Ist Altern eine Krankheit? - Rüdiger Dammann - E-Book

Ist Altern eine Krankheit? E-Book

Rüdiger Dammann

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Beschreibung

Demenz, insbesondere Alzheimer, ist das große Schreckgespenst unserer Zeit. Viele Menschen – Betroff ene, Angehörige, Pfl egekräfte – stehen dem Leiden hilfl os und nicht ausreichend informiert gegenüber. Ein falsches, bloß medizinisches Verständnis des Volksleidens ist verbreitet. Jährlich werden Milliardensummen in die Bekämpfung der Demenz gesteckt. Deren Ursachen sind aber weiterhin unklar und eine Therapie ist nicht in Sicht. Angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und der zunehmenden Zahl der unter Demenz Leidenden ist eine große Debatte zu diesem Thema überfällig. Dieses Buch gibt den Anstoß dazu, liefert Fakten und sucht nach neuen Lösungen.

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Information zum Buch

Demenz, insbesondere Alzheimer, ist das große Schreckgespenst unserer Zeit. Viele Menschen – Betroffene, Angehörige, Pflegekräfte – stehen dem Leiden hilflos und nicht ausreichend informiert gegenüber. Ein falsches, bloß medizinisches Verständnis des Volksleidens ist verbreitet. Jährlich werden Milliardensummen in die Bekämpfung der Demenz gesteckt. Deren Ursachen sind aber weiterhin unklar und eine Therapie ist nicht in Sicht. Angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und der zunehmenden Zahl der unter Demenz Leidenden ist eine große Debatte zu diesem Thema überfällig. Dieses Buch gibt den Anstoß dazu, liefert Fakten und sucht nach neuen Lösungen.

Informationen zum Autor

Rüdiger Dammann, Jahrgang 1959, ist promovierter Soziologe sowie Autor und Herausgeber zahlreicher politischer Bücher. Reimer Gronemeyer, Jahrgang 1939, ist Professor für Soziologie an der Universität Gießen und Autor mehrerer Bücher. Er ist Vorsitzender des Vereins Aktion Demenz e. V. – Gemeinsam für ein besseres Leben mit Demenz.

Rüdiger Dammann / Reimer Gronemeyer

Ist Altern eine Krankheit?

Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2009. Campus Verlag GmbH

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ISBN der Printausgabe: 978-3-593-38968-4

E-Book ISBN: 978-3-593-40722-7

|7|Die Schrecken der Umnachtung

Ein Prolog

Frühjahr 2009: Unter großer medialer Anteilnahme nimmt der Journalist Tilman Jens öffentlich Abschied von seinem Vater. Seit mehreren Jahren schon stirbt der berühmte Philologe und Rhetoriker Walter Jens einen langsamen, grausamen Tod, wie ihn immer mehr Menschen fürchten: Eine sich wie eine Epidemie ausbreitende, als heimtückisch geltende Krankheit hat sein Gehirn befallen und ihn Stück für Stück seiner Erinnerung beraubt, ihm seine Sprache, seinen Geist, sein »kostbarstes Gut« genommen. Mittlerweile, anders lassen sich die Schilderungen des Sohnes nicht deuten, ist der langjährige Vorzeige-Intellektuelle und Rhetoriklehrer der Nation nicht mehr als er selbst zu erkennen, ein von der Krankheit entstellter, wesensveränderter, gedankenverlorener Mensch. Walter Jens selber kann diesen niederschmetternden Befund naturgemäß weder bestätigen noch dementieren.

Es ist eine Tragödie – und sie wird nun auf die Bühne gebracht. Auf Podien und in Talkshows, in einem Buch1, das schnell zum Bestseller wird, wie auch in einer Serie der BILD-Zeitung erzählt der Sohn die tragische Geschichte eines fortlaufenden Verfalls: Wie der Vater, der einstige »Virtuose des Wortes«, zu stammeln beginnt, wie er vergeblich nach Erinnerungen sucht, wie ihn sein profundes Wissen verlässt, wie er anfangs den Tod herbeisehnt, wie er später, »ein Schatten seiner selbst«, orientierungslos durchs Haus irrt, wie er gewindelt, gefüttert und rundum betreut werden |8|muss, wie der einstige Sprecher der Friedensbewegung in Deutschland gegen seine Angehörigen aggressiv wird – schreit, spuckt, schlägt –, sodass selbst seine Ehefrau nach einem halben Jahrhundert gewaltfreier Ehe verzweifelt einräumt: »Er ist nicht mehr der Mann, den ich liebte.«

Angefangen, so erinnert sich Tilman Jens, hatte alles im Jahr 2003, als eine kleine, fast schon verblasste Karteikarte aus dem Fundus eines Archivs gekramt wurde und ein bis dahin – auch vor der Familie – streng gehütetes Geheimnis ans Licht brachte. Zwar hatte der kämpferische Demokrat Walter Jens schon früh die Jugendsünde eingestanden, bei der Hitlerjugend aktiv gewesen zu sein, ansonsten aber stets vehement geleugnet, darüber hinaus irgendetwas mit den Nazis zu tun gehabt zu haben. Nun überführte ihn jenes vergilbte Papier der Lüge, indem es zweifelsfrei dokumentierte, dass er im Sommer 1942 – als 19-Jähriger gewiss bereits Herr über seine Taten – der NSDAP beigetreten war. Nach zahlreichen Enthüllungen ähnlicher Art – man denke an die »SS-Episode« des damals etwa ebenso jungen Günter Grass – löste der späte Fund zwar keinen großen Skandal mehr aus. Nach Auffassung des Sohnes setzte er aber in Walter Jens offenbar ein fatales hirnorganisches Geschehen in Gang.

Unmittelbar darauf jedenfalls, berichtet Tilman Jens, seien die ersten Symptome aufgetreten. »War es wirklich Zufall – an den du, der Kenner, Interpret und Übersetzer antiker Tragödien ohnehin nie geglaubt hast –, dass dich das große Vergessen, die Demenz, der heimtückische Nebel, just in dem Augenblick überkam, als ein philologisches Fachlexikon die Existenz der NSDAP-Mitgliedskarte 9265911 offenbarte?« Nein, das mediale Auftauchen der Akte und das demenzielle Abtauchen des Vaters lägen zu dicht beieinander, als dass der Sohn an einen Zufall glauben möchte. Vielmehr sei der Vater an seiner »Scham zerbrochen«, so lange geschwiegen zu haben und nun doch ertappt worden zu sein, mutmaßt Tilman Jens. Er habe sich in jene Krankheit des Vergessens geflüchtet, die ihn und sein Gehirn seither zerfrisst und ihn eben dadurch gewissermaßen |9|von Schuld entlastet – die aber für alle ihm Nahestehenden eine kaum zu bewältigende Herausforderung, ein schwer zu ertragendes Unglück darstellt.

Erschüttert – nicht vom lebenslangen Verschweigen der Parteimitgliedschaft, sondern von der Umnachtung seines langjährigen engen Freundes – zeigt sich auch der prominente Theologe Hans Küng. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung2 nimmt er das Leid seines siechenden Tübinger Nachbarn zum Anlass, um über das Lebensende nachzudenken, über menschenwürdiges Sterben und sogar über aktive Sterbehilfe. Leidenschaftlich appelliert er in seinem trauernd-mitfühlenden Text an Ärzte und Politiker, den Menschen an ihrem Lebensabend endlich zu mehr Selbstbestimmung zu verhelfen, ihnen »die Menschenwürde der letzten Entscheidung« zu gewähren und sie in ihrem Beschluss sowohl medizinisch wie auch moralisch und, nicht zuletzt, gesetzlich zu begleiten. Jeder, auch sein Freund, habe das Recht auf einen gnädigen Tod, wenn eine unheilbare Krankheit alle Hoffnung auf Zukunft zunichte macht. Wer diese »Gnade« allerdings gewähren, wer das Todesurteil sprechen soll, wenn der Betroffene selbst nicht mehr bei Sinnen ist, wird vorsichtshalber ausgespart und soll wohl Gottes weisem Ratschluss überlassen bleiben.

Was aber hatte die ganze Erregung ausgelöst? Warum schlägt eine individuelle Leidensgeschichte derart hohe Wellen? Wieso nimmt die Öffentlichkeit auf so intensive Weise am Schicksal eines alten Mannes Anteil? Welcher Schrecken lässt einen bekennenden Christen an der Heiligkeit des Lebens zweifeln? Was muss einer Frau in die Glieder gefahren sein, dass sie ihren Mann nach jahrzehntelanger Ehe nicht wiedererkennt, dass sie ihn nicht mehr als den erkennt, den sie einmal geliebt hat? Und was veranlasst einen Sohn dazu, das Befinden seines Vaters mitsamt intimer und durchaus unappetitlicher Details in aller Offenheit auszubreiten?

Wir wissen keine Antwort außer dieser: Es ist das, worunter sein Vater leidet – ein Syndrom, das zum Schreckgespenst der Gegenwart zu werden droht. Es dient dem Sohn als Rechtfertigung, er |10|möchte über dieses Krankheitsbild aufklären, weshalb er es offenbar für zulässig hält, uns einen so intimen Einblick in eine an sich doch private Tragödie zu gewähren. Und in der Tat ist sein Erfahrungsbericht mutig und für andere in vergleichbar prekärer Situation möglicherweise sogar hilfreich. Insgesamt jedoch dürften die ebenso bewegenden wie indiskreten Schilderungen über den geistigen Verfall eines vormals so geistreichen Mannes den Schrecken eher nähren, als ihn zu bannen. Der »Fall Jens« ist in diesem Sinne exemplarisch. Er enthält nahezu alle Zutaten – Hirnleistungsstörungen, Gedächtnis- und »Selbstverlust«, Orientierungslosigkeit, Depression, Aggressivität, überforderte Angehörige –, mit deren Beimischung das sich rasend schnell ausbreitende Syndrom heute in der öffentlichen Debatte gewürzt wird. Es fügt sich so zu einem düsteren Bild zusammen, das als Horrorszenario seine Wirkung nicht verfehlt.

Demenz (lat. Dementia »ohne Geist«, »ohne Verstand«) gilt als die Jahrhundertkrankheit, als neue Geißel der Menschheit, die sich in den demografisch alternden Gesellschaften wie eine Epidemie ausbreitet und weltweit bereits rund 25 Millionen Menschen ihrer erwachsenen Persönlichkeit beraubt – mit dramatischen Steigerungsraten. Das Krankheitsbild wird schon bald fast jede Familie heimsuchen, und eine Heilung ist trotz jahrelanger intensiver Forschungsbemühungen weit und breit nicht in Sicht. Gleichzeitig ist das Wissen über die Demenz – über Ursachen, Symptome, Erscheinungsformen, Behandlungsmöglichkeiten, Pflegekonzepte – nur sehr wenig verbreitet. Einerseits scheuen viele Menschen das Thema, weil die Aussicht, Autonomie und Entscheidungsfähigkeit zu verlieren und komplett hilfsbedürftig zu werden, in einer an Effizienz und Leistungsfähigkeit orientierten »Wissensgesellschaft« mit besonders großer Angst besetzt ist. Andererseits werfen unsere tatsächlichen Kenntnisse über Demenz leider mehr Fragen auf, als sie Antworten bereitstellen können. Und vor allem das sollte mindestens hellhörig machen.

Sowohl in den zunehmend auf den Sachbuchmarkt drängenden |11|Ratgebern und Erfahrungsberichten als auch in einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Fachliteratur herrscht ein biomedizinisches Demenzmodell vor. Danach handelt es sich bei dieser fortschreitenden Abnahme der Hirnleistungen um eine diagnostizierbare, behandlungs- und therapiebedürftige Krankheit, deren Erforschung und Heilung in erster Linie Aufgabe der Medizin ist. Tilman Jens’ These beispielsweise, wonach sich der Vater aus Scham ins Vergessen geflüchtet habe, wird von vielen Rezensenten dann auch sogleich als »hanebüchene Privatdiagnose« kritisiert, die jeden Schulmediziner »kalt umwehen« dürfte. »Der Sohn schafft es nun in aller Schäbigkeit, die Vergesslichkeit des Vaters für eine verdrängte Episode in einen ursächlichen Zusammenhang zu bringen mit dem Auftreten der Demenz als Alterskrankheit. Fast unüberhörbar ist der selbstgerecht-infame Duktus: Geschieht ihm recht, dem tadellosen Übervater« – heißt es geradezu wutschäumend im Tübinger Wochenblatt vom 14. März 2009. Auch andere Kommentare – in einigen ist gar von »Vatermord« die Rede – geißeln die küchenpsychologische Deutung. Schließlich seien die krankheitsverursachenden organischen Prozesse bei Walter Jens als Eiweißablagerungen in seinem Gehirn, »computertomographisch belegt«, und es wäre doch sicher absurd anzunehmen, solche Proteine würden aus irgendeiner Scham erwachsen. Das entbehre nun wirklich jeder Rationalität.

Die Kritik klingt plausibel, sie ist aber nicht stichhaltig. Könnte man die Kritiker selber zu einer Computertomographie überreden, würden zumindest bei den älteren unter ihnen ganz ähnliche Proteinablagerungen sichtbar werden wie bei Walter Jens. Das heißt, dieselben organischen Prozesse, die in seinem Fall eine Krankheit »belegen« sollen, vollziehen sich, individuell unterschiedlich stark ausgeprägt, im Gehirn jedes alternden Menschen. Auf dieser Grundlage dennoch eine Diagnose zu stellen und als selbstverständlich zu akzeptieren, das ist in Wahrheit nicht weniger absurd, als die Ursache der »Erkrankung« in einer verdrängten NSDAP-Mitgliedschaft zu sehen. Die zweite Erklärung, sofern sie |12|nicht als unmittelbarer Kausalzusammenhang verstanden wird, ist aus unserer Sicht sogar viel interessanter. Sie weitet den Blick auf ein komplexes Wirkungsgeschehen, das sich möglicherweise eben nicht nur biologisch erfassen lässt.

Dass der Blick auf die Demenz bislang nahezu ausschließlich naturwissenschaftlich fixiert bleibt, ist deshalb durchaus erstaunlich: Die Medizin hat in den vergangenen Jahrzehnten kaum mehr erreicht, als den geistigen Verfallsprozess von Dementen zu verlangsamen und zu verlängern. Bis heute konnten keine eindeutigen biologisch-organischen Ursachen bei der Mehrzahl der an »Hirnleistungsstörungen« leidenden Menschen ausgemacht werden, sodass die meisten Demenzdiagnosen in Wahrheit Deutungen sind, also nichts als Interpretationen von Symptomen. Auch gibt es keine nennenswerten therapeutischen Fortschritte, die eine Hoffnung auf Heilung nähren könnten. Fortschritte gibt es allenfalls in ökonomischer Hinsicht, da sich die Altersdemenz mittlerweile zu einem milliardenschweren Geschäft entwickelt hat.

Der biomedizinisch verkürzte Blick übersieht zumeist, dass die mit der Demenz einsetzenden kognitiven Einbußen in vielen Fällen einem natürlichen Alterungsprozess geschuldet sind. Nicht nur das körperliche und sensorische, auch das geistige Leistungsvermögen nimmt im Alter unweigerlich ab. Das macht die Beeinträchtigungen für die davon Betroffenen und ihre Angehörigen nicht weniger schlimm. Es sollte aus unserer Sicht aber Anlass geben, die Demenz ein Stück weit zu entdämonisieren und auf die damit verbundenen Symptome auch andere als medizinische Antworten zu suchen. Die Eiweißablagerungen beispielsweise, die gefürchteten »Plaques«, in denen nicht nur einige empörte Rezensenten von Tilman Jens’ Buch, sondern auch die meisten Forscher und Mediziner nach wie vor den Schlüssel zum Verständnis der »Krankheit« suchen, kommen auch bei Menschen ohne kognitive Einbußen vor. Sie sind also als Erklärungsansatz vielleicht zutreffend, aber nicht hinreichend. Die »Fachleute« wissen es schlicht |13|nicht. Der einzig bislang gesicherte Risikofaktor ist das Alter. Ob das Alter damit aber auch als »Krankheitsursache« gelten kann, ist ebenso ungewiss, denn die meisten alten Menschen werden ja nicht dement. Deshalb erscheint es uns angemessen und sogar notwendig, die Demenz in ein anderes Licht zu rücken und nicht nur medizinische, sondern auch soziale und gesellschaftliche Ansätze sowohl für die Erklärung der Demenz als auch für den Umgang mit Dementen zu entwickeln.

Und dafür ist es höchste Zeit. Schon heute gibt es mehr als eine Million – diagnostizierte! – Demenz«kranke« allein in Deutschland. Und Jahr für Jahr wird bundesweit mit rund 250 000 neuen Fällen gerechnet. Demenz wird damit zu einer der großen sozialen, ökonomischen, politischen Herausforderungen und zu einem zentralen sozialpolitischen Thema des nächsten Jahrzehnts. Demenz ist teuer und bringt Angehörige an den Rand des Zusammenbruchs. Sie offenbart die Schattenseiten einer Individualisierung, die alte Milieus, in denen Menschen familiär, nachbarschaftlich und räumlich besser aufgehoben sein konnten, zerstört hat. Je individualistischer, mobiler und flexibler die moderne Gesellschaft wird, desto drastischer geraten Menschen mit Demenz ins Abseits.

Der Demente ist, ähnlich wie der Depressive, dem Lebenstempo moderner Gesellschaften nicht mehr gewachsen. (Nicht zufällig gilt die Depression als Risikofaktor für die Entwicklung von Demenz.) Er ist, jedenfalls aus der Perspektive der »Gesunden«, nicht mehr in der Lage, das Leben eines selbstbestimmt handelnden, eigenverantwortlichen Individuums zu führen. Das bringt ihn zwangsläufig an den Rand, macht ihn zum Sand im stets eilfertig geschmierten Getriebe einer auf Produktivität und Autonomie getrimmten Gesellschaft.

Insofern hat das Thema Demenz neben seinen medizinischen, sozialen oder ökonomischen Aspekten auch eine wichtige zivilgesellschaftliche Komponente. Zum einen bringt »jede Gesellschaft«, so hat es der Kulturwissenschaftler Egon Friedell einmal bemerkt, »die Krankheiten hervor, die für sie charakteristisch |14|sind« – in dieser Richtung wäre aus unserer Sicht auch die These von Tilman Jens zu verallgemeinern. Zum anderen wird in einer alternden Gesellschaft schon in absehbarer Zeit die Leistungsgrenze jeder professionellen Pflege erreicht sein, sodass auch andere als medizinische und therapeutische Fragen gestellt werden müssen: Was passiert mit den allein lebenden dementen Menschen in unserer Gesellschaft? Gibt es Alternativen zum Heim? Wie lässt sich eine Ausgrenzung von Menschen mit Demenz vermeiden, und was lässt sich im Umgang mit ihnen verbessern? Wie kann den Familien von Betroffenen, die häufig an die Grenze jeder Belastbarkeit geraten, geholfen werden? Was muss in den Kommunen passieren? Wie lässt sich eine verantwortliche Pflege in Zukunft finanzieren? Und, nicht zuletzt, womit haben wir es bei der Demenz wirklich zu tun? Ist Altern eine Krankheit?

Mit diesen und anderen Fragen werden wir uns in diesem Buch beschäftigen. Wenn wir dabei einen Perspektivenwechsel vollziehen und für eine andere Bewertung der Altersdemenz eintreten, so geht es uns dabei nicht im Geringsten um Verharmlosung. Jede subjektiv empfundene Beeinträchtigung eines uns nahestehenden Menschen ist ein Unglück. Wir werden damit aber gerade nicht umzugehen lernen, wenn wir die betroffenen Unglücklichen allesamt für krank erklären und ausschließlich der Medizin überantworten. In einer demografisch alternden Gesellschaft wird es zwangsläufig immer mehr Menschen mit einem verminderten und kontinuierlich weiter sinkenden körperlichen und geistigen Leistungsvermögen geben – und zwar um so mehr, je weiter die durchschnittliche Lebenserwartung ansteigt. Die Medizin als Wissenschaft und Heilkunst ist aufgerufen, die dadurch bedingten Leiden zu lindern. Sie wird aber das Problem, das ja durch ihre eigenen Fortschritte mitbedingt ist, weder erfolgreich bekämpfen noch gar lösen können.

Die gegenwärtige Fixierung auf die »Krankheit« Demenz nimmt eine Fokussierung vor, die möglicherweise verzerrte Ergebnisse produziert. Wohin das führen kann, hat der Wahrnehmungspsychologe |15|Paul Watzlawick einmal an einem Beispiel veranschaulicht3: Gegen Ende der 1950er Jahre brach in der US-amerikanischen Stadt Seattle eine seltsame Hysterie aus. Eine immer größere Zahl von Autobesitzern meldete den Behörden, dass die Windschutzscheiben ihrer Fahrzeuge praktisch über Nacht von mysteriösen pocken- und kraterähnlichen Kratzern übersät seien. Das Phänomen hielt bald die ganze Nation in Atem, sodass Präsident Eisenhower eine Gruppe von Sachverständigen des Bundeseichamtes nach Seattle entsandte. Wilde Theorien kursierten bereits und beunruhigten die Öffentlichkeit, etwa eine »Fallout-Theorie«, wonach die Beschädigungen auf heimliche russische Atomtests und einen dadurch verursachten radioaktiven Niederschlag zurückzuführen seien. Statt nun aber den fantasiereichen Gerüchten nachzugehen, taten die erfreulich nüchternen Wissenschaftler zunächst einmal das Naheliegende. Sie untersuchten die angeblich verseuchten Scheiben und fanden zu ihrer eigenen Verblüffung in ganz Seattle tatsächlich keinerlei irgendwie auffällige Zunahme von Kratzern. In Wahrheit hatten die ersten Berichte über pockennarbige Windschutzscheiben dazu geführt, dass immer mehr Leute ihre Autos akribisch untersuchten. Sie beugten sich von außen über die Scheiben, statt, wie im alltäglichen Gebrauch üblich, von innen durchzusehen. Aus dieser ungewöhnlichen Perspektive heben sich die vielen Kratzer, die tatsächlich jeder genutzte Wagen aufweist, besonders deutlich ab. Was sich also in Seattle ereignet hatte, war gar keine Epidemie zerkratzter, sondern gewissermaßen eine Epidemie auf neue Weise angestarrter Windschutzscheiben!

Vieles spricht dafür, dass es sich mit der Demenz ähnlich verhält. Die erschreckende Zunahme von »Demenzerkrankungen« ist vielleicht zunächst vor allem durch eine Epidemie angestarrter Alterserscheinungen verursacht, die noch bis vor wenigen Jahren als bedauerliche Einbußen, aber nicht als Krankheiten angesehen wurden. »Das Alter als letzte Lebensetappe«, so hat es Arno Geiger mit Blick auf die Demenzgeschichte des eigenen Vaters auf |16|den Punkt gebracht, »ist eine Kulturform, die immer wieder neu erlernt werden muss.«4 Wir haben – stets auf Jugendlichkeit, auf Leistung und die Anforderungen der unmittelbaren Gegenwart fixiert – diese Art von intergenerationeller Bildung sträflich vernachlässigt. Wir billigen darüber hinaus dem Alter auch keine körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen mehr zu. Wir dulden keine eigenen Schwächen mehr und es ist uns ein Gräuel geworden, anderen »zur Last« zu fallen. Aus all diesen Gründen haben wir es schlichtweg verlernt, mit solchen Alterserscheinungen angemessen umzugehen.

Die damit einhergehende Haltung grenzt aber gerade in einer alternden Gesellschaft an Zynismus. Nach eher vorsichtigen Berechnungen der Europäischen Kommission wird bereits im Jahr 2050 jeder dritte Europäer ein »Alter« sein – also über 65 Jahre. Und jeder zehnte zählt dann zu den »Hochaltrigen« – ist also 80 Jahre und älter. Das summiert sich allein in Deutschland auf nahezu zehn Millionen über 80-Jährige, wovon nach bisherigen Erhebungen der Demenzhäufigkeit mehr als 30 Prozent an Alzheimer leiden werden.

Wir sollten uns deshalb auf die sich mit fortschreitendem Alter vollziehenden Veränderungen nicht nur medizinisch und sozialplanerisch, sondern vor allem gesellschaftlich und politisch einstellen. Andernfalls, so ist es bereits in Ansätzen zu beobachten, werden auch wir uns als alte Menschen in unserem letzten Lebensabschnitt isoliert sehen, abgeschoben verwahrt in anonymen Betreuungsanstalten – oder, weil wir dann überflüssig und teuer geworden sind, wird man uns einer vorgeblich »humanen« Entsorgung zuführen, wie sie sich in der Sterbehilfe-Praxis in anderen Ländern bereits andeutet. Auch hierzulande findet sie immer mehr – sogar theologisch geschulte – Befürworter.

Wir müssen uns deshalb darüber klar werden, worüber wir reden, wenn wir von Demenz sprechen. Handelt es sich wirklich um eine Krankheit, um eine pathologische Abnormität? Ist das Altern am Ende womöglich selbst als diese Krankheit zu begreifen? |17|Oder sprudelt die um sich greifende Verwirrtheit aus anderen Quellen, die der biomedizinisch fokussierte Blick leichtfertig ausblendet, weil sie medizinisch nicht beeinflusst werden können? Sind sie stattdessen im Diesseits der gesellschaftlichen Verhältnisse zu suchen?

Diesen Fragen möchten wir in unserem Buch nachgehen. Beginnen wollen wir, ganz konventionell, am Anfang, als ein aufstrebender Psychiater in einer Frankfurter »Irrenanstalt« auf eine außergewöhnliche Patientin trifft.

Juli 2009

Rüdiger Dammann

Reimer Gronemeyer

|18|Auguste D.

Die Erfindung der Alzheimer-Krankheit

»Wie heißen Sie?« »Auguste.« »Familienname?« »Auguste.« »Wie heißt Ihr Mann?« »Ich glaube Auguste.« Mit diesen Sätzen beginnt im November 1901 die Erforschung eines bis dahin unbekannten und also namenlosen Leidens. Auf Dutzenden handgeschriebenen Seiten hält der Psychiater Alois Alzheimer seine Gespräche mit einer seltsamen Patientin fest und dokumentiert damit zum ersten Mal die Symptome einer mutmaßlichen Erkrankung, die er selbst zunächst wechselnd »amnetische Störung«, »mentale Störung« oder auch »Krankheit des Vergessens« nennt.5

Bis wenige Monate zuvor war das Leben der 1851 geborenen Frau gänzlich unauffällig verlaufen. Auguste hatte 1873 den Eisenbahner Carl Deter geheiratet und bald darauf eine Tochter zur Welt gebracht, der sie eine liebevolle Mutter war. Soweit man das aus heutiger Sicht beurteilen kann, ging es der kleinen Familie recht gut: Man lebte zufrieden in der Nähe von Frankfurt und kam auch finanziell einigermaßen über die Runden. Carls Einkommen erlaubte zwar keine großen Sprünge, aber es reichte immerhin zum Aufbau einer halbwegs gesicherten kleinbürgerlichen Existenz. Alles war, wie es zur damaligen Zeit kaum besser hätte sein können. Auguste galt als freundlich, fleißig und ordentlich. Sie trank keinen Alkohol, nahm keinerlei Medikamente zu sich, und auch von nennenswerten Vorerkrankungen war ihrem Umfeld nichts bekannt.

|19|Dann plötzlich, im März 1901, nimmt ihr Mann immer öfter Verwirrungszustände an ihr wahr, die ihn zunehmend beunruhigen. Auguste wirkt zerstreut, fahrig und vergesslich, sie verlegt Gegenstände, macht unerklärliche Fehler, vernachlässigt ihre Hausarbeit und wandert stattdessen ruhe- und ziellos durch die Zimmer. Auch sonst zeigt die bis dahin ausgeglichene Frau überaus auffällige Verhaltensweisen: So verfällt sie augenblicklich in Panik, wenn der ihr seit langem vertraute Postbote klingelt, sie leidet unter Schlaflosigkeit oder wird ohne erkennbaren Anlass aggressiv und beschuldigt ihren verdutzten Mann, dass er ein Auge auf die Nachbarsfrau geworfen habe.

Nach einigen Monaten, in denen sich der Zustand seiner Ehefrau weiter verschlechtert, weiß Carl schließlich keinen Rat mehr und wendet sich hilfesuchend an den Hausarzt der Familie. Aber auch dieser hat für die ungewöhnlichen Ausfallerscheinungen keinerlei Erklärung. Eine Untersuchung der körperlich gesunden Auguste bleibt ohne Ergebnis. Ein solcher Fall ist dem Mediziner noch nicht untergekommen. Da er keine Ursache für die eigentümliche Wesensveränderung seiner langjährigen Patientin ausfindig machen kann, vermutet er eine »chronische Gehirnstörung« und überweist Auguste an die Fachkollegen der nahe gelegenen »Anstalt für Irre und Epileptische« in Frankfurt am Main.

In dieser damals weit über die Mainmetropole hinaus angesehenen »Städtischen Irrenanstalt«, einem großzügigen Gebäudekomplex in parkartiger Anlage, tritt der Arzt und Psychiater Alois Alzheimer in Auguste Deters Leben – und sie in seines. Mit seinen 37 Jahren hat Alzheimer bereits den Ruf eines Experten. Nach seinem Medizinstudium hatte er an der Frankfurter Institution 1888, als 24-Jähriger, eine Zusatzausbildung in Psychiatrie absolviert und hierbei zugleich seine Leidenschaft für Neuropathologie, die mikroskopische Untersuchung menschlicher Zellstrukturen, entdeckt. Mittlerweile, 13 Jahre später, ist er zu einem renommierten Oberarzt aufgestiegen, der einen Großteil der klinischen Alltagsarbeit inzwischen von seinen Mitarbeitern erledigen lässt. Als er jedoch |20|am 26. November 1901 auf die Notiz eines seiner Assistenten, Dr. Paul Nitsche, stößt, die dieser ihm nach seiner Eingangsuntersuchung einer neu aufgenommenen Patientin zur Kenntnis gegeben hatte, wird er selbst aktiv. Der Inhalt des Aufnahmebefunds von »Auguste D.« elektrisiert den Chef sofort. Einen vergleichbaren Fall hatte er bislang weder in der Praxis gesehen, noch war ihm aus der Fachliteratur ein ähnliches Krankheitsbild bekannt. Er beschließt, sich dieser neuen Patientin persönlich anzunehmen.

Präsenile und senile Demenz

Das für Dr. Alzheimer Aufregende an der schlanken, dunkelhaarigen Frau sind weniger ihre Symptome, es ist vielmehr ihr Alter. Schleichender Gedächtnisverlust, Wortfindungsschwierigkeiten, Verwirrtheit, Angstzustände, Orientierungslosigkeit, Verständigungsprobleme – kurz, eine rapide Abnahme der kognitiven Fähigkeiten – sind dem Psychiater als Symptome wohl vertraut. Dass Menschen im Alter absonderlich werden können, manche bis zur geistigen Umnachtung, war auch damals ein nicht seltenes Phänomen. Alzheimer selber hatte auf diesem Gebiet sogar ausgewiesene Forschungserfahrung. Nachdem einer seiner Lehrer und Förderer, Emil Kraepelin, einer der einflussreichsten Psychiater seiner Zeit, 1890 den Begriff der »senilen Demenz« in die deutschsprachige Medizinliteratur eingeführt hatte, war Alzheimer 1898 mit einer eigenen Studie zum damals sogenannten, übrigens nicht als krankhaft geltenden »Altersblödsinn« an die Fachöffentlichkeit getreten. Aber all die Beobachtungen, die in seiner wissenschaftlichen Arbeit akribisch zusammengefasst waren und die er nun an Auguste D. wiedererkennt, hatte er an alten, 70- und 80-jährigen Menschen gemacht. Dass eine derart junge Frau von gerade einmal 50 Jahren alle Merkmale einer fortgeschrittenen Senilität aufweist, gibt dem erfahrenen Kliniker deshalb Rätsel auf – und weckt sowohl seine Neugier als auch seinen Ehrgeiz. Er erkennt, |21|dass das Leiden Augustes von wissenschaftlicher Bedeutung sein kann. Aus ihrem Zustand ließ sich die These ableiten, dass eine im Alter nicht selten auftretende komplette Verwirrtheit auch andere als altersbedingte Ursachen haben könnte.

Aber in den Monaten, die nun folgen, kommt Alzheimer nicht recht weiter. Die Gespräche mit Auguste – sie »scheint sich nicht mehr auszukennen«, »versteht manche Fragen nicht«, »lässt beim Schreiben Buchstaben aus« – bestätigen zwar die Ähnlichkeit ihres Leidens mit dem Erscheinungsbild der senilen Demenz. Wieso aber vollzieht sich ein im Alter als natürlich geltender geistiger Verfallsprozess in dieser vergleichsweise jungen Frau? Weder Krankengeschichte und Lebensweise noch der akute Verlauf ihrer Erkrankung geben hierauf irgendwelche Hinweise. Der Psychiater vermutet, eine ausgeprägte »Arteriosklerose«, also eine aufgrund von Gefäßverkalkung mangelhafte Durchblutung des Gehirns, könne die Ursache von Augustes Symptomen sein. Er hat aber keine Möglichkeit, diese These am lebenden Menschen diagnostisch zu überprüfen. Und selbst wenn er sie beweisen könnte, das weiß Alzheimer, bliebe immer noch ungeklärt, was diese nun gefundene »präsenile Demenz« von der senilen Variante unterscheidet, die ja ihrerseits arteriosklerotisch bedingt sein kann.

Alzheimer fragt sich nun: Leidet seine Patientin tatsächlich an einer spezifischen, eigenständigen Krankheit? Oder kommt es in seltenen Fällen lediglich zu einem vorzeitigen und beschleunigten Altern des Gehirns? Ist Augustes Leiden also durch nichts von der »normalen« senilen Demenz zu unterscheiden? Aber auch wenn das so sein sollte, bliebe ja immer noch ungeklärt, warum dieser Prozess bei ihr so viel früher einsetzt als bei anderen.

Diese Fragen werden Alzheimer sein Leben lang beschäftigen. Sie beschäftigen uns bis heute. Sein Interesse an der konkreten Patientin, an Auguste D., erlischt jedoch sehr bald. 1902 verlässt er die Frankfurter Anstalt, um mit Emil Kraepelin in Heidelberg zusammenzuarbeiten, ein Jahr später folgt er seinem Förderer nach München, wo Kraepelin den Posten des Direktors der Königlichen |22|Psychiatrischen Klinik übernimmt. Hier, in München, erreicht Alzheimer vier Jahre später, am 9. April 1906, dann auch die Nachricht, dass seine ehemalige Patientin, 55-jährig, am Tag zuvor in Frankfurt verstorben sei – »total verblödet«, wie Alzheimer sich aus der Städtischen Irrenanstalt berichten lässt. Aber nun, nach ihrem Tod, wird Auguste für ihn wieder interessant. Er lässt sich ihre Krankenakte und das Gehirn der Toten nach München schicken und macht sich sogleich an die histologische Untersuchung, die seinen Ursprungsverdacht dann auch zu bestätigen scheint: Augustes Gehirn, wie er es nun unter dem Mikroskop in Augenschein nimmt, wirkt tatsächlich »völlig versandet« – wie Alzheimer notiert. Der Psychiater findet Eiweißablagerungen und abgestorbene Nervenzellen in der gesamten Hirnrinde, deren insgesamt desolaten Zustand er für das Leiden der Frau verantwortlich macht.

Aber es bleiben Zweifel, wie dieser Befund zu interpretieren ist. Übereinstimmende Veränderungen hatte Alzheimer nämlich schon an den Gehirnen sehr viel älterer Menschen mit Demenz entdeckt und beschrieben: Nervenzellen, die sich in unordentliche Knäuel aus Fasern verwachsen – die sogenannten Neurofibrillen –, sowie die von dem Neuropathologen Emil Redlich zu Anfang des Jahrhunderts erstmals beschriebenen Proteinablagerungen, die sich zu kleinen Hügeln auf der Cortex-Oberfläche aufschichten – die »senilen Plaques«. Dennoch werden beide aus der senilen Demenz bereits bekannten Merkmale nun zu den pathologischen Charakteristika einer eigenständigen »organischen Hirnerkrankung«, der »präsenilen Demenz«, erklärt. Mehr noch: In Anerkennung der Arbeit seines Freundes führt Emil Kraepelin 1910, in der achten Auflage seines auch international einflussreichen Psychiatrie-Lehrbuchs, dann schließlich den Begriff »Alzheimersche Krankheit« in den medizinischen Diskurs ein. In einem Kapitel über »Das Senile und Präsenile Irresein« unterscheidet er die Alzheimersche Krankheit – als ein »ungemein schweres geistiges Siechtum mit den verwaschenen Erscheinungen einer |23|organischen Hirnerkrankung« – dezidiert vom nicht krankhaften, sondern allein altersbedingten »Altersblödsinn«.

Eben diesen Schluss ließen aber die anatomischen Befunde gerade nicht zu, weshalb der sicherlich geschmeichelte Alzheimer mit der neuen Klassifizierung nicht wirklich glücklich gewesen sein soll. Alle seine Fragen waren ja nach wie vor unbeantwortet, und die Ergebnisse seiner Untersuchungen sprachen eher gegen eine klare Unterscheidbarkeit. Das wusste nicht nur Alzheimer. Auch der erfahrene Kraepelin war sich dessen durchaus bewusst: So räumt er zwar zu Beginn des erwähnten Kapitels seines Lehrbuchs vorsichtshalber selber ein, dass die klinische Interpretation der Alzheimerschen Krankheit »zurzeit noch unklar« sei. Er erklärt sie aber dennoch – autoritativ und ohne belastbare wissenschaftliche Begründung – zu einer von der senilen Demenz unterscheidbaren Krankheit.

Ob er dabei wirklich nur die Ehrung seines geschätzten Kollegen im Auge oder vielmehr einen aufstrebenden Wiener Traumdeuter im Sinn hatte, der einem strikt neuropsychiatrischen Ansatz den führenden Rang streitig zu machen drohte, werden wir hier nicht aufklären können. Der renommierte amerikanische Neurologe Peter J. Whitehouse gibt sich jedenfalls überzeugt, dass die Konkurrenz zwischen Emil Kraepelin und Sigmund Freud eine tragende Rolle in der Etablierung der Alzheimerschen Krankheit gespielt habe.6 In Freud, dessen 1900 erschienenes Buch Traumdeutung international für Furore gesorgt hatte, habe Kraepelin eine Bedrohung gesehen. Gegen diese mussten sowohl das eigene Territorium mit seinen im Vergleich zur Psychoanalyse teuren Forschungseinrichtungen als auch die eigene Reputation unbedingt verteidigt werden. Und in dieser Defensive war die Demenz, insbesondere die Alzheimersche Krankheit als ein dezidiert hirnorganisches Syndrom, ein wichtiges Argument für die Unverzichtbarkeit der traditionellen Psychiatrie. Was sollten denn die Freudschen Interpretationen, mit denen der selbsternannte Analytiker den Neurosen seiner exzentrischen Kundschaft zu Leibe rückte |24|und die doch wohl eher Kunst als Wissenschaft seien, schon gegen Plaques und Neurofibrillen ausrichten können? Da müsse schon »echte« naturwissenschaftliche Medizin her, die deshalb weiterhin unabdingbar sei, so Kraepelin.

Aber eine echte medizinische Entdeckung war Alois Alzheimer gar nicht gelungen. Er hatte Symptome und Gehirnveränderungen beschrieben, die von der senilen Demenz bereits bekannt waren. Er hatte außer dem Alter der Patientin keine spezifische Abweichung gefunden. Weiterhin blieb also unklar, ob und wie sich die präsenile von der senilen Demenz unterscheiden ließ. Insofern erscheint es durchaus berechtigt, nicht Alois Alzheimer als den Entdecker, sondern Emil Kraepelin als den Erfinder der Alzheimerschen Krankheit zu bezeichnen – um die es dann allerdings nach ihrer Einführung in den psychiatrischen Kanon für einige Jahrzehnte recht still wurde.

Krankheit oder Altersschwäche?

Die Alzheimersche Krankheit überwinterte gewissermaßen in einigen wenigen Fachveröffentlichungen, bevor sie dann in den 1960er und 1970er Jahren ihre eigentliche Karriere startete. Demografische Entwicklungen, vor allem eine deutlich gestiegene Alterserwartung, hatten der neurologischen und der sich nun etablierenden gerontologischen Forschung großen Auftrieb gegeben. Gleichzeitig war die Zahl von Menschen mit Demenz mittlerweile rapide angestiegen, sodass das Alterssyndrom, das bislang überwiegend ein Spezialthema der Psychiatrie gewesen war, allmählich in den Blick der Öffentlichkeit rückte. Damit drohten aber auch die Schwächen der medizinischen Erklärungsansätze offenbar zu werden. So ließ sich etwa trotz aller diagnostischen Fortschritte die äußerst seltene »präsenile« Alzheimersche Krankheit auch weiterhin nicht von der senilen Demenz unterscheiden. Deshalb begann sich nun unter den Fachvertretern langsam die Auffassung durchzusetzen, die schon |25|Alzheimer nicht zu entkräften gewusst hatte: dass wir es in beiden Fällen tatsächlich mit ein und demselben Syndrom zu tun haben. Folglich war es auch nicht mehr möglich, dieses identische Syndrom in dem einen Fall als Ausdruck einer Krankheit, im anderen als nicht krankhafte Alterserscheinung zu werten. Folgerichtig wurden nun die »degenerativen Hirnleistungsstörungen« zusammengefasst und erfuhren dabei insgesamt eine Umwertung.

Alzheimer und Kraepelin hatten die präsenile Demenz als pathologische Form einer nicht krankhaften senilen Demenz gewertet und waren hierfür den Nachweis in Wahrheit schuldig geblieben. Nun wird – ebenfalls ohne wissenschaftliche Beweisführung – auch die senile Form zu einer Krankheit umgedeutet und beide Prozesse werden wieder in einen Topf geworfen, aus dem Alzheimer und Kraepelin sie befreit zu haben glaubten. Das hatte eine eigene Benennung der Alzheimerschen Krankheit ja erst motiviert. Eigentlich hätte diese Wendung, diese Neubewertung eines vormals dem Alter zugeschriebenen geistigen Verfalls, nun also das Ende der Alzheimerschen Krankheit bedeuten müssen. Es war aber stattdessen ihre zweite Erfindung sowie ihre eigentliche Geburt. Als gemeinsamen Begriff für das nunmehr breite Spektrum kognitiver Einbußen einigte man sich ausgerechnet auf den Terminus »Alzheimer-Krankheit« oder auch »Alzheimer-Demenz«, womit nun ein Krankheitsprozess seinen Namen fand, der fortan vom allgemeinen Alterungsprozess unterschieden werden sollte.

Und das ist schon bemerkenswert. Seit Menschengedenken bis in die jüngste Vergangenheit wurde ein mit dem Altern des Menschen aufs Engste verbundener, zwar bedauerlicher, aber »normaler« Abbauprozess beklagt – schon aus dem alten Ägypten oder der griechischen und römischen Antike sind entsprechende Schilderungen des »Altersschwachsinns« überliefert. Und dieser »natürliche« Prozess gilt uns heute nahezu selbstverständlich als Krankheit. Theodor Fontane oder Victor Hugo, Orson Welles oder Rita Hayworth, Federico Fellini oder Luis Buñuel, der einstige FBI-Chef Edgar Hoover oder der Verhaltensforscher Konrad Lorenz – sie alle zeigten im |26|Alter typische Verhaltensweisen einer senilen Demenz. Sie konnten sich an nichts mehr erinnern, fanden sich nicht mehr allein zurecht und benötigten Hilfe im Alltag. In ihrer Umwelt galten sie gleichwohl nicht als Kranke. Ihre altersbedingten Einschränkungen wurden zwar beklagt, aber halbwegs gelassen aufgenommen. Die benötigte Hilfe wurde wie selbstverständlich gewährt. Man kümmerte sich eben um seine Alten, ohne diese Pflege jedoch als medizinischsoziale Dienstleistung anzusehen – oder gar abzurechnen.

Das Alzheimer-Imperium

Das ist heute entschieden anders. Menschen mit nachlassenden Geisteskräften, die an ihrem Lebensabend wunderlich, vergesslich, »kindlich« und am Ende auch hilfsbedürftig werden, und deren auffälliges Verhalten bis vor kurzem ausschließlich ihrem hohen Alter zugeschrieben wurde, firmieren nun plötzlich nur noch als beklagenswerte Demenzkranke. Sie werden, wie am Beispiel des über 80-jährigen Walter Jens geschildert, zum Gegenstand öffentlicher Anteilnahme. Ihr Leiden entspringt nach dieser Lesart nicht mehr ihrem hohen Alter. Es ist nicht mehr ein Abschied von der Welt, sondern ein von medizinischen Diagnosekriterien umstelltes Übel, das den davon Befallenen ihren Verstand, ihre Würde und am Ende gar »ihr Selbst raubt« – und das es daher mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt.

Dieser seinem Selbstverständnis nach durch und durch humane Kampf war allerdings bislang ernüchternd erfolglos. Er hat stattdessen in nur wenigen Jahrzehnten ein wahres »Alzheimer-Imperium« entstehen lassen – mit Milliardenumsätzen, mit Forschungseinrichtungen und Lehrstühlen, immer neuen Medikamenten und Therapieansätzen. Dieses Imperium gibt vor, den Krieg gegen die tückische »Krankheit« zu intensivieren. Dabei kreist es aber weitgehend um sich selbst und verliert allzu häufig die Betroffenen und ihre Angehörigen aus den Augen. Nur die |27|»Krankheit« selbst, die Alzheimer-Demenz, die behält man fest im Blick, weiß aber nach wie vor nicht, was genau man da eigentlich anschaut. Der Feind ist sichtbar, bleibt aber unkenntlich.

Weder sorgende Betroffenheit noch professionelle Entschlossenheit können über eine wichtige Tatsache hinwegtäuschen: Auch die heute gängigen, modernen Diagnosekriterien, wie sie etwa in den internationalen Katalogen von ICD-107 und DSM-IV8 festgeschrieben sind, unterliegen weiterhin demselben Dilemma, dem schon Alois Alzheimer nicht entkommen konnte. Auch diese international anerkannten Klassifikationen benennen lediglich die klinischen Symptome – in erster Linie Kognitions-, Orientierungs- und Artikulationsstörungen sowie dadurch bedingte Beeinträchtigungen des täglichen Lebens –, ohne jedoch deren Ursachen angeben und wenigstens halbwegs erfolgversprechende Therapiewege aufzeigen zu können.

Wie Alzheimer und Kraepelin definieren die quasi amtlichen Kriterien in Wahrheit das, was eigentlich erst diagnostiziert werden soll. Das heißt, hier wird im Grunde willkürlich eine Norm gesetzt. Ein beobachtbares und also evidentes Syndrom, das jahrhundertelang als Ausdruck eines unvermeidlichen degenerativen Alterungsprozesses galt, wird zu einer Krankheit erklärt. Und diese Krankheit wird dann im Zirkelschluss nach denselben Kriterien »diagnostiziert«, die gerade per Konvention als »krank« definiert wurden. Strenggenommen ist ein solches Vorgehen nichts anderes als ein Taschenspielertrick: Denn hier wird, wie auf der Kleinkunstbühne, etwas aus dem Hut »gezaubert«, was man vorher, möglichst unbemerkt, eigenhändig hinein getan hat.

Selbstverständlich sind nachlassende Hirnleistungen und die damit einhergehenden Veränderungen – unabhängig davon, ob sie nun alters- oder krankheitsbedingt sein mögen – Beeinträchtigungen, die man nicht schicksalsergeben hinnehmen muss. Sie sollten natürlich, wo immer möglich, gelindert werden. Werden solche Einbußen aber kategorisch als Krankheit definiert und folglich ausschließlich medizinisch in den Blick genommen, hat |28|das massive Konsequenzen auf die Koordinaten von »gesund« und »krank« insgesamt – und damit auf unser Menschenbild und unser Lebensverständnis.

Wenn es beispielsweise zutrifft, dass die meisten von Demenz Betroffenen an einer unabwendbaren Alterserscheinung leiden – und nach bisheriger Sachlage sprechen die meisten Indizien dafür –, dann führt eine solche Koordinatenverschiebung zwangsläufig zu einer generellen Pathologisierung des Alters mit all seinen Schwächen. Damit ist aber den Dementen nicht geholfen, weil viele andere als medizinische Aspekte ihre Lebensqualität vermindern oder verbessern. Im Grunde geraten darüber hinaus auch alle heute noch Gesunden, aber potenziell Kranken, in die Interessens- und Einflusssphäre einer stetig wachsenden medizinisch-pharmakologischen Industrie. Diese versucht schon gegenwärtig auf zuweilen unverantwortliche Weise aus den Schwächen und Hoffnungen der Menschen Kapital zu schlagen, indem sie praktisch unerfüllbare Gesundheitsbedürfnisse erst generiert und anschließend zu stillen verspricht.