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»Ein isländischer Schriftsteller kann nicht leben, ohne beständig über die alten Bücher nachzudenken.« Halldór Laxness Der Stellenwert, den die Isländersagas im kulturellen Gedächtnis der Isländer einnehmen, ist enorm. Bis heute haben die fesselnden Geschichten rund um die Besiedelung der nordischen Insel nicht an Leuchtkraft verloren: Die Prosatexte aus dem 13. und 14. Jahrhundert sind eine Sternstunde der Geistesgeschichte Europas – und können hier in einer breiten Auswahl bewundert werden. Mit der vorliegenden Neuedition öffnet sich dem Leser ein Tor in eine Welt, die beseelt ist von wütenden Außenseitern, starken Frauen und Rechtskundigen, von Rache, Totschlag und Buße, aber auch von Schadenszauber und Wiedergängern und nicht zuletzt abenteuerlichen Reisen in ferne Länder. Die Isländersagas sind Weltliteratur. Die ›Isländersagas‹ - vorgelegt von den besten literarischen Übersetzern und angereichert mit wissenschaftlichen Zusatzinformationen - räumen einer der bedeutendsten Literaturen den Platz ein, der ihr gebührt. Mit einem Vorwort der Herausgeber Mit Faksimiles der mittelalterlichen Handschriften Mit Karten der Handlungsorte der Sagas Mit einem Glossar
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Seitenzahl: 435
Isländersagas. Texte und Kontexte.
Herausgegeben von Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack
Fischer e-books
Mit einem Vorwort der Herausgeber
Mit Faksimiles der mittelalterlichen Handschriften
Mit Karten der Handlungsorte der Sagas
Mit einem Glossar
Die Isländersagas (Íslendingasögur) sind umfangreiche Prosaerzählungen in altisländischer Sprache, entstanden im 13. und 14. Jahrhundert. Sie gelten als der wichtigste Beitrag Islands zur Weltliteratur und sind in viele Sprachen übersetzt worden, mehrfach auch ins Deutsche. Die vorliegende Ausgabe präsentiert eine breite Auswahl dieser Sagas in neuen deutschen Übertragungen, ergänzt durch eine Reihe thematisch und stilistisch verwandter Erzählungen (þættir) aus derselben Epoche. In ihrer novellenhaften Kürze und Pointiertheit legen sie zusammen mit den Isländersagas in eindrucksvoller Weise Zeugnis ab von der im Mittelalter einzigartigen Erzählkunst Islands.
Viele Übersetzer haben zum Entstehen der neuen Ausgabe beigetragen. Wenn die Übertragungen dadurch einen je individuellen Ton bekommen haben, dann ist dies durchaus beabsichtigt. Denn die Originaltexte haben bei allen Gemeinsamkeiten doch immer eine deutlich eigene Prägung, die auch in der Übersetzung noch durchscheint. Damit die Sagas als literarische Kunstwerke für sich wirken können, sollten sie von allen erläuternden Zusätzen möglichst frei bleiben. Für das Verständnis unverzichtbare Anmerkungen der Übersetzer sowie Karten zur geographischen Orientierung finden sich in einem Anhang. Den größeren kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang erschließt der Begleitband.
April 2011
Die Herausgeber
Die Erzähltexte, die diese Ausgabe versammelt, sind vor mehr als einem halben Jahrtausend auf Island entstanden, die ältesten im 13., die jüngeren im 14. Jahrhundert. Von wem sie verfasst wurden und wann genau das geschah, wissen wir nicht. Die Handschriften, die die Isländersagas überliefern, geben darüber keine Auskunft; sie enthalten zumeist nur die Texte selbst. Diese aber führen uns noch weiter zurück in die Vergangenheit: Die anonymen Verfasser erzählen von den ersten Jahrhunderten isländischer Geschichte. Sie schildern die »Landnahme« (landnám) genannte Ansiedlung ihrer wohl größtenteils aus Norwegen stammenden Vorfahren auf der Insel im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert, und sie berichten, wie diese ersten Isländer ihr neues Gemeinwesen organisierten, wie sie ihre sozialen Beziehungen regelten und ihr Verhältnis zum norwegischen König, wie sie ihr Recht durchzusetzen pflegten, Macht, Einfluss und Wohlstand verteilten und anderes mehr: Die Isländersagas führen uns vor Augen, wie die isländische Gesellschaft entstanden sein könnte. Das alles ist bis ins Detail so lebensnah und ›realistisch‹ geschildert, dass man meinen könnte, ein Abbild der historischen Wirklichkeit Islands vor über tausend Jahren zu erkennen. Tatsächlich jedoch werden diese Geschehnisse aus der sogenannten Sagazeit (söguöld) rückblickend erzählt, mit etwa 300 Jahren Abstand, und dabei in einer Weise (re)konstruiert, wie es die Verfasser des Hoch- und Spätmittelalters für angemessen und überzeugend hielten. Sie sind es, die uns glauben machen möchten, dass sich die frühe Geschichte Islands so und nicht anders ereignet habe. Dafür nutzen sie ihr Wissen über diese Epoche und dann vor allem die Möglichkeiten der Literatur so souverän und gekonnt, dass ihre Erzählungen bis heute als Kunstwerke zu faszinieren vermögen. Als solche sind die Isländersagas aus der spezifischen (kultur)historischen Situation Islands im 13. und 14. Jahrhundert hervorgegangen, und über diese Epoche sagen sie daher mindestens so viel aus wie über die Zeit, der sie sich widmen.
Diese eigentümliche Verschränkung von Erzähltem und Erzählen spiegelt der Begriff der saga (abgeleitet von dem altwestnordischen Verb segja, »sagen«, »erzählen«), mit dem die Isländer Prosa zu bezeichnen pflegen: Wie das deutsche Wort »Geschichte« meint dieser Begriff das Geschehene selbst ebenso wie den Bericht darüber. Fast alle mittelalterliche isländische Prosa heißt deshalb saga, und immer ist mit diesem Begriff volkssprachliche Literatur gemeint. Isländische Sagas sind also Erzählungen in isländischer oder – genauer – altwestnordischer Sprache, jener Literatursprache, die Island im Mittelalter mit Norwegen gemeinsam hatte; in den zeitgenössischen Quellen wird sie als norröne Sprache bezeichnet. Als Lehnwort ist Saga auch im Deutschen gebräuchlich (und hier strikt zu unterscheiden von der »Sage«), ebenso wie die Sammelbezeichnung »Sagaliteratur« für die mittelalterliche isländische Prosa. Deren berühmteste Vertreter sind die in der vorliegenden Ausgabe präsentierten Isländersagas. Im Unterschied zu den meisten anderen Sagagattungen, die sich etwa der Geschichte Norwegens widmen, der sagenhaften Vorzeit vor der Besiedlung Islands, den Leben der Heiligen und anderem, beschäftigen sich die Isländersagas ganz überwiegend mit isländischen Angelegenheiten. Die Isländer nennen sie daher Íslendingasögur, »Sagas von Isländern«, und diese Bezeichnung hat man als »Isländersagas« in die deutsche Sprache übernommen. Die früher gebräuchliche Bezeichnung »Familiensagas« wird hingegen heute nur noch selten verwendet. Wegen seiner Ungenauigkeit abzulehnen ist der gelegentlich anzutreffende Begriff »Island-Sagas«.
Während also »isländische Sagas« die Sagaliteratur im Ganzen meint, sind »Isländersagas« jene Untergruppe der Sagaliteratur, die sich im Hoch- und Spätmittelalter mit der Entstehung der isländischen Gesellschaft als Einwanderergesellschaft auseinandersetzt. Die Bezeichnung ist mittelalterlich nicht belegt, sie trifft die Charakteristik der Isländersagas aber genau. Denn diese handeln von Isländern auch im emphatischen Sinn: von Menschen, die im Begriff sind, ihre Einwanderer-Identität hinter sich zu lassen und eine neue politische und kulturelle Identität als Gruppe anzunehmen, eben als Isländer. Diesen Prozess spielen die Isländersagas wieder und wieder durch, und sie formen dabei die Vergangenheit in einer Weise, wie es zunächst den Bedürfnissen des 13. und 14. Jahrhunderts entsprochen haben wird: als den Beginn eines Kontinuums gemeinsamer Erfahrung, das die Eigentümlichkeit der gegenwärtigen Kultur bedingt. Gerade damit aber boten sich die Isländersagas auch vielen späteren Epochen förmlich an als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, was denn eigentlich das Isländische ausmache. Noch oft sind seither gerade die Isländersagas als fundierende Texte im Sinne von Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses in Anspruch genommen worden. Als solche konstituieren sie nicht nur ein spezifisches Geschichtsbild, in dem der Sagazeit für die Bestimmung isländischer Identität eine zentrale Rolle zugesprochen wird. Sie sind zugleich Projektionsfläche aller späteren Transformationen gerade dieses Geschichtsbildes.
Auf diese Weise sind die Isländersagas eng mit bestimmten Etappen der isländischen Geschichte verbunden. Diese trägt die typischen Züge einer Kolonialgeschichte: Nach der Besiedlung im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert hatte sich auf Island zunächst ein unabhängiges Staatswesen (þjóðveldi) mit einer eigentümlichen Verfassung entwickelt, das indes 1262/64 in das Norwegische Reich integriert wurde. Mit diesem gemeinsam kam Island gut hundert Jahre später unter die dänische Krone. Erst nach über einem halben Jahrtausend erlangte es im 20. Jahrhundert schrittweise seine Unabhängigkeit wieder: 1918 erkannte Dänemark die Souveränität Islands an, das aber mit dem Dänischen Reich in Personalunion verbunden blieb, bis es diese 1944 mit der Gründung der Republik Island einseitig auflöste. Vor diesem Hintergrund ist es kaum erstaunlich, dass man den Fluchtpunkt zunächst kultureller und später auch politischer isländischer Identität gerade in jener Epoche des ersten unabhängigen isländischen Staates gesucht hat (und weiterhin sucht), deren Bild die Isländersagas mit großer Überzeugungskraft entwerfen. Begünstigt wurde dies dadurch, dass die Texte sprachlich zu allen Zeiten relativ leicht zugänglich waren. Denn das mittelalterliche Isländisch steht der modernen isländischen Sprache deutlich näher als zum Beispiel das Mittelhochdeutsche dem Neuhochdeutschen oder das Altenglische der englischen Sprache unserer Zeit.
So haben sich denn nicht nur die beiden eingangs angesprochenen Zeithorizonte, die Sagazeit zwischen etwa 870 und 1030 und jene Jahrzehnte im 13. und 14. Jahrhundert, in denen die Isländersagas entstanden sind, in die Texte eingeschrieben. Auch die Epoche ihrer handschriftlichen Überlieferung seit dem Spätmittelalter hat ihre Spuren hinterlassen, dann die im 17. Jahrhundert beginnende Phase des Sammelns und Bewahrens der mittelalterlichen Handschriften und schließlich noch die Zeit des nation-building seit dem 19. Jahrhundert sowie, eng damit verbunden, die philologische Erschließung der Sagas in modernen Textausgaben. Wer heute die Isländersagas liest, sieht daher wie durch eine Reihe verschiedener Linsen auf die geschilderten Ereignisse. Dass sich bei der Lektüre dennoch der Eindruck einstellt, man stünde der Sagazeit ganz unmittelbar gegenüber, ist nichts anderes als ein literarischer Effekt. Die Isländersagas leben geradezu von der inneren Spannung, die aus diesem Gegensatz entsteht, und fordern damit bis heute immer wieder zu ihrer Deutung auf.
Keine Saga ist als Original überliefert, also in einer von ihrem Autor verbürgten, einzig gültigen Fassung. Wir kennen die Texte nur in der Gestalt, in der Handschriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit sie bewahren: als Abschriften von Abschriften, die in einem nicht mehr zu bestimmenden Verhältnis zu der (hypothetischen) Urfassung ihres Textes stehen. Dass diese Urfassung als Original eine eigene, unbedingt zu erhaltende Aura haben könnte, ist eine Vorstellung, die sich erst in der Neuzeit und lange nach der Einführung des Buchdrucks allmählich entwickelt hat. Die mittelalterliche Handschriftenkultur kennt einen solchen nur mit sich selbst identischen Originaltext nicht, und da Schreiber und Redaktoren beim Abschreiben mit Bedacht oder aus Nachlässigkeit Änderungen am Wortlaut ihrer Textvorlagen vornahmen, existieren mittelalterliche Texte fast immer in voneinander abweichenden handschriftlichen Versionen, die zudem oft deutlich jünger sind als die Texte selbst. Diese Mehrfachüberlieferung ist für die mittelalterliche Buchkultur generell und auch für die isländische so charakteristisch, dass wir in der vorliegenden Ausgabe wenigstens exemplarisch einen Eindruck davon geben möchten. So kann man die »Saga von Gísli Súrsson« (Gísla saga Súrssonar) in Band 2 in den beiden überlieferten Fassungen in deutscher Übersetzung nachlesen. Bei anderen Sagas haben wir in die übersetzte Version bisweilen Zusätze aus anderen handschriftlichen Fassungen aufgenommen und als solche kenntlich gemacht. Damit möchten wir darauf hinweisen, dass mittelalterliche Manuskripte nicht wie die gedruckten Bücher unserer eigenen Epoche ›feste‹ Texte tradieren, deren verbindliche Gestalt der Intention ihres Autors entspricht, sondern ›unfeste‹, wieder und wieder nacherzählte und dabei vielfach revidierte und aktualisierte Zeugnisse in diversen Fassungen enthalten, von denen jede für sich Gültigkeit beanspruchen kann. Dies gilt für die in mindestens zwei Versionen überlieferte »Saga von Brennu-Njáll« (Brennu-Njáls saga) genauso wie zum Beispiel für die Fassungen der »Saga von den Verbündeten« (Bandamanna saga), der »Saga von den Söhnen der Droplaug« (Droplaugarsona saga), der »Saga von Eirík dem Roten« (Eiríks saga rauða) oder der »Saga von den Schwurbrüdern« (Fóstbrœðra saga), um einige weitere Beispiele zu nennen. Letztlich ist daher ein Text in der Manuskriptkultur stets als die Summe seiner handschriftlich überlieferten Versionen anzusehen. Das macht unter anderem die Datierung schwierig, zumal das Alter einer Handschrift, das ebenfalls nur in seltenen Fällen genau zu bestimmen ist, keine Rückschlüsse erlaubt auf die Entstehungszeit der in ihr bewahrten Texte. Es ist keine Seltenheit, dass ältere Textfassungen von jungen Manuskripten tradiert werden. In den allermeisten Fällen ist es unmöglich zu sagen, wie ein Sagatext ausgesehen oder sich entwickelt haben könnte, bevor jene handschriftlich tradierten Fassungen entstanden, in denen wir ihn kennen.
Die frühesten Sagahandschriften sind sämtlich verloren und damit zweifellos auch eine Anzahl von Sagas, die keinerlei Spuren hinterlassen haben. In der Überlieferung gibt es aber hin und wieder auch Hinweise auf Texte, von denen sich sonst nichts erhalten hat. Die ältesten bewahrten Fragmente stammen aus der Zeit um 1250, darunter vier Pergamentblätter aus der »Saga von Egill Skalla-Grímsson« (Egils saga Skalla-Grímssonar), hergestellt aus dem typischen Material der isländischen mittelalterlichen Bücher, aus Kalbshaut. Im Ganzen sind bis um 1300 freilich nur wenige Handschriften bewahrt. Erst danach steigt ihre Zahl merklich an.
Ganz überwiegend stammen die mittelalterlichen Sagahandschriften mithin aus jener Zeit zwischen 1262/64 und (ca.) 1380, in der Island zum norwegischen Königreich gehörte. Das Land erlebte in dieser Zeit nach dem Verlust der politischen Selbständigkeit einen tiefgreifenden sozialen Wandel, durch den die isländische Gesellschaft sich neu formierte. Sie bildete feudale Strukturen aus, in denen nun zum ersten Mal Vertreter der Königsmacht ihren Platz beanspruchten. Deren Ämter waren einträglich und sicherten zusammen mit den Erlösen aus dem Export von Stockfisch, einem in Europa weithin begehrten Nahrungsmittel, den Wohlstand mächtiger Familien. In dieser Oberschicht, die gute Verbindungen zu den Bildungsstätten der Kirche hatte, vermutet man die Auftraggeber und Finanziers der mittelalterlichen isländischen Bücher, die im Übrigen offenbar nicht nur für einheimische Bedürfnisse angefertigt wurden, sondern auch für die Ausfuhr nach Norwegen. Im Detail weiß man über das alles außerordentlich wenig. Es ist daher nicht mehr als eine Annahme, wenngleich eine recht plausible, dass die genannte Elite sich für die Isländersagas mit ihren Erzählungen vom Entstehen sozialer Ordnung gerade vor dem Hintergrund ihrer eigenen veränderten Gesellschaftsstruktur interessiert haben könnte.
Aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammen gleich mehrere Manuskripte der vermutlich wenige Jahrzehnte zuvor, am Ende des 13. Jahrhunderts, entstandenen »Saga von Brennu-Njáll«. Zu deren Manuskripten gehört auch die einzige Pergamenthandschrift einer Isländersaga, die (obgleich spärlich) mit Illuminationen versehen ist: die Kálfalækjarbók (»Buch aus Kálfalæk«) aus der Zeit um 1350. Davon abgesehen haben wir es bei der mittelalterlichen Überlieferung der Isländersagas stets mit schmucklosen Gebrauchshandschriften zu tun. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sind dann auch große Sammelhandschriften belegt, die mehrere Isländersagas gemeinsam bewahren. Nur eine von ihnen, die Möðruvallabók (»Buch aus Möðruvellir«), ist erhalten. Die sogenannte Vatnshyrna (»Buch aus Vatnshorn«) hingegen ist 1728 beim Brand von Kopenhagen bis auf wenige Blätter vernichtet worden, und auch eine Schwesterhandschrift, die man als Pseudo-Vatnshyrna bezeichnet, ist verlorengegangen. Es lässt sich aus jüngeren Abschriften immerhin rekonstruieren, welche Sagas diese Kodizes enthielten. Daher weiß man, dass man sich im 14. Jahrhundert nicht nur der engen Zusammengehörigkeit jener Zeugnisse bewusst war, die wir heute unter der modernen Gattungsbezeichnung ›Isländersagas‹ subsumieren, sondern darüber hinaus ein Interesse hatte, diese Texte in eigens dafür angelegten Büchern gemeinsam zu archivieren. Solche Bücher wurden im Übrigen nicht nur für die frühe Geschichte Islands zusammengestellt, sondern auch zum Beispiel für die isländische Geschichte des 13. Jahrhunderts (Króksfjarðarbók, »Buch aus dem Króksfjord«, Reykjafjarðarbók, »Buch aus dem Reykjafjord«) oder für die Geschichte des Norwegischen Reiches und seiner Kolonien (Flateyjarbók). Für unsere Kenntnis der Isländersagas war der Impuls, auch der Sagazeit eigene Saga-Sammlungen zu widmen, von kaum zu überschätzender Bedeutung. So bestimmen die Kompilatoren des 14. Jahrhunderts nicht nur durch ihre Textauswahl unsere Wahrnehmung des Genres, sondern auch durch ihre stilistischen Vorlieben. In vielen Fällen sind es die Textfassungen der Möðruvallabók, auf denen die modernen textkritischen Editionen beruhen. Deshalb prägt gerade diese Handschrift die Vorstellungen, die man sich in der Neuzeit von der charakteristischen Gestalt der Isländersagas und von ihrem für ›klassisch‹ gehaltenen Erzählstil macht.
Ihren Namen hat die Möðruvallabók erst seit dem späten 19. Jahrhundert; er ist abgeleitet von dem Ortsnamen Möðruvellir, den ein Besitzervermerk von 1628 erwähnt. Das größtenteils gut erhaltene Manuskript hat das charakteristische Aussehen eines mittelalterlichen Buches: Etwa 34 cm hoch und 24 cm breit, umfasst es zwischen zwei schweren hölzernen Buchdeckeln 200 Pergamentblätter, die auf beiden Seiten zweispaltig mit dunkler Tinte beschrieben sind. Die Anfänge neuer Texte bzw. Kapitel sind mit farbigen Initialen und roten Überschriften markiert. Der Kodex bewahrt elf Isländersagas; fast alle sind in unserer Ausgabe nachzulesen: die Brennu-Njáls saga, die Egils saga Skalla-Grímssonar, die Finnboga saga (»Die Saga von Finnbogi«), die Bandamanna saga, die Kormáks saga Ǫgmundarsonar (»Die Saga von Kormák Ögmundarson«), die Víga-Glúms saga (»Die Saga von Víga-Glúm«), die Droplaugarsona saga, der Ǫlkofra þáttr (»Die Erzählung von Ölkofri«), die Hallfreðar saga vandræðaskálds (»Die Saga von Hallfreð dem Schwierigen«), die Laxdœla saga (»Die Saga von den Leuten aus dem Laxárdal«) und die Fóstbræðra saga. Diese Titel allerdings sind die heute geläufigen Bezeichnungen der Texte; in der Möðruvallabók (und auch in anderen Manuskripten) weichen sie zum Teil davon ab. Da die Handschrift nicht mehr vollständig ist, kann man nicht ausschließen, dass ursprünglich weitere Sagas enthalten waren. Vorangestellt war vermutlich ein Prolog mit Informationen über Auftraggeber, Kompilatoren und Schreiber sowie vielleicht über die Absichten, die diese mit dem Kodex verbanden. Solche Informationen fehlen der Möðruvallabók heute, und wir sind darauf angewiesen, aus der Textsammlung selbst unsere Schlüsse zu ziehen. So erkennt man in dem Buch drei Schreiberhände, doch die Namen dieser (wohl professionellen) Schreiber sind ebenso wenig überliefert wie der Name ihres Auftraggebers. Auch wann und wo die Handschrift entstanden ist, weiß man nicht genau. Manches weist auf einen Entstehungsort im Norden Islands hin, vielleicht auf Möðruvellir í Hörgárdal (nicht unbedingt identisch mit jenem Möðruvellir, wo sich die Handschrift im 17. Jahrhundert befand). Dort gab es ein Augustinerkloster, das über die notwendigen Ressourcen für die aufwendige Herstellung eines solchen Pergamentkodex sowie über professionelle Schreiber verfügt haben mag. Möglicherweise ist die Möðruvallabók um die Mitte des 14. Jahrhunderts im Skriptorium dieses Klosters im Norden Islands entstanden, vielleicht im Auftrag eines in der Gegend ansässigen Magnaten. Dafür könnte neben anderem auch der Umstand sprechen, dass Auswahl und Zusammenstellung der Sagas ein besonderes Interesse eben an der frühen Geschichte der nördlichen Region Islands erkennen lassen sowie an den von dort stammenden Familien.
Nun sind die Isländersagas aber keineswegs nur in Sammelhandschriften überliefert, die sich wie die Möðruvallabók auf diese Textgruppe beschränken. Häufiger finden sie sich in Überlieferungsgemeinschaft mit Texten anderer Gattungen. Man weiß nicht viel über die Absichten, die solchen Arrangements zugrunde liegen, doch offensichtlich ist der uns bekannte Kanon an Isländersagas von den Auswahlinteressen und Darstellungsabsichten abhängig, die hinter den spätmittelalterlichen Handschriften stehen.
Noch heute sind diejenigen Isländersagas am bekanntesten und populärsten, die schon mittelalterlich am reichsten überliefert sind, nämlich die »Saga von Brennu-Njáll«, die »Saga von Egill Skalla-Grímsson« und die »Saga von den Leuten aus dem Laxárdal«. Für das Gros der Isländersagas gibt es hingegen nur ein bis zwei mittelalterliche Textzeugen, die nicht selten erheblich voneinander abweichen. Manche Sagas sind überdies bloß fragmentarisch bewahrt, so in der vorliegenden Ausgabe beispielsweise die »Saga vom Hochlandkampf« (Heiðarvíga saga) oder die »Saga vom kriegerischen Björn aus dem Hítardal« (Bjarnar saga Hítdœlakappa). Wieder andere Isländersagas sind überhaupt erst aus neuzeitlichen Handschriften bekannt. Dazu gehört – außer der »Saga von Hávarð aus dem Ísafjord« (Hávarðar saga Ísfirðings) und der »Saga von Ljót aus Vellir« (Valla-Ljóts saga) – auch einer der am meisten geschätzten Texte der Gattung, die »Saga von Hrafnkell Freysgoði« (Hrafnkels saga Freysgoða), traditionell ins späte 13. Jahrhundert datiert. Von dieser Saga ist nur ein einziges Pergamentblatt aus der Zeit um 1500 erhalten; den ganzen Text kennt man erst aus Papierhandschriften des 17. Jahrhunderts. In der ältesten vollständig erhaltenen Handschrift hat die Hrafnkels saga mit der »Saga von den Leuten aus dem Fljótsdal« (Fljótsdœla saga) eine (wohl aus dem 15. Jahrhundert stammende) Fortsetzung, ein Hinweis auf die anhaltende Bedeutung ihres Stoffes. In ihrer überlieferten Gestalt ist die Hrafnkels saga mithin nur bedingt als Zeugnis des 13. Jahrhunderts anzusehen, hat man doch noch sehr viel länger offenbar weiter an ihrem Text gearbeitet. Dieses Beispiel zeigt, dass die Isländer auch im Übergang zur frühen Neuzeit wenigstens gelegentlich ein mehr als nur antiquarisches Interesse an jenen Erzählungen über den Anfang ihrer eigenen Geschichte gehabt haben müssen.
Richtet man allerdings den Blick über die Überlieferung der Isländersagas hinaus auf die Gesamtheit der überlieferten Handschriften, dann wird man rasch gewahr, dass dieses Interesse an den Isländersagas im Kontext weiterer literarischer Strömungen betrachtet werden muss. So fanden, nach der Anzahl der erhaltenen Handschriften zu urteilen, andere Sagagattungen in Spätmittelalter und früher Neuzeit deutlich mehr Zuspruch als gerade die Isländersagas. Insbesondere die Rittersagas (Riddarasögur) sind hier zu nennen. Diese Gattung nimmt ihren Anfang in Prosaübersetzungen französischer höfischer Romane, die seit 1226 am Hof des Norwegerkönigs Hákon Hákonarson (1217–1263) in dessen Auftrag entstanden. Es handelt sich um altnorwegische Prosafassungen etwa der Versromane Yvain, Erec et Enide sowie Perceval von Chrétien des Troyes (von ca. 1140 bis ca. 1190), der Lais der Marie de France (von ca. 1135 bis ca. 1200) und anderes. Überliefert sind diese Bearbeitungen kontinentaler Stoffe indes fast ausschließlich in isländischen Manuskripten. In der isländischen Literatur und weniger in der norwegischen haben sie denn auch ihre Spuren hinterlassen, nicht zuletzt in den Isländersagas, wie unten im Kapitel über die isländische Buchkultur des Mittelalters noch zu besprechen sein wird. Am offensichtlichsten sind diese Spuren in den im 14. Jahrhundert entstandenen Zeugnissen zu finden, etwa in der »Saga von Grettir Ásmundarson« (Grettis saga Ásmundarsonar) oder der »Saga von Víglund und Ketilríð« (Víglundar saga ok Ketilríðar). Doch auch schon die repräsentative Ausstattung der Protagonisten in der Laxdœla saga vom Ende des 13. Jahrhunderts mit wertvollen Waffen und kostbarer Kleidung verrät eine durch die Riddarasögur inspirierte Vorliebe für höfische Prachtentfaltung. Vor allem aber regten die Riddarasögur auf Island die Entstehung zahlloser neuer Erzählungen nach ihrem Muster an. Da diese keine direkten kontinentalen Vorlagen mehr haben, bezeichnet man sie als ›originale Rittersagas‹ (im Unterschied zu den oben genannten ›übersetzten Rittersagas‹) oder auch als ›Märchensagas‹. Dieser ziemlich heterogene Texttyp, der die verschiedensten internationalen Erzählstoffe an sich zog und zumeist in phantastischen Brautwerbungsgeschichten verarbeitete, war außerordentlich produktiv und langlebig: Aus der Zeit seit ca. 1300 bis in das 20. Jahrhundert hinein sind etwa 265 Märchensagas bekannt, tradiert in zahllosen Manuskripten. Ihnen steht eine weitere, ebenfalls ziemlich heterogene und im Spätmittelalter sehr beliebte Textgruppe nahe: die sogenannten Vorzeitsagas (Fornaldarsögur). Sie spielen in den forn öld, in der »alten Zeit« vor der Besiedlung Islands, meist in (Kontinental)skandinavien, und verwenden zum Beispiel die Stoffe der Heldensage, schildern Wikingerabenteuer und verarbeiten mythologische Motive. Mit den rímur bildet sich am Ende des 14. Jahrhunderts ein weiteres Genre heraus. Die mit endgereimten Versen ausgestatteten Lieder greifen viele Sagastoffe wieder auf und tradieren sie bis in das 20. Jahrhundert weiter.
Die Entstehung der Isländersaga-Handschriften im 14. und 15. Jahrhundert ist mithin eingebettet in eine rege literarische Tätigkeit, von der das Sammeln und Archivieren älterer Texte nur eine unter vielen ist. Dabei wird das Interesse gerade an den Isländersagas seit etwa der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zunehmend von anderen Genres und vor allem von der Dichtung überlagert. Eine Ausnahme bildet die Grettis saga, von der noch am Ende des 15. Jahrhunderts Handschriften angefertigt werden – das Heldenbild dieser spätmittelalterlichen Isländersaga mag demjenigen der Zeit etwas mehr entgegengekommen sein als das der meisten übrigen Vertreter der Gattung.
Im 16. Jahrhundert scheint das Abschreiben von Isländersagas zunächst fast völlig zum Stillstand gekommen zu sein. Island ist seit einem Jahrhundert eine dänische Kolonie, und der dänische König betreibt die Einführung der Reformation, einer für die isländische Gesellschaft folgenreichen Umwälzung, welche die Insel etwa um die Jahrhundertmitte erreicht. Mit ihr rückt zunächst alle ›alte‹ Literatur, die katholische ebenso wie die weltliche, zugunsten der reformierten christlichen Lehre und ihrer Erbauungsschriften in den Hintergrund. In deren Dienst steht auch die neue Technologie des Buchdrucks: Seit etwa 1530 verfügt die nördliche der beiden isländischen Diözesen in Hólar über eine Druckpresse, für lange Zeit die einzige Islands. Sie ist bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein geistlichen Schriften vorbehalten; weltliche Literatur, und zumal solche, die der Unterhaltung diente – darunter auch Rittersagas und Vorzeitsagas –, wurde noch immer von Hand abgeschrieben und in dieser Form verbreitet. Zwar fanden die Isländersagas dabei zunächst keine Berücksichtigung, doch vergessen waren sie deswegen nicht: Es existierten ja weiterhin die mittelalterlichen Pergamenthandschriften, und zwar vermutlich in recht großer Zahl. Viele der heute vorliegenden Fragmente mit Isländersagas dürften im 16. Jahrhundert noch vollständige Bücher gewesen sein. Auch gibt es Anzeichen dafür, dass ein Großteil der nicht mehr erhaltenen Sagahandschriften erst im 16. Jahrhundert verlorengegangen ist. Im Ganzen ist aber über das Schicksal der mittelalterlichen Kodizes mit Isländersagas in der frühen Neuzeit nur wenig bekannt. So weiß man in der Regel nicht, in wessen Besitz sich diese Bücher im 16. Jahrhundert befanden und in welchen sozialen Schichten die Kenntnis ihres Inhalts vorausgesetzt werden kann. Die Pergamenthandschriften selbst waren von großem materiellen Wert. Aus der Haut eines Kalbs ließen sich nicht mehr als zwei Pergamentblätter gewinnen, und für die umfangreichste der mittelalterlichen isländischen Handschriften, die Flateyjarbók, mussten über hundert Kälber geschlachtet werden. Daher vermutet man, dass außer der Kirche wohl nur sehr wohlhabende Bauern Pergamenthandschriften besaßen.
Jedoch gehörte es zur Kultur auf den großen isländischen Höfen, dass Sagas in Vorträgen und Lesungen zu Gehör gebracht wurden. Auf diese Weise erreichten sie auch die illiteraten Schichten, jene weit überwiegende Zahl von Menschen, die nicht lesen und schreiben konnten. Von Sagavorträgen ist bereits in der mittelalterlichen Überlieferung die Rede, wenngleich nicht ausdrücklich im Zusammenhang mit Isländersagas. Berühmt geworden ist ein allerdings fiktionaler Bericht aus dem 13. oder 14. Jahrhundert über die sagnaskemmtun (»Unterhaltung durch Sagas«) auf der Hochzeitsfeier von Reykjahólar im Westen Islands 1119, überliefert in der »Saga von Þorgils und Hafliði« (Þorgils saga ok Hafliða). Bei diesem Anlass sollen zwei Vorzeitsagas vorgetragen worden sein. Eine ebenfalls fiktionale Erzählung von einem Sagavortrag am norwegischen Königshof haben wir in den vierten Band der vorliegenden Ausgabe aufgenommen: die kurze »Erzählung vom sagakundigen Þorsteinn« (Þorsteins þáttr sǫgufróða), einem Isländer, der den Hof Haralds des Harten (1015–1066) mit dem Erzählen von Sagas unterhält, bis sein Repertoire aufgebraucht ist. Nur eine Saga kennt er noch; sie handelt vom König selbst, und Þorsteinn fürchtet sich, sie ihm vorzutragen. Der König besteht jedoch darauf, hält die Saga und ihren Vortrag für überaus gelungen und erfährt, dass Þorsteinn sie auf Island von einem Landsmann und Augenzeugen der Ereignisse erzählt bekommen hat. Diese Expertise überzeugt den König vollends, und er belohnt Þorsteinn reichlich. So setzt die kleine Geschichte das Vortragen von Sagas als eine isländische Tradition in Szene, die selbst am norwegischen Königshof geschätzt wird.
In der Neuzeit ist die mündliche Weitergabe solcher Erzählungen und ihr Vortrag aus dem Gedächtnis abgelöst worden von Sagalesungen aus Handschriften. Eine Landesbeschreibung vom Ende des 16. Jahrhunderts berichtet von solchen Lesungen auf isländischen Bauernhöfen, und für das 18. Jahrhundert sind dann sogenannte kvöldvökur (sg. kvöldvaka, wörtlich »Abendwache«) belegt, Versammlungen auf größeren Höfen, bei denen Wolle verarbeitet und Sagas vorgelesen wurden. Man hat aus solchen Hinweisen schließen wollen, dass das Vortragen und Vorlesen von Sagas auf isländischen Bauernhöfen vom 12. bis in das 20. Jahrhundert hinein kontinuierlich gepflegt worden sei, doch gibt es für den mündlichen Vortrag gerade von Isländersagas keinen gesicherten Beleg. Anders als das Kopieren von Manuskripten hat diese Form der Rezeption keine bleibenden Spuren hinterlassen, so dass man Aussagen darüber nur unter Vorbehalt treffen kann. Aus diesem Grund lässt es sich kaum mehr ermessen, wie weit die Kenntnis der Isländersagas im Zeitalter der Reformation tatsächlich verbreitet gewesen sein könnte, auch wenn Handschriften aus dieser Zeit nicht überliefert sind.
Erst die humanistische Gelehrsamkeit des 17. Jahrhunderts lenkte den Blick mit Nachdruck wieder auf die mittelalterliche Literatur, und man begann erneut, die alten Manuskripte von Hand zu kopieren, nun in der Regel nicht mehr auf Pergament, sondern auf das wesentlich billigere (aber für Isländer zunächst auch nicht leicht zu erhaltende) Papier. Noch lange nach der Einführung des Buchdrucks wurden Sagas von Hand abgeschrieben, auch dann, als bereits die ersten gedruckten Editionen vorlagen. So ist der Anteil der neuzeitlichen Papierhandschriften an der Gesamtüberlieferung der Isländersagas – und überhaupt an der Überlieferung der mittelalterlichen isländischen Literatur – beträchtlich und im europäischen Vergleich ganz ungewöhnlich hoch.
Der Impuls, der im 17. Jahrhundert das Interesse an den Sagas erneuerte, stammte aus dem charakteristischen Geschichtsverständnis des Humanismus, der nach Island vor allem durch den Gelehrten Arngrímur Jónsson (1568–1648) vermittelt wurde. Er hatte in Kopenhagen, an der einzigen Universität des Reiches, studiert und war dort in Kontakt mit dem königlichen Historiographen Arild Huitfeldt (1546–1609) gekommen, der zu jener Zeit damit beschäftigt war, eine Geschichte des Dänischen Reiches zu verfassen. Dafür waren die in den isländischen Pergamenten bewahrten Informationen über die Geschichte der skandinavischen Länder von höchstem Interesse. Die dänischen Gelehrten veranlassten Arngrímur, dieses Material auf Island zusammenzutragen, unterstützt von einem Brief des dänischen Königs, der seine isländischen Untertanen instruierte, Arngrímur die Handschriften zu überlassen. Aus Arngrímurs eigenen Schriften hat man rekonstruiert, dass er über 30 Pergamenthandschriften zusammengebracht haben muss, auch solche mit Isländersagas; so kannte er beispielsweise den oben erwähnten Kodex Vatnshyrna (nicht aber die Möðruvallabók).
Porträt des isländischen Gelehrten Arngrímur Jónsson (1568–1648).
Vor allem in zwei Richtungen entfalteten Arngrímurs Werke ihre Wirkung: In lateinischer Sprache geschrieben, machten sie zum einen die Gelehrten außerhalb Islands, vor allem in Dänemark, aufmerksam auf die Bedeutung der isländischen Überlieferung für ihre historiographischen Interessen. Das weckte Begehrlichkeiten, in deren Folge ein Großteil der mittelalterlichen Pergamenthandschriften außer Landes gebracht wurde. Darauf ist gleich noch zurückzukommen. Zum anderen entwarf Arngrímur, angeregt von seiner Begegnung mit dem europäischen Humanismus, selbst ein einflussreiches, lange Zeit gültiges Modell der Geschichte Islands. Die Isländersagas erhielten darin ihren besonderen Platz. Wie der isländische Philologe Jakob Benediktsson (1907–1999) gezeigt hat, gab Arngrímur den Isländern vor allem mit seinen 1610 in Hamburg gedruckten Crymogæa sive Rerum Islandicarum libri III (»Crymogæa oder Drei Bücher isländischer Geschichte«, der Titel Crymogæa ist eine griechische Übersetzung des Landesnamens Island) ihre eigene, ganz nach den Prinzipien humanistischer Historiographie konzipierte Geschichte, weit in die Vergangenheit zurückreichend und gleichauf mit der ruhmvollen Vergangenheit anderer europäischer Völker.
Das Titelblatt von Arngrímur Jónssons Crymogæa sive Rerum Islandicarum libri III (»Crymogæa oder Drei Bücher isländischer Geschichte«), gedruckt 1610 in Hamburg.
Mit großem Enthusiasmus widmete sich Arngrímur jenen ersten Jahrhunderten der isländischen Geschichte, in denen Island ein eigenständiges Staatswesen war, also der Sagazeit und den darauffolgenden Jahrhunderten bis zur Integration in das Norwegische Reich 1262/64. Die Verfassung dieses Staatswesens (þjóðveldi), das man seit dem 19. Jahrhundert mit einem etwas irreführenden Begriff als ›Freistaat‹ bezeichnet, betrachtet Arngrímur auf der Grundlage einiger Isländersagas und geschult an den Begriffen des Staatstheoretikers Jean Bodin (†1596) als aristocratia, also als Adelsherrschaft, die freilich im Lauf der Jahrhunderte derart zur Oligarchie degeneriert sei, dass nur die Unterwerfung unter den norwegischen König Rettung versprach: eine Denkfigur, die es Arngrímur erlaubte, zugleich begeisterter Bewunderer des isländischen Freistaats und treuer Untertan seines Königs zu sein. Den Isländersagas fällt in diesem Geschichtsmodell die Aufgabe zu, das Postulat vom Ursprung der isländischen Nation in den ersten Jahrhunderten nach der Besiedlung zu beglaubigen. Besonders interessiert sich Arngrímur für die herausragenden Gestalten der Sagas, »Egillus scallagrimius« (Egill Skalla-Grímsson) zum Beispiel, »Gunnerus, Nobilis de Lydarenda« (Gunnar von Hlíðarendi) oder »Njalus« (Njáll Þorgeirsson), für ihre Genealogien und für ihre Begegnungen mit den Herrschern ihrer Zeit. Auf diese Weise stattet er das isländische Volk nicht nur mit einer glorreichen Vergangenheit aus, die es in denselben Rang wie alle anderen Nationen erhebt, er verleiht ihm darüber hinaus eine spezifische kulturelle Identität. Die Vorstellung, dass die nationale Größe Islands auf seiner mittelalterlichen Überlieferung beruht, war seither aus dem isländischen Nationalbewusstsein nicht mehr wegzudenken, und für den politischen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts wurde daraus gar ein Argument im Kampf für die staatliche Unabhängigkeit des Landes.
Noch ein weiteres identitätsstiftendes Moment entdeckte Arngrímur in den alten Pergamenten: Die Schönheit und das Alter seiner isländischen Muttersprache. Diese habe sich, wie er annahm, seit der Besiedlung unverändert erhalten, da sie kaum den Einwirkungen anderer Sprachen ausgesetzt gewesen sei, so dass er selbst und seine Zeitgenossen noch immer dieselbe Sprache sprachen wie die Isländer der Freistaatszeit. Die moderne Sprachwissenschaft muss dieser Auffassung vor allem den lautlichen Wandel des Isländischen entgegenhalten. Dennoch ist bis heute die Ansicht weit verbreitet, dass die kulturelle Identität der Isländer außer in der altisländischen Überlieferung auch in der ›Reinheit‹ ihrer seit dem Mittelalter vermeintlich unveränderten Sprache verbürgt sei. Durch diese stünden die Isländer in einer direkten Verbindung zum Goldenen Zeitalter ihrer Geschichte.
Den mittelalterlichen Manuskripten verlieh das humanistische Geschichtsbild neue Wertschätzung als historische Dokumente. Da diese aber nicht nur die Vergangenheit der Isländer bezeugten, sondern auch Aufschlüsse über die Geschichte der Königreiche Dänemark und Schweden versprachen, wetteiferten der dänische und der schwedische König, ihre Historiographen und andere Gelehrte darum, die Handschriften von Isländern systematisch abschreiben, einsammeln und in ihre Bibliotheken bringen zu lassen. Manche Zeugnisse, deren mittelalterliche Handschriften längst verlorengegangen sind, kennen wir nur noch aus den in diesem Zusammenhang entstandenen Kopien. Dazu gehört auch das älteste isländische Geschichtswerk, die Íslendingabók (»Isländerbuch«) des Gelehrten Ari Þorgilsson (1068–1148), deren deutsche Übersetzung im vorliegenden Band nachzulesen ist. Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts der bekannteste isländische Handschriftensammler Árni Magnússon (1663–1730) in Erscheinung trat, war bereits ein großer Teil der Pergamente in den königlichen Bibliotheken in Kopenhagen und Stockholm oder im Besitz wohlhabender privater Büchersammler in Dänemark und Schweden, darunter so berühmte Manuskripte wie die Flateyjarbók, der Codex regius der Liederedda und die Möðruvallabók.
Ebenso wie Arngrímur Jónsson, und wie es für gebildete Isländer bis in unsere Zeit hinein üblich war, studierte Árni Magnússon in Kopenhagen, wo er gleichzeitig als Assistent des dänischen Gelehrten und königlichen Archivars Thomas Bartholin d.J. (1659–1690) arbeitete. Für dessen Forschungen zur dänischen Geschichte sammelte und kopierte Árni Magnússon isländische Handschriften. Daneben begann er eine eigene Büchersammlung aufzubauen, die am Ende weit mehr umfasste als nur isländische Bücher. Mehrere Manuskripte aus Bartholins Besitz gingen nach seinem Tod in die Sammlung Árni Magnússons über; zu ihnen gehört die Möðruvallabók, die Bartholin 1684 als Geschenk aus Island erhalten hatte.
Seit 1702 bot sich Árni dann die Chance, in größerem Umfang auch jene Pergamente zusammenzutragen, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts noch auf Island waren: Inzwischen als der erste Isländer überhaupt zum Kopenhagener Professor ernannt, erhielt er den Auftrag, gemeinsam mit seinem Landsmann Páll Vídalín (1667–1727) auf Island ein Register des bitterarmen Landes, seiner Höfe und Bewohner aufzustellen und deren Lebensbedingungen zu dokumentieren. Dafür bereiste er sein Heimatland gut zehn Jahre lang, und dies gab ihm Gelegenheit, noch auf den entlegensten Höfen mittelalterliche Bücher, Urkunden und Briefe aufzuspüren, vor allem aber Handschriftenfragmente und selbst kleinste Pergamentschnipsel – die großen Handschriften waren ja längst nach Stockholm oder Kopenhagen gebracht worden: »Jedes heimatlose Blatt war ihm kostbar«, schreibt der dänische Philologe Kristian Kålund (1844–1919), »ob es sich nun, verschlissen und schwarz geworden, als Einband von Büchern oder Heften wiederfand oder zerschnitten worden war, um als Schnittmuster und Gebrauchsgegenstand zu dienen. Auf der Grundlage solcher Bruchstücke wurden die sorgfältigsten Nachforschungen zur Geschichte der Handschriften angestellt, und es ist geradezu rührend zu sehen, mit welcher Sorgfalt jede diesbezügliche Notiz aufgenommen und mit welchem Eifer die Befragungen fortgesetzt wurden, solange die geringste Hoffnung noch auf die unbedeutendsten Reste bestand.« Seit dem Roman »Die Islandglocke« (Íslandsklukkan; 1943–46) des späteren Nobelpreisträgers Halldór Laxness (1902–1998) sind die erbärmlichen Umstände legendär, unter denen die kostbaren Pergamentreste in jener Zeit ihr Dasein bei den isländischen Bauern fristeten.
Was Árni Magnússon nicht erwerben konnte oder geschenkt bekam, ließ er von zwei Schreibern kopieren. Tatsächlich vermochte er auf diese Weise vor dem Verfall zu bewahren, was von der mittelalterlichen Literatur Islands am Anfang des 18. Jahrhunderts noch übrig war. Dies war ein durchaus patriotisch motiviertes Unterfangen, und es ist nur scheinbar widersinnig, dass dadurch die Handschriften für lange Zeit außer Landes kamen: 1721, verzögert durch die Ereignisse des Großen Nordischen Krieges, gelangte die Sammlung nach Kopenhagen. Hier bewahrte Árni Magnússon sie in seinem Haus auf, wo sie 1728 zu einem Teil dem verheerenden Brand der Stadt zum Opfer fiel. Wie groß der Verlust tatsächlich war, ist nicht ganz klar, doch es scheint, als seien vor allem neuzeitliche Bücher und Dokumente zerstört worden und eher wenige von den mittelalterlichen Pergamenthandschriften. Darunter befand sich aber beispielsweise die Vatnshyrna, eine der erwähnten großen Sammelhandschriften mit Isländersagas aus dem späten 14. Jahrhundert, von der seither nur noch sieben Blätter existieren.
1730 vermachte Árni Magnússon seine Büchersammlung, in der sich an die achtzig Prozent der heute bekannten mittelalterlichen isländischen Manuskripte befanden, sowie sein Privatvermögen der Kopenhagener Universität. Diese erhielt damit den Auftrag, die mittelalterlichen Zeugnisse zu bewahren, zu edieren und zu erforschen – eine Aufgabe, der das damals stark unterentwickelte Island kaum gewachsen gewesen wäre. Das Zentrum für die Erforschung der isländischen Handschriften und für die Edition der in ihnen bewahrten Texte befand sich infolgedessen bis ins 20. Jahrhundert hinein in Kopenhagen. Hier waren freilich isländische Forscher wegen ihrer Sprachkenntnisse zu allen Zeiten unentbehrlich. Noch heute trägt an der Kopenhagener Universität die Arnamagnaeanische Sammlung mit dem 1956 eingerichteten Institut zur Erforschung der mittelalterlichen isländischen Literatur den Namen Árni Magnússons. Damit ist sie nach dem ersten Gelehrten benannt, der diesen Gegenstand mit wissenschaftlichen Methoden erforscht hat und so zu den Begründern der altnordischen Philologie als akademischer Disziplin gehört.
Die Handschriften selbst befinden sich heute allerdings überwiegend wieder auf Island, auch diejenigen, die nicht im Besitz Árni Magnússons, sondern etwa in der Königlichen Bibliothek waren: Der dänische Staat hat einen großen Teil der isländischen Kulturgüter, die von Island nach Dänemark gelangt waren, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an die nun unabhängige Republik Island zurückgegeben. Für die mittelalterlichen Handschriften gibt es seit 1962 ein Handschrifteninstitut in Reykjavík, das ebenfalls den Namen Árni Magnússons trägt und zur Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum (»Árni Magnússon-Institut für isländische Studien«) gehört. Hier werden die mittelalterlichen Manuskripte heute aufbewahrt und in internationaler Zusammenarbeit wissenschaftlich erforscht. Seit 2009 ist die Sammlung Bestandteil des Weltdokumentenerbes (Memory of the World Register) der UNESCO. Indessen liegen auch in Kopenhagen noch immer Handschriften aus Árni Magnússons Sammlung; nach Island wurden vor allem solche Handschriften zurückgegeben, die zweifelsfrei isländischer Provenienz sind oder überwiegend isländische Themen behandeln. 51 mittelalterliche isländische Handschriften gehören weiterhin der Königlichen Bibliothek in Stockholm, und eine geringe Anzahl solcher Manuskripte ist im Besitz von Bibliotheken außerhalb Islands und Skandinaviens.
Im Ganzen sind etwa 700 Pergamentkodizes oder Bruchstücke davon erhalten geblieben. Das ist nicht mehr als ein – unbestimmbar – kleiner Rest der volkssprachlichen Buchkultur Islands im Mittelalter, die uns in ihrer Gänze nicht mehr zugänglich ist. Gut 420 dieser Handschriften überliefern Sagas, allerdings verhältnismäßig selten Isländersagas: Von ihnen zeugen nur etwa 52 Manuskripte und Manuskriptfragmente. Dreimal so häufig sind hingegen, um einen Vergleich zu geben, die Sagas der Heiligen, volkssprachliche isländische Legenden, in mittelalterlichen Pergamenten bewahrt.
Nun darf man aus dem Umstand, dass fast alle mittelalterlichen Handschriften Island in der Neuzeit verließen, nicht den Schluss ziehen, dass dort das Interesse an der alten Literatur erloschen wäre. Vielmehr lässt sich im 17. Jahrhundert auch auf Island eine neuerwachte Aufmerksamkeit für die mittelalterliche Überlieferung und gerade die Sagaliteratur beobachten, auch dies stimuliert durch das patriotische Geschichtsdenken des Humanismus. Anders als die Lautstruktur des Isländischen hatten sich Wortschatz und Flexionssystem seit dem Mittelalter so wenig verändert, dass man im 17. Jahrhundert ohne weiteres von neuem beginnen konnte, die alten Pergamente zu kopieren.
Zunächst entstanden Papierkopien vermutlich im Umfeld der isländischen Bischöfe, die durch ihr Kopenhagener Studium selbst in Kontakt mit dem Humanismus gekommen waren und mit dänischen Gelehrten Kontakt hatten, so wie etwa der Bischof von Skálholt, Brynjólfur Sveinsson (1605–1675). Doch finden sich schon bald Abschriften von Sagas, die ohne bischöflichen Auftrag zustande gekommen sein dürften. Ihre Urheber waren nicht nur Priester, also studierte, humanistisch gebildete Männer, sondern offenbar auch Laien, von denen manche sogar wie professionelle Schreiber arbeiteten. Da Lese- und Schreibfähigkeit im 17. Jahrhundert auf Island recht verbreitet gewesen sein dürften, kann man mit einer gewissen Nachfrage nach Sagatexten in Laienkreisen rechnen. Und auch nachdem man in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Dänemark und Schweden begonnen hatte, die Erzählungen zu drucken, waren für die allermeisten Isländer handschriftliche Kopien auf Papier immer noch erschwinglicher und leichter zugänglich als die gedruckten Bücher. Die erste gedruckte Ausgabe von Isländersagas erschien 1756 in Hólar in einer Auflage von 1000 Exemplaren; sie enthielt in zwei Bänden zwölf der kürzeren Sagas, darunter die »Saga von den Verbündeten«, die »Saga von Gísli Súrsson«, die »Saga von Víglund und Ketilríð« und auch die »Saga von Grettir Ásmundarson«. Ein weiterer isländischer Druck kam 1782 hinzu: die »Saga von Egill Skalla-Grímsson«. Alle anderen Sagas wurden wie die isländische Literatur auch sonst in aller Regel in Kopenhagen publiziert, so dass auf der Insel selbst die mittelalterliche Kulturtechnik des manuellen Abschreibens noch lange unentbehrlich war.
Noch im 19. und auch im 20. Jahrhundert finden sich auf Island handgeschriebene Bücher, nicht wenige mit Isländersagas. Zu einem guten Teil liegen diese in deutlich mehr neuzeitlichen Abschriften vor als auf mittelalterlichem Pergament. Dies gilt zum Beispiel für die »Saga vom Hochlandkampf«. Sie wurde 1829–30 in Kopenhagen und 1899 auf Island gedruckt; von den 34 Handschriften, in denen sie bewahrt ist, stammen 27 aus dem 19. Jahrhundert. Erst allmählich wurde das Abschreiben obsolet, als nämlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr preiswerte, auch für die Isländer leichter zugängliche gedruckte Editionen von Sagas erschienen. Bis dahin existierten Manuskript- und Druckkultur nebeneinander, wenngleich in getrennten sozialen Sphären.
Die meisten der neuzeitlichen Manuskripte sind heute im Besitz der Isländischen Nationalbibliothek (Landsbókasafn Íslands), die insgesamt über 12 000 Papierhandschriften aus der Neuzeit aufbewahrt. Zu ihnen gehören zwei Handschriften aus dem Nordwesten Islands, geschrieben von Guðlaugur und Guðmundur Magnússon in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Diese Handschriften überliefern neben anderem Isländersagas und zeichnen sich durch den ganz ungewöhnlichen Umstand aus, dass sie Illustrationen enthalten. Die naiven Darstellungen zeigen die Protagonisten der Sagas und zentrale Ereignisse, etwa die sogenannte Njáls-brenna, den berühmten Mordbrand am weisen Njáll und seiner Familie, von der die Brennu-Njáls saga in ihrem 129. Kapitel erzählt. Andere neuzeitliche Handschriften geben den Sagas farbenprächtige Titelblätter, die meisten aber sind einfach und schmucklos. Im Ganzen sind aus dem 19. Jahrhundert etwa 200 Handschriften mit Isländersagas bekannt.
Man wird die Verbreitung solcher Bücher mit Isländersagas im 18. und 19. Jahrhundert nicht überschätzen dürfen, auch wenn man gelegentlich lesen kann, dass eine entsprechende Handschrift der Stolz einer jeden isländischen Familie gewesen sei. Als Lektürestoff dominierte aber wohl religiöse Erbauungsliteratur aller Art. Immerhin gab es jedoch auf Island, als nach den Napoleonischen Kriegen überall in Europa der Nationalismus erwachte, eine lebendige Erinnerung an die Epoche der staatlichen Unabhängigkeit zu Beginn der isländischen Geschichte, verkörpert in den Erzählungen der Isländersagas sowie in dem – ebenfalls bewahrten – Gesetzbuch des Freistaats, der Grágás. Und auch zwei historiographische Werke, die diese Epoche behandeln, hatten die Zeiten überdauert: die schon erwähnte Íslendingabók (»Isländerbuch«) mit ihrer knappen Zusammenfassung der isländischen Geschichte von der Besiedlung bis zum Jahr 1118 sowie die Landnámabók (»Buch der Landnahmen«) mit ihrem Verzeichnis der landnámsmenn, jener ersten etwa 400 Siedler, die sich zwischen 870 und 930 auf der Insel niederließen.
Hatten bereits die Isländersagas die ersten Jahrhunderte der isländischen Geschichte rückblickend zu einer Art Heldenzeitalter überhöht, so war diese Vorstellung durch den humanistisch inspirierten Patriotismus Arngrímur Jónssons zu Beginn des 17. Jahrhunderts erneuert worden. Jedoch hatten dabei politische Hoffnungen auf staatliche Unabhängigkeit noch keine Rolle gespielt. Solche Hoffnungen verbanden sich erst mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und seinem Bestreben, durch die Bildung von Nationalstaaten ethnische mit politischen Grenzen in Übereinstimmung zu bringen. Den darin lebenden Völkern sprach man eine spezifische nationale Identität zu, die man aus der gemeinsamen Geschichte und insbesondere aus dem gemeinsamen Ursprung aller Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft herleiten wollte. Dafür konnte man sich unter anderem auf die Philosophie Johann Gottfried Herders (1744–1803) berufen. Ursprungserzählungen in Form nationaler Mythen aller Art gehören seither zu den identitätsstiftenden Wissensbeständen der Nationen. Die Beispiele sind Legion; man mag an die Tellsage in der Schweiz denken, die Piast-Legende in Polen, Hermann den Cherusker oder Friedrich Barbarossa im Deutschen Reich, die Ankunft der Normannen auf den Britischen Inseln 1066 oder die Pilgrim Fathers in den USA, um nur einige wenige zu nennen. Eine strukturelle Gemeinsamkeit aller dieser Erzählungen besteht darin, dass sie mit dem Ursprung der Nationen deren Kontinuität bis in die Gegenwart beschwören und daran die Erwartung einer ruhmreichen Zukunft knüpfen: Im Erfinden ihrer gemeinsamen Vergangenheit konstituieren sich die Nationen als imaginierte Gemeinschaften (imagined communities), wie der amerikanische Historiker Benedict Anderson gezeigt hat.
Anders als die meisten Völker mussten sich die Isländer eine nationale Ursprungslegende im 19. Jahrhundert nicht mehr eigens konstruieren: Für sie war der Ursprung ihrer nationalen Geschichte bereits seit dem Mittelalter greifbar, eingespannt in eine historische Meistererzählung, nach der es jene ersten Jahrhunderte staatlicher Unabhängigkeit nach der Besiedlung der Insel waren, in denen aus einer Anzahl von Einwanderern und ihren Nachkommen die isländische Gesellschaft wurde. So wie die Isländersagas es schildern, war das Leben in dieser Epoche um einiges besser als unter den erniedrigenden Bedingungen der dänischen Herrschaft, die den Isländern eine primitive Existenz in ärmlichen Verhältnissen aufnötigte. Die Sagas erzählen von wohlhabenden Großbauern, die auf eigenen Schiffen das Land verlassen, um im Ausland auf Augenhöhe mit den Mächtigen zu verkehren; von diesen Begegnungen kehren sie mit einem enormen Prestige zurück, reich beschenkt, prächtig gekleidet und ausgerüstet mit prunkvollen Waffen. Auf ihren Höfen veranstalten sie großartige Feste, die kein Gast ohne kostbare Gaben verlässt, und dergleichen mehr. Den Realitätsgehalt solcher Schilderungen beurteilt man heute skeptisch, doch für die Isländer des 19. Jahrhunderts waren diese Bilder glaubwürdig, und mit Herder ließ sich ein solcher Wohlstand darüber hinaus als Auswirkung staatlicher Unabhängigkeit deuten. Es lag daher nahe, die mittelalterlichen Schilderungen der Sagazeit als kontinuitätsstiftende Erzählungen vom Ursprung der isländischen Nation aufzufassen und daraus Forderungen an die Gegenwart abzuleiten. So selbstverständlich war der nationale Unabhängigkeitskampf der Isländer mit diesem kulturellen Erbe verbunden, dass der isländische Historiker Gunnar Karlsson einmal bemerken konnte, in den Ohren seiner Landsleute klinge die Frage, welche Rolle die alte Literatur für die Herausbildung der isländischen Nation und des modernen isländischen Staates gespielt habe, etwa so, als erkundige man sich nach der Bedeutung der Atmosphäre für den Menschen.
Besonders anschaulich wird die Inanspruchnahme der Isländersagas durch den isländischen Nationalismus am Beispiel der Brennu-Njáls saga. Sie ist im 20. Jahrhundert so etwas wie ein nationales Emblem geworden (Jón Karl Helgason). Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist eine berühmte Szene im 75. Kapitel der Saga: Gunnar Hámundarson, wegen Totschlags für drei Jahre des Landes verwiesen, macht sich auf den Weg in die Verbannung. Da stolpert sein Pferd, Gunnar muss absteigen, erhascht unerwartet einen Blick zurück auf den Berghang, an dem sein Hof Hlíðarendi liegt, erkennt plötzlich die Schönheit dieser Landschaft und beschließt, auf Island zu bleiben, obwohl ihn dies, wie er weiß, das Leben kosten wird. Sein berühmter Satz – »Schön ist dieser Hang, aber so schön habe ich ihn noch nie gesehen, helle Felder und gemähte Wiesen. Ich werde nach Hause zurückreiten und nirgends hinfahren« (Band 1, S. 596) – galt im Island des 19. und 20. Jahrhunderts als Inbegriff patriotischer Heimatliebe und wurde als solcher vielfach in der Dichtung variiert. Das bekannteste Beispiel ist ein Gedicht des Romantikers Jónas Hallgrímsson (1807–1845) mit dem Titel Gunnarshólmi von 1838. Es lokalisiert Gunnars patriotische Erkenntnis in der isländischen Landschaft des 19. Jahrhunderts, an jenem Ort mit Namen Gunnarshólmi, auf den der Titel anspielt. Seit Gunnar dort umgekehrt sei, trotze diese flache Insel dem Andrang der sie umgebenden Flüsse – der Ort aus der Saga wird zur Metapher der Unvergänglichkeit von Gunnars vermeintlichem Patriotismus.
Indes ist es mehr als unwahrscheinlich, dass der Verfasser der Saga tatsächlich irgendeinen Zusammenhang zwischen der isländischen Landschaft und der kulturellen Identität seiner Landsleute herstellen und damit den Patriotismus zu einer vorbildlichen Eigenschaft der Sagahelden stilisieren wollte. Er kann ja in diesen ganz neuzeitlichen Kategorien noch gar nicht gedacht haben, und man wird überlegen müssen, welche Hinweise die Saga selbst für eine plausiblere Deutung der vielfach diskutierten Szene gibt. Gunnar von Hlíðarendi wird darin nicht zum ersten Mal in der Erzählung als ein Mann beschrieben, der an einem entscheidenden Punkt seines Lebens lieber einer spontanen Leidenschaft folgt statt rationalen Erwägungen, den Regeln von Recht und Gesetz oder dem guten Rat seines Freundes. Auf ganz ähnliche Weise ist er zuvor auch an seine Frau Hallgerð geraten, und diese Verbindung trägt am Ende mindestens ebenso sehr zu seinem Untergang bei wie die Umkehr auf dem Weg in die Verbannung. Diese Szene hat daher, folgt man der Ansicht des schwedischen Philologen Lars Lönnroth, auch kaum die Aufgabe, Gunnar als vorbildlichen Helden zu zeichnen; vielmehr setzt sie eindrucksvoll eine problematische Seite seines Charakters ins Bild, indem sie eine literarische Anregung aufgreift: Auch in der altisländischen Version der Lebensbeschreibung Alexanders des Großen (der Alexanders saga, einer Prosaübersetzung der lateinischen Alexandreis des Walther von Chatillon [1135–1201]) lässt sich der Protagonist in einer lebensentscheidenden Situation durch die Schönheit von Wiesen und hellen Feldern zu einem selbstherrlichen und folgenreichen Entschluss verleiten. In beiden Sagas, der Brennu-Njáls saga und der Alexanders saga, steht das Bild der hellen Felder für die Versuchung des Helden, der sich durch die Schönheit der Welt verführen lässt, dem selbstgefälligen Streben nach irdischem Ruhm nachzugeben. Diese Lesart von Gunnars Umkehr passt wesentlich besser zu dem klerikalen Bildungshintergrund des mittelalterlichen Sagaverfassers als die patriotischen Deutungen des 19. Jahrhunderts (vgl. zu der berühmten Passage auch die Ausführungen im Kapitel »Die Religion in den Isländersagas«).
Ebenso deutlich wie aus diesem offensichtlichen Anachronismus geht die nationale Bedeutung, die man der Brennu-Njáls saga beimaß, aus dem Umstand hervor, dass das Alþingi, das isländische Parlament, 1944, im Gründungsjahr der isländischen Republik, eine ›offizielle‹ Textausgabe publizierte. Deren Einleitung präsentierte nicht nur die Njáls saga als eine Quelle der nationalen Selbstvergewisserung, sondern nahm die Isländersagas überhaupt als nationalpädagogisches Instrument in Anspruch. Vorausgegangen war eine Debatte über die angemessene Gestalt von Saga-Ausgaben, in deren Verlauf sich der isländische Staat das Urheberrecht auf alle vor 1400 geschriebenen isländischen Texte gesichert hatte, ganz analog dem Bestreben religiöser Gemeinschaften, ihren Kanon heiliger Texte vor der Profanierung durch Unberufene zu bewahren. Zu Letzteren rechnete nach Ansicht der Parlamentarier der Schriftsteller Halldór Laxness, der Sagas in modernem Neuisländisch herausgab und nicht in jener archaisierenden Schreibweise, die sich für Textausgaben dieser Art seit dem 19. Jahrhundert eingebürgert hatte. Der Gegensatz zu der mittelalterlichen Praxis könnte kaum größer sein: Während diese (nicht nur) die Sagas eben dadurch überlieferte, dass sie sie variierte, beurteilt die moderne Rezeption Variation als Verfälschung, die man institutionell zu unterbinden trachtet, und sei es mit Hilfe von Gesetz und Gericht.
Die Debatte über Laxness’ Saga-Ausgaben ist gewiss ein Extremfall. An ihr wird jedoch deutlich, dass die Überlieferungsgeschichte der Isländersagas in ihrer jüngsten Etappe – also mit dem Erscheinen textkritischer Editionen – nach der Zeit der spätmittelalterlichen Sammelhandschriften noch einmal in einen Prozess der Kanonisierung eintrat, der die heutige Wahrnehmung der Texte ebenfalls entscheidend prägt. Auch die vorliegende deutsche Ausgabe ist davon nicht ausgenommen.
Grundsätzlich überführen ja Editionen ihre Texte aus dem handschriftlichen Kontext in denjenigen des gedruckten Buches. Dabei lösen sie den einzelnen Text aus der Überlieferung heraus und fügen ihn ein in einen neuen, sinnstiftenden Kontext, der auf ganz verschiedene Weise bestimmt sein kann: wissenschaftlich oder ästhetisch, lokalpatriotisch, nationalpädagogisch usw. Die damit verbundenen Transformationen an den Texten kann man für die Isländersagas beispielhaft beobachten in der maßgeblichen isländischen Buchreihe mit Editionen der mittelalterlichen Überlieferung. Diese Reihe wird von der eigens dafür gegründeten Gesellschaft für altisländische Literatur (Hið íslenzka fornritafélag) seit 1933 unter dem Titel Íslenzk fornrit (»Altisländische Literatur«) herausgegeben. Darin wird die alte Literatur in einer bis dato unbekannten Weise als nationales Kulturerbe regelrecht monumentalisiert, mit den Isländersagas (verteilt auf dreizehn Bände) an zentraler Position. Jede Saga erhält dabei ihren eigenen mehr oder weniger stabilen Text mit einem festen Titel und einer als verbindlich erachteten Einteilung in Kapitel. Die Schreibweise der Texte, in den Manuskripten unreguliert und daher von Handschrift zu Handschrift etwas anders, ist standardisiert, und zwar einerseits in Anlehnung an den – rekonstruierten – Sprachstand des 13. Jahrhunderts und andererseits so, dass sie ausgehend vom Neuisländischen leicht gelesen werden kann, ebenso die Interpunktion. Das macht die Texte zugänglicher, aber zugleich werden auf diese Weise sprachliche Differenzen eingeebnet: Die sprachliche Kontinuität wird hervorgehoben, wie überhaupt das Herauskehren von Kontinuität – sprachlich, genealogisch, topographisch, kulturell – die Editionsverfahren in dieser Ausgabe bestimmt. Kenntnisreiche und im Übrigen noch immer außerordentlich nützliche Einleitungen und Anmerkungen erklären dem isländischen Leser die Texte aus der Sicht des Philologen und erleichtern ihm das Verständnis, indem sie zum Beispiel veraltetes Vokabular erläutern. Landkarten, Abstammungstafeln und umfangreiche Register tragen zur Erschließung der Texte bei, denen zudem Abbildungen von Sagaschauplätzen beigegeben sind: Wo immer es möglich ist, stiftet die Ausgabe Verbindungen zum gegenwärtigen Erfahrungshorizont ihrer Leser und verankert die Sagas auf diese Weise im kulturellen Gedächtnis.
Dies zeigt auch ein kleines Beispiel aus der »Saga von den Leuten auf Eyr« (Eyrbyggja saga); sie erzählt im 30. Kapitel, wie ein Konflikt unter anderem dadurch entsteht, dass eine Wiese von zwei Bauern bewirtschaftet wird. Dazu erklärt die Textausgabe, 1935 erschienen, in einer Fußnote, dass diese Wiese »noch heute« von den Höfen Hrísar und Úlfarsfell gemeinsam genutzt werde. Auf eben diese Kontinuität hebt noch 1994 der Philologe Jónas Kristjánsson ab, wenn er einem deutschen Publikum erklärt, wie nahe gerade die Isländersagas dem »Herzen« der Isländer stünden, da ihre Handlung sich in der heimischen Landschaft abspiele – die romantische Metaphorik Jónas Hallgrímssons ist da nicht fern. Hier wird die von den Isländersagas selbst konstruierte Kontinuität isländischer Kultur von der Besiedlung bis ins Hochmittelalter in die Gegenwart des 20. Jahrhunderts hinein gleichsam verlängert.
Die Herausgeber der Fornrit-Reihe präsentieren die Isländersagas so als identitätsstiftendes isländisches Kulturgut, das dem kulturellen Erbe anderer Nationen nicht nur in nichts nachsteht, sondern dieses noch übertrifft. Selbstbewusst formulierte der erste Hauptherausgeber der Fornrit-Reihe, einer der bedeutendsten isländischen Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts, Sigurður Nordal (1886–1974), 1931 diesen Gedanken für die mittelalterliche isländische Literatur insgesamt: »Kein germanisches Volk, eigentlich gar keine Nation Nordeuropas hat eine mittelalterliche Literatur vorzuweisen, die es an Originalität und Brillanz mit der Literatur der Isländer aus den ersten fünf Jahrhunderten nach der Besiedlungszeit aufnehmen könnte.« Ganz in diesem Sinn macht die moderne Editionspraxis des Fornrit-Projekts aus der mittelalterlichen Überlieferung jenen repräsentativen Kulturbesitz, der einer unabhängigen Nation gebührt, zumal diese andere Zeugen für ihre große Vergangenheit so gut wie nicht vorzuweisen hat.