksvolles Spiegelteleskop zu Irodis’ seltensten astronomischen Instrumenten. Ein aufziehbares Federgetriebe und eine komplexe Zahnradmechanik steuerte das Spiegelteleskop so exakt, dass es die durch die Erdrotation bedingte Himmelsbewegung ausglich. Ein technisches Wunderwerk, von dessen Produktionsreihe nur noch sieben oder acht in funktionstüchtigem Umfang existierten.
Irodis schaute zu Slawek, der, einen Koffer voller Tücher und reinigender Substanzen in der Hand, wartend bereitstand.
»Wir sollten den Zeppelin vor Reisebeginn einer umfangreichen Inspektion unterziehen. Ich hatte bei unserer letzten Fahrt den Eindruck, als würde die Steuerung immer ungenauer funktionieren. Auch scheint die Hülle im vorderen Teil löchrig geworden zu sein.«
»Die Hülle habe ich vor drei Tagen untersucht und schadhafte Stellen ausgebessert«, berichtete Slawek. »Für die Überprüfung der Mechanik sollten wir die Dienste von Uhrmachermeister Meltok in Anspruch nehmen. Meltok kennt den Zeppelin schon durch eine vorherige Reparatur. Außerdem gilt er als einer der Geschicktesten seiner Zunft.«
»Da gebe ich dir recht!«, stimmte Irodis zu. »Bevor ich zur Akademie aufbreche, lasse ich Meltok noch einen Blick auf den Zeppelin werfen.«
Die Lichtadern eines Blitzes durchzuckten die Dunkelheit und ließen die Silhouetten der windgepeitschten Bäume hervortreten. Große Tropfen stürzten in den aufsteigenden Nebel auf den durchweichten Boden. In unzähligen Vertiefungen bildeten sich schwarze Wasserlachen.
Irodis lief wie von Sinnen durch den Wald. Hinter ihm beunruhigende Geräusche: Hecheln, unterbrochen von einem tiefen Knurren, dann das Schnappen von Kiefern. Er wagte nicht, sich umzuwenden, da er befürchtete, seinen Vorsprung zu verlieren, oder über eine Wurzel zu stolpern. Der schlammige Boden sorgte dafür, dass er nur noch langsam vorankam. Das Laufen durch den zähen Matsch raubte ihm die Kraft. Zudem hing ihm die nasse Kleidung wie Gewichte am Körper.
Aus den Augenwinkeln glaubte er, einen Schatten zu erkennen. Etwas, das durchs Dickicht jagte. Er blickte kurz zur Seite … Ein zweites Mal. Nichts! Sein Kopf pochte und dröhnte von der ungewohnten Anstrengung. Hals und Brust schmerzten. Er fühlte sich jämmerlich. Sein Elend war eine höhnende Anklage gegen die Vernachlässigung körperlicher Aktivitäten. Statt noch mehr Bücher zu studieren, wäre es besser gewesen, sich öfter der Gartenarbeit zu widmen oder sich zu Einkäufen in die Stadt aufzuraffen. Diese Belange betreffend nahm ihm Slawek viel Arbeit ab. Vielleicht doch etwas zu viel.
Das Hecheln und Knurren kam näher. Er wusste, dass er sich darin täuschen konnte. In dieser Umgebung verstärkten die Sinne jedes noch so schwache Geräusch. Aber vielleicht hatten ihn die Kreaturen tatsächlich schon eingeholt und warteten nur darauf, dass er den Halt verlor und stürzte. Diesen kraftraubenden Lauf würde er nicht mehr lange durchhalten.
Ein Ast ragte nur eine Handbreit aus dem Wasser. Irodis sah ihn für den Bruchteil eines Augenblicks, bevor sich sein Fuß darin verfing. Ein fester Ruck unterbrach seinen Lauf. In seinem Fußgelenk riss etwas. Der Schmerz jagte wie eine heiße Welle durch seinen Körper, während der Boden auf ihn zustürzte. Die modrige Erde fing ihn weich auf. Er schluckte Wasser. Sofort durchschüttelte ein Hustenkrampf seinen Körper. Brackiges Wasser im Mund, im Hals und in den Nasenhöhlen. Furchtbarer Fäulnisgeschmack. Sein Magen rebellierte.
Etwas Spitzes und Heißes bohrte sich in seinen Rücken. Plötzlich vernahm er einen ohrenbetäubenden Knall.
Irodis atmete tief durch und setzte sich auf. Unvermittelt fröstelte er. Ein dumpfer Schmerz pochte hinter seiner Stirn. Er schaute sich um. Sein Laken war zerwühlt und nass. Irodis tupfte sich den Schweiß mit einem Tuch von der Haut. Dann verließ er das Bett und legte sich einen trockenen und wärmenden Umhang über. Trotz der milden Temperaturen fror er.
Das halb geöffnete Fenster gab den Blick auf den klaren Nachthimmel frei. Sterne funkelten. Er lief zum Fenster und drückte es ganz auf. Es war so dunkel, sodass er die vor ihm liegende Landschaft nur erahnen konnte. Die sanft gewölbten Berge – eiszeitliche Aufschiebungen der letzten Kälteperiode – begrenzten als tiefschwarzes Bollwerk den Übergang zum sternenbespannten Himmel. Nur das Zirpen der Grillen unterbrach die Stille.
In nördlicher Richtung erregte ein flackernder Lichtfleck am Boden seine Aufmerksamkeit. Er schätze die Entfernung auf drei bis vier Meilen. Brannte dort der Wald? War an jener Stelle vielleicht sogar ein Meteor vom Himmel gestürzt. Das würde zumindest den lauten Knall erklären, der ihn aus seinem Albtraum gerissen hatte. In unmittelbarer Nähe des Horizonts konnte man sehr gut den Kometen erkennen. Er war ein ganzes Stück angewachsen und wirkte wie ein seltsamer Fremdkörper am Himmel.
Irodis blinzelte mit den Augen. Dieser Komet war irgendwie seltsam. Der Schweif hatte eine ungewöhnliche Form. Viel zu geometrisch. Eher wie ein Lichtstrahl aus einer elektrischen Lampe. Irodis fiel eine weitere Besonderheit auf, die er bisher übersehen hatte. Der Schweif des Kometen war nicht sonnenabgewandt, wie für einen solchen Himmelskörper üblich, sondern zeigte in die entgegengesetzte Richtung. Um einen Kometen konnte es sich bei dem Objekt daher nicht handeln. Vor Aufregung glühte sein Gesicht. Er spürte, dass er hier etwas ganz Außergewöhnliches vor sich hatte. Er musste so schnell wie möglich zum Observatorium, um den falschen Kometen mit entsprechender Vergrößerung zu inspizieren. Zudem wollte er sich gleich bei Tagesanbruch aufmachen und die Absturzstelle des vermeintlichen Meteors in Augenschein nehmen. Wie gern hätte er jetzt Ikondrar an seiner Seite gehabt.
Der Hocker, auf den sich Irodis setzte, war direkt mit dem Teleskop verbunden und machte auf diese Weise jede horizontale Drehbewegung des empfindlichen Instrumentes mit. Er berührte das kalte und bronzeglänzende Metall des Okulars. Schon in seiner Kindheit hatten die Sterne seine Neugier geweckt. Er hatte stundenlang im kühlen Gras gelegen und sich in der sternenfunkelnden Dunkelheit verloren. Hin und wieder zuckte ein Meteor als zarter Lichtblitz durch das Himmelszelt und ließ Irodis’ Wunschsammlung anwachsen. Inzwischen wusste er eine Menge mehr über die Vorgänge in den endlosen Weiten der dunklen Leere. Dieses Wissen machte ihn jedoch eher traurig als zufrieden. Das Universum dünnte immer weiter aus und irgendwann würde die um sich greifende Kälte alles Leben ausgelöscht haben. Doch diese Entwicklung war sehr langwierig und er war sich sicher, dass die Menschheit zur Spätphase der Entropie ohnehin nicht mehr existieren würde.
Irodis gab die – von ihm grob geschätzten – Himmelskoordinaten an Slawek weiter, der mittels klobiger Justageräder das Teleskop ausrichtete. Das trockene Rattern der Zahnräder unterbrach die Stille. Irodis sah währenddessen durch das Okular des Suchers und gab Slawek die notwendigen Anweisungen für die Korrektureinstellungen. Schließlich hatte er den Kometen im Blick.
Dann schaute er durch das Okular des Refraktors. Das, was er nun erblickte, löste ein feines Kribbeln in ihm aus, welches, kleinen Luftbläschen ähnlich, durch seinen Schädel perlte. Ein atemberaubendes Bild! Im Zentrum des Sichtbereichs stand eine bläulich leuchtende Kugel. Eine Vielzahl weißer Lichtkegel ging von ihr aus. Einer der Kegel war besonders hell und strahlte weit in die Dunkelheit hinaus. Die Oberfläche des falschen Kometen war kaum zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen glaubte Irodis, gleichmäßige geometrische Formen auszumachen. Da er das Glück hatte, schon zwei Kometen mit seinen Instrumenten beobachtet zu haben, war er sich sicher, hier etwas Besonderem auf der Spur zu sein. Das Objekt schien kristalliner Art zu sein. Das würde zumindest die geometrischen Formen erklären. Was diese Lichtkegel betraf und warum der Komet über keinen sonnenabgewandten Schweif verfügte, war ihm allerdings ein Rätsel. Er versuchte, sich alle Einzelheiten genau einzuprägen, um später eine möglichst originalgetreue Nachzeichnung anfertigen zu können. Obwohl er eine Kamera besaß, die er auf eines der Teleskope aufstecken konnte, war es ihm bisher nicht gelungen, in den Besitz brauchbarer Belichtungsplatten zu gelangen. Das nächste fehlende Puzzleteil wären dann die Chemikalien für die Entwicklung gewesen. Irodis schob einen Lichtfilter vor das Objektiv, um die Helligkeit des Kometenkörpers zu verringern. Sogleich wurden die Umrisse der vorher nur zu erahnenden Kanten deutlicher. Er konnte kleine weiße Leuchtpunkte ausmachen, die sich zuckend hin und her bewegten. Manche der Leuchtpunkte lösten sich vom Zentralkörper und entwischten in die Dunkelheit. Irodis empfand das alles höchst erstaunlich und er bedauerte erneut, Ikondrar nicht an seiner Seite zu haben, um mit einem Gleichgesinnten seine Beobachtungen teilen zu können. Vielleicht hätte Ikondrar eine Idee gehabt, um was es sich bei diesem seltsamen Himmelskörper handeln könnte. Ein einfacher Komet war es mit Sicherheit nicht.
»Herr, ich könnte auch durch das Okular schauen und später eine detaillierte Zeichnung anfertigen«, bot sich Slawek an.
»Eine gute Idee«, antwortete Irodis. »Schließlich ist dein Gedächtnis genauso gut wie deine Zeichenkünste.«
Irodis lehnte sich im Stuhl zurück. In der Dunkelheit des Observatoriums war das Schimmern von Slaweks Körper nur schwach auszumachen.
»Nach dem Frühstück möchte ich gerne noch jene Stelle im Wald aufsuchen, an der ich vermute, dass dort ein Meteor eingeschlagen ist. Ich hoffe nur, dass sich das dadurch entfachte Feuer nicht ausgebreitet hat. Ein Waldbrand hätte bei der herrschenden Trockenheit katastrophale Folgen.«
Der Weg zur vermuteten Einschlagstelle des Meteors erwies sich schwieriger als gedacht. Der Wald war alt und viele abgestorbene Bäume lagen kreuz und quer im trockenen Unterholz. Slawek gab sich sichtlich Mühe, einen Weg durch das Dickicht zu schlagen. Die Sonne fächerte an vielen Stellen durch das Blätterdach und überzog den laubbedeckten Boden mit unzähligen Lichtflecken. Irgendwann geriet Irodis der Geruch nach Verbranntem in die Nase. Trotz der Trockenheit waren die Auswirkungen des Feuers zu vernachlässigen.
Irodis hatte vor einigen Jahren einen um sich greifenden Waldbrand erlebt und dabei ein tiefes Gefühl von Hilflosigkeit erlebt. Ein magiegewirkter Regen hatte nur wenig ausrichten können. Die Luftfeuchtigkeit war so gering, dass die entstehenden Wolken nur einen leichten Sommerregen erzeugten. Erst Tage später bereiteten heftige Gewitter dem Vernichtungsfeldzug des Feuers ein Ende. Große Teile der Landschaft waren danach verwüstet.
Schwacher Wind hielt die dichten Baumkronen in stetiger Bewegung und sorgte für leichte Kühlung. Irodis mochte den Wald. Er war sein Rückzugsort, wenn seine Melancholie überhandnahm, er über besonders knifflige Dinge nachgrübelte oder einfach nur Entspannung suchte. Hin und wieder sammelte er Pilze, um seinen Speiseplan abwechslungsreicher zu gestalten. Slawek hätte das genauso gut für ihn erledigen können, doch Irodis genoss die Wanderungen durch die wilde Natur. Auch wenn er sich dadurch Gefahren aussetzte.
Bis auf vereinzelt stehenden Hallimasch auf verrottenden Baumstümpfen fanden sich im Augenblick keine Pilze im Wald. Die Trockenheit zog sich jetzt schon über Monate hin und eine Wetteränderung war nicht abzusehen.
»Wir müssten uns jetzt in unmittelbarer Nähe des Einschlagortes befinden«, stellte Slawek fest. Die tanzenden Sonnenflecken glänzten golden auf seinem Körper.
Irodis schaute sich um. Bis auf den tiefblauen Himmel, der zwischen den Lücken der Baumkronen hindurchschimmerte, war von der Landschaft um ihn herum nichts zu sehen. Bäume, wohin er auch blickte.
»In welche Richtung sollen wir gehen?«, fragte Irodis. »Ich finde hier keinen Hinweis, woran ich mich orientieren könnte.«
»Ich vermute, wir müssen in diese Richtung.« Slawek zeigte mit seiner feingliedrigen mechanischen Hand auf eine etwas lichtere Stelle im Wald.
Irodis lächelte. »Falls es die falsche Richtung ist, haben wir ja noch den ganzen Tag Zeit, den Einschlagsort ausfindig zu machen.«
Slawek lief voraus und durchtrennte, wo es nötig war, mit einem grell leuchtenden Lichtstrahl, der aus seinen Fingerkuppen zuckte, die dicht gewachsene Vegetation. Der Wald war für diese Tageszeit seltsam still. Normalerweise tschilpten, schnatterten oder sangen hier eine Vielzahl Vögel, und behaupteten so ihren Revieranspruch. Im Augenblick herrschte jedoch eine fast schon unheimlich wirkende Stille, die nur von den Geräuschen unterbrochen wurde, die sie selbst verursachten.
Slawek blieb stehen.
»Hier ist es!«
Irodis trat neben ihn. Sein Blick fiel auf eine kleine Lichtung. Schwarz verbranntes Gras und verkohlte Äste bedeckten den Boden. Auffällig war eine – dichten Spinnweben ähnliche – Substanz, welche die heruntergebrannten Pflanzenreste bedeckte.
»Warte hier!«, befahl Irodis und lief an Slawek vorbei.
Die Lichtung maß vielleicht fünfzehn bis zwanzig Fuß im Durchmesser. Der weiße Überzug, der hier alles bedeckte, blieb an seinem Schuhwerk kleben, als er darüber lief. Der Boden war weich und strahlte Wärme ab. Im Zentrum der Lichtung gab es einen kreisförmigen Bereich, der völlig frei von dem weißen Gespinst war. Dort lag in einem kleinen Krater ein tintenschwarzer Stein.
Irodis erinnerte dies an seinen seltsamen Traum. Er hatte sofort wieder den schwarzen Stein vor Augen, der schließlich aufplatzte und einen Keimling hervorbrachte, der zu einer Art Monsterpflanze heranwuchs. Vorsichtig näherte er sich dem Einschlagskrater. Der Stein glänzte matt. Als hätte man ihn poliert. Genau wie jener Stein aus seinem Traum. Ein Zufall?
Er ging langsam auf den vermeintlichen Meteor zu, bis der Stein schließlich direkt vor seinen Füßen lag. Nichts geschah. Ringsum nur Stille, getragen vom warmen Licht der Sonne, welches auf die brandverletzte Lichtung fiel. Ein lauer Wind bewegte sanft die Blätter der Bäume. Auch Slawek, der direkt hinter ihm stand, regte sich nicht. Ein eigenartiges Stillleben.
Irodis bückte sich, zupfte ein blaues Tuch aus seinem Umhang und bedeckte damit den Stein. Er wartete einen Augenblick, bis er ihn schließlich vorsichtig aufhob. Durch den dünnen Stoff drang Wärme. Irgendetwas war seltsam an diesem Stein. Für einen Meteor schien er ihm zu ebenmäßig. Die kleine Sammlung kosmischer Fundstücke, die er selbst über die Jahre hinweg zusammengetragen hatte, zeigte eine ganz andere Beschaffenheit. Die Gesteinsbrocken waren meist tiefschwarz und besaßen immer eine brüchige und unregelmäßige Oberfläche.
Kurz nach Einbruch der Nacht hatte sich Irodis in sein Observatorium zurückgezogen. Die Auffälligkeiten, die er am Nachthimmel beobachtete, waren selbst mit bloßem Auge leicht auszumachen. Am Himmel stand eine kleine, blass schimmernde Scheibe, mit einem schmalen dunklen Schattenrand an der linken Seite. Durch sein Teleskop konnte er weitere Details ausmachen. So fanden sich kraterähnliche Strukturen auf der Oberfläche. Ihm fielen aber auch dunkle Flecken auf, die – mal größer, mal kleiner – über die leuchtende Scheibe hinwegwischen.
Eines konnte Irodis aber schon jetzt erkennen. Der fremde Himmelskörper wurde langsam größer. Dies konnte nur bedeuten, dass sich das Objekt der Erde näherte. Es befand sich zudem in unmittelbarer Nähe des falschen Kometen. Er war sich fast sicher, dass zwischen beiden Objekten ein Zusammenhang bestand. Es konnte einfach kein Zufall sein, dass diese Himmelsobjekte zur selben Zeit am Firmament erschienen. Auch das eigenartige Fundstück, auf das er im Wald gestoßen war, hing vielleicht damit zusammen. Er musste nur noch herausfinden, worin diese Verbindung bestand.
»Von Ikondrar noch immer keine Nachricht?«, fragte er Slawek, der direkt neben ihm stand. Wenn er genau hinhörte, konnte er das leise Surren und Klackern feiner mechanischer Bauteile vernehmen.
»Ich mache mir Sorgen, Herr. So lange Zeit hat Ikondrar noch nie mit einer Antwort gewartet. Entweder ist seinem Falken etwas zugestoßen oder gar ihm selbst.«
»Ich muss mich mit jemand Fachkundigem über diese Himmelserscheinungen austauschen«, sagte Irodis mehr zu sich selbst. »Ich habe ein wirklich komisches Gefühl bei der Sache. Es gibt diesen Astrologen in der Stadt. Plaswag sein Name. Soll ein eigenartiger Kauz sein. Lebt in einem kleinen Turm in der Nähe des Großen Sumpfes. Die Leute erzählen sich die seltsamsten Dinge über ihn. Er soll den Lehren verbotener Wissenschaften nachgehen. Leichenfledderer und Monstererschaffer wird er hinter vorgehaltener Hand beschimpft. Dennoch lassen sich die Leute die Zukunft von ihm vorhersagen. Manche sagen auch, er würde zusätzlich die Dienste Schwarzer Magie anbieten. Bedarf daran gibt es bei einigen zwielichtigen Zeitgenossen wohl ausreichend.«
»Entschuldigt meine Einwände, Meister«, meldete sich Slawek zu Wort. »Ich habe ein mehr als ungutes Gefühl bei der Sache. Müssen wir Plaswag hierbei tatsächlich einweihen?«
»Mach dir keine Sorgen«, hielt Irodis entgegen. »Ich weiß um Plaswags Abneigung gegen die mechanischen Wissenschaften. Doch er benutzt sicher selbst auch einige Hilfsgerätschaften. Vielleicht nichts Strom- oder Dampfbetriebenes. Aber die astronomischen Gerätschaften seines Observatoriums wird er sicher nicht allein durch Muskelkraft bewegen.«
Slawek schwieg. Nur ein leises Summen und der schwache Schimmer seines Metallkörpers verrieten seine Anwesenheit.
Der Ausblick von der Steuerkonsole des Zeppelins hatte etwas Erhabenes. Es war kurz nach zehn Uhr und die Sonne flutete die Landschaft mit mildem warmem Licht. Die Armaturen glänzten golden und ließen bittersüße Erinnerungen an vergangene Zeiten wach werden.
Irodis strich sanft mit den Fingerspitzen über ein massives Handrad, in das feinste Verzierungen eingelassen waren. Es roch nach Maschinenöl. Davon abgesehen war die Luft frisch und kühl.
Er entnahm sechs Metallstifte aus einem kleinen Behälter und markierte damit auf der Konsole die verschiedenen Haltepunkte ihrer Reise. Er musste die Stifte in kleine quadratische Öffnungen versenken, sodass nur noch ein kleines Stück des jeweiligen Stiftes herausragte. Es gab über hundert verschiedene Steckverbindungen, die zusätzlich Wegkreuzungen darstellten. Den rot hervorgehobenen Stift versenkte er in dem gewünschten Zielort: die Stadt Sarakar. Ein grünes Signallicht zeigte an, dass die Verbindung von der Maschine verstanden wurde.
Er legte einen Hebel um. Sofort wurde es laut und ein Ruck ging durch das massive Metall der Bodenplatten. Einen Moment später verstummten alle Geräusche. Der Zeppelin bewegte sich. Langsam schob er sich aus der schützenden Halle. Ein stilles und sanftes Gleiten, ähnlich der Wolken, die über den Himmel zogen.
Irodis plante drei Besuche in der Stadt. Er wollte einen Inspektionstermin für den Zeppelin vereinbaren, mit Plaswag über seine astronomischen Beobachtungen reden und sich auf dem Markt mit Ausrüstungsmaterialien und Lebensmitteln eindecken. Leise ächzte das Metall, als die automatische Steuereinheit des Zeppelins eine Richtungsänderung vornahm. Er schaute nach links aus der Steuerkabine und erblickte den länglichen Schatten des Zeppelins, der über die Baumwipfel wischte. Auch Slawek schien die Aussicht zu genießen. In diesen Momenten war Irodis sich sicher, dass sein mechanischer Begleiter mehr war als eine leblose Maschine. Da mochten andere noch so sehr den Kopf darüber schütteln.
Ihr Flug führte sie über weitläufige Waldlandschaften, zwischen denen sich funkelnde Wasserläufe ihren Weg bahnten. Hin und wieder unterbrachen die Flecken silbern schimmernder Seenflächen das dunkle Grün. Irgendwann wurden links von ihnen die Überreste einer alten Stadt der Vorzeit sichtbar. Vom Grün überwucherte geometrische Strukturen, die einmal zu monströsen Häusern gehört haben mussten. So hoch, dass sie die Wolken des Himmels berührten. Zumindest wurde das in einigen der alten Bücher so behauptet.
Plötzlich bemerkte Irodis eine Veränderung. Etwas Seltsames, das irgendwie nicht ins Bild passte, aber auch nicht sofort wahrzunehmen war. Hinzu kam ein Grollen, das wie riesige unsichtbare Gesteinsbrocken über die Landschaft rollte. Dann wurde ihm schlagartig die Veränderung klar, die ihn so irritierte. Die Bäume standen nicht still, sondern erzitterten wie unter mächtigen Schlägen. Und dies betraf nicht nur einen einzelnen Baum, sondern alle Bäume, die er im Blickfeld hatte. Ein verstörender Anblick, der sich seinem Verstand entzog.
Das Grollen wurde lauter und bedrohlicher. Urplötzlich wurde er Zeuge von etwas ganz und gar Unglaublichem. Ein gigantischer Riss zerteilte den Boden. Er öffnete sich langsam, während an den Rändern Erde, Geröll und ganze Bäume in die Tiefe stürzten. Wie die Platte einer riesigen Eisscholle senkte sich ein großes Stück Landfläche ab und stürzte schließlich mit infernalischem Getöse in die dunklen Tiefen des Planeten. Die freigelegten Bruchkanten wiesen eine Dicke von vielleicht hundertfünfzig Metern auf. Von Irodis’ Position aus war dies jedoch nur schwer abzuschätzen. Das monströse Loch bot einen Blick in absolute Finsternis, als würde das Innere des Planeten nur aus einem riesigen Hohlraum bestehen. Doch das war eigentlich unmöglich. Die Bruchkante selbst war von unzähligen Gängen durchzogen und hin und wieder auch von größeren Kammern unterbrochen. In einigen Kammern brannte Feuer.
Das, was Irodis jedoch wirklich ängstigte, war das Gewusel Tausender dunkler Körper. Erdkreaturen, die urplötzlich dem Sonnenlicht ausgesetzt waren und die nicht wussten, was mit ihnen geschah. Er konnte erkennen, wie viele von ihnen die Bruchkanten hochkletterten, um an die Oberfläche zu gelangen. Obwohl viele den Halt verloren und in die Tiefe stürzten, hielt das die anderen nicht davon ab, ebenfalls an die Oberfläche zu drängen. Eine Invasion aus den Tiefen der Erde.
Bisher hatte er geglaubt, dass unter der Erdoberfläche nur gähnende Leere und Dunkelheit herrschten. Nur wenige Wissenschaftler vertraten die Ansicht, dass die Erde eigentlich ein Hohlkörper war und die Erdkruste nur mittels magischer Kräfte in Form gehalten wurde. Was auch immer im Innern der Erde existieren sollte, darüber gab es die wildesten Spekulationen. Bisher war ihm auch noch nie ein Bericht in die Hände geraten, der einen solchen Erdeinbruch, wie er ihn gerade beobachtete, beschrieb.
»Ein wirklich außergewöhnliches Ereignis!«, kommentierte Slawek das Geschehen.
Der Zeppelin änderte seinen Kurs und nahm Geschwindigkeit auf. Das dunkle unförmige Loch war nach einer halben Stunde Fahrzeit noch am Horizont zu erkennen.
Sarakar lag am Rand eines ausgetrockneten Meeres. Im Zentrum der Stadt befanden sich die hergerichteten Überreste eines alten Palastes, der von dem wohlhabendsten Händler der Stadt bewohnt wurde. In unmittelbarer Nähe des Palastes ragten die Spitzen zweier Kirchen empor. Die Kirchen dienten schon lange keinem religiösen Zweck mehr, aber als Bauwerke waren sie eindrucksvoll genug, um Sekten und politischen Gruppierungen als Sammellager zu dienen.