iRule - Lutz Spilker - E-Book

iRule E-Book

Lutz Spilker

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Beschreibung

Der Mensch misst Dingen, Umständen und Zuständen Bedeutungen zu. Menschen können abwägen, beurteilen und ermessen. Manny nicht. Menschen empfinden Angst oder Freude. Manny handelt, entscheidet und reagiert völlig emotionslos, gemäß seinen Programmierungen. Manny erkennt Leben und Nichtleben. Manny ist ein gigantischer Computer und dient ausschließlich der Überwachung. Jenseits unserer Zeit Eine Welt in einer anderen Zeit. Ein gigantischer Rechner überwacht alle Ereignisse an jedem Ort und zu jeder Zeit. Jeder legal geborene Mensch trägt ein Chip in sich, der ihm direkt nach seiner Geburt implantiert wird. Dieser Datenfluss ermöglicht die lückenlose Kontrolle des Individuums. Es herrscht strikte Geburtenkontrolle, denn Leben bedeutet Energie, und die vorhandene Energie wird nur den offiziell Berechtigten zugewiesen. Der Besitz von Energie bedeutet gleichsam Macht. Die größte Macht besitzt, wer über die meiste Energie verfügt. Ein Mann verfügt über die meiste Energie und dieser Mann regiert. Die Stimulation des Traumempfindens ermöglicht Reisen in die Virtualität, die sich zuvor selektieren lassen. Plötzlich wird eine Leiche in einer dieser virtuellen Welten gefunden und wirft eine Menge Fragen auf. Gegenstände existieren in der Virtualität nicht. Tote Personen schon gar nicht.

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Ein Science-Fiktion Roman

von

Lutz Spilker

iRULE

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Softcover ISBN: 978-3-384-02578-4

Ebook ISBN: 978-3-384-02579-1

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Die im Buch verwendeten Grafiken entsprechen den Nutzungsbestimmungen der Creative-Commons-Lizenzen (CC).

Sämtliche Orte, Namen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind daher rein zufällig, jedoch keinesfalls beabsichtigt.

Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mit Hilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, sind ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages untersagt.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1 – Die Bilder im Kopf

Das Leben fand seinen Weg zurück

Kapitel 2 – Neubeginn

In einer anderen Welt – In einer anderen Zeit

Kapitel 3 – Das Nichts

Kapitel 4 – iRule

Kapitel 5 – Manny, wo bin ich

Kapitel 6 – Schichtwechsel

Kapitel 7 – Traum oder Wirklichkeit

Kapitel 8 – Auf gute Nachbarschaft

Kapitel 9 – Kein schöner Land

Kapitel 10 – Platzmangel

Einige Wochen später

Kapitel 11 – Das Licht der Welt

Einige Wochen später

6 Monate nach der Geburt

Kapitel 12 – Gelegenheit macht Diebe

Zur gleichen Zeit im EEE

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort

Zur gleichen Zeit im Appartement von Lyza und Vince

Kapitel 13 – Das wahre Erbe

Kapitel 14 – Schweigegeld

Kapitel 15 – Das Rendezvous

Kapitel 16 – Never change a winning team

Zur selben Zeit an einem anderen Ort

Einige Stunden zuvor

Kapitel 17 – Daten, Daten, Daten

Kapitel 18 – Jahrmarkt der Eitelkeiten

Kapitel 19 – Spaziergang durch die Wüste

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort

Kapitel 20 – Licht und Schatten

Kapitel 21 – Fug und Recht

Kapitel 22 – Fremdenführung

Am nächsten Tag

Am nächsten Morgen

Kapitel 23 – per Express

Am gleichen Tag

Kapitel 24 – Boje oder Rettungsring

Millionen Jahre zuvor

Kapitel 25 – Brainstorming

Kapitel 26 – Durch die Wüste und zurück 1

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort

Kapitel 27 – Durch die Wüste und zurück 2

Kapitel 28 – Tarnen und täuschen

Kapitel 29 – Der lange Tisch

Kapitel 30 – Vom Winde verweht

Kapitel 31 – Fata Morgana

Viele Stockwerke höher zur selben Zeit

Viele Stockwerke tiefer zur selben Zeit

Einige Etagen höher und 5 Sekunden zuvor

Im Nichts

Kapitel 32 – Wie du mir

Anmerkung - Begriffe

Charaktere

Über den Autor

iRule

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1 – Die Bilder im Kopf

Über den Autor

iRule

Cover

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„Selbst wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen. Und demnach bin ich, wenn ich mich täusche. Weil ich also bin, wenn ich mich täusche, wie sollte ich mich über mein Sein täuschen, da es doch gewiss ist, dass ich bin, gerade wenn ich mich täusche?“

Augustinus von Thagaste

(13. November 354 in Tagaste, auch: Thagaste, in Numidien, heute Souk Ahras in Algerien - 28. August 430 in Hippo Regius in Numidien, heute Annaba in Algerien - lateinischen Kirchenlehrer der Spätantike und ein wichtiger Philosoph an der Schwelle zwischen Antike und Frühmittelalter)

Kapitel 1 – Die Bilder im Kopf

Dieser süßliche Geruch von fauligem Obst mischte sich mit dem modrigem Gestank, der vom Wind über das Land getragen wurde und von den Meeren herüberzog. Es roch immer so. Die feinsalzige Brise Küstenluft kannte niemand mehr. Als schwimmende Abfallhalden gigantischen Ausmaßes waberten die Gewässer mit den Gezeiten daher und stanken ekelerregend.

Die Strände glichen menschenleeren Wüsten. Die Luft war trüb, alles flirrte vor den Augen und die Atmosphäre roch bestialisch. Dieses Draußen wurde ausgesperrt, es wurde nicht mehr gebraucht. Es war wie alles andere auch zerfallen. Der Zahn der Zeit nagte an allem und zersetzte es. Diese Welt nahm sich eine Auszeit und erholte sich. Alles veränderte sich und Zeit schien nur noch für den Chronisten eine Rolle zu spielen – für die Evolution nicht. Das Leben existierte zwar, aber die Entwicklung des Menschen sollte noch nicht wieder passieren. Nichts war da, was eine lebensfreundliche und bewohnbare Zone überzeugen würde, die Schöpfung musste sich erneuern. Es vergingen viele Millionen Jahre.

Das Leben fand seinen Weg zurück

Schon immer waren diese Gefühle der Begleiter des Menschen und das blieben sie ein Leben lang. Sie haben ihn stets beherrscht, als wären sie sein vorgeschriebener Weg gewesen.

Sie entstanden direkt in dem Augenblick nach der Geburt eines jeden Menschen, in dem mit der Durchtrennung der Nabelschnur scheinbar der Befehl zur Isolation und zum Alleinsein ertönte. Plötzlich schien dem Menschen bewusst geworden zu sein, dass er von diesem Moment an auf sich gestellt war und sich dieser Zustand nie mehr ändert. Niemand würde ihn wieder freiwillig ernähren, niemand würde ihn wieder wärmen, niemand würde ihn beschützen und niemand schenkte ihm irgendwann wieder bedingungslose Zuneigung. Ohne fremde Unterstützung bliebe er lebensunfähig. Diese Schutzlosigkeit machte ihn zur leichten Beute. Niemandem könnte er etwas entgegensetzen. Er benötigte dringend Hilfe. Diese Gewissheit gebar die Angst und der in dieser Sekunde entstandene Kleinmut vermochte der Mensch sein restliches Leben nicht mehr abzulegen. Diese ebenso unmotivierte, wie auch unbeschreibliche Furcht hielt somit schon vor vielen Millionen von Jahren Einzug in sein Erbgut.

Bedürfnisse machten sich bemerkbar und forderten Beachtung. Vorlieben und Abneigungen bestimmten die ersten Eindrücke und der Ekel gesellte sich in die Runde der Urinstinkte. Das Gewissen drängte sich in den Tagesablauf und prägte vorherrschende Stimmungen und die Ahnung schwebte über allem. Aus einer Besorgnis wuchs eine Befürchtung und diese gipfelte in Argwohn.

Etwas war da. Es war offensichtlich schon immer da. Es nahm offenbar schon immer einen Logenplatz ein, denn die Zukunft ereignete sich bereits in der Vergangenheit.

Die erste Menschheit entwickelte sich also bereits vor etwa 17 Millionen Jahren, währte etwa 8 Millionen Jahre und existierte dann nicht mehr. So wurde es überliefert und gelehrt. Ob die damalige Zivilisation den Planeten verließ und anderswo neue Kolonien errichtete, blieb unbekannt. Hätte sich die damalige Menschheit in technologischer Hinsicht entsprechend weit entwickelt, läge diese Vermutung allerdings sehr nahe. Aber nur die Veranlagungen blieben als Hinterlassenschaft im Menschen und erweckten mit jedem Zweifel diesen unergründlichen Verdacht an etwas bereits vorher Vorhandenes.

Kapitel 2 – Neubeginn

In einer anderen Welt – In einer anderen Zeit

Einst waren es noch vier Gebieter, die wie Fürsten über ihre Reiche und ihre Untertanen herrschten. Und das war noch gar nicht so lange her.

Atugo war der Herrscher über das ›Land unter dem Wasser‹ und Pasilos befehligte das ›Obere Land‹. Das ›Kleine Land‹ unterstand der Gewalt von Semian. Flächenmäßig war zwar das Land unter dem Wasser das größte, aber darum wurde es nicht begehrenswerter. Land zu besitzen und zu regieren war jedermanns oberster Wunsch. Die Herrscher kamen in ihrer Macht den Gebietern der früheren Antike gleich. Auch sie fühlten sich gottgleich. Sie waren ebenso gnadenlos wie barmherzig, gerecht wie bewegt und neutral wie befangen. Doch ihr Wort galt und allein ihr Blick war Befehl. Sie wurden geliebt und sie wurden gehasst und oftmals beides zur gleichen Zeit.

Reichtum wurde in Zeit gemessen und reich war, wer große Mengen von Zeit besaß. Gordius war der reichste und mächtigste Mann des gesamten Planeten. Er war der Herrscher des ›Großen Landes‹ und handelte bereits damals mit Zeit. Seine Gelehrten fanden eine Möglichkeit, die im Nichts befindliche Zeit zu separieren und sich ihrer zu bemächtigen. Zeit war das Seltenste und somit kostbarste überhaupt. Es war flüchtig und vergänglich und lediglich das Nichts bevorratete sie.

Nach und nach fielen auch die anderen Reiche in Gordius Hand. Sodann wurde er zum mächtigsten Herrscher. Weiterhin umgab er sich mit den fähigsten Forschern, den weisesten Denkern und den kühnsten Ingenieuren. Er schuf das Fundament zur Herrschaft über den gesamten Planeten. Antalus Vater Kardus festigte diese Macht und mehrte das Gut. Er gab das Zepter stolz an seinen Nachkommen weiter. Sein einziger Sohn war Antalus. Antalus wurde somit zum alleinigen Herrscher des Planeten. Sein Wort musste lediglich durch die Senatoren des Magistrats genehmigt werden. Das permanente Wohlwollen des Magistrats erzielte Antalus durch die Bereitstellung von Lebensenergie aus dem Nichts. Es gestaltete sich für die Senatoren wie eine nicht enden wollende Verjüngungskur – wie ein Jungbrunnen. Sie lebten lang und Antalus besaß die ständige Mehrheit. Er herrschte.

Antalus wählte sich Madras zum Weib. Ray war sein einziger männlicher Nachkomme und soll ihn einmal beerben. Hel war nicht mehr da. Sie verschwand eines Tages spurlos. Wahrscheinlich geriet sie ins Nichts oder wurde von einer unbekannten Macht verschlungen. Seither glaubte Antalus an die Macht der Zeit und untersagte jedem Familienmitglied strengstens den Kontakt zu einer VJ. Nur er selbst nutzte sie.

Kapitel 3 – Das Nichts

Das Nichts war die Zeitzone zwischen dem Hier und dem Da. Dort hinzugelangen war niemandes Absicht. Es war ein Versehen, eine Unachtsamkeit, ein Fehltritt – es war aber auch eine beabsichtigte Störung. Der Reisende betrachtete das Auftreten einer möglichen Störung nicht als halsbrecherisches Wagnis, denn der Angelegenheit wurde nie der Charakter eines Abenteuers zugemessen. Die Chance ins Nichts zu geraten war derart gering, dass sich niemand damit beschäftigte.

Wer sich mittels VJ (Virtual Journey) in eine andere Welt begeben wollte und ein Opfer dieser Störung wurde, landete im Nichts. Das Nichts selbst ernährte sich ausschließlich von Zeit und gewährte kein Zurück. Das Nichts war ein Gefängnis, welches jeden Insassen lebenslänglich beherbergte. Der vom Leben getrennte, zeitlose Körper, löste sich selbst vollständig auf. Im Nichts existierte somit nur Leben, kein Tod. Zeit bedeutete Leben.

Das Nichts akzeptierte nur Leben. Nur Lebende konnten reisen und nur Lebende besaßen Zeit, die ihnen mit ihrer Geburt geschenkt wurde. Einmal ins Nichts geratene Personen blieben dort. Von ihnen hörte man nichts mehr, sie galten vom Moment des Bekanntwerdens ihres Verschwindens als vermisst. Niemand wusste, was mit ihnen passierte und niemand wusste, was ihnen jemals widerfuhr. Übrig blieb nur die Erinnerung.

Trotz größtmöglicher Schutzmaßnahmen gelang es immer wieder, der zentralen Steuerung ein Störprogramm zuzuführen, welches nur die Aufgabe besaß, die Reisenden des VJ ins Nichts zu leiten. Es wurde sogar vermutet, dass diese Störung von oberster Stelle, oder zumindest mit Billigung der Verantwortlichen geschah, zumal lediglich ihrerseits davon profitiert werden konnte. Nirgendwo anders wurde außerhalb einer Geburt Zeit produziert – nur im Nichts. Und nirgendwo anders – als während der Startphase des VJ – ergaben sich die Möglichkeiten einer gezielten Umleitung. Es war demnach kein Zufall, dass die Weltenbummler des VJ genau dort eintrafen, wo sie gleichsam erwartet wurden.

Es war der Augenblick. Die kurze Weile, die in jedem Moment entstand und kaum, dass sie zu existieren schien, schon wieder verschwand. Diese eine Dauer zog eine nächste ständig mit sich. Dazwischen befand sich vermeintlich nichts. Jedenfalls nichts, was sich fassen oder messen ließ. Es bewegte sich nicht. Es stoppte und es beschleunigte nicht, weil es bloß da war. Es pulsierte nicht und es verbrauchte sich nicht selbst. Aber niemand konnte genau bestimmen, wo es war. Ob es sich dabei um eine mögliche Zukunft oder eine bereits passierte Weile handelte, war auch niemandem bekannt. Wahrhaft war, dass es existierte.

Das Nichts war also der Ort zwischen dem Jetzt und Hier und einem Dort. Das Dort musste somit existieren. Es wurde vom Reisenden bei jedem Beginn in eine VJ konkret definiert. Der Zentralrechner bot sich somit als unbestechliches Alibi an, zumal er ständig über den virtuellen Aufenthaltsort jeder Person informiert war. Das Bewusstsein eines VJ-Weltenbummlers hielt sich – ähnlich eines Traumes – also immer dort auf, wo sich die Virtualität der Person auch befand. Das Nichts besaß keinen Eingang und keinen Ausgang – es war kein architektonisch konzipierter Raum. Das Nichts war eine niemandem bekannte Dimension, welche den Start- und den Zielpunkt einer Zeitreise verband. Es war der Ort dazwischen. Man konnte ihn nicht willentlich aufsuchen oder ihn betreten und man konnte ihn nicht wahrnehmen. Wer nie in der Zeit reiste, sich demnach nie der Möglichkeit einer Konfrontation mit der Störfunktion auslieferte, besaß auch nie die Gelegenheit das Nichts kennenzulernen. Im Nichts existierten keine Positionen, keine Richtungen, keine Schwerkraft und vor allem keinerlei spürbares Zeitempfinden.

Seit wann es das Nichts gab und wie es entstand, war unbekannt. Wahrscheinlich existierte das Nichts bereits seit Anbeginn der Zeit und wurde erst durch die VJs wiederentdeckt.

Das Nichts speicherte Zeit. Im Nichts existierte allerdings mehr Zeit, als das Nichts zum Selbsterhalt benötigte. Das Nichts in irgendeiner Art und Weise zu benutzen oder zu verwenden, war lediglich einer Person gelungen. Dem Nichts die darin gespeicherte Zeit zu entnehmen, um sie anderweitig zu verwenden, vollführten auch Antalus Wissenschaftler. Bei ihm konnten Menschen Zeit kaufen.

Kapitel 4 – iRule

Die reale Welt wurde bloß verlassen, um sich in einer virtuellen Umgebung zu vergnügen. Dort warteten keine Aufgaben auf niemanden, dort musste niemand pünktlich sein und dort musste niemand irgendwelchen Pflichten nachkommen. Alles diente der Erholung, der Befriedigung individueller Wünsche und letztlich der Kurzweil. Niemandem war es möglich, sich unbefugt in eine virtuelle Welt zu begeben oder sich in einer solchen Umgebung anonym aufzuhalten.

Der Reisende lernte nichts Neues und nichts Unbekanntes kennen, wenn er es nicht verfügte. Jeder behielt seine Sprache, seine Kultur und seine Gewohnheiten. Die einzige Grenze in der Virtualität war das eigene Ich. Nichts war dem Reisenden in der Virtualität mehr möglich als das, was er in der Realität ebenso vermochte. In vielerlei Hinsicht existierten keine Verbote in der künstlichen Welt. Niemand konnte illegitimes bewerkstelligen. Niemand konnte verletzt und nichts konnte beschädigt werden und niemals kam etwas abhanden.

Zu jeder Zeit war es jeder Person gestattet virtuelle Welten zu besuchen. Dazu wurde sich bloß einer einzigen Vorrichtung bedient. Eigentlich sah dieses Möbel wie ein bequemer Sessel aus, der zum gemütlichen Verweilen einlud und das sollte genau so sein. Oft wurden nämlich viele Stunden der Entspannung, der Unterhaltung, oder der Zerstreuung darin verbracht. Dieses Sitzmöbel bot lediglich einer Person Platz und wurde als Startposition für jede Virtual Journey (VJ) verstanden.

Dem Kopf bot sich ein Polster als Ruhefläche und eine weitere Unterlage gestattete es, die Beine entspannt abzulegen. Links und rechts zeigten sich Lehnen, deren obere Fläche nicht nur zur Ablage der Arme und Hände, sondern auch als sogenannter Hunter diente.

Einem, der sich im Hunter befindenden Arme, wurden mittels einer bioelektronischen Methode Informationen durch die Haut übermittelt, welche die geforderte VJ auslöste. Diese Bescheide gelangten über die Nervenbahnen direkt ins Gehirn und veranlassten dort die erforderlichen Bedingungen. Hierbei wurde sich derselben Vorgehensweise bedient, die Menschen auch einen Traum erleben ließen.

Nur innerhalb dieses Vorgangs war es möglich eine Fehlinformation zu übermitteln, durch die der Reisewillige ins Nichts gelangen konnte. Die jeweilige Dauer einer VJ bestimmte das sicherheitsbedingte Limit von 150 Minuten. Dann löste Manny automatisch den Autoreturn aus. Eine erneute VJ war im direkten Anschluss an eine soeben beendete jederzeit möglich. Die zurückbleibende Erscheinung wurde Trägheit genannt. Die Trägheit war sozusagen das Phantom der reisenden Person. Es war eine nicht anfassbare Darstellung, die sich über die Transparenz unaufhörlich auflöste. Bis zum kompletten Verschwinden der Trägheit würden exakt 150 Minuten vergehen. Erfolgte also kein Autoreturn binnen dieser Zeit, bliebe die Person in der VJ oder sie wäre ins Nichts geraten.

Da die Chance ins Nichts zu geraten zwar bekannt war, jedoch nicht als potenzielle Gefahr betrachtet wurde, nahm sie jeder in Kauf. Niemand machte sich darüber Gedanken. Es barg keine wissentlichen Nachteile in sich. Es war weder mit körperlichen Einbußen, noch mit anderen, spürbaren Verlusten oder Einschränkungen verbunden und somit hinzunehmen. Prinzipiell konnte sich der Reisende lediglich in eine parallele Welt oder in die Vergangenheit begeben, zumal dann erst dort die aktuell gehabte Gegenwart zur tatsächlichen Zukunft geriet, aber nicht so empfunden wurde. Reisen in eine mögliche Zukunft waren vom Zentralrechner nicht zu realisieren. Das Verweilen in einer der angebotenen Parallelwelten war der überwiegende Wunsch der Reisenden. Meistens setzte eine solche Tour die zuletzt getätigte Reise fort und schloss fast nahtlos an den bestehenden Aufenthalt an.

Zur Abgleichung der personenspezifischen Daten scannte eine Technik die Fingerabdrücke und den zur Einleitung sämtlicher Handlungen geäußerten Begriff iRule ein. Die Deckungsgleichheit der Stimme bestach als untrüglicher Identifikator.

Verließen diese Daten den Toleranzbereich und zeigten nicht die – mit den jeweils hinterlegten Mustern – erforderliche Übereinstimmung, stoppte das gesamte Unterfangen auf der Stelle. Um wieder alle Funktionen zu aktivieren, musste der Benutzer den nur ihm bekannten Code eingeben und entsperrte dadurch die Blockade. Bei Manipulationsversuchen, zu häufigen Fehlfunktionen aufgrund eigenen Verschuldens oder anderen, widerrechtlichen Handlungen, wurden sämtliche Funktionen umgehend und dauerhaft gesperrt.

Sämtliche Übermittlungen wie auch Versorgungen, passierten über verschlüsselte Verbindungen, die sich außerhalb des akustischen oder optischen Wahrnehmungsbereichs verhielten.

Kapitel 5 – Manny, wo bin ich

Es herrschte strikte Geburtenkontrolle. Jedweder menschlicher Nachwuchs musste bereits während einer Schwangerschaft offiziell deklariert werden. Illegale Geburten (IBs) durfte es daher nicht geben. Jeder Person wurde direkt nach seiner Geburt ein Chip implantiert und damit war sie datentechnisch erfassbar. Der Datenchip lieferte dem Zentralrechner jederzeit sämtliche Vital- und Verhaltenswerte. Auf diese Weise beobachtete der Zentralrechner auch gesundheitliche Mängel und konnte lebensbedrohlichen Beschwerden potenziell begegnen. Niemand kannte es anders, warum es als völlig selbstverständlich praktiziert wurde.

Der Chip wurde vom Hunter völlig berührungslos durch die Haut implantiert und zirkulierte nach diesem Vorgang in der Blutbahn. Dort sammelte der Chip alle relevanten Informationen und bereitete sie für einen Abruf vor. Die abgerufenen Bio-Daten wurden von Manny mit anderen vorliegenden Daten verglichen und entsprechend agiert.

Die Abfrage der Geo-Daten passierte auf ähnliche Weise.

Unentwegt wurde Atemluft produziert und der Atmosphäre zugeführt. Natürliche Sauerstoffproduktionen fanden so gut wie nicht mehr statt. Die Atmosphäre wurde permanent überwacht. Überall befanden sich Detektoren, Sensoren, Sonden, Mikrofone und Scanner. Nicht nur die Qualität der Atemluft war der Grund der Überwachung, sondern jede Person sollte auch zu jeder Zeit über die Gewissheit einer maximalen Sicherheit verfügen.

Jede Person benötigte pro Tag eine gewisse Menge Energie und jede Person stellte an sich eine bestimmte Menge von Energie dar. Diese Energie wurde erfasst und im EEE (Erfassung und Überwachung zur Einhaltung der Energie) als Gesamtzahl optisch dargestellt. Sie erschien auf einer übergroßen Anzeigetafel und durfte ohne entsprechende Genehmigung nicht überschritten werden. Diese Zahl gab also gleichsam die aktuelle Bevölkerung auf dem Planeten an. Unerlaubtes Leben erzeugte eine Überschreitung der zur Verfügung stehenden Kapazitäten und stellte infolgedessen eine Bedrohung für die gesamte Menschheit dar. Neues menschliches Leben wurde also nur dann erlaubt, wenn eine bestimmte Menge von Menschen verstarb, Energien frei wurden und demnach neu verfügt werden konnten. Zur Billigung neuen Lebens bedurfte es sehr häufig derartiger Gegebenheiten. Unterschreitungen des Energiereservoirs stellten neues Leben in Aussicht, doch Überschreitungen bedeuteten allgemein Gefahr.

Jegliche Abweichungen der Ressourcen von Sauerstoff und Trinkwasser stellten sich stets als lebensbedrohlicher Zustand für die gesamte Bevölkerung dar und wurden allein daher nicht geduldet. Die Notwendigkeit einer konsequenten Überwachung der Geburten wurde bereits von Gordius erkannt. Er sah ebenfalls, dass die Bedrohung der Menschheit lediglich von ihr selbst ausging und niemals von außen erfolgen würde. Mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten wurde die Überwachung der Lebensenergie vom Zeitpunkt der Geburt bis hin zum Tode eines jeden Menschen ständig verbessert.

Allerorts waren sämtliche Böden mit Kontakten versehen. Somit bekam der Zentralrechner, der inoffiziell Manny genannt wurde, ständig neue Informationen über den konkreten Aufenthaltsort jeder einzelnen Person. Verbalisierte Äußerungen, die mit iRule begannen, initiierten Manny und waren persönliche Mittelungen oder Bestellungen. Jegliche Art von Warenoder Dienstleistungsanforderungen passierten über Manny, der zur Identifikation mit dem Begriff iRule aktiviert werden musste. Erst dann standen codierte Übermittlungsebenen zur Verfügung und erst dann präparierte sich Manny auf einen Individualvorgang.

Kapitel 6 – Schichtwechsel

Dem VJ’ler bot sich jede erdenkliche Möglichkeit, doch – als gäbe es nur einen Punkt in der Virtualität – zog es ihn nach der Stadt Artec und dort besuchte er das Unterhaltungszentrum namens Lazy.

Die Beschäftigung im Lazy war einerseits sehr anspruchsvoll, doch andererseits recht anstrengend. Dort schon einmal gearbeitet zu haben bedeutete jedenfalls etwas Besonderes und darum galt eine Anstellung als sehr begehrt. Häufige Personalwechsel waren die Folge des täglich hohen Besucherandrangs, denn das Lazy war nicht bloß irgendein Freizeitspaß. Es war das trendigste Vergnügungscenter in der gesamten virtuellen Welt. Wer das Lazy nicht kannte, besaß entweder noch keinen Sessel, war also noch nicht alt genug oder war von Manny dauerhaft gesperrt worden.

Ray war nicht nur Antalus Sohn, sondern auch für das Personal in der Virtualität zuständig. Mit neuen Mitarbeitern verabredete er sich gern im Lazy, weil es dort am meisten zu tun gab und er direkt vor Ort zeigen konnte, um was es ging.

Wahrscheinlich sah ihn dort jeder zum ersten Mal: den Tamtam. Er sah aus wie ein fingerloser Handschuh und ließ sich auch so tragen. Die Innenfläche dieses hautfarbenen Kleidungsstücks zeigte dann jedoch, dass er mehr war, als bloß ein gewöhnliches Accessoire. Er war ein Kommunikator. Im Grunde genommen handelte es sich um ein gewöhnliches Sprechfunkgerät, das ähnliches eines Handschuhs getragen wurde, aber unauffällig blieb. Der Benutzer eines Tamtams sprach einfach in die Innenhandfläche und konnte sich auf diese Weise sehr komfortabel mit jedem voreingestellten Empfänger unterhalten. Eingehende Verbindungswünsche wurden an einer Vibration erkannt, die sich individuell einstellbar gestaltete. Ein Tamtam musste nicht ein- oder ausgeschaltet werden. Es aktivierte, beziehungsweise deaktivierte sich über eine Bio-Erkennung des Chips. Eine unautorisierte Benutzung wurde somit gänzlich ausgeschlossen.

Ronny, dem Neuen in der Runde, schärfte Ray auch ein, dass die Zufriedenheit jedes einzelnen Besuchers oberste Priorität besaß, denn nur so wäre ein Wiederkommen gewährleistet und der Ruf des Centers, sowie der Stadt, blieben anstandslos. Ray tat alles, um das Wohlgefallen der Besucher im Sinne seines Vaters herzustellen. Das verstand Ronny sofort. Allen in der virtuellen Welt beschäftigten Personen, wies Manny einen speziellen Status zu, der sich insbesondere auf die Aufenthaltsdauer auswirkte. Das Lazy kannte keine Ruhezeiten. Es stand den Besuchern jederzeit zur Verfügung. An der Bar im Lazy wurde auch Alkohol ausgeschenkt. Der Konsum von Alkohol wirkte sich in der Virtualität genauso aus, wie in der Realität. Auch in diesem Fall wurden die entsprechenden Gehirnregionen stimuliert, welche die entsprechende Wirkung aktivierte. Manny wachte über die jeweils konsumierte Menge und der Hunter erwies sich einmal mehr als unabdingbar.

Auf der linken Seite der Eingangsebene erstreckte sich eine schier endlose Bar. Die davor fest montierten Hocker waren ständig besetzt. Auch dazwischen standen und drängelten Leute. Sie gehörten zu irgendjemandem oder waren allein da. Jeder schien mit jedem zu sprechen und aus jeder Ecke erklang Musik. Auf der rechten Seite dieser Ebene spielten die Leute Billard, saßen an Tischen und droschen Karten, würfelten oder blätterten bei einem Getränk in irgendeiner Illustrierten. Überall suchten alle Leute bloß Zerstreuung, Erholung und Unterhaltung. Auf den anderen Etagen des Lazy standen den Besuchern weitere Abwechselungen zur Verfügung. Restaurationen und Kinos, Bowlingcenter und Theater. Es war für jeden Geschmack etwas dabei und das machte das Lazy aus: die Vielfalt. Maßschneider, Boutiquen, Ateliers aller Art wie auch Agenturen für jeden Anlass und Bedarf. Niemand musste noch irgendwo anders hingehen, etwas anderes buchen oder sich woanders hinbegeben: dort war alles an Ort und Stelle.

Wer Hochseeangeln oder Tiefseetauchen gebucht hatte, befand sich in einer anderen Welt. Mit dem erotischen Angebot verhielt es sich ähnlich. Rennsportlich Ambitionierte gelangten in ihre Welt und bei den Kletterern verhielt es sich nicht anders. Da waren die Interessen unter sich und trafen auf ihresgleichen. Das Lazy war Bar, Kneipe, Tanzpalast, Kennenlernplattform, Restaurant, Imbiss, Einkaufspassage und Kulturtempel. Dort pulsierte das Leben und dort traf man sich. Oft gewannen Ray und seine Mannen den Eindruck, als verbrächte jeder VJ’ler seine gesamte Freizeit nur an diesem Ort. Alle Hautfarben, Sprachen und alle Mundarten fanden dort zueinander. Jeder sprach mit Händen und Füßen und gelangte somit irgendwie zum Ziel.

Dass plötzlich irgendwelche Personen verschwanden und vielleicht nicht mehr erschienen, begegnete nur jenen befremdlich, denen das Limit in der Virtualität noch nicht bewusst geworden war. Manny schaltete den Besucheraufenthalt nach Erreichen von 150 Minuten ab. Befand sich die Person gerade in einer angeregten Gesprächsrunde und achtete selbst nicht auf den Zeitverlauf, fand sie sich nicht selten völlig verwirrt zu Hause im Sessel sitzend wieder. Manche beließen es dabei und andere buchten eine weitere VJ und fanden sich Sekunden später wieder zurück in ihrer Unterhaltungsrunde.

Aus der Virtualität zurückzukehren und sich in dem Sessel wiederzufinden, der eine VJ erst ermöglichte, kam dem Erwachen aus einem sehr intensiven Traum extrem nahe. Die Vorstellung, sämtliche Empfindungen außerhalb des eigenen Körpers realisieren zu können, in dem lediglich die dafür zuständige Gehirnregion sensibilisiert wurde, trat nur sehr wenigen Personen ins Bewusstsein. Dass sich genau derselben Mechanismen bedient wurde, die auch den Traum eines Menschen steuern, wollte nicht sofort verstanden werden. Zu träumen war normal, doch eine VJ galt oft als legalisiertes Rauschmittel. Einen Traum könne niemand vorsätzlich beeinflussen, eine VJ allerdings, hieß es. Einen Traum könne niemand wissentlich fortsetzen, eine VJ allerdings, wurde argumentiert. Ein Traum sei etwas menschlich natürliches und eine VJ sei etwas Unnatürliches, das Verderben und ein Produkt des Bösen. Jede dieser Negativbemerkungen machte die VJ noch interessanter, noch populärer und noch geheimnisvoller. Antalus kamen diese Gedanken immer gelegen. Je mehr Personen eine VJ antraten, desto größer wuchs die Chance, dass einige davon ins Nichts gelangten und er sich ihrer Zeit bedienen konnte.

Irgendeiner hatte Dienst und übergab die gesamten Aufgaben an den nächsten. Je nach Dienstplan teilten sich Ray und Ronny die Aufsicht über Artec.

Diese Stadt war der Dreh- und Angelpunkt der virtuellen Welt und stellte mit dem Lazy den Zufluchtsort dar, der offenbar jeden VJ-User anzog. Artec selbst war eine wunderschöne, moderne und ästhetische Augenweide, auf dessen breiten Autostraßen auch gern offizielle Kurzstreckenrennen stattfanden.

Die virtuelle Welt war der Arbeitsplatz vieler Menschen und durfte seine Attraktivität als lukrative Wirtschaftskraft nicht einbüßen. Konkurrierende Anbieter existierten zwar, doch das Gros der freizeitlichen Aktivitäten passierte in Artec.

Nichts war anders, an nichts musste sich der Besucher gewöhnen und alles entsprach der Vorstellung. Jeder Aufenthalt in Artec schuf schon das Verlangen auf eine nächste VJ. Es gab nichts, was einen Unterschied zur Realität erkennen ließ. Düfte, Aromen, den Zungen- und Gaumengeschmack, Geräusche und selbst Gefühle erzeugte der Hunter. Die Stimulation der entsprechenden Gehirnregion, per dosierter bioelektronischer Information über die Nervenbahnen, entpuppte sich als kooperativer Verbündeter.

Das Zwitschern der Vögel, der Duft von Blumen und das Rauschen der Luft entsprachen exakt der Erwartung. Das Grün des Rasens im Park und das Blau des Himmels überzeugten immer wieder. Niemals machte sich ein Betrachter Gedanken darüber oder ließ Zweifel entstehen. Am Tag vollzog die wärmende Sonne ihren Lauf und in der Nacht folgte der Mond seiner Bahn. Das nächtliche, tiefblaue Firmament präsentierte die gewohnten Himmelskörper, nebst der bekannten Sternbilder.

Die gesamte Umgebung war virtuell, doch alles fühlte sich real an, roch und schmeckte exakt wie in der Wirklichkeit, erzeugte dieselben Gefühle und hinterließ dieselben Eindrücke. Nichts verlor an Bedeutung und selbst die Erinnerung daran blieb. Alle Gegenstände ließen sich anfassen – es musste bloß danach gegriffen werden. Nichts passierte anders. Nasses blieb nass und Trockenes erschien nach wie vor trocken. Zur Realität bestand nur ein einziger Unterschied: Jeder VJ’ler glaubte, sich für den Bruchteil des ersten Moments nach Ankunft seiner Reise darüber bewusst gewesen zu sein, dass alles nur seiner Vorstellung entsprach. Dieser Augenblick verschwand jedoch in derselben Geschwindigkeit, mit der er entstand. Geblieben war immer das Bewusstsein in eine Welt einzutauchen, die sich ebenso wahr erleben ließ wie ein Traum.

Kapitel 7 – Traum oder Wirklichkeit

Lyza war nun alt genug und konnte sich endlich ihre eigene Wohnung leisten. Es war ein Appartement, das aus einem Zimmer mit Bad bestand. Alle Wohneinheiten verfügten über diesen Standard. Bei Familien oder Paaren mit Kindern erhöhte sich nur die Anzahl der Zimmer. Alles andere blieb unverändert.

Diese Module wurden zu gewaltigen Blöcken verbunden und ergaben ein Wohnhaus. Viele dieser Wohnhäuser bildeten durch ihre baugleichen Fassaden kerzengerade Straßenzüge, ernüchternde Wohnviertel wie auch Siedlungen und schließlich ganze Städte. Ließen umherfahrende Autos nicht Leben erkennen, könnte getrost von Geisterstädten ausgegangen werden. Besäßen die Gebäude außerdem keine numerischen Kennungen, würden selbst die eigenen Bewohner nicht wieder dorthin finden. Wohnliche Alternativen existierten nicht. Haustiere wurden aus sicherheitstechnischen sowie aus hygienischen Gründen dauerhaft untersagt.

Mannys Allgegenwärtigkeit beeinflusste den Tagesablauf nicht ein einziges Mal. Niemand fühlte sich behelligt, belästigt oder seiner Privatsphäre beschnitten. Jeder wuchs damit auf und jeder erachtete den Zustand ebenso normal, wie seinen Herzschlag oder seine Atmung. Manny war nicht wahrnehmbar und stellte wahrscheinlich darum keine Beeinträchtigung für irgendjemanden dar.

Lyza inspizierte ihre Räumlichkeiten, nickte zufrieden und erblickte den Sessel. Zum ersten Mal in ihrem Leben besaß sie eine eigene Schnittstelle zur Virtualität. Sie wusste alles über den Sessel. Selbst gesessen hatte sie bereits in einem, aber aktiviert hatte sie noch keinen. Der Besitz eines eigenen Sessels erforderte ein gewisses Alter und nun stand ihr eigener Sessel da. Neugierig war sie und schaute ebenso zurückhaltend wie interessiert zu ihm. Überall hin würde sie mittels des Sessels gelangen. Bloß Manny müsste sie ihre Reisewünsche mitteilen.

Manny war auf alles programmiert. Seine Datenbanken boten ein geradezu unerschöpfliches Leistungsspektrum an, das jede VJ aufgrund der spezifischen Gerüche, Geräusche und sonstiger Empfindungen, zu einem unvergessenen Erlebnis werden ließ. Ein solcher Sessel galt gemeinhin als Synonym für eine VJ. Dass Lyza nun über einen eigenen Sessel verfügte, der ihr sozusagen uneingeschränkt zur Verfügung stand, konnte sie noch gar nicht fassen.

Irgendetwas lag auf der Sitzfläche. Sie ging hin, nahm es weg und setzte sich. Alles in diesen Appartements war zweckmäßig, also auch der Tisch, auf den sie bisher nur ihre Arme stützte. Es war gleichsam ihr Esstisch, Schreibtisch, Nachttisch, Couch- und Beistelltisch. Zwei einfache Stühle gesellten sich obendrein dazu und auf einem davon saß sie. Das sich noch immer in einer Klarsichtfolie befindliche Heftchen, welches sie zuvor vom Sessel nahm, legte sie nun vor sich hin. »Donnerwetter«, dachte sie und strich mit der Hand anerkennend über die Folie. »Alles neu.«

Dann zog sie das Heftchen vorsichtig aus der Plastikhülle und begann darin zu blättern. Vom ersten Eindruck her gestaltete sich die kleine Broschüre wie ein Reisekatalog und erklärte die wichtigsten Funktionen des Sessels. Sie kannte den Sessel in- und auswendig. »Was muss man da schon wissen?«, grinste sie in sich hinein. »Man setzt sich gemütlich hin, legt die Arme in die Hunter, gibt Manny mit dem Kommando »iRule« seine Wünsche bekannt und befindet sich bereits einen Moment später in …« Lyza stockte selbst in ihren Gedanken, denn sie konnte sich zu keiner VJ entscheiden. Dann blätterte sie erneut in der heftartigen Anleitung, um sich inspirieren zu lassen. »Nennen Sie nach der Initialisierung Ihrer VJ die gewünschte Aufenthaltsdauer in Minuten und erst danach Ihr Reiseziel. Wird keine Reisedauer genannt, genießt der Reisende automatisch die gesamte Aufenthaltsdauer von 150 Minuten. Formulieren Sie Ihr Reiseziel so präzise wie möglich«, las sie halblaut aus dem Prospekt vor. »Was man alles wissen sollte«, dachte sie erstaunt. Eine virtuelle Stadt namens Artec schien ihr Favorit zu sein. Lyza schlug das kleine Heftchen zu, schob es zur Seite, stand auf und setzte sich in den Sessel. Ihr Herz klopfte schneller als zu dem Moment, in dem sie zum ersten Mal die Türe zu diesem Appartement öffnete.

»iRule«, begann sie entschlossen und wartete brav auf irgendein Zeichen, ein Signal oder eine andere Form der Bestätigung, die ihre Initialisierung erkennen ließ. Doch es erfolgte nichts. Es war so, als stünde sie jemandem gegenüber, dessen Gesichtsausdruck und körperliche Reaktion nicht ein einziges Mal das Gesagte reflektierte. Lyza war verunsichert und wusste nicht mehr, was sie machen sollte. Sie wurde unfreiwillig an ihre Kindheit erinnert, als sie mit ihren Puppen sprach und auch keinerlei Reaktion erfuhr. Aber ihre Puppen waren da – sie konnte sie sehen, anfassen und bewegen. Manny war einerseits da, doch andererseits nicht. Ihr wäre es lieber gewesen, es würde eine kleine Lampe aufblinken, ein Ton erklingen oder eine andere Notiz erfolgen. Aber nichts dergleichen vollzog sich. Lyza kommunizierte noch niemals zuvor mit Manny und wunderte sich um so mehr. »Wird schon klappen«, dachte sie und setzte ihre begonnene VJ fort. »Ich möchte gerne 10 Minuten lang auf den Bürgersteig neben der Hauptstraße nach Artec …«, sagte sie und spürte noch nicht einmal die bioelektronischen Impulse, die der Hunter bei ihr erzeugte. Sie stand bereits auf dem Bürgersteig direkt neben der Hauptstraße mitten in Artec, doch sie realisierte es nicht. Nichts wies darauf hin. Sie musste es von sich aus merken, dass die aktuelle Umgebung, gegen die gerade noch vertraute wechselte. Kein Licht, kein Geräusch, kein Temperaturunterschied und keine Vibration machten den Wechsel deutlich. Sie fühlte sich wohl und ihr ging es gut. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich woanders befand. In ihrem Appartement wehte kein Wind. Jetzt umgab sie ein laues Lüftchen. In ihrem Appartement roch es nach nichts. Jetzt strömten Düfte in ihre Nase und Geräusche drangen an ihr Ohr. Sie wurden von der Luft über die breite Straße transportiert und kamen aus einem Haus. Aber überall waren Häuser. Himmelhoch bäumten sie sich links und rechts von ihr auf. Manche Fenster waren erleuchtet, andere hingegen nicht. Wer wohnte da? Wer sollten diesen Menschen sein? Wo kämen sie her? Brannte dort oben bloß Licht, um den Anschein einer Bewohnung vorzutäuschen? Lyza schlenderte die Straße hinunter und bemerkte, dass sie die einzige Person weit und breit zu sein schien. Alles war wie leer gefegt, kein einziger Mensch trieb sich dort herum. Die ganze Gegend vermittelte einen unwirklichen Eindruck und nur aus einem Haus strömte Musik. Alles war picobello, sodass sich bedenkenlos vom Boden essen ließe.

Vor Antritt ihrer ersten VJ hatte sich Lyza so viel vorgenommen. Sie wollte sich jeden einzelnen Eindruck einprägen, um sich später explizit daran erinnern zu können.

Die Blätter der Bäume bewegten sich kaum. Mild war es. Eine Jahreszeit war nicht erkennbar. Wäre es Winter gewesen, würde Schnee ihr Indikator sein und bei Hochsommer wäre es die heiße Sonne gewesen. Nirgendwo lagen abgefallene Blätter herum und die Blumen blühten bereits. Es herrschte keine Jahreszeit. Es herrschte eine eigenartige Unwirklichkeit.

Lyza bummelte noch ein wenig die Straße entlang, denn dem Auge bot sich nichts anderes. Überall nur Häuser, Straßen und Menschenleere. Keine Verkehrsschilder, keine Reklametafeln, keine Läden und vor allem keine Menschen. Offensichtlich war schon jedem außer ihr bekannt, dass es im Freien nichts zu erleben gab, was der Unterhaltung dienen könnte. Jedenfalls nicht bei einer Buchung nach Artec. Lyza kehrte um. Sie schlug jetzt die Richtung ein, aus der die Geräusche stammten. Sie drangen aus einer Lokalität, über deren Eingangstüre eine Leuchtreklame mit dem Namen Lazy erschien. Lyza öffnete die Türe des Lokals, ging hinein und trat ins Leere.

Sie saß wieder in ihrem Sessel.