ISIS - Der globale Dschihad - Bruno Schirra - E-Book

ISIS - Der globale Dschihad E-Book

Bruno Schirra

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Beschreibung

ISIS hat binnen weniger Wochen das erreicht, wovon Al-Qaida immer geträumt hat. Er verfügt über Land, enorme Finanzressourcen, Zehntausende Kämpfer und hat Zugang zu chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen. Der Nahost-Experte Bruno Schirra recherchiert seit Jahren zu islamistischen Netzwerken. Er beleuchtet den Ursprung und die neue Qualität des Terrors und zeigt die Verbindungen zur deutschen und europäischen Salafisten-Szene auf. Spätestens seit der Anschläge in Paris steht fest: Der Globale Dschihad ist in Europa angekommen. Ein fundierter, packender Bericht zu den Gefahren und zur Praxis des islamistischen Terrors.

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Das Buch

Sie nehmen Menschen öffentlich die Köpfe, versklaven Andersgläubige und ziehen eine Blutspur durch den Irak und Syrien bis nach Europa. Die sunnitische Terror-Miliz ISIS hält nicht nur den Nahen Osten, sondern die ganze Welt in Atem. Das liegt nicht allein an ihrer unglaublichen Brutalität, sondern auch an der Internationalität ihrer Kämpfer: Viele tausend europäische Dschihadisten haben sich ISIS angeschlossen.

Der Nahost-Experte Bruno Schirra ist seit Jahrzehnten in der Region unterwegs. Er war als einer der wenigen deutschen Journalisten vor Ort, als sich im Norden des Irak ISIS mordend konstituierte. Er sprach mit ISIS-Kämpfern und deren Opfern, mit deutschen Salafisten und Dschihad-Aussteigern, Islamgelehrten und Nachrichtendienstlern. In seinem tief recherchierten und kenntnisreichen Buch erklärt er, wie es zu dem fulminanten Aufstieg des globalen Dschihad kommen konnte. Er belegt die Finanzierung durch andere arabische Staaten und die Unterstützung durch den Nato-Partner Türkei und zeigt, wie der ISIS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi im Windschatten Al-Qaidas zu solcher Macht gelangte.

Der Autor

Bruno Schirra hat sich als Journalist auf den Nahen und Mittleren Osten spezialisiert und löste mit einem Artikel die Cicero-Affäre aus. Nach Stationen beim Hörfunk, der Zeit und Cicero sowie der Welt-Gruppe schreibt er heute u. a. für die Weltwoche in der Schweiz. Sein Buch über ISIS stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Bruno Schirra

ISIS

Der globale Dschihad

Wie der »Islamische Staat« den Terror nach Europa trägt

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1124-1

Aktualisierte und erweiterte Ausgabe

im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Dezember 2016

Redaktionsschluss: 12. Oktober 2016

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015/Econ Verlag

Karte: Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,

unter Verwendung einer Vorlage von FHCM GRAPHICS, Berlin

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Vorwort zur aktualisierten und erweiterten Taschenbuchausgabe

Seit dem Erscheinen der Erstausgabe dieses Buches im Januar 2015 hat Europa eine bisher ungeahnte Terrorserie erlebt. ISIS hat seine Fähigkeit demonstriert, die europäischen Menschen nach Belieben in den Terror zu treiben und gezeigt, dass Europa diesem Terror hilflos gegenübersteht. Als habe sie in die Fratze einer dschihadistischen Medusa geblickt, konnte eine im Schock erstarrte Weltöffentlichkeit entsetzt Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat in Echtzeit den blutigen Kreuzzug der islamistischen Meister des Schlachtens und Tötens miterleben – denn ISIS wusste alle Mittel der schönen, neuen Kommunikationswelt des Internetzeitalters brillant einzusetzen. Bis zum heutigen Tag. Ihre Botschaft: Das Töten und Morden für Allah ist gut. Das Töten und Morden für Allah ist schön. Antworten auf die zunehmend auch in Europa geschehenden Morde hat die Welt bis heute nicht gefunden. Weder die westliche, noch die islamische.

Ich habe nach dem Erscheinen dieses Buches immer wieder mit unterschiedlichen Menschen gesprochen. Solchen, die sich auf der politischen Bühne mit diesem so unerwartet aufgetauchten Phänomen beschäftigen mussten und solchen, deren alltägliche Arbeit darin bestand, in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Österreich und Belgien einen sehr einsamen Kampf gegen den salafistischen Terror zu führen. Männer und Frauen aus sehr unterschiedlichen Sicherheitsbereichen.

Ein mit der Materie durchaus vertrauter politischer Beamte merkte nach der Lektüre des Buches an, dass es »etwas alarmistisch daherkommt«, ein weiterer konstatierte »Panikmache, Schwarzmalerei. Sie befördern einen Generalverdacht. Das ist nicht zweckdienlich«, so seine Mahnung. ISIS betreibe eine vornehmlich regionale Agenda, keine globale. Das war nach Charlie Hebdo und den Morden im jüdischen Supermarkt, als im Verlauf dreier Tage siebzehn Menschen in Paris unter »Allahu Akbar«-Rufen ermordet wurden. Ein Massenmord, mitten in Europa, auf den der deutsche Innenminister Thomas de Maizière folgende Antwort hatte: »Das hat nichts mit dem Islam zu tun!«

»Ja womit denn sonst?«, fragen Männer und Frauen europäischer Sicherheitsbehörden, die vor Ort, Tag für Tag »auf verlorenem Posten« einen einsamen Kampf gegen den salafistischen Terror führen. »Es ist wie bei der Geschichte des Wettrennens zwischen Hase und Igel«, sagt eine deutsche Sicherheitsbeamtin. »Wann immer der Hase am Ziel ankommt, ist der Igel schon da. Kein Wunder, der Igel braucht nur drei Schritte zu laufen, hat er doch im Ziel seine Frau, die akkurat so aussieht wie er selbst, platziert.« Nach 73 Läufen, die der Hase immer verliert, bricht er beim 74. Rennen zusammen und stirbt.

Seit der Erstveröffentlichung dieses Buches ist der salafistische Terror in Europa zur blutigen Alltäglichkeit geworden. Europa steht dem nach wie vor hilflos gegenüber, findet keine Antwort. Kein Wunder: Polizeibehörden wurden über Jahre aus Kostengründen abgerüstet, den Sicherheitsbehörden fehlt das notwendige Instrumentarium, die nötige Expertise. Einer beispiellosen Terrorserie in Frankreich, in Belgien, Dänemark und Deutschland, in der tunesischen Hauptstadt Tunis, im tunesischen Badeort Sousse, in Istanbul fielen Hunderte zum Opfer. Tote und Schwerstverletzte. Europäische Menschen, Juden, Christen, Atheisten und Muslime, die als Überlebende des salafistischen Terrors von ihren Gesellschaften allzu oft allein gelassen werden. Sie sind die wirklich Hochtraumatisierten, weniger die salafistischen Rückkehrer aus Syrien und dem Irak, über die das Füllhorn sozialpopulistischer Therapiemaßnahmen ausgeschüttet wird.

Ganz normale Bürgerinnen und Bürger formulierten ihre Ängste, ihre Sorgen, Nöte und Befürchtungen, angesichts dessen, was da von so weit her aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa herüberschwappte. Beklagten, dass mitten aus Europa heraus migrantische Mitbürger ebenso wie hier geborene Konvertiten den salafistischen Rattenfängern auf den Leim gingen und deren dschihadistische Vorgaben in eine blutige Realität verwandelten. Der salafistische Terror bestimmt zunehmend den Alltag der europäischen Bürger, schränkt ihn in bislang ungeahnter Weise ein. Unsicherheit, Schrecken, Angst werden zu ständigen Begleitern.

Der Terror des ISIS treibt Europa und seine Bürger nach Belieben vor sich her, verändert den Kontinent, reißt gesellschaftliche Brüche und Gräben auf, zertrümmert lieb gewordene Sicherheiten und Freiheiten, polarisiert europäische Gesellschaften. Bis hin zum Hass. Europa ist dabei, seine demokratischen Werte zu verlieren. In Frankreich sind im Namen einer vorgeblichen Sicherheit wesentliche Bürgerrechte beschnitten und außer Kraft gesetzt worden. Den Sicherheits- und den Geheimdiensten wurden Zugeständnisse gemacht, die weit über das gerade noch demokratisch Vertretbare hinausgehen. Was den Terror in Frankreich nicht verhindern konnte. Eine hundertprozentige Sicherheit ist nur eines: eine hundertprozentige Illusion. Ein Sieg für die Glaubensideologen des globalen Dschihad. »Wir haben die Grande Nation in den Ausnahmezustand gebombt«, jubiliert aus dem irakischen Mossul der schwäbische Dschihadist Abu Hamza, der in diesem Buch porträtiert wird. »Wir haben die Hauptstadt Europas, Brüssel, in Geiselhaft genommen.« Wo der Mann recht hat, hat er recht.

Und dann kam der 4. September 2015. Ein Tag, der Europa radikal verändert hat. Mit Folgen, die auch ein Jahr später unabsehbar sind. »Wir schaffen das«, verordnete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und Deutschland und deutsche Eliten taumeln in schier besinnungslos scheinender Willkommenskultur einher. Ein deutsches Sommermärchen, aber die dauern in Deutschland nun einmal immer nur vier Wochen lang. Der Rest Europas nimmt dieses Sommermärchen recht schnell als einen Sommernachtsalptraum wahr.

Während in der Berliner Republik von den politischen und medialen Bühnen herab im immerwährenden Gleichklang von tatsächlichen wie sogenannten Experten gebetsmühlenhaft versichert wird, dass sich im Millionenheer der vor Hunger und Durst, vor Krieg und Tod und Terror, vor Bomben und Granaten Fliehenden natürlich kein einziger dschihadistischer Terrorist befände, geschieht genau dies. Für ISIS ist der 4. September 2015 ein wahres Gottesgeschenk. Schon vor dem Fall aller Grenzen, noch vor dem Kollaps aller Grenzkontrollen, hatte ISIS seine Terrorkader über die Balkanroute nach Westeuropa geschleust. ISIS weiß die Lehren des Terroristen Che Guevara zu beherzigen, das Diktum Mao Zedongs in die Realität umzusetzen. »Der Revolutionär (vulgo Terrorist) muss sich in den Volksmassen bewegen wie ein Fisch im Wasser.« Hunderte terrorbereiter ISIS-Jünger pilgerten unkontrolliert über die Balkanroute gen Westen – und schlugen in Europa mit Tod und Terror zu.

Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hat, kann auf die Idee kommen, dass die Menschen in dem Millionenheer der Fliehenden, die Europa im Nachgang des 4. September schier überrollten, für den folgenden Terror verantwortlich sind. Was kann das Wasser dafür, wenn Fische in ihm schwimmen?

Niemand, der seine fünf Sinne auch nur halbwegs beieinander hat, wird jedoch abstreiten können, dass die vollkommene Öffnung der Grenzen und der totale Zusammenbruch aller Grenzkontrollen ISIS ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hat. Sinnbild dafür: der Bataclan zu Paris und alles, was an jenem Freitag, dem 13. November 2015, geschah.

*

ISIS hat in den vergangenen Monaten in Syrien wie im Irak große Teile seines Herrschaftsgebiets verloren und schon mehren sich die Stimmen derer, die Licht am Ende des dschihadistischen Dunkels sehen und den nahen Untergang des Glaubensspukes prognostizieren.

Was ohne jeden Zweifel nicht geschehen wird.

Ganz sicher wird eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages Abu Bakr al-Baghdadi, der selbst ernannte Kalif des ISIS, mittels einer aus einer Drohne abgefeuerten Hellfire-Rakete oder wie auch immer getötet werden. Ganz sicher werden eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages die syrische Stadt Rakka, die irakische Stadt Mossul aus den Klauen des ISIS befreit werden. Ebenso sicher wird – allen wohlfeilen Analysen zum Trotz – der Tod des Abu Bakr al-Baghdadi und die Rückeroberung von Rakka und Mossul nicht das Ende von ISIS, nicht das Ende des globalen Dschihad bedeuten.

Das zeigt der Werdegang, die Entwicklung des globalen Dschihad. Die Besetzung der Großen Moschee in Mekka am 20. November 1979, dem Neujahrstag des Jahres 1400 nach islamischer Zeitrechnung, durch 500 salafistische Dschihadisten unter der Führung von Dschuhaiman al-Utaib sowie des selbsternannten Mahdi Muhammad ibn Abdillah al-Qahtani kann als eine Initialzündung des globalen Dschihad angesehen werden. Beide dienten Osama Bin Laden als Vorbild. Der Niedergang und damit verbunden das absehbare Ende des Terrors der Al Qaida wurde im Westen nach dem ganz entschieden zu spät verfügten Tod des Osama Bin Laden am 2. Mai 2011 verkündet.

Dessen Jünger, Abu Mussab al-Zarqawi, wusste den Terror des Osama Bin Laden auf eine neue Ebene zu heben. Der Tod des »Emir aller Schlächter« am 2. Juni 2006 bedeutete nicht das Ende seines Terrors. Abu Bakr al-Baghdadi schreibt den in noch schrecklicherer, ungeahnter Form weiter. Stirbt der selbsternannte Kalif Ibrahim, kann sich sein Nachfolger auf feste Grundlagen stützen.

Der Salafismus des Abu Bakr al-Baghdadi ist nichts anderes als die globale Fortschreibung des Wahhabismus des Glaubenspotentaten der arabischen Halbinsel. Des Westens beste Partner in der Region. »Der Wahhabismus ist unsere Kultur«, entgegnet mir in einer Fernsehdiskussion ein saudischer Diskussionspartner. Die gelte es, da eben Kultur, zu respektieren. Der Mann gilt als einer der Liberalen seines Landes. »Das ist eine Unkultur! Menschenverachtend. Die kann ich nicht, die will ich nicht respektieren. Auch nicht akzeptieren«, so meine Entgegnung. Der Mann ist dann doch, wenngleich zähneknirschend, im Studio geblieben.

Der Salafismus, der Wahhabismus ist in allen seinen Ausprägungen zweierlei: Pest und Cholera des 21. Jahrhunderts. Europa und der Westen stehen dieser blutrünstigen Terrorideologie hilflos und ohnmächtig gegenüber. Ebenso die gesamte islamische Welt. Aus der islamischen Welt, so unterschiedlich sie in ihren Ausprägungen auch ist, aus dem Islam selbst, so unterschiedlich der sehr wohl gelebt und geglaubt werden kann, ist derweil jedoch bisher nur eines zu vernehmen: ein dröhnendes Schweigen. Kein Wunder – befinden sich die heiligsten islamischen Städte Mekka und Medina doch fest im salafistisch-wahhabitischen Würgegriff. Sieht man von der einen, sich ewig wiederholenden Floskel ab, dass all dies nichts mit dem Islam zu tun habe, ist von dort nicht sonderlich viel zu hören, zu sehen – im Kampf gegen den salafistischen Terror.

Das Schweigen der maßgeblichen islamischen Theologen ist umso bemerkenswerter und vielmehr noch aussagekräftiger angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer des Salafismus muslimische Kinder, muslimische Frauen, muslimische Männer sind. Der Salafismus tötet jeden muslimischen Menschen, der sich ihm nicht bedingungslos unterwirft. Die korrekte Übersetzung des arabischen Wortes Islam lautet: Hingabe, Unterwerfung. Nicht Frieden.

Zwar gibt es viele vereinzelte Stimmen gläubiger Muslime, islamischer Theologen, muslimischer Intellektueller, die dem mörderischen salafistischen Glaubenswahn die Stirn bieten. Sie tun dies durchaus auf den Grundlagen ihres Glaubens – allein, sie kämpfen einen einsamen Kampf für einen humanistisch geprägten Islam. Ihre Worte verhallen, werden nicht gehört. Wenn gläubige Muslime ihre Stimme erheben, um einen zutiefst humanistisch geprägten Islam einzufordern, dann drohen ihnen 1000 Peitschenhiebe. Der Tod. Der droht unterschiedslos all denen, die sich der Vision des ISIS nicht unterwerfen. Das zeigt das Beispiel des saudischen Intellektuellen Raif Muhammad Badawi, für den Glaube und Demokratie durchaus vereinbar sind. Der Blogger wurde in Saudi-Arabien zu 1000 Peitschenhieben verurteilt und sitzt in Kerkerhaft. Das barbarische Glaubensverständnis der saudischen Wahhabiten entspricht eins zu eins dem des salafistischen Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi. Man vergleiche die Lebensrealitäten der Menschen unter der Knute des ISIS mit denen der Menschen in Saudi-Arabien – sie unterscheiden sich in nichts. Aus dem Kalifat heraus wird der Terror gegen den Westen propagiert und in westliche Staaten exportiert. Aus Saudi-Arabien heraus wird die Glaubensideologie des globalen Dschihad, auf die sich ISIS stützt, gepredigt, organisiert und finanziert. Weltweit, Jahr für Jahr, mit Milliarden Dollar. Bis zum heutigen Tag. Allen Leugnungen der saudischen Herrscher zum Trotz.

»Ihr befindet euch erst am Anfang einer langen, dunklen und sehr blutigen Nacht des Terrors«, sagt mir im August 2016 via Skype Abu Hamza, jener schwäbische Dschihadist, den ich zwei Jahre zuvor im Wüstensand seines Kalifats getroffen habe. »Das Schönste steht euch noch bevor. Das Höllenfeuer. Im Diesseits. Auf Erden. Allahu akbar – Gott ist größer!«

Berlin, im Oktober 2016

Einleitung

Es dauert lange, sehr lange, einem Menschen den Kopf abzusäbeln. Gerade dann, wenn man wie die dschihadistische Terrorgruppe ISIS dies als einen geradezu rituellen Akt zelebriert. Öffentlich dazu und dann die Videoaufnahmen dieses archaischen Tötens ins Internet stellt. Was in Gottes Namen treibt einen Menschen dazu, so etwas zu machen?

Ich weiß es nicht. Werde es nie wissen. Aber ich habe ihre Augen gesehen. Die strahlten voller Glück ob ihres Mordens.

Was treibt andere Menschen dazu, solche Art des Tötens geradezu glücklich zu bejubeln? Ich weiß es nicht. Werde es nie wissen. Weiß aber, dass es in der ägyptischen Stadt Alexandria wie an anderen Orten recht viele Menschen gibt, die dieses Töten und die aufgespießten Köpfe der Gemordeten glücklich bejubeln. Was ist bloß mit Alexandria und seinen Menschen geschehen?

Ich kenne Alexandria noch aus den Zeiten, als in der Stadt am Meer die Frauen flanierten, als in der Nacht dort das Leben in all seiner deftigen Leichtigkeit pulsierte, als dort gelehrt und gelernt wurde, als die Stadt weltoffen und kosmopolitisch war. In der Menschen heiter und lustvoll das Leben und die Liebe liebten und beidem frönten. Verlorengegangene Zeiten. Die Stadt und ihre Bewohner sind im Würgegriff der Islamisten, im Dunkel des Dschihad gefangen.

Ich habe in Beirut, in Damaskus, in Kairo dieselbe Wandlung miterlebt, in all den Jahren nach 1981, als ich zum ersten Mal die Länder Arabiens besuchte. Zuerst als Reisender, später als Reporter. Habe gesehen und gespürt, wie die Menschen dort und überall in der arabischen Welt ihre Lust am Leben verloren haben. Ich habe erlebt, wie ihre Lebenskultur zerbröselte und eine andere Kultur entstand: die Kultur des Todes. Die Barbaren des Dschihad beherrschen heute die Menschen in Kairo, Alexandria, in Beirut, in Damaskus, in allen Ländern Arabiens. Auf lange, auf unendlich lange Zeit hinweg.

Und dann ist da Bagdad. Da ist der Irak. Bagdad war einmal, auch wenn das lange, sehr lange her ist, die strahlendste Stadt der ganzen Welt, der arabisch-islamischen sowieso. Eine Stadt der Gelehrsamkeit, der Künste, der Wissenschaften. Seit 35 Jahren kennen die Menschen dort nur eines: den Krieg und den Tod. Den hat ihnen Saddam Hussein, und niemand sonst, gebracht. Heute kriecht aus dem Land die Barbarei des ISIS und breitet sich einem Virus gleich in der gesamten arabischen Welt aus. Dschihad, Dschihad, Dschihad, so tönt es unablässig von dort. Zuerst unter dem Banner von Al-Qaida, dann unter der Flagge des ISIS ist die arabische Zivilisation zusammengebrochen und heute eine marode gewordene Gemeinschaft, aus der sich Al-Qaida, ISIS und die Glaubenswut des Heiligen Krieges erst haben entwickeln können. Es ist eine Gesellschaft, die ihre tiefen Wunden betrachtet und dabei jedoch die eine Fähigkeit verloren hat, die ihr zu wünschen ist, auch wenn das schmerzhaft ist. Die zur Selbstkritik, als ersten Schritt zur Heilung.

Die arabisch-islamische Zivilisation hat sich diese Wunden selbst geschlagen. Es war nicht der böse Westen. Nicht der schreckliche Imperialismus, nicht der gierige Kolonialismus und, ach ja, es waren auch nicht die Juden, die für die unsägliche Malaise der arabisch-islamischen Kultur verantwortlich zu machen sind. Muss da die Unschuld des George W. Bush noch eigens erwähnt werden? All die unzweifelhaft begangenen Sünden des Westens wider die arabische Welt haben, wenn überhaupt, nur als Katalysator gedient. Sie haben die Glaubenstumulte, die die arabische Welt erschüttern, nur beschleunigt. Nicht verursacht.

Die Trümmer, unter denen die einst so strahlenden islamischen Zivilisationen heute begraben liegen, müssen weggeräumt werden, damit die Menschen dort wieder leben lernen können. Weder die Amerikaner noch die Staaten des Westens werden diese Aufräumarbeit in Angriff nehmen. Sie wollen es nicht. Sie können es nicht. Sie dürfen es nicht. Antworten können nur aus diesen Zivilisationen selbst heraus kommen. Derzeit und wohl auf lange Jahre hinaus ist jedoch ISIS diese Antwort.

ISIS breitet sich in den arabischen Staaten aus. Auf dem Sinai, in Libyen, in Algerien. Sein Gedankengut wabert durch Jordanien und den Libanon, wuchert in Saudi-Arabien, durch den Jemen, findet Anhänger in Tunesien bis hin nach Mauretanien. Die islamisch-arabische Zivilisation, einst das Licht für das europäische Dunkel, ist jetzt selbst in Dunkelheit versunken und hat derzeit nur eine Antwort: sich und die ganze Welt durch ISIS zur Geisel Gottes nehmen zu lassen.

Die Barbaren sind auch unter uns. ISIS ist längst angekommen in Europa. Deutsche Schulabbrecher und angehende Ingenieure pilgern als »Heilige Krieger« in den Irak und nach Syrien. Junge Frauen in zunehmender Zahl. Konvertiten und Migranten der dritten Generation. Aus Europa sind etwa 8.000 Dschihadisten ausgereist, etwa 3.000 sind bereits wieder zurückgekehrt. Tickende Zeitbomben. ISIS wird Europa verändern. ISIS wuchert. Metastasen gleich.

In Deutschland, in Dresden wie an anderen Orten treibt das die Menschen auf die Straßen. Zehntausende demonstrieren bislang noch friedlich und gewaltfrei gegen die Islamisierung Europas. Allein: Die findet nicht statt. Europa ist vom Terror bedroht. Nicht von einer Religion. Auch wenn es aus dem Islam heraus starke Strömungen gibt, die Religion in eine Terror-Ideologie zu transformieren, bedeutet dies nicht, dass jeder gläubige Muslim die Kultur unseres Abendlandes bedroht oder gar ein Terrorist ist – oder dies werden wird. Die Demonstranten treibt die Angst vor dem Fremden, vor dem Terror auf die Straßen. Das ist ihr gutes Recht, man nennt dies Demonstrationsfreiheit. Sie sogleich in griffiger Dummheit als Rechtspopulisten oder gar Schlimmeres zu diffamieren ist kontraproduktiv. Ihre Ängste ernst zu nehmen und sie abzubauen wäre hingegen hilfreich. Die Türken, die Araber, sie stehen nicht vor den Toren Wiens, geschweige denn vor den Toren Dresdens. Sie leben schon längst unter uns – und das ist gut so.

Dieses Buch beschreibt, wie der Aufstieg des ISIS begann und wozu er führte. Ich berichte von meinen Reisen in ein terrorisiertes Land, habe mit ISIS-Terroristen und ihren Opfern gesprochen. ISIS ist nicht aus dem Nichts heraus entstanden. ISIS ist gehegt und gepflegt worden. Von Saudi-Arabien, aus den Golfstaaten, vom Natopartner Türkei. ISIS hat sich aus Al-Qaida heraus entwickelt, sich losgelöst und von der Mutterorganisation emanzipiert, ist heute weitaus gefährlicher, als es Al-Qaida je war. Der Führer des ISIS, der selbsternannte Kalif, Abu Bakr al-Baghdadi, der sich nun Kalif Ibrahim nennt, sieht sich selbst als den einzig legitimen Erben des Osama Bin Laden.

Das Buch will ganz explizit keine Antworten geben, was zu tun ist, um ISIS zu zerstören, will keine Lösungen behaupten. Aus einem ganz banalen Grund: Es gibt keine – außer der einen. Europa wird lernen müssen, mit ISIS und der von ihm ausgehenden Gefahr zu leben, ohne dabei seine Werte zu verlieren. Seine Freiheiten. Seine Würde. Die besteht aus sechs wunderbaren Worten in der Präambel des deutschen Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Nicht die des Muslims, nicht die des Europäers, nicht die des Gläubigen, des Ungläubigen, des Mannes, der Frau. Schlicht die des Menschen. All dies negiert ISIS. Das Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi liebt nur eines: das Dunkel der blutigsten Barbarei. Den Tod, nicht das Leben. Nicht die Liebe, die Lust, die Schönheit, die Poesie. Sie lieben noch nicht einmal ihren Glauben.

»Sie sind keine Menschen«, sagte mein kurdischer Freund Tarik während unserer Reisen. »Sie verdienen nur eine Antwort.« Und zeigt seine Kalaschnikow. »Sie sind Ratten«, sagte Esther, die arabische Christin aus Des Moines, Iowa, USA. Die Ärztin Esther, die nach dem Einfall von ISIS alles stehen und liegen ließ, um im Irak zu helfen. Den Christen, den Jesiden, den Sunniten, den Schiiten des Landes.

Ich sehe keinen Sinn darin, ISIS, dem »Islamischen Staat im Irak und Syrien«, und sei es auch nur gedankenlos, den Anschein von Legitimität zu geben. ISIS nennt sich inzwischen »Islamischer Staat« und unterstreicht damit den globalen Anspruch seiner Herrschaft. Die deutschsprachigen Medien haben diesen von ISIS vorgegebenen Begriff sogleich übernommen. Bis auf eine Ausnahme. Die vielgescholtene BILD. Den Kollegen dort ist zu danken, dass sie nicht in die Falle des ISIS getappt sind.

Bruno Schirra, im Dezember 2014

Reise in ein terrorisiertes Land

Sie stand da wie eingefroren. Schon seit Stunden. Kein Zittern, kein Beben. Als sei sie aus Beton gemeißelt. Stumm und starr und regungslos. Das hatten uns die Leute in Tikrit erzählt und so, genau so, hatten wir sie vorgefunden, nachdem die Menschen von Tikrit uns zu ihr hingeführt hatten. Bewegungslos stand sie am Stadtrand, den rechten Arm nach unten ausgestreckt, dorthin deutend, wo es noch immer lag. Dieses Häuflein, das einmal ihr Kind gewesen war, und Tarik, der treue Freund und kurdische Begleiter in diesen Tagen, Tarik schüttelte langsam und traurig den Kopf, strich sich mit der Linken hilflos und scheinbar sehr bedächtig übers Kinn und hob dann irgendwann nur noch unendlich müde den rechten Arm »Das hier«, sagte er und deutete mit einer langsamen Kopfbewegung auf die Kalaschnikow in seiner Hand, »das hier ist die einzige Antwort, die diesen Leuten zu geben ist. Sie verstehen nur diese eine Sprache. Nur diese! Sie sind keine Menschen. Sie sind schlimmer als die schlimmsten Tiere.« So hatte Tarik das in aller Entschiedenheit gesagt und danach beugte er sich zur Seite, legte die Kalaschnikow zu Boden und hob das Kind mit beiden Händen und mit sehr viel Zärtlichkeit auf.

»Wir müssen es beerdigen«, sagte Tarik. »Ja«, meinte ich, »das müssen wir wohl.« Tarik schaute zur Seite.

Der 25 Jahre alten schiitischen Lehrerin Zaynab al-Husseini1 war es in diesen Sommertagen im Juni 2014 in der sunnitischen Stadt Tikrit widerfahren, dass man ihr die Seele, die Liebe und das Menschsein aus dem Leib getrieben hatte. Zaynab war aus Kerbela, der den Schiiten heiligen Stadt, nach Tikrit gefahren. Ausgerechnet nach Tikrit. Der Geburts- und Heimatstadt des Saddam Hussein, aus der heraus in den letzten vier Dekaden so viel Blutiges über die Menschen des Irak, seine Schiiten, seine Kurden, seine Sunniten und all die anderen hereingebrochen war. Aber Zaynab wollte doch in Tikrit nur eine Freundin besuchen. Nun ja, eine sunnitische zwar, aber so etwas gibt es. Sogar im Irak. Freundschaft. Zwischen Sunniten und Schiiten. Auch heute noch. Allen Kriegen und, viel mehr noch, allem Glauben zum Trotz.

Aber dann ist Zaynab in Tikrit der heilige Furor Gottes widerfahren. Dessen gläubige Jünger beriefen sich auf ihn, bei allem was sie taten.

Sie haben ihr das Kind genommen. Das Zweijährige. Sie haben sich an jenem Tag das Kind an den Beinen gegriffen, ganz so, wie man sich ein totes Huhn greift. Haben das Kind durch die Luft gewirbelt, seinen Kopf an die Wand gedonnert. Der Kopf ist dann aufgeplatzt, so wie eine Melone aufplatzt, donnert man sie gegen eine Wand. So erzählten uns das die Menschen in Tikrit. In scheuer Angst, hilflos und mit blassen, totenbleichen Gesichtern. Sie konnten nichts dagegen tun. Das sagten sie uns an jenem Junitag 2014 immer wieder, und wir glaubten ihnen, Tarik und ich, und sei es auch nur, weil wir es ihnen glauben wollten.

Zwei Tage vor unserer Ankunft waren am 11. Juni 2014, wie aus dem Nichts kommend, von Norden, aus dem Westen und von Süden her die Terrorkohorten von ISIS, dem »Islamischen Staat im Irak und in Syrien«, einem alles zerstörendem Heuschreckenschwarm gleich blutig heranschwirrend, über die Stadt hergefallen, hatten große Teile der etwa 180.000 Einwohner zählenden Stadt in ihren Würgegriff genommen. ISIS hatte die Einnahme der sunnitischen Stadt fast zwei Jahre lang generalstabsmäßig mit chirurgischer Präzision vorbereitet. Seit Ende 2012 waren ISIS-Kader in die Stadt eingesickert und hatten eine mafiöse Struktur aufgebaut. Geschäftsleute, Unternehmer, kleine Handwerker und Gewerbetreibende erhielten nachts anonyme Anrufe, wurden bedroht und zu exorbitant hohen Schutzgeldzahlungen erpresst. Wer nicht zahlte, riskierte das Leben seiner Angehörigen. Verwaltungsfunktionäre der Stadt, hochrangige Mitglieder des Sicherheitsapparats, der Polizei wie der Armee wurden ermordet. In Tikrit etablierte ISIS gezielt eine Atmosphäre der Angst und Agonie und wusste die Rivalität zwischen den verschiedenen sunnitischen Stämmen zu seinen Gunsten auszunutzen. Tage, bevor ISIS seinen Sturmlauf gen Tikrit begann, stachelte die Terrororganisation den sunnitischen Stamm der Abu Ajeel zu einem Massaker an 200 Mitgliedern eines konkurrierenden sunnitischen Stammes an. Allen gegenseitigen Stammesrivalitäten zum Trotz waren sich die unterschiedlichen sunnitischen Stämme in einem einig: In ihrer Verachtung, in ihrem Hass allen Schiiten gegenüber. Die schiitische Zentralregierung in Bagdad hatte seit 2011 dafür gesorgt, dass die Schlüsselstellungen in Verwaltung, Sicherheitsbehörden, Polizei und Armee weitgehend mit Schiiten besetzt waren – eine Maßnahme, die den Hass zwischen Schiiten und Sunniten nur noch steigerte und so das Vorgehen von ISIS begünstigte. Die Sunniten der Stadt wähnten sich unter der Knute der von ihnen so sehr gehassten Schiiten. Am 11. Juni 2014 brauchte ISIS gerade einmal eine Stunde, um bis ins Stadtzentrum von Tikrit vorzudringen.

Bei unserer Ankunft waren aus der Ferne die Kämpfe, der Gefechtslärm, das Rattern schwerer Maschinengewehre, das ständig auf- und abschwellende Explodieren der Granaten, das schrille Pfeifen der Mörser noch zu hören und all das verschmolz zu einer einzigen Todessymphonie.

Als ISIS in die Geburtsstadt des irakischen Diktators Saddam Hussein einfiel, flohen die mehrheitlich schiitischen Soldaten der Zentralregierung in Bagdad ebenso wie die Polizisten der Stadt und die der Provinzregierung in panischem Schrecken. Sie warfen ihre Waffen weg, zogen eilends die Uniformen aus und Zivilkleidung an. Vom einfachen Polizisten und Soldaten bis zum Drei-Sterne-General waren alle, so scheint es im Nachhinein, nur von einem Gedanken angstbesessen getrieben: Weg! So schnell wie möglich! Die nicht mehr rechtzeitig aus Tikrit fliehen konnten, wurden gefangen genommen. Dann begannen die Selektionen. Wer als sunnitischer Soldat oder Polizist im Dienst der schiitisch dominierten Zentralregierung stand, konnte »bereuen«. Wurde ihm diese Reue geglaubt, dann wurden ihm seine Sünden wider Allah, sein Verbrechen, als Sunnit der ketzerischen schiitischen Regierung gedient zu haben, verziehen – wenn er sich ISIS anschloss und seine Reue dadurch bewies, dass er seine schiitischen Kollegen oder Kameraden als Schiit identifizierte und sie dann eigenhändig tötete. Wer unzweifelhaft als Schiit identifiziert wurde, wurde zur Seite getrieben. Dann begann das große Schlachten an mehr als 2.000 Menschen.2

Denn Da’ish, wie Allahs Glaubensterroristen aus den Reihen des ISIS im Nahen und Mittleren Osten genannt werden, Da’ish tötet seine Gegner nicht nur, Da’ish schlachtet sie, und Allahs Terroristen zelebrieren dieses Schlachten als inbrünstiges religiöses Ritual wider jeden, der sich ihnen in den Weg stellt, wider jeden, der sich ihrem Glauben nicht bedingungslos unterwirft. Da’ish beruft sich bei seinem Morden auf den heiligen Koran, auf die Sunna und auf die Hadithe, wähnt sich und nur sich im Besitz der allein gültigen Wahrheit, darüber wie Koran, Sunna und Hadithe zu lesen, zu verstehen und zu deuten sind. Die Nachrichten über das Morden von Dai’sh hatten sich wie ein Lauffeuer und in Windeseile im ganzen Land verbreitet, nicht zuletzt auch, weil ISIS selbst Tag für Tag immer neue, aufwendig und höchst professionell produzierte Videoaufnahmen vom heiligen Töten und gottestrunkenen Schlachten an den Feinden Allahs ins Internet gestellt hatte. Das waren Bilder eines nicht aufhörenden, sich ewig fortpflanzenden religiös bedingten Hasses auf alle ketzerischen Schiiten, alle Ungläubigen, alle vom wahren Glauben abgefallenen Sunniten, alle Christen, Jesiden, Turkmenen, Kurden, Assyrer und Schabak, einer mehrheitlich kurdischstämmigen Minderheit im Nordirak, deren Glaube Elemente unterschiedlicher Religionen beinhaltet. Es waren Bilder eines rituell ausgelebten Blutrausches im Namen Allahs und – wie Da’ish das sieht – im Auftrag Allahs. Sie offenbarten zum ersten Mal in aller Brutalität und Schonungslosigkeit das, was sich über lange Jahre zunächst unbemerkt im Irak, in Syrien und darüber hinaus im ganzen Nahen und Mittleren Osten aufgebaut hatte: die Stammes- und ethnischen Rivalitäten, befeuert durch konfessionellen und religiösen Hass gegeneinander, hatten den Boden für das vorbereitet, was in jenen Junitagen 2014 in all seiner Monstrosität in einem wahren Blutrausch ausbrach. Der Beginn eines neuen dreißigjährigen Krieges, vergleichbar dem Krieg, der Europa vor fünfhundert Jahren verwüstete, endlos umherirrende Flüchtlingsströme verursachte und in weiten Teilen menschenleer gemacht hatte. Eine Realität, der man sich im Westen gegenüber verschloss, glaubte man doch, die unsäglichen Zeiten blutigster Religionskriege und all ihrer damit verbundenen Folgen endgültig überwunden zu haben.

Fassungslos verfolgte die Weltöffentlichkeit diese Bilderflut, unfähig die Bedeutung dessen einzuschätzen, was da zu sehen war. Dass was dort, so weit weg, im Nahen Osten geschah, unmittelbare und viel mehr noch unkontrollierbare Folgen nicht nur für die Region, vielmehr noch für ganz Europa und die Welt haben würde, vermochten nur die wenigsten sich in aller Konsequenz vorzustellen.

Die Bilder, die ISIS so perfekt produzierte, um sie dann sogleich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, erweisen sich bis heute als ein brillantes und perfekt funktionierendes Mittel der psychologischen Kriegsführung des »Islamischen Staates« (IS). So nennt sich ISIS seit dem 29. Juni 2014 selbst. An dem Tag hatte sich Abu Bakr al-Baghdadi in Mossul, der zweitgrößten Stadt des Irak, zum Kalifen ernannt, seinen Anspruch als Stellvertreter Gottes und Nachfolger des Propheten Mohammed der gesamten Gemeinschaft der Muslime dieser Welt postuliert und an diesem Tag, wie in den folgenden Wochen immer wieder, seine Ziele verkündet: die Wiedererrichtung des Kalifats zunächst nur im Irak und in den historischen Grenzen Großsyriens. Also dem heutigen Libanon, Syrien, Jordanien und natürlich Palästina, womit Israel und die besetzten Gebiete gemeint sind. Die Befreiung Jerusalems. Als nächstes Ziel gibt Abu Bakr al- Baghdadi vor, ausnahmslos jedes Land, in dem jemals Muslime die Herrschaft innehatten, seinem Kalifat zu unterwerfen. Bis hin nach Al Andalus, mitten auf europäischem Boden und weit darüber hinaus. Der Logik des Abu Bakr al-Baghdadi zufolge gilt es beispielsweise, weite Teile der Schweiz zu attackieren und letztendlich zurückzuerobern. Hatten doch im Jahr 939 arabische Truppen, die aus der französischen Provence vorstießen, Genf erobert, das Wallis und weite Teile Graubündens, die Ostschweiz beherrscht und waren bis St. Gallen im Nordosten und Pontresina im Südosten vorgedrungen. Westlichen Beobachtern zeigte sich Abu Bakr al-Baghdadi damit als ein geistig tief im Mittelalter feststeckender Kalif. Ein wahnwitziger Träumer aus 1001 Nacht. Sie belächelten ihn als einen Kalifen, der kläfft, er wolle »Rom erobern«3.

Die Vorstellung eines nur kläffenden Kalifen, der in den Welten des Mittelalters gefangen ist und sich lediglich auf angebliche Vorstellungen aus dem siebten Jahrhundert bezieht, geht an der Realität vollkommen vorbei und unterschätzt die Gefahr, die von Abu Bakr al-Baghdadis Kalifat zunehmend ausgeht. Noch im Sommer 2014 wurde die globale Gefahr, die das neu errichtete Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi für die ganze Welt darstellt, von der überwiegenden Mehrzahl aller Kommentatoren, den kundigen wie den sogenannten Experten, von medialer und politischer Öffentlichkeit sträflich unterschätzt. Der sogenannte Kalif verfolge eine lediglich regionale Agenda, habe im Gegensatz zum 2011 von den USA getöteten Osama bin Laden nur den »nahen Feind,« die korrupten Potentaten des Nahen und Mittleren Ostens im Visier. Nicht den »fernen Feind«, die USA und die Staaten des Westens. Ein Trugschluss, der sich 2015 in Frankreich, in Belgien, in Dänemark bitter und blutig rächen sollte. Die immer wiederkehrenden Ankündigungen hochrangiger Vertreter des ISIS, die eindeutig und unzweifelhaft die globale Zielrichtung des ISIS propagierten, wurden überhört oder nicht ernst genommen. Der »Islamische Staat« des neuen Kalifen war 2014 weltweit für Islamisten zu einem Magnet mit ungeheurer Anziehungskraft geworden, ein mythisches Land, das sich auch 2016 in Syrien und im Irak weiter konkretisiert und auf lange Jahre weiterexistieren wird – über die Region des Nahen und Mittleren Ostens hinaus. Seine Stoßrichtung ist eine globale, sein endgültiges Ziel ist die weltweite Herrschaft seines Kalifats. Das wesentliche Mittel, diese Vision zu realisieren, ist globaler Terror. Verbreitet mit allen nur denkbaren Mitteln. Abu Bakr al-Baghdadi weiß um die Hilflosigkeit, weiß um die Ohnmacht westlicher Öffentlichkeit dieser Terrorrealität gegenüber Bescheid, weiß welche Veränderungen, welche Verwerfungen der wahllose Terror in demokratischen Gesellschaften auslöst und wähnt sich deshalb auf der Siegerstraße. Es war und ist immer noch ein Trugschluss westlicher Politik, zu glauben, dass das Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi eine von nur vielen bizarren Merkwürdigkeiten in der Geschichte des Nahen Ostens sei. Ganz ohne jeden Zweifel steckt der selbsternannte Kalif in der Gedanken- und Glaubenswelt des dumpfsten Mittelalters fest – was ihn jedoch nicht daran hindert, alle Mittel der ihm so sehr verhassten Moderne effektiv einzusetzen. Auf Facebook, bei YouTube, via Twitter, in allen sozialen Netzwerken, verbreitet ISIS seine Botschaft, trommelt für seine Ziele und ist dabei mehr als nur erfolgreich. Gerade auch durch den Einsatz der blutigsten Bilder, die eine apokalyptische Endzeitbotschaft verbreiten: Du sollst töten! Im Namen deines Glaubens. Im Namen Allahs! »Du sollst töten!« Abu Bakr al-Baghdadi inszeniert sich in der Rolle des Führers aller Muslime und gibt denen seine Botschaft auf: »Hört, ihr Muslime, der Islam war nie auch nur einen Tag lang die Religion des Friedens. Der Islam ist die Religion des Krieges … Mohammed erhielt den Befehl, Krieg zu führen, bis Allah allein angebetet wird … Er zog selbst in den Kampf und nahm an Dutzenden von Schlachten teil. Niemals wurde er auch nur für einen Tag des Krieges müde.« Die Botschaft wirkt und erzeugt einen globalen Staubsaugereffekt. Abertausende pilgern in das verheißene Land des neuen Kalifen. Al-Baghdadi weiß um die schockierende Macht dieser Bilder, die zeigen, wie Männern, Frauen und Kindern die Köpfe abgesäbelt werden, wie sie gekreuzigt und zerstückelt werden. Er weiß um die Macht und die Sogwirkung der Bilder, die zeigen, wie Menschen gesteinigt oder lebendig begraben werden, wenn sie sich nicht seiner blutigen Glaubensknute beugen, sie sich nicht bedingungslos den Ge- und Verboten Allahs unterwerfen. Al-Baghdadi wird sich angesichts dieser Taten ganz im Einklang mit dem Islam wähnen. Das sollte ich in den kommenden Wochen in unzähligen Gesprächen mit vielen seiner Anhänger, mit einigen seiner Kämpfer, lernen: Heißt Islam in der wörtlichen Übersetzung des arabischen Wortes »Islam« doch nichts anderes als bedingungslose Unterwerfung und nicht Frieden, wie das als immer wiederkehrendes Stereotyp behauptet wird. Der neue Kalif weiß zudem, dass solche Bilder mitunter fehlende eigene Divisionen ersetzen und eine jede Kampfmoral zermürbende, jede Kampfkraft zersetzende Wirkung bei gegnerischen Armeen entfalten können.

Wie mörderisch die zerstörerische Wirkung dieser Bilder ist, realisierte die Weltöffentlichkeit erst nach der Eroberung von Mossul, der zweitgrößten und zugleich wichtigsten Industriestadt des Irak durch ISIS am 9. und 10. Juni. 60.000 Soldaten der schiitischen Zentralregierung waren an diesem Tag in den Garnisonen der Stadt stationiert. Trainiert von amerikanischen Ausbildern und Militärberatern. Die Divisionen Bagdads waren mit den modernsten Waffen aus US-Arsenalen ausgerüstet. Panzer, Hubschrauber, Flugzeuge, Artilleriegeschütze, Raketenwerfer, Granaten, Mörsergeschosse, Sturmgewehre. Seit Januar waren offensichtlich unbemerkt von den irakischen Sicherheitsbehörden, aus Syrien kommend etwa 3.000 ISIS-Terroristen in die Stadt eingesickert und fanden sicheren Unterschlupf bei sunnitischen Sympathisanten. Sechs Monate lang bauten sie unter den Augen der irakischen Sicherheitsbehörden eine militärische Infrastruktur auf, organisierten eine Schattenverwaltung und etablierten ein die ganze Stadt umfassendes mafiöses Geflecht, trieben monatlich allein in Mossul 15 Millionen US-Dollar an Steuern und Schutzgeldern ein.4 Als am Abend des 9. Juni um 21.30 Uhr etwa 900 ISIS-Kämpfer in wendigen Toyota-Hilux-Geländewagen vor Mossul auftauchten und in die Stadt eindrangen, flohen als Erstes die irakische Generalität sowie deren hohe Offiziere. Eine ganze Armee löste sich über Nacht in Nichts auf. Ohne Gegenwehr und ohne einen einzigen Schuss abgefeuert zu haben. Im Morgengrauen des 10. Juni beherrschte ISIS die ganze Stadt.

Wochen später zeigte sich General Helgurt Hikmet Mela Ali, der Sprecher der kurdischen Peschmerga-Streitkräfte in Erbil, der Hauptstadt des Autonomen Kurdistan, noch immer fassungslos: »Wir können das nicht erklären. 60.000 Mann, ausgebildete Kampfsoldaten, die mit dem weltweit modernsten Kriegsgerät ausgerüstet sind, kapitulieren vor 900 ISIS-Terroristen vor der Stadt und vielleicht 3.000 Insurgenten in der Stadt. Ohne auch nur einen einzigen Schuss abzugeben? Das kann niemand verstehen. Das kann niemand erklären.« Es gab natürlich viele Vermutungen und unendliche Spekulationen, die zumeist in den im Nahen und Mittleren Osten so sehr beliebten Verschwörungstheorien mündeten. Die USA hätten den Zusammenbruch der irakischen Armee inszeniert, um endlich wieder im Irak militärisch eingreifen zu können. Natürlich durfte der Mossad als Schurke nicht fehlen, der Muslime in einen Krieg gegen Muslime treiben wolle, auf dass die Juden so den Nahen und Mittleren Osten und schlussendlich auch die ganze Welt beherrschen könnten. Auch die Islamische Republik Iran wurde genannt. Die habe die schiitische Zentralregierung angewiesen, ihren Armeen in Mossul den Befehl zur Flucht zu geben. Es sei im Interesse Teherans, den sunnitischen Dschihad in Syrien und dem Irak zu stärken. Wenn sunnitischer Terror Syrien und den Irak überflute und den Westen bedrohe, dann sei der Westen gezwungen, Teheran im Kampf gegen den Terror des ISIS zu Hilfe zu rufen. Als Gegenleistung könne der Iran dann die Aufhebung aller Sanktionen gegen die Islamische Republik und massive Zugeständnisse im Atomstreit mit dem Westen verlangen. Wie bei Verschwörungstheorien üblich, wurde vieles vorgelegt und nichts bewiesen. Tatsächlich hat die schiitische Islamische Republik Iran jedoch in der Vergangenheit sehr wohl ihre ärgsten Feinde in der Region, die wahhabitischen Terrorfanatiker der Al-Qaida, bei Bedarf, wenn es den frommen Herren in Teheran opportun schien, unterstützt. Mit Geld, mit Waffen, mit Logistik und mit Schutz. Wenn es im nah- und mittelöstlichen Machtspiel galt, die USA, den »großen Satan«, zu treffen, zögerten die radikalen Eiferer innerhalb der Revolutionären Garden und der Al-Quds-Brigaden, dem terroristischen Auslandarm der Revolutionswächter, nicht, sich der sunnitischen Glaubenseiferer zu bedienen. Geht man 2016 in der Rückschau der Frage nach, wer bislang der einzige Gewinner des nahöstlichen Glaubensgemetzels ist, kann man zunächst nur einen Akteur auf diesem blutigen Spielfeld benennen: die Islamische Republik Iran. Aus dem schiitischen Pariastaat, der als Schurkenstaat weltweit geächtet und isoliert war, ist 2016 ein allseits anerkannter Partner geworden, der im diplomatischen Ringen, das blutige Chaos im Nahen und Mittleren Osten zu beenden, hofiert wird. Die Weltgemeinschaft hat den von ihr so lange Jahre geächteten schiitischen Terrorstaat wieder in ihre Reihen aufgenommen. Dass Teheran über lange Jahre hinweg für den Flächenbrand, der die Region verwüstet, wesentlich mitverantwortlich war, zählt nicht mehr. Tatsächlich hat der schiitische Gottesstaat den Stand seiner nuklearen Rüstungsbestrebungen völkerrechtlich verbindlich festschreiben können. Der »historische Kompromiss« im Streit um das Atomprogramm des Iran versetzt den Iran in den Stand einer virtuellen Atommacht. Kein ernstzunehmender Experte geht davon aus, dass der Iran bereits im Besitz der Bombe ist. Allerdings hat die Islamische Republik Iran in den letzten fünfzehn Jahren eine breite, allumfassende, nukleare Infrastruktur aufgebaut. Sie hat bestens ausgebildete Nuklearwissenschaftler und Techniker, sie hat, während sie den Westen dreizehn Jahre lang in den Verhandlungen um eine Beilegung des Streits um das militärische Nuklearprogramm auf dem diplomatischen Parket vorführte, alle Probleme auf dem Weg zur Bombe beiseite geräumt und gelöst. Bis hin zum funktionierenden Design eines nuklearen Gefechtskopfes. Darüber hinaus hat Teheran ein breites Raketenprogramm aufgestellt. Mit Mittelstreckenraketen, die nur für eines ausgelegt sind: den Transport nuklear Sprengköpfe. Wenn die dschihadistische Führung in Teheran den politischen Entschluss fällt, sich zur regionalen Nuklearmacht aufzuschwingen, dann wird binnen kürzester Zeit aus der derzeit nur virtuellen eine reale Nuklearmacht. Teheran folgt hierin dem leuchtenden Vorbild zweier Länder: der Volksrepublik Nordkorea sowie der Islamischen Republik Pakistan. Ein Beweis dafür, dass die frommen Machthaber beim unaufhaltsamen Aufstieg von ISIS mitgewirkt haben, ist das jedoch beileibe nicht – lediglich ein Beweis dafür, dass sie die vorläufigen Nutznießer des Chaos sind, das das Kalifat des Abu Bakr al-Baghdadi ausgelöst hat.

Zwei Tage nach dem Fall von Mossul erreichte der Sturmlauf von ISIS Tikrit, wo sich das Muster von Mossul deckungsgleich wiederholte, näherte sich Bagdad bis auf 25 Kilometer und drohte die Kapitale des Landes zu überrennen.

Als wir an diesem Sommertag in Tikrit ankamen, konnten wir den bestialischen Gestank des Todes, den Geruch des Blutes riechen, was kein Wunder war, denn überall lagen die zerfetzten Leiber der Gemarterten und verrotteten in der Wüstenhitze vor sich hin. Tikrit war an diesem Tag noch nicht wieder zur Gänze in der Gewalt der Gotteskrieger. Die Regierung in Bagdad hatte einen halbherzigen Versuch unternommen, die Stadt zurückzuerobern. Hatte neue Truppen ins Gefecht geschickt, aber die hatten außer Acht gelassen, dass sehr viele der Bewohner von Tikrit ISIS nicht als blutrünstige Besatzer angesehen, vielmehr als willkommene Befreier begrüßt hatten. Tikrit war immer eine Stadt Saddam Husseins gewesen. Der sunnitische Diktator, tief und fest in der tribalen Gedankenwelt Arabiens verankert, hatte die Stadt stets bevorzugt behandelt und sich aus seiner Heimatstadt seine engsten Vertrauten und ihm bedingungslos ergebene Gefolgsleute herangezüchtet. Die blieben Saddam Hussein über dessen Tod hinaus in unbedingter Treue fest verbunden, teilen dessen Hass auf alles Schiitische ebenso wie seine Angst vor allem Schiitischen. Beides zusammen schweißte ISIS und eine Vielzahl der Bewohner von Tikrit zusammen, und das war mit ein Grund, warum die schiitisch dominierte Armee der Zentralregierung in diesen Sommertagen die sunnitische Stadt nicht zurückerobern und ISIS nur aus einigen wenigen Randbezirken herausdrängen konnte.

Dort am Rande der Stadt war es also, wo wir in glühender Wüstenhitze Zaynab al-Husseini fanden und Abu Hamza und all die anderen trafen. Sunniten, denen das Entsetzen darüber ins Gesicht geschrieben stand, was der schiitischen Lehrerin aus Kerbela und ihrem Kind hier widerfahren war. Aber all das Kriegsgetöse um sie, das Mitleid und Entsetzen der Umherstehenden, die hilflosen Versuche, sie zu trösten, sie aus ihrer katatonischen Erstarrung herauszureißen, hatte für Zaynab al-Husseini wohl jede Bedeutung verloren. Sie war nur taub und schreckensstumm wie abgestorben dagestanden. Im wüsten Sand zu Tikrit.

Im glaubenstrunkenen Sturm hat ISIS, die dschihadistische Internationale des »Islamischen Staates im Irak und in Syrien« einer ewig sich selbst erneuernden Hydra gleich, im Zweistromland nicht nur irakischen Menschen wie Zaynab al-Husseini, sondern auch dem Rest der Welt das Schreckensgesicht einer islamischen Medusa gezeigt. All das, was Zaynab al-Husseini in jenen Junitagen widerfuhr, hatte kein einziger westlicher Geheimdienst auch nur ansatzweise so vorhergesehen. Im Gegenteil: »Als ISIS Mossul eroberte, waren wir fassungslos verblüfft. Erst als sie vor Bagdad stand, haben wir realisiert, dass wir es hier mit einer ganz neuen, viel gefährlicheren Dimension des globalen Dschihad und seines Terrors zu tun haben. Die haben sich scheinbar aus dem Nichts heraus ein eigenes Territorium erobert«, so sollte mir das drei Monate später in resignierter Einsicht und mit sehr viel Bedauern ein hochrangiger westlicher Nachrichtendienstler sagen. Das gebiert eine unmittelbare, direkte, konkrete Gefahr nicht nur für alle Anrainerstaaten in der Region. Ebenso auch für ausnahmslos alle Staaten des Westens. Denn ISIS ist, anders als Kern-Al-Qaida, eine straff organisierte Macht, sehr gut durchstrukturiert, mit finanziellen, militärischen, verwaltungslogistischen Ressourcen, die es ermöglichen, die protostaatlichen Strukturen seines Territoriums zu verfestigen, auszubauen und zu verteidigen. ISIS ist darüber hinaus auf lange Jahre in der Lage, sich selbst zu finanzieren, und ist nicht mehr auf staatliche, substaatliche oder private Hilfe aus dem arabisch-islamischen Raum angewiesen. »Al-Qaida ist tot, die Zukunft gehört ISIS. Hier wird gerade ein Alptraum Realität.«5 Ein Alptraum, so der Nachrichtenoffizier, der auf lange Jahre so schnell kein Ende fände.

Wie also hätte ausgerechnet Zaynab al-Husseini wissen können, was ihr in Tikrit widerfahren würde? Wohl wissend, dass die Leute zu Tikrit seit alters her Schiiten, zumal denen aus Kerbela, in mehr als nur glaubensbedingter Abneigung verbunden sind. Aber sie hatte die Versicherungen von Abu Hamza und all den anderen bekommen, dass die Lage in Tikrit ruhig und ihre Sicherheit nicht bedroht sei. Also hatte sie sich auf den Weg gemacht. Abu Hamzas Familie war mit der Familie ihrer Freundin, die sie in Tikrit besuchen wollte, in guter Nachbarschaft verbunden. »Ja«, hatte uns Abu Hamza an jenem Junitag in Tikrit auf unsere Nachfragen gesagt und scheu, verlegen und zugleich beschämt auf Zaynab al-Husseini gestarrt. »Ja, Sunniten und Schiiten in diesem Land, wir haben keine gute Vergangenheit gehabt. Noch nie. Eine gemeinsame, ja. Aber die war immer blutig.« Abu Hamza klang dabei mehr als nur resigniert. Abu Hamza ist ein Akademiker aus Tikrit, er hatte sich den Titel in langen Jahren des Exils erarbeitet, und es klang flehentlich, als er darum bat, nicht namentlich benannt zu werden. »Suchen Sie sich einen Namen für mich aus, aber niemals, verstehen Sie mich bitte, niemals nennen Sie meinen richtigen Namen. Sie können jederzeit von hier weggehen. Sie werden gehen und Sie müssen jetzt auch gehen und nehmen Sie die mit«, meinte er müde und deutete auf Zaynab, die noch immer dastand, verhüllt im schmutzig und schwarz befleckten Umhang. »Im Gegensatz zu Ihnen muss ich hierbleiben und leben. Aber ich liebe das Leben und das meiner Familie, meiner Freunde. Ich liebe nicht den Tod. Nehmen Sie sie also mit und gehen Sie. Denn die«, und es war klar, wen er meinte, »in einer Stunde oder zwei, aber spätestens in einem Tag werden sie wieder hier sein.«

Tarik wurde unruhig. Er drängte zum Aufbruch.

»Hat sie nicht einen Namen?« Abu Hamza schaute weg. Er hatte meine Frage gehört, sie, vielmehr noch, sehr genau verstanden. »Das weiß ich«, sagte er, »aber das sind Dinge, die hier jetzt nichts mehr zählen. Hat ein Mensch einen Namen, dann hat er eine Persönlichkeit. Hat ein Mensch seinen Namen verloren, dann hat er seine Persönlichkeit, seine Würde, seine Ehre verloren.«

Abu Hamza war ein kräftiger Mann mit finsterem Blick und freundlichem Wesen. Ich mochte ihn, auch wenn ich ihn immer weniger verstehen wollte, wohl weil ich ahnte, was er meinte. Er erklärte uns, wie sehr ihnen das alles leidtäte, dass sie Zaynab al-Husseini im Vorfeld ihres Besuches alle ihnen möglichen Sicherheitsgarantien gegeben hätten und dass niemand hätte ahnen können, was dann geschehen war. »Niemand hat das gewollt, niemand hat das gewusst, dieses Land ist im Untergang, und das ist es nicht zum ersten Mal in seiner Geschichte. Aber glauben Sie mir, dieser Untergang ist dieses Mal ein endgültiger. Es hat hier immer Kämpfe, Kriege gegeben. Zwischen Familien, zwischen Clans, zwischen den Stämmen, den Ethnien, den Religionen. Aber dann hat man zu guter Letzt doch immer irgendwie zueinander gefunden. Nicht perfekt, oder wie Sie das sagen würden, auf Augenhöhe.« Das hatte er in rasend schnellem Englisch geflüstert. Darüber geredet, dass es auch jenseits aller Familien, aller Clans, Stämme, Ethnien und Religionsgrenzen hinweg immer wieder über all die Jahrhunderte hinweg zumindest ein gedeihliches Nebeneinander, ein nachbarschaftliches Miteinander, oft genug ein freundschaftliches Zueinander gegeben habe. Abu Hamza hatte dann in bewusster Geste mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Zaynab al-Husseini gezeigt. »Was ihr hier widerfahren ist, zeigt etwas ganz anderes auf. Die das taten, die werden dieses Land, diese Region, aber auch euch in Europa im Würgegriff halten. Ihr werdet die Schockwellen dessen, was hier geschieht, am eigenen Leib zu spüren bekommen. Sie werden euch einholen.« Abu Hamza hatte natürlich nicht wissen können, was 2015 in Europa geschehen würde, aber er wusste sehr genau, dass etwas in Europa geschehen würde. Er wusste um den Glaubenswahnsinn derer Bescheid, die im Namen Gottes ihr mörderisches Geschäft betrieben. Er hatte sie erlebt, er hatte ihre Augen gesehen, ihren Wahn gespürt. Ihm war klar, dass nicht nur die Menschen seines Landes unter deren mörderischen Treiben leiden und sterben würden.

Der Irak, das wusste Abu Hamza sehr genau, war dabei, endgültig auseinanderzubrechen. Der Staat würde aufhören weiter zu existieren und dabei würden alle Grenzen niedergerissen werden. Auch wenn in routinierter Hilflosigkeit aus dem Westen heraus die immer gleichen Beschwörungsrituale vernommen wurden, die Einheit des Irak um jeden Preis zu bewahren. »Vielleicht ist es die Hölle, wenn mein Land explodiert«, sagte Abu Hamza, »ich weiß es nicht. Aber eines weiß ich. Die Hölle haben wir hier schon jetzt. Unter denen, die das taten«, sagte er und deutete dabei wieder auf Zaynab al-Husseini, »unter denen waren solche, die englisch sprachen, deutsch, französisch. Das waren die Schlimmsten, die Brutalsten. Wenn sie hier nicht sterben, dann werden sie zu euch nach Hause zurückkehren.«

Die Männer mit den langen Haaren und den noch viel längeren Bärten rühmten, während sie mit Zaynab al-Husseini taten, was sie mit ihr taten, glaubenstrunken und glückselig ihren Gott: Allahu Akbar – und der ist groß. Dann traten sie mit ihren Füßen das, was einmal ein Kind, ein zwei Jahre altes, gewesen war, achtlos zur Seite. Und dann trieben sie mit Zaynab al-Husseini das, was Männer nun einmal im Krieg so treiben. Mit Frauen. Stunde um Stunde. Gangbang. Vor allen Augen. Sie johlten und feixten und waren stark, diese glaubensstarken Männer Gottes.

Allahs wüste Kohorten hatten sich für ein paar Stunden aus diesem Teil der Stadt zurückdrängen lassen, um sich zu sammeln und neu zu gruppieren. Um zurückzukommen, weiter zu marschieren, zu morden, zu schlachten in ihrem Glaubenssturm gen Bagdad. Der große und kräftige Abu Hamza wirkte nur noch nichtig und klein und dann begann er das Weinen, bibberte und zitterte am ganzen Leib. Der kurdische Tarik hat den arabischen Abu Hamza in den Arm genommen und auf beide Wangen geküsst.

Wir sind dann hingegangen. Ein paar hundert Meter weiter weg. Haben mit Schaufeln ein Loch in den Sand gebuddelt. Haben das Kind in das Loch gelegt. So, dass es auf der rechten Seite lag, das Gesicht nach Mekka ausgerichtet. Danach haben wir den Sand in das Loch und auf das Kind geschaufelt. Tarik hat ein kurzes Gebet gesprochen. Danach sind wir gegangen.

»Wenn das deren Gott ist, dann ist das nicht mein Gott«, sagte Tarik auf dem Weg zu unserem Wagen nur hilflos, und da war ein Beben und Zittern in ihm. Tarik, der all die irakischen Kriege der letzten 35 Jahre durchlitten und darin als kurdischer Peschmerga gekämpft hatte, ist ein gottesfürchtiger Mensch. Tarik wusste viel zu erzählen über diese Streiter Gottes, die scheinbar aus dem Nichts herauskommend, einem alles zerstörenden Heuschreckenschwarm gleich, in jenen Sommertagen im Juni 2014 über den Irak und seine Menschen hergefallen sind. »Die Amerikaner hätten dieses Land niemals verlassen dürfen«, meinte Tarik an diesem Tag und spielte damit auf das an, was 2011 im Westen mit so viel Erleichterung zur Kenntnis genommen wurde. Der bedingungslose und sehr plötzliche Abzug aller amerikanischen Truppen aus dem Irak.

Ich hatte Tarik am Vorabend des dritten Golfkrieges, dem des George Walker Bush, im Januar 2003 in der kurdischen Stadt Suleymania kennengelernt, von wo aus ich den kommenden Krieg im Irak zu reportieren hatte, und Tarik war mir als Fahrer und viel wichtiger noch als sachkundiger Mensch empfohlen worden. In den folgenden Monaten hatte Tarik mich Tag und Nacht sicher durch die Geschehnisse dieses Krieges geführt, sich nicht nur als sicherer Fahrer und kompetenter Führer, vielmehr noch als treuer Freund erwiesen. Wir waren in den Jahren danach immer im Kontakt geblieben und als ich mich im Juni 2014 im jordanischen Amman mit recht zuvorkommenden jordanischen Staatsbeamten traf, da hatte mir beim abendlichen Essen einer aus der Riege der beamteten Menschen einen Rat gegeben: »Gehen Sie nach drüben, wir können nicht genau wissen, was passiert, wir gehen aber davon aus, dass da was passiert.« Das schien mir eine recht kryptische Anmerkung, und auf meine Nachfragen, mir doch mit detaillierteren Auskünften zur Seite zu stehen, schwieg er zunächst auf die Art, die Leuten seiner Profession allzu oft zu eigen ist. Ein sehr vielsagendes Schweigen, das neugierig machen sollte und als ich ihn bat, konkreter zu werden, wurde er konkreter. »Der Irak wird auseinanderbrechen, das wird kein Beben, das wird ein Erdbeben sein. Fahren Sie hin.« Der freundliche Beamte aus den Reihen des jordanischen GID, dem mächtigsten Geheimdienst des Königreiches, hatte mir versichert, dass der Weg an Ramadi und Falludscha vorbei noch sicher sei, auch wenn beide Städte in weiten Teilen unter der Herrschaft von ISIS stünden. »Noch«, sagte er, »aber niemand weiß, wie lange noch.« Ich hatte mir eine Art von Visum besorgt und Tarik kontaktiert, er war gekommen und von Amman aus waren wir dann an Ramadi und Falludscha vorbei nach Bagdad gefahren, um uns dann eher zufällig in Tikrit wiederzufinden. Dort trafen wir Abu Hamza und Zaynab al-Husseini.

Tarik, der in seinem Leben vieles nur eines nie, das Lesen und Schreiben gelernt hatte, wusste klug zu analysieren. »Die Schiiten haben Öl. Wir Kurden haben Öl. Die Sunniten hier, die haben nur eines: Sand. Das ist nur eines der Probleme hier. Das viel Schlimmere ist der Glaube. Sunniten gegen Schiiten. Schiiten gegen Sunniten. Araber gegen Perser. Perser gegen Araber. Alle gegen die Kurden. Die Kurden gegen alle. Das ist das Leben in diesem Land.« Was Tarik nicht wissen konnte, er war in seiner Analyse fast wortgleich mit der eines deutschen Diplomaten, der mir in zynischer Heiterkeit am Vorabend des dritten Irakkrieges in Bagdad die Entwicklung prophezeite. Ich war im frühen Sommer 2002 vier Wochen lang durch die Republik des Terrors gereist, in die Saddam Hussein den Irak über Jahrzehnte hinweg verwandelt hatte. Ein Land, in dem lähmende Angst die Menschen in Gefangenschaft hielt. Jeder hier wusste, dass der Krieg des George Walker Bush unmittelbar bevor stand. Niemand wagte jedoch laut darüber zu sprechen, nur flüsternd fragten die Menschen, wann all die Bomben, die Granaten und Raketen, wann der Tod über sie hereinbrechen würde. Bagdad war eine in grauer Hässlichkeit erstarrte Stadt, aus deren Seele die Jahre währende blutrünstige Diktatur schon längst jede Lebenslust herausgeprügelt hatte. Jeder wusste: Der Krieg der USA würde ein sehr kurzer, wenngleich für das Regime des Saddam Hussein sehr vernichtender sein.

Ausnahmslos jeder, mit dem ich sprach, hatte Angst vor diesem Krieg. Aber viel mehr noch hatten die Menschen vor einem Angst: davor, was unweigerlich und ganz ohne jeden Zweifel nach diesem Krieg kommen musste. Sogar die Schergen der Diktatur waren von dieser Angst besessen. Der Irak, das war die Befürchtung aller Gesprächspartner, würde nach dem unweigerlichen Sturz des Diktators, der dem Krieg der USA gegen Saddam Hussein folgen würde, explodieren. »Das wird ein blutiger Krieg aller gegen alle sein«, hatte mir ein Iraker resigniert erzählt. Ein Krieg entlang der ethnischen und konfessionellen Bruchlinien. Nur: die verliefen nicht klar und voneinander abgegrenzt. Viele Provinzen waren mit Sunniten und Schiiten, Arabern, Kurden, Turkmenen, Assyrern und weiteren Ethnien durchmischt. Alle konkurrierten miteinander, alle hatten mehr oder weniger blutige Rechnungen offen. Im erwartbaren Chaos des Nachkriegsirak würden diese Verwerfungen aufbrechen und die Radikalen aller Seiten stärken. Ein idealer Nährboden für Al-Qaida.

Natürlich konnte sich kein westlicher Journalist unbeaufsichtigt im Irak bewegen, und so waren mir zwei aufmerksame und fürsorgliche Begleiter zur Seite gestellt worden. Sie machten kein Geheimnis daraus, welchem der unzähligen Geheimdienste des Saddam Hussein sie angehörten, dass sie Tag für Tag ihre Berichte abzugeben hätten. Sie waren redlich bemüht, finster und einschüchternd zu wirken. Es blieb nicht aus, dass sie irgendwann in diesen Wochen zugänglicher wurden, und als wir eines Tages in Kerbela, der heiligen Stadt der Schiiten, zu Mittag aßen, meinte einer der beiden leise und sehr bestimmt, dass »die Amerikaner es diesmal wirklich ernst meinen. Sie werden den Job zu Ende bringen. Was soll nur aus uns werden?« Sie hatten beide als Soldaten im Süden gekämpft. In Nadschaf und in Kerbela.

Die USA hatten im zweiten Golfkrieg 1991 ihren Feldzug zur Befreiung Kuwaits siebzig Kilometer vor Bagdad gestoppt und auf Drängen Saudi-Arabiens sowie der sunnitischen Herrscher der Emirate am Golf mit Saddam Hussein einen Waffenstillstand vereinbart und so dem Diktator den Machterhalt ermöglicht. Zu groß war die Angst der Prinzengarde auf der arabischen Halbinsel, dass der Irak auseinanderbrechen würde. In einen armen sunnitischen, einen ölreichen schiitischen und einen kurdischen Teil, in dem die Kurden zum Entsetzen der Türkei und Syriens dann womöglich ihren eigenen unabhängigen Staat ausrufen würden. In Nadschaf und Kerbela befinden sich die wichtigsten Heiligtümmer der Schia, und nach einem Sturz Saddam Husseins mussten die saudischen Prinzen befürchten, dass Teheran in das irakische Machtvakuum vorstoßen würde und zumindest im schiitisch dominierten Teil des Landes einen schiitischen Gottesstaat errichten wolle. Teheran würde so zur alles beherrschenden Macht im Irak werden und den uralten Hass zwischen Sunniten und Schiiten neu entflammen. Zumal die frommen Herrscher des Irans nie ein Hehl daraus gemacht hatten, ihr Modell eines Gottesstaates nach dem Prinzip der Velayat-e-Faqih, der Herrschaft des Obersten Führers, in die gesamte islamische Welt, also auch in die sunnitische exportieren zu wollen.

Teheran hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass es zur alles dominierenden Großmacht am Golf werden wollte, eine Position, um die sie mit den saudischen Herrschern rangen. Hinzu kam, dass in Saudi-Arabien etwa 15 Prozent der Bevölkerung Schiiten sind, die im besten Fall nur als Menschen zweiter Klasse behandelt werden, denen darüber hinaus ein Großteil der Öleinnahmen, das in den Gegenden Saudi-Arabiens gefördert wird, in denen seit alters her Schiiten leben, vorenthalten wird. Dahinter stand also die panische, durchaus nicht unberechtigte Angst der sunnitisch-arabischen Königskaste am Golf, dass ausgerechnet die verhasste persisch dominierte schiitische Islamische Republik Iran ihren Einfluss, ihre Macht bis an die eigenen Grenzen ausdehnen würde und darüber hinaus so zum Sturz der königlichen Herrscher Saudi-Arabiens beitragen könnte. Eine Befürchtung, die in Washington geteilt wurde. Das nach dem Auseinanderbrechen des Irak befürchtete Chaos würde, so die Angst der Bush-Administration, den Westen mit der Versorgung durch den so dringend benötigten Lebenssaft abschneiden: Öl. Araber versus Perser, Sunniten versus Schiiten. Der ewige über Jahrhunderte währende Hass sicherte Saddam Hussein die Macht. Es war ein Fehler des Westens, im zweiten Golfkrieg nicht nach Bagdad zu stürmen und stattdessen Saddam Hussein an der Macht zu belassen. Es ist mehr als nur zweifelhaft, dass die arabischen Schiiten des Irak 1992 nach einem möglichen Sturz Saddam Husseins durch die damalige »Koalition der Willigen« so ohne weiteres den engen Schulterschluss mit den persischen Schiiten gesucht hätten. Dem Trugschluss war im ersten Golfkrieg schon Ayatollah Khomeini aufgesessen, der verzweifelt darauf setzte, dass die Schiiten des Irak an der Seite des Irans gegen Saddam Hussein kämpften. Das Gegenteil war der Fall. Die Schiiten des Irak verstanden sich zunächst als Araber, die gegen die Perser kämpften. Dass die mehrheitlich schiitische Glaubensbrüder waren, war da zunächst zweitrangig.

Vor laufender Kamera hatte George Bush senior 1991 die Kurden und die Schiiten zum Aufstand gegen Saddam Hussein aufgerufen, ihm jedoch im Waffenstillstandsvertrag seine mächtige Kampfhubschrauberflotte belassen. In der Hoffnung auf Beistand durch die USA, kamen Kurden wie Schiiten dem Aufruf des US-Präsidenten nach. Vor den Fernsehbildschirmen der Welt konnten die Menschen Tag für Tag zur Primetime mitverfolgen, was dann geschah. Mit mörderischer Effektivität setzte Saddam Hussein seine Kampfhubschrauberflotte ein. In Kurdistan, wie über den heiligsten Stätten der Schiiten, kreisten die Hubschrauber. Hunderttausende wurden massakriert. Den Verrat der USA haben die irakischen Schiiten den USA und dem Westen nie verziehen. Das war der eigentliche Grund dafür, dass nach 2003 die Schiiten im Irak für die Vereinnahmung durch Teheran mehr als nur empfänglich waren. Die brutale Unterdrückungspolitik, die der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki spätestens seit 2011 offen und sehr gezielt gegen die Sunniten seines Landes durchsetzte, resultierte nicht zuletzt aus dem blutig gescheiterten Aufstand der Schiiten gegen Saddam Hussein.

Die beiden Begleiter meiner Reise durch den Irak 2002 hatten im Süden, in Nadschaf wie in Kerbela gekämpft und getötet. Sie sprachen mit gedämpfter Stimme darüber, machten auch kein Hehl daraus, wie notwendig sie fanden, was sie getan hatten. Damals 1991. Aber jetzt saßen wir elf Jahre später in diesem kleinen Restaurant in Kerbela und aßen. Unweit des Imam-Hussein-Schreins. Hussein starb in der Schlacht von Kerbela 680 den Märtyrertod. Die vollständig mit Gold überzogene Kuppel ragt 27 Meter hoch in den Himmel. 1991 war sie von den sunnitischen Soldaten Saddam Husseins zerstört worden, für die Schiiten ein Frevel sondergleichen. Von Seiten Saddams eine unmissverständliche Warnung an alle Schiiten. Meine geheimdienstlichen Begleiter waren nachdenklich und vielmehr noch ängstlich. »Elf Jahre lang haben die Schiiten ihre Lektion verstanden«, meinte einer der beiden. »So ist das hier nun einmal. Lektionen müssen durch Blut erteilt werden, nur dann werden sie verstanden.« Was er nicht sagte, aber natürlich wusste, war die Tatsache, dass solche Lektionen nie vergessen, geschweige denn vergeben werden. »Was wird aus uns nur werden?«, wiederholte er und kannte die Antwort darauf natürlich. Sie würden sterben und sie wussten es. Bagdad und der Irak würden nach dem Krieg der USA