Isadora und Daeren  3 - Anne-Marie Jaren - E-Book

Isadora und Daeren 3 E-Book

Anne-Marie Jaren

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Beschreibung

*** Die Trilogie ist abgeschlossen! ***

 

Eine romantische SciFi-Fantasy für Jugendliche ab 12

 

Band 3: Die Erkenntnis

 

Aufgrund einiger Rückmeldungen von Lesern wird darauf hingewiesen, dass dieser Band den jüngeren Lesern gewisse Verständnisprobleme - rein intellektuell - bereiten könnte.

Isadora reist nach erfolgreichem Abitur nach New York, wo sie ein neues Leben anfangen möchte. Obwohl sie keine Erinnerung mehr an einen bestimmten Abschnitt ihrer Vergangenheit besitzt, steht dieser dennoch ihrem Vorhaben entgegen.
Inwieweit wird diese Vergangenheit noch ihr Leben beeinflussen?

Wie groß mag die Macht wahrer Liebe sein?
Und welche Rolle spielt sie für das Schicksal der Erde?

Leserstimmen:

Diese Trilogie über Isadora und Daeren habe ich mit Begeisterung gelesen. Die Liebe zwischen den beiden ist großartig und einmalig. Die verschiedenen Welten, in denen die sich bewegen, werden toll beschrieben.

Ein sehr spannendes Buch bis zur letzten Seite. Kann ich nur empfehlen. Schade, dass es keine Fortsetzung gibt.

 

Die 3 Bände lesen sich sehr unterhaltsam und vermitteln ein Wunschbild einer fast heilen Welt mit deutlicher Kritik an unserer derzeitigen Welt. Allein die sehr schwärmerischen Ausführungen der weiblichen Hauptperson überfordern den jungen männlichen Leser. Für Mädchen durchaus zu empfehlen. Eine Fortsetzung ist denkbar für die Umsetzung der großen Ziele. Eine wünschenswerte Erkenntnis sollte jeder aus diesen Büchern erhalten.

Ich muss hier mal ein ganz großes Lob aussprechen. Ich habe alle 3 Bände nicht gelesen, sondern eher gefressen :-)  Die Geschichte hat mich einfach gefesselt und ist etwas Außergewöhnliches. Mein Kopfkino läuft und ich kann mir noch so etliches für den nächsten Band vorstellen. Bitte überleg es dir, ob du nicht doch evtl. weiterschreiben möchtest ... Potential ist auf jeden Fall da... und hach... es war so toll, dass ich diese Bände garantiert noch einmal lesen werde. Hut ab und vielen Dank fürs Lesen lassen.

 

 

 

 

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Anne-Marie Jaren

Isadora und Daeren 3

Die Erkenntnis

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Isadora

 

„Dora!“

Da stand er, in dunkler Hose und weißem Poloshirt, mit einem strahlenden Lächeln. Er sah noch besser aus als in meiner Erinnerung und seine Augen, die mich voller Liebe betrachteten, bekräftigten meine Entscheidung voll und ganz.

„Charles!“

Ich setzte meine Bordtasche und den Koffer achtlos auf dem Boden ab und fiel ihm stürmisch um den Hals. Wie stets roch er trotz der brütenden Hitze draußen kein bisschen nach Schweiß und sein Polohemd saß perfekt knitterfrei.

Er zog mich leicht an sich. Die vertraute Kühle seines Körpers tröstete mich schlagartig. Ich konnte nie erklären, warum seine Gegenwart mir dieses Gefühl gab. Im Allgemeinen war es mir nicht einmal bewusst, einen Trost gebraucht zu haben, bis ich ihn traf. Dann überkam mich dieser Eindruck wie eine plötzlich hereinbrechende Lawine. Jedes Mal, ohne jegliche Vorwarnung. Es glich irgendwie einer Heimkehr, einem Wiedersehen nach langer Trennung, etwas Vertrautem, das verloren gegangen zu sein schien …

„Wie war der Flug?“ Er ließ mich los und schaute mich lächelnd, ebenso besorgt an. „Wir fahren gleich zur Wohnung, damit du dich erst einmal ausruhen kannst.“

„Ach, es war nicht schlimm. Ich habe sogar etwas geschlafen“, beruhigte ich ihn munter.

Seit unserer ersten Begegnung behandelte er mich stets wie ein rohes Ei, als wäre ich in jeder Hinsicht zerbrechlich. Vielleicht lag es daran, dass er mich in, sowohl körperlich als auch seelisch, nicht gerade stabiler Verfassung kennengelernt hatte.

Während wir zum Ausgang liefen, schaute ich mich interessiert um. Der Flughafen erschien mir genauso fremd wie vor zwei Jahren beim Rückflug nach Deutschland. Damals hatte er mich allein hierher begleitet und mir das Versprechen gegeben, mich in Berlin zu besuchen, was er dann tatsächlich gehalten hatte. Er war in den letzten beiden Jahren sogar mehrmals in Berlin gewesen und ich hatte versucht, ihn durch die Stadt zu führen, weshalb er mich seine kleine „German Guide“ nannte.

Nun hatte er mich nach New York eingeladen.

Wie lange meine Aufenthalt hier dauern würde, stand nicht fest. Ich wollte mich erst im Laufe der Zeit entscheiden, so weit die Planung.

Nach meinem Abitur, das ich überraschend exzellent abgeschlossen hatte - wobei Tante Barbara die feste Meinung vertrat, sie hätte ohnehin nichts anderes erwartet –, schwankte ich wie viele andere Abiturienten in der Entscheidung, gleich zu studieren oder lieber ein Jahr im Ausland zu verbringen.

Es war Charles Vorschlag gewesen, zunächst nach New York zu kommen. „Du fliegst einfach hierher und gönnst dir ein paar schöne Wochen. Danach fällt es dir sicher leichter zu entscheiden, ob du weiterbleiben und ein wenig arbeiten willst, um Erfahrung zu sammeln. Du kennst meine Ansicht. So etwas würde ich jedem wärmstens empfehlen. Außerdem käme es mir gerade gelegen, wenn jemand in meinem Appartement wohnen würde, damit es nicht leer steht. Wie du weißt, habe ich vor kurzem ein neues gekauft und wollte das alte meinem Geschäftspartner zur Verfügung stellen. In den Sommermonaten findet eh kein Meeting statt, weshalb du garantiert allein wohnen wirst, und später, falls du dich zu einem längeren Aufenthalt entschließt, ist es sogar besser, wenn du da bist“, versuchte er mich zu überreden, als ich zögerte, sein überaus großzügiges Angebot anzunehmen, und lächelte verschmitzt. „Ehrlich gesagt hoffe ich insgeheim, dass du dich dann ein wenig um meine Gäste kümmern würdest. In dem Fall wüsste ich nicht, wer von uns beiden mehr profitiert. Höchstwahrscheinlich müsste ich dich dafür zusätzlich entlohnen.“

Und genau das war der Grund für mein Zögern. Wenn er es mir nur als Verwandte von Jane und William vorgeschlagen hätte, wäre mir leichter gefallen, sein Angebot anzunehmen.

Damals nach dem Unfall, an den ich keine Erinnerung besaß, verbrachte Charles einige Zeit bei Jane und William, meinen amerikanischen Gasteltern, die nach Kanada in die einsame Wildnis gezogen waren, und half mir über die schwierige Phase hinwegzukommen, in der mein Gedächtnis wie von einer finsteren Nacht ohne einen einzigen Lichtfunken umgeben gewesen war.

Er verhielt sich, seit wir uns kannten, mir gegenüber stets äußerst aufmerksam, was ich etwas naiv als einen Charakterzug von ihm verstanden hatte, bis Mama und Tante Barbara ihn kennenlernten. Ihnen, insbesondere Tante Barbara, genügte ein einziges Treffen, um sein angeblich persönliches Interesse an mir zu erkennen. Anfangs wollte ich es nicht wahrhaben. Es klang einfach absurd. Weshalb sollte ein so überaus erfolgreicher, gut aussehender Mann, der dazu die Aufmerksamkeit von zahlreichen erfahrenen und aufregenden Frauen genoss, sich ausgerechnet in mich verlieben. Ich passte in keiner Weise zu ihm, weder gesellschaftlich noch dem Alter, der Erfahrung oder ganz zu schweigen dem unsicheren Auftreten nach. Nichtsdestotrotz trug Tante Barbaras hartnäckige Behauptung Früchte, so dass ich irgendwann doch begann, seine Gesten und seine Mimik aufmerksamer zu beobachten, ebenso worüber er sprach und wie er mir etwas erzählte. So kam selbst ich zu dem Schluss, dass es mehr als eine flüchtige Zuneigung war, die er für mich empfand. Es kam mir … ja, fast wie Liebe vor, obwohl er weder davon sprach, noch jemals irgendwelche Andeutungen in dieser Hinsicht machte.

Wenn wir zusammen unterwegs waren, achtete er stets darauf, einen gewissen Abstand zwischen uns zu halten, als würde ich zu viel Nähe nicht ertragen. Ich war diejenige gewesen, die ihn als Erste umarmt hatte beim Abschied damals in Amerika. Trotzdem war er der Aufmerksamere von uns beiden und vergaß nie meine Vorlieben oder Gewohnheiten. Selbst die kleinsten Bemerkungen von mir behielt er im Gedächtnis.

Ich hatte ihn sehr gern. Bei ihm fühlte ich mich geborgen wie bei keinem anderen. Nur wusste ich nicht, ob dieses Gefühl schon als Liebe bezeichnet werden konnte. Ob es für eine ernsthafte Beziehung reichte.

Hingegen war sicher, dass er mich tröstete, dass ich mit keinem anderen lieber meine Zeit zusammenverbrachte als mit ihm. Zumal er als einziger schaffte, mich zu spontanem, wirklichem Lachen zu bringen.

Es war mir durchaus bewusst, dass diese Einladung eine Entscheidung verlangte. Letztendlich entschloss ich mich, alles auf mich zukommen zu lassen. Wenn es ihm genügte, was ich ihm gefühlsmäßig entgegenbrachte, dann wollte ich den Schritt wagen und meine Zukunft mit ihm teilen.

 

Tante Barbara betonte stets, wir müssten uns glücklich schätzen, dass der Unfall insgesamt glimpflich abgelaufen sei. Schließlich hatte ich ihn, abgesehen von dem Verlust meiner Erinnerungen an Daeren, meinen damaligen Freund, ohne bleibende Schäden überstanden und konnte mich an alles andere wieder erinnern.

Der Unfall hatte sich auf einer schnurgeraden Strecke ereignet, auf der außer meinem Wagen nur ein weiteres Auto im Gegenverkehr unterwegs gewesen war. Den Aussagen der Zeugen zufolge hatte ich ohne jeglichen erkennbaren Grund abrupt gebremst, so dass der Wagen sich mehrmals überschlagen hatte.

Als meine Erinnerung an den Unfall und an Daeren nach mehreren Wochen gänzlich ausblieb, dazu noch keine einzige Nachricht oder ein Besuch von ihm folgte, stand die Sachlage für alle anderen fest; er hatte mich verlassen, weshalb ich im Schockzustand den Unfall verursacht hatte.

Jedoch traute sich kaum einer in meiner Gegenwart über ihn zu sprechen, weil ich in der ersten Zeit darauf regelmäßig mit heftigen Weinkrämpfen reagiert hatte. Normalerweise neigte ich nicht zu starken Gefühlsausbrüchen und ertrug alles still vor mich hin, schon als kleines Kind. Umso besorgter bemühten sich die anderen, das Thema Daeren zu meiden, so dass alles, was mit ihm zu tun hatte, unerwähnt blieb. Ich selbst versuchte ebenfalls nicht an ihn zu denken, weil es mir dabei immer schlecht ging. Es schmerzte wie eine offene Wunde, die nie heilen würde.

Merkwürdigerweise existierte kein einziges Foto von ihm, so dass ich nicht einmal wusste, wie er ausgesehen haben mochte. Sicher, die anderen hätten es mir sagen können, wenn ich mich jemals getraut hätte, sie danach zu fragen.

Aber wie hätte ich erklären sollen, dass in meinem Gedächtnis nichts über ihn existierte. Es herrschte absolute Leere. Das einzige, an das ich mich zu entsinnen glaubte, waren seine Augen, wobei die Erinnerung an sie jedoch beinah einem Trauma glich. Denn in meinen Träumen erschienen manchmal schmerzvolle tiefblaue Augen, deren Anblick mir jedes Mal das Herz zerriss. Dann wachte ich schweißgebadet auf und musste den Rest der Nacht grundlos weinen. Hinzu kam, dass die nächsten Tage eine zentnerschwere Last auf meine Brust drückte und ich ständig nach Luft ringen musste, obwohl mein Asthma überraschenderweise als völlig geheilt diagnostiziert wurde, ebenso wie meine Fehlsichtigkeit.

Ich brauchte seit meiner Rückkehr aus Amerika weder eine Sehhilfe noch irgendwelche Medikamente. Laut der einhelligen Meinung der Ärzte hinge all das mit der Pubertät zusammen und mit ein wenig Glück würde dieser Zustand weiterhin bestehen bleiben.

Darüber hinaus galt ich seitdem als eines der bestaussehenden Mädchen in unserer Schule. Dazu hatte sich meine schulische Leistung dermaßen enorm verbessert, dass all meine Lehrer, sogar in Mathe, mir mit größtem Wohlwollen begegneten. Eigentlich hätte mein Leben nicht besser laufen können, wenn bloß diese unerklärliche Leere nicht gewesen wäre...

Sicher, besonders lebhaft war ich nie gewesen, aber selbst meine Freunde - dazu zählten lediglich Lena, Mark und Philip, mit allen anderen war ich oberflächlich befreundet - fanden, dass ich depressiv geworden wäre.

Dennoch kam mir wiederum übertrieben vor, meinen Zustand als depressiv zu bezeichnen. Eigentlich berührten mich nur die meisten Dinge nicht mehr so stark wie früher, das war alles.

Zwar sprach keiner in meiner Gegenwart den Grund laut aus, trotzdem wusste ich, welchen Verdacht sie alle hinsichtlich meiner angeblichen Depression hegten.

Daeren.

Nur war mir mangels Erinnerung unmöglich, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Außerdem blieb es letztlich eine Vermutung. Vielleicht bedeutete es nichts weiter als ein vorübergehendes alterstypisches Problem. Zumindest hoffte ich das.

In meinem Inneren empfand ich, als verliefe mein Leben ausschließlich im tristen, grauen Monat November. Weitaus seltsamer aber war, dass mir dieses Gefühl erst in Charles Gegenwart bewusst wurde. Und genau diese Erkenntnis brachte mich dazu, mir Mühe zu geben, so fröhlich wie möglich zu wirken, insbesondere Mama und Tante Barbara gegenüber, die mir seit meiner Rückkehr aus Amerika auffallend vorsichtig begegneten.

Zwischen uns lief es anders als bei anderen Teenagern und ihren Eltern. Mama freute sich, wenn ich am Wochenende ausging und erst spät nach Hause kam. Sie ermunterte mich überhaupt stets, mich mit Freunde zu treffen, obwohl die Betreuung für Dorian des Öfteren Probleme verursachte. Aber sie wollte auf keinen Fall, dass ich auf meine Freiheit verzichten musste, um auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Selbst Tante Barbara fand, dass Mama es in dieser Hinsicht übertreiben würde. Sie betonte, es sei etwas völlig Normales, wenn große Geschwister gelegentlich ihre Freizeit für die jüngeren Geschwister opfern würden.

 

„Nein, Barbara. Dora hatte ohnehin keine unbeschwerte Kindheit wegen Günthers frühzeitigem Tod. Ich möchte nicht, dass sie wegen Dorian gerade die schönste Zeit ihres Lebens zu Hause verbringt. Sie soll all das machen dürfen, was alle anderen in dem Alter auch tun“, sagte Mama ungewöhnlich bestimmt.

Sie und Tante Barbara saßen auf einer Parkbank vor einer blühenden Forsythie. Neben ihnen stand der Buggy mit einem friedlich schlummernden Dorian. Ich kam von der Schule zeitiger als erwartet zurück und hatte sie zufällig vom Bus aus gesehen. So war ich zwei Busstationen früher ausgestiegen, wollte mich von hinten anschleichen und sie überraschen. Jetzt verharrte ich jedoch hinter dem Busch und hielt den Atem an.

„Ach, Sandra, übertreib mal nicht. Es schadet ihr ja nun wirklich nicht, wenn sie sich ab und zu um Dorian kümmert. Außerdem macht sie es doch gerne“, versuchte Tante Barbara sie zu beschwichtigen.

„Deshalb ja. Sie ist für ihr Alter viel zu vernünftig und verantwortungsvoll“, entgegnete Mama betrübt.

„Wir müssen ihr mehr Zeit lassen“, entgegnete Tante Barbara leise. „Sie wird darüber schon hinwegkommen.“

„Ich zweifele des Öfteren, ob ihr dies jemals gelingen wird. Manchmal habe ich das Gefühl, sie empfindet nichts mehr“, zitterte Mamas Stimme leicht. An ihrer Hand, die den Kinderwagen sanft schaukelte, traten die Knöchel weiß hervor. „Als ob sie ganz allein auf der Welt wäre, ohne jegliche Hoffnung. Es gibt kein Leben in ihr. Sie leidet nicht einmal …“

„Das wird schon. Sie braucht halt länger als andere. Es war nun mal eine außergewöhnliche Beziehung. Ich kann mich nicht erinnern, jemals ein solches Pärchen gesehen zu haben wie Dora und ihn. Umso schwerer fällt es mir zu glauben, dass sie sich tatsächlich getrennt haben. Dass das überhaupt möglich war … Dabei war ich mir so sicher, er …“, brach Tante Barbara bedrückt ab, fuhr nach einer kurzen Pause auffallend lebhaft fort. „Dieser Charles, da bin ich überzeugt. Es ist ihm absolut ernst. Und was noch wichtiger ist, bei ihm lacht sie. Er ist aber auch so charmant!“

„Ja, schon“, murmelte Mama wenig überzeugt. „Aber ich frage mich, warum sie immer so eine unpassende Wahl trifft. Mark zum Beispiel wäre die deutlich passendere Partie.“

„Mark?“, rief Tante Barbara entrüstet. „Nein, der doch nicht! Also als Kumpel ist er sicherlich ganz in Ordnung, aber niemals als Freund! Nein, er passt auf keinen Fall zu unserer Dora. Ich finde Charles genau richtig! Er sieht mindestens genauso gut aus wie sie, ist zwar etwas älter als sie, aber gerade das ist ja das Gute daran! Bekanntlich verwöhnen ältere Männer jüngere Frauen eher und haben mehr Verständnis. Außerdem was heißt hier älter. So alt ist er nun wirklich nicht, gerade mal acht Jahre! Und das Allerwichtigste ist, dass er nur darauf zu warten scheint, sie auf Händen zu tragen.“

„Ich weiß nicht … Er ist für sein Alter zu selbstsicher. Dazu eine eigene Firma …“

„Ach, du hast dauernd irgendwelche Bedenken. Natürlich ist er selbstsicher, hat auch allen Grund dazu, bei dem Erfolg! Überlege mal, sie hatte schon damals Daeren mit ihrer Art für sich gewinnen können und jetzt wo sie eine Schönheit geworden ist, warum sollte sie nicht einem jungen erfolgreichen und gutaussehenden Mann gefallen?“

Ich schlich mich von der Parkbank fort und wählte einen anderen Weg, um sie von vorne zu erreichen. Weiterlauschen wäre nicht gut gewesen. Das, was ich unbeabsichtigt mitgehört hatte, traf mich genug. Ich ahnte zwar, dass Mama sich meinetwegen Sorgen machte, aber wie sehr wurde mir erst jetzt bewusst. Dabei gab ich mir doch gerade in ihrer Gegenwart so viel Mühe …

Es stimmte, alle anderen vertraten die Meinung, ich sei eine Schönheit geworden. Etliche Mädchen meinten, wenn der Aufenthalt in Amerika bei jedem eine solche Verwandlung hervorrufen würde, würden sie auf der Stelle für ein Jahr nach Amerika fahren wollen.

Lena, die stets einen guten Blick für die äußere Erscheinung hatte, setzte sich mit meiner schier an ein Wunder grenzenden Veränderung sachlicher auseinander.

„Weißt du, früher hattest du jede Menge Flecken auf der Haut und dazu war sie ganz rau und trocken. Jetzt ist sie unheimlich ebenmäßig und glatt geworden, was allein bereits schöner macht. Dann hast du mehr Busen bekommen, hängt wahrscheinlich vom Alter ab, und schöne Augen hattest du ja schon immer. Die anderen haben sie wegen deiner dummen Brille nur nicht gesehen. Außerdem tönst du jetzt deine Haare und machst überhaupt mehr aus dir.“

Früher hätte solch eine Aussage mich gefreut, aber ich hatte irgendwie die Fähigkeit verloren, Freude zu empfinden. Im Grunde meines Herzens war es mir gleichgültig wie ich aussah oder was die anderen dachten. Wie Mama treffend bemerkt hatte, fühlte ich fast nichts mehr und gerade deshalb bemühte ich mich besonders, mich anzupassen, und achtete mehr auf mein Äußeres als früher. Dennoch ließ sich eine Mutter wohl niemals täuschen.

Hinzu kam, dass ich überhaupt kein Interesse an Jungs verspürte. Um lästige Annäherungsversuche des anderen Geschlechts abzuwehren, hielt ich sogar oftmals Marks Hand, wenn wir mit Lena und Philipp gemeinsam unterwegs waren. Mark nahm den Platz eines Bruders ein. Bei ihm war ich mir sicher, dass er bloß freundschaftliche Gefühle für mich hegte.

Mit Charles war es anders. Bei ihm fühlte ich mich einfach geborgen. In seiner Gegenwart erschien mir die Welt heller, als blitzten durch die Dämmerung die ersten Sonnenstrahlen. Es war, als lernten meine Augen etwas von der Umgebung zu erkennen, und das Lachen kam manchmal spontan, nicht bewusst gesteuert wie sonst.

 

Sein Appartement lag wie erwartet in einem für mich schwindelerregend hohen Wolkenkratzer und bot einen fantastischen Blick auf die New Yorker Skyline sowie eine quirlige Großstadt aus einem Meer von Hochhäusern, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte.

Es war sehr geräumig, verfügte über mehrere Zimmer, Bäder und eine Küche, die für einen alleinlebenden Mann, der kaum aß, erstaunlich gut ausgestattet war.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragte er, nachdem er meinen Koffer in dem großen hellen Gästezimmer - mit eigenem Bad! - abgestellt hatte, in das ich für die nächsten Wochen oder eventuell gar Jahre einziehen durfte.

„Ja, danke, Wasser. Und bitte ohne Eis.“

Er lächelte wissend. „Daran hast du dich bis zum Schluss nicht gewöhnen können.“ Er holte aus dem Küchenschrank, nicht aus dem Kühlschrank, eine Wasserflasche und goss mir ein Glas ein.

„Du weißt es noch?“, fragte ich überrascht.

Es gab einige Dinge in Amerika, an die ich mich zu gewöhnen bis zum Schluss Probleme hatte, wozu eiskalte Getränke und ebenso die frostigen Raumtemperaturen im Sommer gehörten. Jetzt stellte ich fest, dass es in dem Zimmer deutlich weniger kühl war als in Gebäuden in Amerika üblich.

„Du hast die Klimaanlage wärmer eingestellt“, fügte ich leise hinzu. Er hatte wie stets an alles gedacht. Das hätte ich wissen müssen.

„Mir gefällt es so auch besser. Ich bin selber kühl genug“, antwortete er lapidar.

Das war das Merkwürdige an ihm. Egal wie hoch das Außenthermometer auch kletterte, fühlte er sich stets angenehm kühl an. Und beim letzten Besuch im Sommer in Berlin hatte er gar des Öfteren meine Hand gehalten, um sie mit seiner zu kühlen. Aber in unserer Beziehung hatte es trotzdem keine weitere Entwicklung gegeben. Einerseits sicherlich, weil ich mir über meine eigenen Gefühle im Unklaren war. Andererseits, weil er keinen Schritt in dieser Hinsicht unternommen hatte.

„Ja, im Sommer ersetzt du eine Klimaanlage“, scherzte ich.

Er warf mir einen kurzen Blick zu, der meine Gewissheit verstärkte, dass bald eine Entscheidung anstand. Wenn ihm meine Zuneigung reichte, die ich ihm derzeit entgegenzubringen im Stande war, dann würde ich mich für ihn entscheiden. Schließlich war er der einzige Mensch, der mich wirklich zum Lachen brachte und mir Trost spendete. Auf keinen Fall wollte ich ihn verlieren. Das zumindest wusste ich mit Sicherheit.

„Möchtest du dich ein wenig hinlegen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich sollte lieber versuchen, möglichst lange wach zu bleiben, um mich schneller an die Zeitumstellung zu gewöhnen.“

„Gut, dann gehen wir jetzt in den Park und danach essen. Wenn du dann immer noch munter bist, schauen wir uns die Stadt an“, schlug er lächelnd vor.

Sobald er mich betrachtete, leuchteten seine dunklen Augen voller Wärme, während gleichzeitig beinah zwangsläufig seine Lippen sich zu einem Lächeln formten.

„Central Park, meinst du?“, fragte ich freudig. Von dem hatte ich oft gehört, für mich war er der Park in New York.

„Sicher, ich weiß ja, dass du gerne dahin wolltest“, bestätigte er; meine Wünsche vergaß er nie. Tante Barbara hatte recht. Ein besserer Mann würde nirgendwo zu finden sein.

Das Wetter war ideal für einen Parkbesuch. Ich trug ein leichtes ärmelloses Sommerkleid. Bis vor ein paar Jahren hätte ich mich wegen meiner Neurodermitis niemals getraut, so etwas anzuziehen. Nun schien die Sonne angenehm warm auf meiner Haut und brannte und juckte nicht mehr wie früher. Überhaupt war meine Haut unvergleichlich widerstandsfähiger und schöner geworden. Damit gehörte ich eindeutig zu den beneidenswerten Mädchen - besser gesagt jungen Frauen, schließlich war ich 19 -, die in der Pubertät von einem hässlichen Entlein zu einem schönen Schwan mutierten.

Ich müsste nur noch schaffen, mehr Freude zu empfinden, dann wäre mein Leben perfekt. Eventuell lag es einfach an Hormonschwankungen. Früher jedenfalls gehörte ich eher zu den Menschen, die sich über alles freuen konnten.

Allmählich stellte ich die Vermutung der anderen infrage, mein Gemütszustand solle etwas mit Daeren zu tun haben. Wenn er mir angeblich wirklich so viel bedeutet hätte, müsste doch zumindest ein wenig Erinnerung vorhanden sein. Aber da war nichts. Und was wichtiger war: Ich fühlte nichts, wenn ich an ihn dachte. Kein bisschen Schmerz, Wehmut oder Herzflattern. Absolut nichts. Einzig die seltenen nächtlichen Träume von seinen schmerzerfüllten Augen machten mir zu schaffen. Und es waren diese Augen, die mich an der Spekulation, er habe sich von mir getrennt, zweifeln ließen. Denn sie waren eindeutig die eines Verlassenen, der weiterliebte.

Andererseits aus welchem Grund hätte ich ihn verlassen sollen? Und warum erinnerte ich mich an nichts? Nein, irgendwie musste es für all das eine andere Erklärung geben. Außerdem kamen die Träume erst seitdem ich wieder in Deutschland war und nicht gleich nach dem Unfall.

Es wurde Zeit, dass ich anfing, mein Leben in die Hand zu nehmen und mir selbst zu meinem Glück zu verhelfen. Deshalb war ich hier. Charles war nicht nur aufmerksam und in jeder Hinsicht verständnisvoll, er war auch erfolgreich und selten gut aussehend. Vor allem war das Allerwichtigste, dass er mich liebte, wie mir in dieser kurzen Zeit unseres Wiedersehens deutlich bewusst wurde. Sein bisheriges Zögern beruhte höchstwahrscheinlich darauf, dass er mir Zeit geben wollte, mir selbst über meine Gefühle klar zu werden. Er war halt erfahrener und rücksichtsvoller als die meisten anderen Menschen.

 

Da der Park mir gefiel und ich einen starken Bewegungsdrang nach dem langen Sitzen im Flugzeug spürte, verbrachten wir dort eine ziemlich lange Zeit. Wie stets war er ein fürsorglicher, aufmerksamer Begleiter, der nicht nur jede Menge interessante Dinge zeigte und erklärte, sondern ebenso auf meine Bedürfnisse, wie Hunger oder Durst, achtete. Obwohl er selbst selten aß oder trank, vergaß er nie, dass ich ein guter Esser war und welche Speisen zu meinen Lieblingsgerichten zählten. So probierte ich seinem Rat folgend den bestschmeckenden Hot Dog meines Lebens – er war Vegetarier, verhielt sich aber immer tolerant gegenüber meinem Appetit auf Fleisch – und fühlte mich fast glücklich. Ein beinah vergessenes Gefühl.

Als wir wieder loszogen, grinste ich ihn von der Seite an und schob meine Hand in seine.

„Brauchst du eine Klimaanlage?“, fragte er lächelnd und umschloss sanft meine Hand.

„Ich bin froh, dich zu sehen“, antwortete ich einfach.

Das Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. „Ich erst“, flüsterte er, während der Druck seiner Hand zunahm.

Nach der Rückkehr in die Wohnung übermannte mich doch die Müdigkeit.

„Bist du sehr enttäuscht, wenn ich mich jetzt hinlege?“, fragte ich mit einem schlechten Gewissen. An sich stand noch ein Willkommensdiner auf unserem Plan.

„Nein, du hast ohnehin wesentlich länger durchgehalten, als ich vermutet habe“, sagte er verständnisvoll. „Ich weiß ja, wie viel Schlaf du brauchst.“

Er gehörte zu den Menschen, die mit extrem wenig Schlaf zurechtkamen und hatte mich seit Langem wegen meines erhöhten Schlafbedarfs aufgezogen.

„Wie wäre es, wenn du mich nach einer Stunde wecken würdest, dann könnten wir doch noch essen gehen“, schlug ich besorgt vor. Schließlich hatte er bislang nichts zu sich genommen.

„Nein, ich kann hier eine Kleinigkeit essen. Wenn du keinen Hunger hast, gehe lieber richtig ins Bett. Wir haben genug Zeit. Du weißt, ich habe Urlaub.“

„Schade, das wäre echt praktisch, wenn ich genauso wenig Schlaf bräuchte wie du.“

„Es gibt Menschen, die benötigen mehr als du. Außerdem können wir dafür morgen umso früher losgehen, was sowieso zu empfehlen ist, denn die meisten Touristenattraktionen muss man eh zeitig besuchen“, versuchte er mich zu trösten und stand gleich auf, um mir auffordernd seine Hand zu reichen.

Dankbar ergriff ich sie und ließ mich an beiden Händen hochziehen, wobei ich unbeabsichtigt in seine Arme fiel. Er roch so herrlich nach frischem Wind und seine Brust fühlte sich durch das Hemd so angenehm kühlend an, dass ich am liebsten in dieser Position im Stehen eingeschlafen wäre.

Er schob mich sanft von sich und drückte kaum spürbar einen leichten Kuss auf meine Stirn.

„Schlaf schön, Dora.“

Jedes Wort floss in mich wie eine Liebkosung und schickte ein wohliges Kribbeln durch die Adern.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich, wie er prophezeit hatte, bereits beim Morgengrauen. Daher erschien ich frühzeitig fertig gekleidet in der Küche und entdeckte ihn zu meiner Überraschung beim Rühren des Haferbreis.

„Guten Morgen“, begrüßte er mich gut gelaunt. „Dein Essen ist gleich fertig.“

„Guten Morgen, du bist ja schon wach“, grüßte ich ihn verblüfft zurück. „Und machst sogar Essen.“

„Du weißt doch, ich schlafe kaum“, erwiderte er und füllte den Brei in eine kleine Schüssel. „Ich hoffe, er ist so geworden, wie du ihn magst.“

„Bestimmt, du machst doch alles gut“, erwiderte ich spontan.

Er warf mir ein belustigtes Lächeln zu und stellte die Schüssel auf den Tisch. „Seit wann schmeichelst du mir?“

„Ich sage bloß die Wahrheit“, konterte ich ungerührt und nahm Platz.

Er setzte sich mir gegenüber. „Du siehst wunderschön aus“, entschied er mich gefällig musternd.

Ich grinste. „Und seit wann schmeichelst du mir?“

Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Meinen Mund verlässt ebenfalls ausschließlich die Wahrheit. Ich mag es, wenn du die Haare hochsteckst, dadurch kommt dein Hals besonders schön zur Geltung.“

Wie zur Bekräftigung seiner Aussage glitt sein offener Blick, zu dem eindeutig nur ein hoffnungslos Verliebter fähig war, von meinem Gesicht zu meinem Hals.

„Oh, das wusste ich nicht. Gut, dann werde ich sie in Zukunft immer so tragen“, entgegnete ich etwas verlegen.

Er sah mir in die Augen. „Es freut mich, dass dir meine Meinung wichtig zu sein scheint.“

„Sie ist mir sehr wichtig“, gab ich flüsternd zu. Gleichzeitig wurde mir bewusst, meine Entscheidung soeben laut kundgetan zu haben.

Wir verließen die Wohnung am frühen Morgen. Der Tag versprach genauso warm zu werden wie gestern. Wie Abermillionen vor mir besuchten wir die bekannten New Yorker Sehenswürdigkeiten wie das Empire State Building, das Rockefeller Center und das berühmte Naturkundemuseum.

Er führte mich durch all diese Orte wie ein professioneller Guide, nein, besser, so charmant und fürsorglich war kein Guide der Welt. Er schaffte spielerisch mein Interesse zu wecken, so dass ich ihm die ganze Zeit gebannt zuhörte und vieles wahrnahm, auf das ich allein niemals aufmerksam geworden wäre.

Als wir nach dem üppigen Dinner in einem feinen Restaurant, in dem ich mich anfangs ziemlich unwohl fühlte, aber es durch seine behutsame Hilfe und Gespräche letzten Endes vollauf genießen konnte, zur Wohnung zurückkehrten, war es bereits spät.

Ich stand am Fenster und beobachtete fasziniert die für mich ungewohnte Nachtsilhouette einer Wolkenkratzer-Stadt mit ihren bunten Lichtern.

Er stellte sich dicht hinter mich. „Bist du müde?“, fragte er leise und ließ seine Hände auf meine Schultern sinken. Sie kühlten angenehm meine von der Sonne erhitzte Haut.

„Nein, es war wunderschön“, sagte ich, legte meine Hände auf seine und fügte leise hinzu. „Dank dir.“

Ich spürte seinen kühlen Atem auf meinem Nacken und schloss die Augen. Die Entscheidung war gefallen, ich würde bei ihm bleiben. Bei keinem anderem fühlte ich mich geborgener.

Seine Lippen berührten leicht wie ein Windhauch meinen Nacken, streiften den Hals entlang bis zur Schulter, dann drehte er mich sanft zu sich um. Ich schlang meine Arme um seinen Hals und schaute zu ihm auf. Seine nachtschwarzen Augen erwiderten meinen Blick voller Liebe.

„Hast du überhaupt eine Ahnung, wie sehr ich dich liebe?“, fragte er leise, während er mich vorsichtig in seine Arme schloss, als wäre ich zerbrechlich.

„Nein, sag es mir“, bat ich flüsternd, den Blick fest in seine dunklen, leuchtenden Augen geheftet.

„Ich habe dich seit unserer ersten Begegnung geliebt. Aber ich wusste, dass viel Geduld nötig wäre. Du warst noch so jung“, gestand er endlich und zog mich näher an sich.

„Jetzt musst du nicht mehr geduldig sein“, hauchte ich überzeugt und streckte mein Gesicht zu ihm empor. Meine Augen schlossen sich von selbst erwartungsvoll, als seine Lippen sich sanft auf meine legten.

Im selben Moment blitzten durch meine geschlossenen Lider jene blauen Augen aus meinen Träumen auf. Erschrocken riss ich meine Augen auf. Die riesigen tiefblauen Augen, in denen unvorstellbare Qual lag, füllten den gesamten Raum vor mir. Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr meinen Körper. Unwillkürlich aufkeuchend sank ich in die Tiefe.

„Dora, Liebes. Hörst du mich?“, erklang Charles sanfte, aber bestürzte Stimme. Benommen schlug ich meine Augen auf und erblickte sein besorgtes Gesicht dicht vor mir.

„Was … war …“, stieß ich mühsam hervor.

„Du hast plötzlich aufgestöhnt und das Bewusstsein verloren“, sagte er und legte seine Hand auf meine Stirn. „Du bist sehr blass. Hast du irgendwo Schmerzen? Möchtest du etwas trinken?“

„Ja, trinken wäre gut“, krächzte ich durch meine zugeschnürte Kehle.

In Windeseile brachte er ein Glas Wasser, stellte es auf den Tisch und hob vorsichtig meinen Kopf hoch. Erst da merkte ich, dass ich auf der Couch lag und richtete mich mit seiner Hilfe auf. Mein Körper war schwach wie nach einer langen Krankheit. Selbst das Trinken kostete Mühe, so dass ich nach ein paar Schlucken meinen Kopf erschöpft an seine Schulter sinken ließ.

Er stellte das Glas zurück und legte seinen Arm liebevoll um mich. „Wie fühlst du dich?“, fragte er besorgt und strich mir zärtlich meine Haare aus dem Gesicht.

Ich lehnte mich enger an ihn, vergrub mein Gesicht an seiner kühlen Brust. Mein Herz schlug wie wild.

„Diese Augen …“ murmelte ich schwer atmend.

„Welche Augen?“, fragte er irritiert.

„Ich weiß es nicht. Ich träume manchmal von irgendwelchen Augen, die ich nicht kenne. Aber bisher habe ich sie nur im Traum gesehen“, antwortete ich schwach. Ich fühlte mich ganz benommen.

Abrupt ließ er seine Hand sinken, die bislang meinen Rücken sanft gestreichelt hatte.

„Wie … sehen sie aus?“ Seine Stimme klang merkwürdig gepresst.

„Sie sind tiefblau und so … leidend.“ Kaum sprach ich es aus, zog sich mein Herz krampfartig zusammen. Erneut rang ich nach Atem.

Plötzlich spürte ich eine starke Anspannung seines Körpers, hob verwundert meinen Kopf und erschrak. Er war vollkommen blass. Was mich aber zutiefst erschütterte, waren seine dunklen Augen, die mich mit demselben gequälten Ausdruck anblickten wie jene tiefblauen. In ihnen war keine Spur mehr von der Liebe zu finden, die bis vor Kurzem so warm aufblitzte, wenn er mich ansah.

Die Erkenntnis traf mich vollkommen unvorbereitet. Dass es vorbei war. Dass ich ihn verloren hatte. Für immer. Verwirrt von meiner Gewissheit, die durch nichts zu erklären war, starrte ich ihn bloß groß an.

Er schloss kurz seine Augen und als er sie wieder aufschlug, war der schmerzhafte Ausdruck aus ihnen verschwunden. Sie wirkten nun leblos, gänzlich leer.

„Es ist besser, wenn ich jetzt gehe“, sagte er leise.

„Charles“, hauchte ich verzweifelt.

Meine Gefühle überschlugen sich, übernahmen all meine Handlungsfähigkeit und machten mich sprachlos. Mein Verstand begriff nicht, warum er gehen wollte, warum er so reagierte, wenngleich mein Herz irgendwie einsah, dass ihm keine andere Wahl blieb.

„Du hast die Schlüssel und kannst selbstverständlich hier wohnen, solange du möchtest. Jane und William wollten dich morgen oder übermorgen besuchen kommen. Vielleicht schaue ich nach ein paar Tagen vorbei“, sprach er emotionslos wie eine Maschine und stand auf.

Zitternd erhob ich mich. Durch eine dichte Nebelwand beobachtete ich, wie er die Wohnungstür öffnete und hinausging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Das Licht aus dem Flur warf hinter ihm einen langen dunklen Schatten, dann fiel die Tür zu.

„Charles, bitte verlasse mich nicht“, flehte meine erstickte Stimme.

Sie hallte in die Dunkelheit des leeren Eingangsbereichs. Wie versteinert stand ich da und starrte auf die Tür. Irgendwann ließ ich mich auf den Boden sinken und begann zu weinen. Soeben erlosch der letzte Hoffnungsschimmer, das letzte Licht in meinem Leben, ohne dass ich hätte erklären können, wie es geschehen war.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es wehte ein leichter Luftzug ins Zimmer und vom Eingang klang leise ein Geräusch, wie beim Schließen einer Tür.

Charles, er ist doch zurückgekehrt, schoss mir durch den Kopf.

Hastig sprang ich auf und eilte stolpernd zur Tür. Der Eingangbereich lag in völliger Dunkelheit. Ich glaubte schemenhaft den Umriss eines Menschen zu erkennen.

„Charles?“, zitterte meine Stimme hoffnungsvoll.

Aber er gab keine Antwort.

Mit einem Mal schlug eisige Kälte auf meine Brust und schnürte mir die Kehle zu. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter. Dann umgab mich die Finsternis.

Daeren - Entführung

Nein!

Wenn ich sterbe, dann fängt dein Leben erst an!

Schweißgebadet schreckte ich auf. Die schmerzerfüllte Stimme hallte noch lange in meinen Ohren nach. Es war einmal mehr die Erinnerung, die mich jeden Tag, jede Stunde quälte, die mich in dieser Dunkelheit, in der nichts existierte, gefangen hielt. Dann traf mich aufs Neue die seit jenem Tag stets wiederkehrende Erkenntnis.

Sie ist gegangen.

Für immer.

Mir war von Anfang an klargewesen, dass dieser Tag irgendwann kommen würde, dass mein Glück nicht ewig währen würde. Solche vollkommene Freude, solches unbeschreibliche Empfinden war nicht für die Ewigkeit geschaffen. Das war mir seit Langem bewusst. Genauso gut wusste ich, dass ich ihr niemals das geben konnte, was sie verdient hätte. Ihre letzten Sätze, die sie bis zu jenem Tag nie ausgesprochen hatte, hinterließen eine unheilbare Wunde und hinderten mich, ihre Entscheidung infrage zu stellen.

Zweifellos war sie zu gut für mich und mein Bestreben, sie für mich behalten zu wollen, bedeutete ein unfaires Unterfangen ihr gegenüber.

Sie hatte recht. Ich verlangte ihr ganzes Leben für mich, während ich ihr nur einen Bruchteil meines eigenen gab. Ich verzichtete auf nichts. Selbst in der Zeit, als sie bei mir war, hatte sie keine ausreichende Fürsorge durch mich erfahren. Wie schwer es gewesen sein musste, in der für sie so fremden Welt zurechtzukommen, wie einsam sie sich gefühlt haben musste. Von alldem hatte ich letzten Endes keine Ahnung gehabt.

Jedes Mal, wenn ich die Aufzeichnungen betrachtete, auf denen sie zu sehen war, insbesondere die von dem Willkommensball, zog sich mein Herz erneut schmerzhaft zusammen. Ihr verängstigtes, verlassenes Gesicht, das vor den neugierigen Blicken der anderen hinter Blätterwerk Schutz gesucht hatte und trotzdem jedes Mal aufblühte, wenn sie mich erblickte…

Ich war mir nicht sicher, was mir mehr zu schaffen machte; die Erkenntnis, dass sie mich verlassen hatte, oder meine Unfähigkeit, ihre Bedürfnisse so zeitig zu erkennen, dass noch die Möglichkeit bestanden hätte, auf sie einzugehen.

Sicher war dagegen, dass seitdem die Welt für mich stillstand. Erinnerungen an die ersten Monate danach existierten nicht, auch die darauf folgenden Monate blieben schemenhaft. Ich ging zur Akademie, erledigte meine Aufgaben, traf aber weder Freunde noch suchte ich irgendwelche Beschäftigungen. Ich saß immerzu allein in einem meiner Räume, in dem all ihre Sachen ausgebreitet lagen und ließ ununterbrochen die Aufzeichnungen laufen, die sie zeigten. Sie hatte alles zurückgelassen, selbst ihr Tagebuch, dessen Inhalt ich Zeile für Zeile, Wort für Wort auswendig aufsagen konnte.

Mein Verstand akzeptierte ihren Entschluss und ich strengte mich an, mein Leben weiterzuleben und so gut wie möglich meinen Verpflichtungen nachzukommen.

Nur schien für mich seitdem die Sonne nicht mehr, auch kein Vogel sang oder irgendwelche Blumen dufteten. Weder hörte ich Lachen noch schmeckte etwas. Ich hatte kein Bedürfnis jemanden zu sehen oder zu sprechen. Es war, als hielte mich tiefste Finsternis, in der nichts existierte, gefangen.

Das Einzige, was ich unentwegt empfand, war der Schmerz um das Wissen, dass sie sich nicht mehr an mich erinnern würde, dass ich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war. Diese Erkenntnis zerriss mir jeden Tag, jede Stunde aufs Neue das Herz und hinterließ eine unerträgliche Leere.

Plötzlich endete die Aufnahme. Irritiert richtete ich mich in meiner Liege auf, um sie erneut in Gang zu setzen. Erst da entdeckte ich Dania.

„Daeren, ich habe sie ausgeschaltet“, sagte sie leise und lächelte mich traurig an.

Ich muss irgendeine wichtige Verpflichtung versäumt haben, dachte ich dumpf. Sonst gab es keinen Grund für Dania, in meine Räume zu kommen.

„Was habe ich vergessen?“ Fragend erhob ich mich mühsam.

„Nein“, erwiderte sie sanft. „Setz dich. Ich möchte mit dir reden.“

Verwundert schaute ich sie an. Mir war absolut unklar, worüber sie sich mit mir unterhalten wollte.

„Daeren, ich verstehe deinen Schmerz“, begann sie vorsichtig. „Aber irgendwann einmal muss damit Schluss sein. Du kannst nicht dein Leben lang trauern.“

Mir fiel keine Erwiderung ein. Bis zu diesem Moment hatte mich keiner wegen dieses Themas direkt angesprochen. Zumindest erinnerte ich mich nicht daran.

„Weißt du überhaupt, wie es seitdem im Haus aussieht? Es … es gleicht einem Mausoleum. Mutter lacht nicht mehr, nicht einmal der Ansatz eines Lächelns erscheint auf ihrem Gesicht. Selbst Vater hat aufgegeben, sie aufzumuntern, und wir alle sitzen am Tisch seit Jahren schweigend beisammen. Rinna weint immer noch manchmal und glaubt, du wirst ihr niemals vergeben, dass sie damals Dora half.“

Mit gesenktem Kopf hörte ich ihr zu. Alles, was sie erzählte, tat mir leid. Es lag mir fern, andere wegen meines persönlichen Unglücks in Mitleidenschaft zu ziehen. Nur wusste ich nicht, wie das zu ändern war, wie dieser Welt aus Dunkelheit und dumpfem, nie aufhörendem Schmerz zu entkommen war.

„Daeren, ich erwarte nicht, dass du sie vergisst. Dennoch will und muss ich dich daran erinnern, dass du, wie jeder von uns, deiner Familie und deinen Freunden gegenüber gewisse Verpflichtungen hast. Bemühe dich, ein normales Leben zu führen, indem du dich wieder mit Freunden triffst, dich ein wenig an Gesprächen beteiligst. Es muss nicht einmal von Herzen kommen. Tu es einfach für Mutter, für die Familie, so dass wir wieder zu unserem alten Leben zurückkehren können, das Gespräche und auch Lachen beinhaltet. Es ist tragisch genug, wenn du so sehr leidest. Aber lasse es nicht zu, dass alle, die dich lieben, ebenso in dieser nicht enden wollenden Trauer ersticken.“

Es geschah zum ersten Mal, dass Dania mich zurechtwies. Bedingt durch den großen Altersunterschied war sie mir mein Leben lang nachsichtig wie eine Mutter und nicht wie eine Schwester begegnet. Sie hatte mich bislang kein einziges Mal an meine Verpflichtungen erinnert. Umso mehr beschämte mich ihr offener Tadel. Ich war selbstsüchtig, hatte keine Sekunde an die anderen gedacht, wie sie mit meinem Zustand umgingen, was es für Mutter bedeutete, mich tagtäglich so zu erleben.

Es reichte, wenn ich trauerte, wenn mein Leben vorbei war.

„Dania, es tut mir leid“, flüsterte ich. „Ich werde deinen Rat beherzigen.“

Wortlos umarmte sie mich und verließ das Zimmer.

Ich lehnte mich an die Tür und blickte durch den Raum. Von allen Seiten sprangen mir Doras Kleider, ihre Bordtasche, ihre Schuhe, ihr Tagebuch und die Briefe ins Auge. Ich schaltete den Stift für die Aufnahmewiedergabe aus, schaute ein letztes Mal auf all die verstreut liegenden Sachen und holte tief Luft. Dann verließ ich entschlossen den Raum. Meine Hand zitterte, als sie die Tür verriegelte.

Es war so weit, Abschied zu nehmen. Die Zeit mit Dora war endgültig vorbei. Dieser Raum würde für immer verschlossen bleiben.

„Hallo, Daeren“, ertönte Taurus sorgsam kontrollierte, dennoch ungläubige Stimme. „Freut mich wirklich, dass du gekommen bist.“ Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Ich hatte es doch versprochen“, erwiderte ich unbeholfen.

Es war eine von Baana und Rinna organisierte kleine Party, zu der ich, zu Taurus Überraschung, Rinna zugesagt hatte zu kommen. Sie begegnete mir anders als früher, unvergleichlich vorsichtiger und nachsichtiger, als wäre sie schuld an meinem Unglück, was mir umso mehr leid tat. Daher war ich bemüht, ihre stets zaghaften Vorschläge, mit Freunden etwas zu unternehmen, möglichst nicht abzulehnen.

Ich hatte nach dem Gespräch mit Dania noch am selben Abend schmerzhaft erkannt, wie stark mein Verhalten die gesamte Familie belastete, welch dunkler Schatten auf Mutters Gesicht lag, und wie schnell dieser Schatten auf ihrem Gesicht sich in ein Lächeln verwandelte, als ich begann, mich mit ihr über belanglose Dinge zu unterhalten.

Die Reaktionen von Tauru und meinen anderen Freunden, vor allem die von Rinna, fielen nicht minder freudig aus, was mich zutiefst beschämte. Dania hatte recht. Es reichte, wenn ich litt, woran nun mal nichts zu ändern war. Aber ich durfte nicht zulassen, dass meine Trauer all die, die mir nahe standen, in mein Leid hineinzog. Das schuldete ich ihnen und ihrer mir entgegengebrachten Liebe.

„Das ist Marscha, meine Cousine. Sie ist neu hier auf JaRen-Stadt, weil ihre Familie bisher im Ranor-System gelebt hat. Ihr Vater ist der Gründer des bekannten Schiffbaukonzerns Dlischan“, stellte mir Baana ein rothaariges Mädchen in ihrem Alter vor. „Sie ist etwas schüchtern, weil sie noch nie mit einem Rensha direkt gesprochen hat.“

Ein Paar meerestiefgrüner Augen blickte mich scheu an.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Marscha Shi“, begrüßte ich sie lächelnd.

„Es ist mir eine Ehre, Euch persönlich begrüßen zu dürfen, Daeren Rensha“, sagte sie fast flüsternd und verneigte sich vor mir.

Ich erstarrte.

Ein Schmerz, aber gleichzeitig eine vergessene Freude durchströmten meinen Körper. Sie schlugen auf die Oberfläche meiner Wunde, verursachten ein Kräuseln. Eine erste Gefühlsregung in dem ewig währenden dumpfen Schmerz. Ich war dermaßen verwirrt, dass ich sie einen Augenblick lang nur anstarrte.

„Seit wann wohnen Sie hier?“, kam die Frage selbstständig über meine Lippen. Erst dann registrierte ich, dass ich es gewesen war, der diese Frage gestellt hatte.

„Nicht lange, erst seit ein paar Tagen“, antwortete sie.

In diesem Moment wurde mir bewusst, weshalb ich wollte, dass sie sprach. Aber ich ignorierte meine Beweggründe und bot ihr meinen Arm an, um sie zum Tanz aufzufordern. Den ganzen Abend wich ich nicht mehr von ihrer Seite. Ich wollte, dass sie weiter mit mir sprach, dass sie nie aufhörte zu reden.

Beim Abschied bat mich Rinna strahlend. „Onkel, komm doch morgen zu unserem gemeinsamen Frühstück mit Baana und Tauru. Marscha wird auch da sein.“

Vielleicht hätte ich über die möglichen Konsequenzen nachdenken sollen. Aber andererseits, was hätte es gebracht?

Seitdem sah ich Marscha jedes Mal, wenn wir uns bei Tauru trafen. Ich fragte sogar nach, ob sie dabei sein würde. Rinna war überglücklich über diese Entwicklung. Baana und meine anderen Freunde zeigten sich ebenfalls erfreut darüber. Nur Tauru äußerte sich seltsamerweise kein einziges Mal und hüllte sich in Schweigen.

Dann kam es, wie es nicht anders zu erwarten war.

Es war spätabends, ich begleitete Marscha zu ihrem Wohnsitz und als ich mich verabschieden wollte, bat sie mich, noch ein wenig zu bleiben.

Ihre Stimme klang angespannt. „Daeren Rensha. Ich … Es fällt mir schwer, über solche Dinge zu reden. Ich habe noch nie von mir aus so etwas gesagt, aber Rinna und Baana meinten, bei Ihnen müsste ein Mädchen den ersten Schritt machen, weil Sie …“ Sie kaute auf ihren Lippen und senkte verlegen die Augen. Flüsternd gestand sie. „Ich glaube, ich bin hoffnungslos in Sie verliebt.“

Es war ein kleiner Schock. Aber irgendwo tief in mir hatte ich bereits längst geahnt, dass mein Verhalten zwangsläufig irgendwann zu solch einer Situation führen würde. Ich hatte unbedacht, nein in Wirklichkeit aus purem Egoismus ihre Nähe gesucht und sie somit glauben lassen, es bestünde meinerseits Interesse.

„Marscha, es tut mir leid“, gestand ich schuldbewusst. „Aber ich kann Ihnen nicht das geben, wonach Sie suchen.“

Sie drehte sich mit gesenktem Kopf um. Ich stand hilflos da und wusste nicht, womit ich sie trösten sollte.

„Verzeihen Sie bitte meine Dummheit“, bat sie mit erstickter Stimme. „Wie hatte ich mir nur einbilden können, dass ein Rensha sich für mich, ein Mädchen aus der Provinz, interessieren würde.“ Ihre Schultern bebten leicht.

„Nein, es ist nicht so, wie Sie denken“, widersprach ich hastig. „Sie sind nicht dumm. Sie sind wundervoll. Es liegt an mir. Ich … Ich verdiene Ihre Liebe nicht.“

„Bemühen Sie sich nicht. Einfältig wie ich war, dachte ich, Sie verbringen Ihre wertvolle Zeit gerne mit mir. Und dass das bloß aus Mitgefühl …“ Sie konnte nicht weitersprechen. Zwischen unterdrückten Schluchzern wisperte sie. „Ich schäme mich so.“

Verzweifelt und von heftigen Gewissensbissen geplagt, lief ich um sie herum. „Nein, das stimmt nicht. Glauben Sie mir. Ich verbringe meine Zeit mit keinem anderen so gerne zusammen wie mit Ihnen“, beteuerte ich.

„Aber ich bin nicht gut genug für einen Rensha“, meinte sie heiser.

„Nein, ich bin nicht gut genug für Sie“, beschwor ich. „Ich … ich hatte … eine Freundin und habe sie verloren, weil ich unfähig war, ihren Kummer zu erkennen …“

Ein Schmerz durchfuhr mich. Es war zum ersten Mal, dass ich den wahren Grund laut aussprach. Unwillkürlich stützte ich mich auf eine Stuhllehne und rang schwer nach Atem. Meine Brust wurde von allen Seiten qualvoll zusammengepresst. Mit aller Macht versuchte ich, den Schmerz zu verdrängen.

„Sie haben sie sehr geliebt“, stellte sie leise fest. Ihre Hand lag auf meinem Arm, während ihr mitfühlender Blick auf mir ruhte. Ich nickte stumm, zu mehr war ich in dem Moment nicht fähig.

„Heißt das, Sie haben nichts gegen mich?“, fragte sie nach einer Weile zögernd.

Eine Träne fiel glitzernd von ihren Wimpern hinab auf die Wange. Ich wünschte, sie würde aufhören zu weinen und ein Lächeln wieder ihr Gesicht erhellen. Keiner sollte meinetwegen leiden. Nie mehr, solange ich die Macht dazu hatte.

„Nein, wie ich bereits beteuerte, bin ich mit keinem so gerne zusammen wie mit Ihnen. Es ist nur, weil ich Ihre Liebe nicht erwidern kann, wie Sie es verdient hätten. Das ist die Wahrheit“, beschwor ich noch einmal.

„Sie meinen, Sie ziehen kein anderes Mädchen mir vor?“; fragte sie. In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.

„Nein, kein anderes. Ich will mit keinem anderen als mit Ihnen meine Zeit verbringen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

„Aber mehr verlange ich doch gar nicht!“ Ihre Wimpern waren noch nass, dennoch breitete sich ein bezauberndes Lächeln über ihr Gesicht aus. „Ich will doch nur, dass Sie mir erlauben, an Ihrer Seite zu bleiben.“

Ich begriff, dass einzig und allein an mir lag, ob dieses Lächeln weiterhin auf ihrem Gesicht bleiben würde oder nicht. Wenn ich wollte, dass es nicht verschwand, musste ich mich bloß für sie entscheiden. Wenn sie wirklich in mich verliebt war, wie sie sagte, dann würde meine Zusage sie beglücken. Weshalb sollte ich es nicht tun? Es gab keinen Grund, sie zu verletzen, und noch weniger Veranlassung, auf ihre Gesellschaft zu verzichten. Zumal das, was ich ihr soeben beteuert hatte, voll und ganz der Wahrheit entsprach. Es war tatsächlich mein sehnlichster Wunsch, meine Zeit mit ihr zu verbringen. Ich wollte sie auf keinen Fall verlieren.

„Wenn Ihnen das genügt, was ich Ihnen entgegenzubringen im Stande bin ...“, sagte ich und wischte mit meinen Fingern die Tränen vorsichtig von ihrer Wange.

„Oh, Daeren“, rief sie strahlend und fiel mir um den Hals. „Ich bin das glücklichste Mädchen im ganzen Universum! Meine Liebe genügt für uns beide.“

Schüchtern näherten sich ihre Lippen meinen. Ich schloss die Augen und ließ es geschehen. Es war nicht so schlimm wie befürchtet. Sie fühlten sich weich und warm an.

„Du ziehst in ein eigenes Wohnhaus?“, fragte Tayler überrascht.

„Natürlich zieht er um. Schließlich hat er jetzt eine Freundin“, kam Rinna mir zuvor. „Es ist zwar das alte Gebäude meiner Mama, ist aber gut gepflegt und reicht für die erste Zeit bestimmt. Und falls er doch etwas Neues bauen möchte, kann er es immer noch machen.“

„Und willst du es?“, wollte Merrl wissen.

„Ich weiß nicht. Wenn Marscha es möchte …“, zuckte ich mit den Schultern und schaute sie fragend an.

Sie strahlte. „Nein, nicht unbedingt. Obwohl es eine schöne Vorstellung wäre, für dich das Haus einzurichten.“

„Ach, du hast es wirklich gut mit dem Rensha“, seufzte Baana. „Für ihn zählt deine Meinung am meisten. Vor allem vergisst er selbst deine kleinsten Bemerkungen nie und überhäuft dich nicht nur mit Geschenken, sondern macht auch immer wundervolle Komplimente. Ganz anders als Tauru. Er kriegt so etwas nicht einmal mit.“

„Ach, das ist halt ein Charakterzug. Bei Dora war er genauso“, stellte sich Tylor auf Taurus Seite.

„Nein, das stimmt nicht“, widersprach Baana sofort und warf Tylor einen missbilligenden Blick zu. „Ihr hat er nicht jeden Tag Geschenke mitgebracht. Marscha bekommt vom Rensha tagtäglich die schönsten Aufmerksamkeiten.“

„Also, Daeren, hör sofort damit auf“, schlug Merrl grinsend vor. „Sonst kriegen Tauru und Tylor Probleme mit ihren Freundinnen.“

Tauru winkte ab. „Deshalb ist er ein Rensha.“

„Ja, stimmt“, gab Baana widerwillig zu und stand auf. „Also wir gehen dann zu der neuen Modeschau und wie ich euch kenne, wollt ihr sicherlich nicht mitkommen.“

„Nein, es macht auch keinen Spaß, wenn sie dabei sind. Die drängeln nur“, sagte Rinna und fragte Marscha neugierig. „Hat er dir wieder alles versprochen, was du haben möchtest?“

Sie lächelte bloß, woraufhin Baana laut seufzte.

Merrl und Tylor tauschten genervte Blicke aus, während die Mädels das Zimmer verließen. Tauru saß völlig unbeteiligt da und verzog keine Miene, als wäre er mit seinen Gedanken irgendwo anders.

„Dann viel Spaß ihr Frauen“, rief Tylor ihnen laut hinterher und erhob sich ebenfalls. „Merrl und ich müssen noch für die Prüfung lernen.“

„Ja, haben nicht alle so viel Glück und müssen nie lernen wie Tauru und Daeren“, klagte Merrl.

„Stimmt nicht, wir haben schon letzte Woche gelernt“, widersprach Tauru und wandte sich zu mir. „Daeren, hast du Lust zum Fluss zu fahren?“

Irritiert über seinen ungewöhnlich nachdrücklichen Tonfall willigte ich, ohne nach dem Grund zu fragen, ein.

Auf der Wiese am Ufer blieb Tauru stehen und schaute schweigend zum Fluss hinunter. Ich fühlte mich unbehaglich. Dieser Platz erinnerte mich stärker an damals, als mir lieb war. Die Oberfläche meiner Wunde bekam einen Riss.

„Komm, wir gehen wieder.“ Ich drehte mich um und lief ohne zu warten los.

„Daeren, du kannst nicht ewig davonlaufen“, rief Tauru mir leise nach. Seine Stimme klang ernst und traurig.

Abrupt hielt ich an. „Ich weiß nicht, was du meinst“, antwortete ich dann hastig und wollte weiterlaufen.

„Ich weiß, warum du Marscha dauernd Geschenke machst und all ihre Wünsche erfüllst.“

Ich blieb erneut stehen, blickte mich aber nicht um.

„Daeren, du musst kein schlechtes Gewissen haben. Was du für sie empfindest, ist nichts weiter, als das, was die meisten Paare füreinander empfinden. So wie mit Dora wird es nie werden.“

„Tauru, ich möchte nicht darüber reden“, presste ich mühsam hervor. Ich spürte, wie die tief vergrabene Wunde aufzureißen, zu bluten begann.

„Ich habe bisher nie darüber gesprochen“, fuhr Tauru ungeachtet meiner Bitte fort. „Weil du Zeit gebraucht hast. Aber irgendwann musst du es einsehen. Nein, endlich begreifen, dass das, was du mit ihr erlebt hast, etwas Einmaliges, ja, ein Wunder ist. Die Allermeisten erfahren nie im Leben auch nur einen Hauch dessen! Es ist etwas so Einzigartiges, das wahrscheinlich nur alle paar Millionen Jahre vorkommt!“

Plötzlich hörte er auf zu reden. Langsam drehte ich mich zu ihm um. Unendliche Trauer überschattete sein Gesicht.

„Ich habe dich nie beneidet, wie viele andere unserer Freunde. Ich wusste schon immer, welch eine Bürde dein Geburtsrecht ist. Damals, als du zur Erde musstest, habe ich dich zutiefst bedauert. Dann kamst du mit Dora zurück... Als ich euch zum ersten Mal zusammen traf… Ich war erschüttert. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass jemand so sehr liebt. Wie sie dich angeschaut hat, wie sie aufblühte, wenn sie dich ansah… „

Er pflückte ein paar Blätter von einem Strauch und zupfte sie auseinander, den Blick fest zu Boden gerichtet. Seine Stimme wurde leiser. „Ich begann, dich um ihre Liebe dermaßen zu beneiden, dass es mir gar manches Mal weh tat. Ich habe ein solches Gefühl nie empfunden. Es war zum ersten Mal, dass ich dir oder überhaupt jemandem etwas so sehr missgönnt habe. Und das Allerschlimmste war: Ich konnte dagegen nichts machen. Jedes Mal, wenn ich euch traf, erwachte unweigerlich der schmerzhafte Wunsch, von einem Mädchen genauso geliebt zu werden wie du. Mir hätte ein einziges Mal, ein einziger Tag genügt.“ Er hob seinen Kopf und sah mir ins Gesicht. „Irgendwann merkte ich, dass nicht nur ihre, sondern auch deine Liebe etwas Einzigartiges war. Da begriff ich, warum ich niemals Vergleichbares erfahren würde. Und das ist der wahre Grund, weshalb ich mich nicht von Baana getrennt habe. Ich liebe sie nicht mehr, als sie mich liebt. Mit welchem Recht sollte ich ihr dann vorwerfen, dass ihre Liebe nicht groß genug ist?“ Er sah mir direkt in die Augen. „Daeren, ich will dir hiermit sagen, dass du dankbar sein solltest, überhaupt derart Besonderes erlebt zu haben, und das über ein Jahr lang! Die meisten von uns lernen solch ein Wunder nie in ihrem Leben kennen! Also, was du jetzt für Marscha empfindest, ist etwas völlig Normales. Es ist eine ganz gewöhnliche Beziehung wie sie Millionen andere ebenfalls führen! Oder bist du doch so hochmütig, dass du ständig erwartest, dir stünde mehr als allen anderen zu?“

Sein überraschend offenes Geständnis berührte und beschämte mich zutiefst. Es stimmte, ich war undankbar. Wenn auch meine Wunde niemals heilen würde, war dennoch was ich mit Dora erlebt hatte, ein unvorstellbares, einmalig kostbares Geschenk gewesen. Das hätte ich wesentlich früher erkennen müssen.

„Eins noch, Daeren. Der Beweggrund, aus dem du mit Marscha zusammen bist, ist in meinen Augen nichts, wofür du dich schuldig fühlen musst. Sie hätte sich auch nicht so schnell geschmeichelt gefühlt, wenn du kein Rensha wärest.“

„Du kennst... den Grund?“, fragte ich betroffen.

Er nickte schwach. „Aber ich muss zugeben, ich habe ziemlich lange dafür gebraucht, weil ihre Aussprache selbstverständlich perfekt ist. Anfangs dachte ich, sie hätte äußerlich Ähnlichkeit mit Dora. Danach vermutete ich, es läge an ihrer Art. Aber weder äußerlich noch vom Wesen her glich sie Dora. Erst vor Kurzem fiel mir auf, dass sie manche Vokale, insbesondere wenn a und e zusammen gesprochen werden, ein wenig zu lang zieht, genau wie Dora.“

Ich fühlte mich ertappt. Er traf mit seiner Vermutung ins Schwarze. Damals, als Marscha zum ersten Mal meinen Namen ausgesprochen hatte, war es mir, als umwehte mich ein Hauch von Dora. Dieses Empfinden erweckte in mir ein derartiges unstillbares Verlangen, ihre Stimme noch einmal zu hören, dass ich unfähig war, ihr von der Seite zu weichen. Dies war immer noch der wirkliche Grund, weshalb ich ihre Nähe suchte und sie jeden Tag sehen musste.

„Du bist ein guter Beobachter“, räumte ich unbehaglich ein. „Hoffentlich fällt es nicht noch anderen auf.“

Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum. Selbst ich habe es bloß bemerkt, weil ich dich so gut wie kein anderer kenne und darauf geachtet habe. Ich war mir sicher, dass ein Mädchen deine Aufmerksamkeit nur erringt, wenn sie dich an Dora erinnert.“

„Und trotzdem meinst du, ich brauche kein schlechtes Gewissen zu haben?“, fragte ich verwundert.

„Warum? Muss man sich rechtfertigen, dass man mit jemandem gerne zusammen ist? Sie ist überglücklich, weil sie die Freundin eines Renshas ist und du zu ihr überaus großzügig bist. Dafür tröstet sie dich ein wenig. Also was soll daran falsch sein?“

„Ich habe nicht gewusst, was für ein Pragmatiker du bist.“

Er grinste schwach. „Das habe ich einzig und allein dir zu verdanken.“

Ich sah tiefe Trauer in seinen Augen und senkte meinen Blick. „Tut mir leid.“

Er drückte kurz meinen Arm. „Nein, ich habe durch dich mehr über mich selbst erfahren und bin dadurch realistischer und reifer geworden. Also, Daeren, nun heiße ich dich willkommen in meiner Welt. In der Realität.“

Die sinkende Sonne tauchte alles um uns in rötliches Licht und verwandelte den Fluss in tausend funkelnde Juwelen. Irgendwo in der Nähe begann ein Soudarl zu singen.

Mein Paily meldete sich. Verwundert zog ich ihn aus der Tasche hervor und nahm das Gespräch an. In der nächsten Sekunde durchfuhr ein Schmerz meinen Körper und raubte mir den Atem.

Den Bildschirm füllte ein Paar vor Entsetzen groß aufgerissene Augen. Augen, die ich unter Milliarden, unter Billionen jederzeit wiedererkennen würde.

Dieses einzigartig durchscheinende Hellblau.

Das einem einzigen Wesen gehörte.

Dora …

Das Bild wurde zurückgezoomt. Ihr verängstigtes Gesicht tauchte auf, den Mund leicht offen. Es zog sich weiter zurück bis schließlich der Bildschirm ihren zusammengekauerten Körper auf einer Liege offenbarte.

„Dora“, wollte ich sagen. Der Name, an den bloß zu denken die Oberfläche meiner nie heilenden Wunde aufriss, brannte durch die Kehle. Aber kein Ton entwich meinen Lippen. Wie gelähmt starrte ich den Bildschirm an.

„Daeren Rensha“, ertönte plötzlich eine männliche Stimme. „Wie ich sehe, erkennt Ihr dieses Menschenmädchen wieder. Das ist überaus erfreulich. Denn somit besteht die Hoffnung, dass Euch ihr Leben nicht allzu gleichgültig sein dürfte.“

„Was ist mit ihr? Was fehlt ihr?“ flüsterte ich wie gebannt den Blick auf ihr Gesicht geheftet.

„Oh, nicht der Rede wert. Sie ist nur ein wenig verängstigt, weil sie nicht weiß, wer wir sind und wo sie ist. Aber körperlich ist sie völlig unversehrt. Und das ist der Grund, weshalb ich Euch kontaktiere. Eventuell entspricht es Eurem Interesse, diese Unversehrtheit zu erhalten oder sie gar auf die Erde zurückzuschicken.“

„Was meinen Sie? Natürlich möchte ich, dass es ihr gut geht. Ich verstehe nicht …“, sagte ich verwirrt.

„Das zu hören freut mich außerordentlich“, unterbrach die Stimme mich sanft. Sie klang dunkel und düster, als käme sie aus einem Grab. „Dann sind wir uns einig. Ihr kennt sicherlich die verlassene Schiffswerft im Andorr-System. Ich erwarte Euch in der Haupthalle direkt am Andockbereich. In, sagen wir, sechs JaRen-Stunden.“

„Sie haben sie entführt?“, stellte ich ungläubig fest.

Die Stimme schnalzte leicht missbilligend. „Aber, Daeren Rensha. Was für eine böswillige Unterstellung aus dem Mund des großen Thronanwärters einer so überragenden Rasse wie der Euren. Wir möchten nichts weiter, als dass Ihr Euch Eurer Verantwortung für dieses arme, verwirrte Menschenmädchen bewusst werdet, nicht mehr. Deshalb ist es selbstverständlich unnötig zu erwähnen, dass wir das Leben dieses Mädchens schlecht garantieren können, falls Ihr auf die Idee kommt, nicht alleine zu erscheinen. Ich freue mich, Euch zu begegnen.“

Dann wurde das Bildschirm dunkel.

„Seid Ihr sicher, die ganze Strecke selbst fliegen zu wollen? Mit Verlaub, Ihr kommt mir höchst unausgeglichen vor“, sagte das Schiff.

„Ja, ich muss in sechs Stunden im Andorr-System sein und das wird mit Autopilot kaum möglich sein“, antwortete ich während meine Hand die Routenempfehlung des Computers hinunterscrollte.

„In sechs Stunden?“, rief es erstaunt. „Da habt Ihr recht. Das schafft außer Euch oder Eurem Bruder Douron Rensha keiner.“

Ich achtete nicht weiter auf es und schaltete hastig das Paily ein, das gerade begonnen hatte zu vibrieren. Auf dem Bildschirm erschien erneut Doras verängstigtes Gesicht.

„Daeren Rensha“, ertönte die bekannte Stimme aus dem Hintergrund. „Da ich dachte, dass sechs Stunden eventuell zu einsam werden könnten, wo Ihr mutterseelenallein unterwegs seid, habe ich beschlossen, Euch gelegentlich das Bild von dem Mädchen zu schicken. Schließlich liegt ihr Wohl uns beiden gleichermaßen am Herzen.“

Eine Warnung, auf eine höchst wirksame Art. Wer auch ihr Entführer war, er wusste genau, wie ich auf ihr Bild reagieren würde. Niemals würde ich jemanden in die Sache einweihen, solange dadurch ihre Sicherheit gefährdet wäre.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Dora zitternd.

Ihre lange Zeit entbehrte Stimme stürzte über mich wie eine heiße Flutwelle. Sie brach die tief unterdrückte Sehnsucht in mir mit aller Macht auf, die es nicht im Geringsten scherte, dass dafür die derzeitige Situation unpassender nicht hätte sein können.

„Von dir nichts“, sagte die Stimme barsch.

„Warum halten Sie mich dann hier fest?“, wollte sie verständnislos wissen.

Sie erhielt keine Antwort, stattdessen wurde das Licht ausgeschaltet.

„Bitte, lassen Sie das Licht an“, rief sie ängstlich.

Die dunklen Pupillen ihrer hellblauen Augen weiteten sich entsetzt, während ihre Hände begannen, hilflos an ihrer Liege entlang zu tasten.

„Dora.“

Das Wort lief brennend durch meine Kehle und hallte wie ein Donnerschlag in meinen Ohren. Dann verschwand ihr Bild. Von der Oberfläche des Pailys schimmerte mir nur matte Dunkelheit entgegen.

Während des gesamten Fluges bekam ich in regelmäßigen Abständen jeweils für ein paar Augenblicke Dora zu sehen. Meine Verzweifelung trieb das Schiff zu ungekannter Geschwindigkeit, so dass die Landung auf der verlassenen Andockstelle eine halbe Stunde früher erfolgte als gedacht.

Gespenstische Stille umhüllte die riesige Ankunftshalle, die einst das Tor zu einer der größten Raumschiffwerften gebildet und über eine halbe Million Arbeiter und Besucher beherbergt hatte.

Meine Füße verursachten ein unnatürlich lautes Geräusch, als sie den Boden berührten. Die nackte Metallkonstruktion, längst ihrer schützenden Ummantelung beraubt, ächzte bedrohlich nach langen Jahren der Verwitterung unter meinem Gewicht. Zögernd steuerte ich auf die Haupthalle zu. Über den Boden verstreut lagen dunkle Metallteile.

„Ich bin beeindruckt! Euer Ruf, ein außergewöhnlicher Pilot zu sein, war sogar untertrieben“, tönte die bekannte Stimme durch die Ankunftshalle.

„Wo ist Dora?“, fragte ich um mich schauend.

Nirgends war jemand zu sehen. Meine Stimme hallte in dem geisterhaft leeren Hafen wider.

„Keine Sorge. Ihr werdet sie bald zu sehen bekommen. Das verspreche ich Euch. Vorher bitte ich Euch, Euch in die Haupthalle zu begeben und in dem eigens für Euch markierten Bereich zu warten.“

„Für mich markierten Bereich?“, fragte ich irritiert.

Es blieb still, keine Antwort folgte mehr.

Ich begann zu rennen, erreichte nach kurzer Zeit den imposanten Bau der Haupthalle, dessen Tor geräuschlos zur Seite glitt.

Der prunkvolle Saal blitzte vor Sauberkeit. Nirgends lagen Staub oder wie draußen gar irgendwelche Teile schutzlos herum. Alles wirkte bis in den letzten Winkel gepflegt und befand sich an seinem Platz. Anders als der Andockbereich schien dieser Raum noch voll funktionstüchtig zu sein.

Auf einmal leuchteten unter meinen Füßen zwei strahlend weiße Linien, die geradewegs zur Mitte der Halle führten. Ich folgte ihnen, blieb nach ein paar Schritten abrupt stehen. Vor mir auf dem Boden, umgeben von einer tiefblauen Umrandung, leuchtete ein blendend weißer Kreis, in dem eine goldene Kugel über zwei sich überlappenden weißblauen Planeten glänzte. Das Symbol meines Hauses, des Hauses Danun.

Nun verstand ich die Andeutung der Stimme und trat ohne zu zögern in den Kreis. Kaum berührten meine Füße das Symbol, schossen aus den umliegenden Bereichen senkrecht hohe gläserne Wände, die sekundenschnell bis zur Decke hinaufwuchsen. Kurze Zeit später befand ich mich in einer Art gläsernem Käfig.

„Nein, das habe ich doch nicht gewagt zu glauben“, rief die bekannte Stimme erregt. „Er geht tatsächlich freiwillig ins Gefängnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Welch ein Narr!“

Die Decke über mir öffnete sich einen Spalt. Zu meinem Entsetzen krochen wenige Augenblicke später einige Panuhwürmer durch den Spalt hinunter. Die einzigen Parasiten gegen die wir HanJin machtlos waren. Von denen wir geglaubt hatten, sie für immer ausgemerzt zu haben. Jene Würmer, die auf der Erde Raul befallen hatten.

Hastig betastete ich die Scheibe meines Gefängnisses. Die eisige Dunstwolke, die sich sofort an meiner Handfläche bildete, verriet, dass diese aus unzerstörbarem Maatglas bestand, einem Material, das durch nichts zerschlagen werden konnte und deshalb bei der in flüssiger Form erfolgenden Herstellung ausschließlich exakt passend gegossen wurde.

„Wo ist Dora? Sie haben mir versprochen, sie mir zu zeigen und nach Hause zu schicken“, sprach ich laut, bemüht meine Panik unter Kontrolle zu halten.

„Keine Bange. Ihr werdet ihr sogleich begegnen. Nicht nur das. Ihr werdet sie sogar anfassen dürfen“, antwortete sie mit kaum unterdrückter Erregung. „Allerdings bezweifle ich, dass dies tatsächlich Eurem Wunsch entspricht.“

Leise plätschernd prallte der erste Wurm auf den Boden. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück und warf einen Blick zur Decke. Meine Augen weiteten sich. Über die Hälfte der Decke klebten dicht gedrängt ihre Artgenossen und bewegten sich auf die Wand zu. Einige fielen senkrecht hinunter und wanden sich auf dem Boden. Allmählich trübte sich mein Blick. Ihre sich windenden und zuckenden weißen Körper verschwammen zusehends stärker vor meinen Augen, während mein Kopf merklich schwerer wurde. Angestrengt starrte ich durch die Scheibe, die jetzt vor mir wie eine riesige Wand milchig trüb waberte. Schritte dröhnten schmerzhaft in meinen Ohren. Aus dichtem Nebel tauchten mehrere Humanoiden auf, in ihrer Mitte ein Mädchen mit sich führend. Sie blieben ein paar Schritte vor mir stehen. Das Gesicht des Mädchens kam mir irgendwie bekannt vor. Ich torkelte näher an die blubbernde Scheibe. Meine Beine zogen schwerfällig nach, als lastete ein bleiernes Gewicht auf ihnen. Keuchend kam ich vor der zwischen uns befindlichen trüb wabernden Barriere zu stehen.

Mit einem durchdringenden Pfiff in meinen Ohren sackte das Mädchen auf den Boden und verwandelte sich vor meinen Augen in einen riesigen Panuhwurm. Aus seinem weit aufgerissenen Maul schoss laut zischend eine rosafarbene gespaltene Zunge hinaus. Fassungslos schwankte ich einen Schritt zurück.

„Vernichte sie“, befahl jemand. „Sonst wird sie Dora auffressen!“.

„Dora?“, echote meine Stimme verwirrt.

Wer war Dora. Irgendwoher kannte ich den Namen. Sein Klang zerrte merkwürdig an meinem Herzen. Hilflos um mich blickend, mühte ich mich ab, zu erinnern, was dieser Name bedeutete.