Ist Qualität messbar? - Lars Grünewald - E-Book

Ist Qualität messbar? E-Book

Lars Grünewald

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Beschreibung

Ohne die Entwicklung eines exakten Messwesens gäbe es keine modernen Naturwissenschaften, deren Ergebnisse unsere Kultur seit mehr als vierhundert Jahren nachhaltig prägen. Und auch die Sozialwissenschaften sowie zahlreiche gesamtgesellschaftliche Steuerungsvorgänge in Bildung, Wirtschaft und Politik basieren in immer größerem Umfang auf der Messung von Qualitäten. Aber ist Qualität wirklich messbar? Lassen sich Qualitäten ohne Realitätsverlust in Zahlenwerte umwandeln? Was genau bedeutet das Messen von Qualitäten? Die vorliegende Arbeit versucht, unter Anknüpfung an die von G. F. W. Hegel in seiner ‘Wissenschaft der Logik' entwickelte Denkmethode, den logischen Prozess zu verfolgen, welcher von der Wahrnehmung von Intensitätsunterschieden zwischen Qualitäten zu deren Quantifizierung durch exakte Zahlenwerte führt. Nur durch ein genaues gedankliches Nachvollziehen des komplexen Weges bis hin zur Messbarkeit von Qualitäten lassen sich Messvorgänge und die auf sie aufgebauten gesellschaftlichen Steuerungsprozesse wirklich begreifen und ggf. methodisch korrigieren.

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Inhalt

Einleitung

1) Die Bedeutung des Messens in unserer Kultur

2) Die Quantifizierung unserer Lebenswelt

3) Qualität und Quantität

4) Hegels

Wissenschaft der Logik

5) Die dialektische Methode

6) Was ist ein Begriff?

7) Die Gliederung der Logik

8) Zählen, Wiegen und Messen

9) Inhalt und Form der Darstellung

Leitsätze (Übersicht)

Theoretische und praktische Schlüsselaspekte

1. Kapitel: Intensitäten

1.1

Mengen, Objekte und Eigenschaften

1.2

Abstrakte Qualitäten

Abstrakte Qualitäten und physikalische Größen

Ausprägungen abstrakter Qualitäten

1.3

Qualitätsvarianten

1.4

Abstrakte und konkrete Bestimmtheit von Qualitäten

1.5

Vergleich unterschiedlicher Qualitätsvarianten

Variantenspektrum einer abstrakten Qualität

1.6

Ausprägungen derselben Qualitätsvariante

1.7

Ausprägungen unterschiedlicher Qualitätsvarianten

1.8

Stärkere und schwächere Ausprägungen einer abstrakten Qualität

Stärke und Schwäche von Qualitäten als Ausprägungen des Konkurrenzprinzips

1.9

Relativität der Stärke von Qualitätsvarianten

1.10

Begriff der Intensität

Parameter abstrakter Qualitäten

1.11

Intensitätsspektrum einer abstrakten Qualität

1.12

Intensität von Qualitäten

Kant über Intensität

2. Kapitel: Kontraste

2.1

Unquantifizierbarkeit der Intensität von Qualitäten

2.2

Bezugsqualitäten

2.3

Bezogene Qualitäten

2.4

Umkehrbarkeit des Verhältnisses von Bezugsqualität und bezogener Qualität

2.5

Kontraste

2.6

Ausprägungen desselben Kontrastes

2.7

Ausprägungen unterschiedlicher Kontraste

2.8

Stärkere und schwächere Kontraste

2.9

Relativität der Stärke von Kontrasten

2.10

Begriff der Kontrastintensität

2.11

Spektrum aller möglichen Kontrastintensitäten einer abstrakten Qualität

2.12

Intensität von Kontrasten

3. Kapitel: Kontrastierende Qualitäten

3.1

Unquantifizierbarkeit der Intensität von Kontrasten

3.2

Bezugskontraste

3.3

Bezogene Kontraste

3.4

Umkehrbarkeit des Verhältnisses von Bezugskontrast und bezogenem Kontrast

3.5

Kontrastverhältnisse

3.6

Kontrastierende Qualitäten

3.7

Zueinander kontrastierende Qualitäten

3.8

Intensitätsüberschüsse und Intensitätsdefizite

3.9

Relativität von Überschüssen und Defiziten

3.10

Gemeinsame Bezugsqualitäten

Positive und negative Kontraste

3.11

Spektrum relativer Intensitäten

3.12

Kontraste zu einer gemeinsamen Bezugsqualität

4. Kapitel: Stärkegrade

4.1

Kontrastspektren unterschiedlicher Qualitäten

4.2

Referenzqualitäten

4.3

Sprachliche Quantifizierung von Qualitäten

4.4

Umkehrbarkeit des Verhältnisses von Referenzqualität und quantifizierter Qualität

4.5

Relative Quantifizierungen

Spektrum relativer Quantifizierungen

4.6

Normale Intensität von Qualitäten

Zum Begriff des ‚Normalen'

4.7

Besondere Intensität

4.8

Starke, normal intensive und schwache Qualitäten

Streben nach ‚ Qualität'

4.9

Relativität der Stärke von Qualitäten

4.10

Stärkegrade

4.11

Quantifizierungsspektren

Schulnotensysteme

Weitere Beispiele für Quantifizierungsspektren

4.12

Quantifizierung von Qualitäten durch Stärkegrade

5. Kapitel: Intensitätsklassen

5.1

Subjektivität von Stärkegraden, Quantifizierungsspektren und sprachlichen Quantifizierungen

5.2

Intensitätsklassen

Klassen und Mengen

5.3

Varianten eines Stärkegrades

5.4

Variable Klassenzugehörigkeit jeder Qualität

5.5

Rangordnungen von Klassen und Klassenspektren

5.6

Begriff des Ranges

5.7

Ungleichrangige Qualitäten

5.8

Rangordnungen als extreme Ausprägungen des Konkurrenzprinzips

5.9

Relativität der Höhe von Rängen

Extreme Veräußerlichung des Konkurrenzprinzips in der Rangordnung

5.10

Qualitätsspektren

5.11

Numerische Klassifizierungssysteme

Beispiele für numerische Klassifizierungssysteme

5.12

Numerische Klassifizierung von Qualitäten

6. Kapitel: Klassifizierungssysteme

6.1

Unterschiedliche Einteilbarkeit von Qualitäten in Klassen

6.2

Intensitätsspannen

6.3

Bestimmung von Klassengrenzen

6.4

Veränderlichkeit von Klassengrenzen

6.5

Bestimmtheit jedes Klassifizierungssystems durch seine Klassengrenzen

6.6

Klassifizierungssysteme mit identischem Differenziertheitsgrad

6.7

Unterschiedlich differenzierte Klassifizierungssysteme

6.8

Einfachere und differenziertere Klassifizierungssysteme

6.9

Relativität des Differenziertheitsgrades von Klassifizierungssystemen

6.10

Zweiklassensysteme

Logische Grundlagen der Digitaltechnik

6.11

Einteilung des Intensitätsspektrums einer abstrakten Qualität

6.12

Subjektivität jeder Bereichseinteilung von Qualitäten

7. Kapitel: Messskalen

7.1

Variable Einteilbarkeit jedes Intensitätsspektrums in Intensitätsbereiche

7.2

Bildung von Maßeinheiten

Die extensive Qualität der Zeit

Die extensive Qualität des Raumes

Materie, Stoffmenge und Masse

Geld als extensive Qualität

Ausprägungen einer Maßeinheit

7.3

Messen der Größe von Qualitäten

Extensive und intensive Größen und Qualitäten

Hegel über extensive, intensive und reine Quantität

Primäre und sekundäre Qualitäten

Mathematisierung der Wissenschaften

7.4

Messbarkeit jeder Qualität durch jede andere Variante derselben abstrakten Qualität

7.5

Messskalen

7.6

Gradzahlen

7.7

Unterschiedliche Maßeinheiten

7.8

Gröbere und feinere Maßeinheiten

7.9

Relativität des Differenziertheitsgrades von Maßeinheiten

7.10

Basiseinheiten

7.11

Einheitensysteme

7.12

Messen der Intensität von Qualitäten

Zusammenfassung und Ausblick

1) Die logische Entwicklung von der Wahrnehmungswelt bis zur Zahlentheorie

2) Der Gegensatz von Zahl und Qualität

3) Von der Wahrnehmung von Intensitäten zu deren Messung

4) Intensitätsspektrum und Messskala

5) Die Mathematisierung der Natur

6) Die Lebenswelt als vergessenes Sinnfundament der mathematischen Naturwissenschaften

7) Messung und Gesetzeserkenntnis

Verwendete Literatur

Einleitung

1) Die Bedeutung des Messens in unserer Kultur

In einer einführenden Darstellung zum Thema des Messens – dem Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung – führen die Autoren Beispiele aus den unterschiedlichsten Lebensgebieten für die Bedeutung des Messens an:

„Messen und Maß, Wägen und Gewicht sind Begriffe, die uns täglich begegnen. Ein Zusammenleben von Menschen ist heutzutage ohne Maße und ohne Messen nicht mehr vorstellbar. Ja sogar die Existenz der Menschheit ist ohne Messungen und ohne Berücksichtigung der Ergebnisse des Messens unmöglich.

Das Messen ist so sehr Bestandteil des menschlichen Lebens geworden, dass wir schon gar nicht mehr bemerken, wann wir etwas messen, was wir messen oder wie wir ein Messergebnis zur Kenntnis nehmen und auswerten. Dem morgendlichen Signal des Weckers, mit oder ohne Musik, liegt eine Zeitmessung zugrunde. Steigen wir auf die Personenwaage, so messen wir unsere Masse, das Körpergewicht. Unseren Waschwasserverbrauch ermittelt ein Wasserzähler. Die Frühstücksbrötchen sind mit Butter, Marmelade, Wurst oder Käse belegt, Waren, die wir nach Gewicht vorverpackt oder zugewogen gekauft haben. Ehe wir aus dem Haus gehen, lesen wir vom Thermometer die Außentemperatur ab. Im Auto sind wir von Messgeräten für Geschwindigkeit, Wegstrecke, Benzinstand, Öltemperatur und für andere Messgrößen umgeben. Fühlen wir uns unwohl, greifen wir zum Fieberthermometer und nehmen Medikamente, die mit Hilfe von Messgeräten dosiert wurden“ (Trapp 9).

„In unserer Wohnung kommen wir mit einfachen Messgeräten aus. Zur Längenmessung genügt uns ein Gliedermaßstab, früher Zollstock genannt; die nähende Hausfrau hat ein ‚Zentimeterband'. Außerdem steht im Bad eine Personenwaage, und im Schrank liegt ein Fieberthermometer. Auch eine Küchenwaage, eine Briefwaage, eine Anzahl Zimmerthermometer, Außenthermometer, Messbecher und mehrere Uhren gehören zur Wohnungsausstattung.

An den Heizkörpern unserer Zentralheizung sitzen meist ‚Heizkostenverteiler', die durch die temperatur- und zeitabhängige Verdunstung einer Flüssigkeit die abgegebene Wärmemenge zu schätzen gestatten. Im Haus gibt es noch Zähler für den Verbrauch von Gas, Wasser und Elektrizität. Derartige Messgeräte gehören den Versorgungsunternehmen und werden von diesen regelmäßig abgelesen und gewartet. An die Telefonapparate sind häufig Gesprächseinheitenzähler angeschlossen. Liebhaberfotografen benutzen einen Belichtungsmesser, der heute meist in der Kamera eingebaut ist.

Gehen wir zum Einkaufen, so finden wir, dass es ohne Messungen und ohne Messgeräte keinen Warenverkehr geben kann. An der Bedienungstheke des Supermarktes wird uns noch, wie früher, Wurst und Fleisch zugewogen, wir bekommen jedoch einen Bon mit, auf dem Grundpreis, Gewicht und der daraus berechnete Verkaufspreis abgedruckt sind“ (Trapp 11f).

„Besonders in der Heilkunde und im Arzneimittelwesen muss genau und irrtumsfrei gemessen werden. Ärzte, medizinische Laboratorien und Patienten müssen sich auf die Ergebnisse der Messungen von Blutdruck, Augeninnendruck, Körpertemperatur oder der Blutbestandteile verlassen können. Aber auch bei der Herstellung und Prüfung von Arzneimitteln in Pharmabetrieben und Apotheken müssen geeichte Messgeräte verwendet werden, um Schaden für Gesundheit und Leben zu verhüten“ (Trapp 13).

„Die Bedeutung einer sauberen, intakten Umwelt wird von keiner Seite bestritten, denn Arbeits- und Umweltschutz ist auch Gesundheitsschutz. Um Gegenmaßnahmen treffen zu können, ist es außerordentlich wichtig, die verschiedenen Umweltbelastungen zu messen“ (Trapp 14).

Die angeführten Beispiele entstammen vor allem dem alltäglichen Leben und der Lebenswelt der Menschen. Für alle diese Messvorgänge sind Messgeräte erforderlich, deren Konstruktion oftmals auf umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen beruht, welche wiederum zu großen Teilen auf Messungen basieren: Wenngleich viele Messmethoden und -verfahren erst durch die Wissenschaften entwickelt worden sind, so verdanken umgekehrt die modernen Wissenschaften ihre Existenz vor allem der Entwicklung eines exakten Messwesens: Viele Naturgesetze ließen sich erst auf der Grundlage exakter Messergebnisse entdecken und formulieren. Die wissenschaftliche Erforschung gesetzmäßiger Zusammenhänge bildet dann wiederum die Grundlage für zahlreiche technische Erfindungen, durch welche unsere Kultur maßgeblich beeinflusst und geprägt wurde und wird: Ohne ein entwickeltes Messwesen hätten weder Wissenschaften noch Technik auch nur ansatzweise ihr heutiges Niveau erreichen können.

In erheblichem Umfang werden Messungen zur Erfassung und Bewertung menschlicher Leistungen und Fähigkeiten angewendet: Im Sport wird die Geschwindigkeit von Läufern, die Sprungweite bzw. -höhe von Weitspringern, Skispringern und Stabhochspringern gemessen, wobei insbesondere die Leichtathletik von differenzierten Möglichkeiten der Zeit-, Längen- und Geschwindigkeitsmessung profitiert. Und nicht nur körperliche, sondern auch geistige Leistungen von Menschen werden zur Grundlage von Messungen gemacht. Das prominenteste Beispiel hierfür stellen schulische Leistungsbewertungen – die sogenannten Schulnoten bzw. Zensuren – dar, welche üblicherweise auch an Hochschulen vergeben werden. Ziel dieser Leistungsmessung und -bewertung ist die Erreichung bestimmter Qualifikationen zur beruflichen Ausbildung bzw. zur professionellen Ausübung bestimmter Tätigkeiten, was die Gestaltung und den Verlauf des menschlichen Lebens vielfach erheblich beeinflusst: Die Vergabe bezahlter Arbeitsmöglichkeiten hängt insbesondere bei anspruchsvolleren und besser honorierten Tätigkeiten wesentlich von der vorliegenden Qualifikation eines Menschen und diese wiederum von der Messung und Bewertung seiner Leistungen während der Lern- und Ausbildungsphase (und oftmals auch später während seines Arbeitslebens) ab, und hierbei insbesondere von eigens zur Leistungsmessung angesetzten Prüfungen. Die Ergebnisse solcher Leistungsmessungen haben daher für die biografischen Gestaltungsmöglichkeiten der Menschen in unserer Gesellschaft eine ganz erhebliche Bedeutung.

In psychologischen Testverfahren sollen dann weitere, mehr allgemeine Fähigkeiten einzelner Menschen wie z. B. deren Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, Bindungsfähigkeit, Attraktivität usw. durch eigens hierfür entwickelte Verfahren gemessen werden, so dass der Eindruck entstehen kann, es ginge darum, prinzipiell alle menschlichen Lebensäußerungen und Fähigkeiten messbar zu machen und damit deren externe Bewertung und Kontrolle zu ermöglichen.

Auf der Entwicklung geeigneter Messmethoden beruht auch der immer bedeutender werdende Bereich der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung, welcher Kriterien für die Hochwertigkeit von Produkten entwickelt, deren Erreichen oder Verfehlen mittels entsprechender Kontrollmessungen festgestellt wird. Auch hier sind in der Regel bestimmte Messwerte vorgegeben, die erreicht werden müssen, wenn ein Produkt den festgelegten Anforderungen genügen soll. Der Bereich der Qualitätssicherung bezieht sich zunächst vor allem auf die Warenproduktion, bei welcher einerseits ein zu hoher Ausschuss verhindert werden soll, während andererseits zur Erreichung bestimmter – mutmaßlich umsatzsteigernder – Zertifikate bestimmte Messwerte nicht über- oder unterschritten werden dürfen. Von der Warenproduktion aus hat sich das Prinzip der Qualitätssicherung und -zertifizierung dann beträchtlich ausgedehnt, indem auch die ‚Qualität' z.B. sozialer Dienstleistungen sowie staatlicher und kommerzieller Institutionen durch die Entwicklung entsprechender Messverfahren ‚gesichert' werden soll. Auf diese Weise wird etwa die Leistungsfähigkeit ganzer Schulen oder die Kreditwürdigkeit von Wirtschaftsunternehmen bemessen, wie dies im sogenannten Rating geschieht. Und prinzipiell dieselben Messverfahren werden auch zur Bewertung der Kreditwürdigkeit von Staaten durch Ratingagenturen oder der Leistungsfähigkeit nationaler Bildungssysteme – ermittelt durch die Untersuchungen der sog. PISA-Studien – angewendet.

Damit wären wir auf der Ebene der großen politischen Steuerungsprozesse angekommen, die zu wesentlichen Bestandteilen auf der Erhebung und Auswertung von Messergebnissen beruhen: Das Bruttosozialprodukt, nationale Exportüberschüsse, die Nettoneuverschuldung, das Wirtschaftswachstum usw. (d.h. alle Eckdaten zur Beschreibung der Leistungsfähigkeit und der Entwicklungstendenzen von Volkswirtschaften) beruhen auf Messungen, die ausgewertet und der Gestaltung der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik eines Staates zugrunde gelegt werden: Auch die Bemessung von Bildungs- und Kulturetats, Sozialleistungen, Krankenkassenbeiträgen, die Festlegung von Einkommensober- und Untergrenzen für die Einteilung von Menschen in Steuerklassen, von Steuerfreibeträgen usw. sind Varianten des Messwesens, bis hin zu den europaweiten Steuerungssystemen des ‚Europäischen Rettungsschirmes', des ‚Europäischen Stabilitätsmechanismus' usw., mittels derer die Europäische Union über ein Instrumentarium verfügt, nationale Regierungen bezüglich ihres politischen Gestaltungsspielraumes zu entmachten und statt dessen die Politik ihrer Mitgliedsstaaten auf totalitäre Weise über die Köpfe der Bevölkerung hinweg eigenmächtig bestimmen zu können: Auch diese ‚Delegation' politischer Gestaltungsmacht verdankt sich ganz wesentlich dem Vorliegen bestimmter Messergebnisse z.B. bezüglich der jeweiligen nationalen Staatsverschuldungen und Haushaltsetats. Und die europaweiten Richtlinien und Normen, welche sich die EU in weitem bzw. totalitärem Umfang zu bestimmen anmaßt, bestehen vielfach ebenfalls darin, bestimmte Messwerte festzulegen, die einzuhalten sind, um entsprechende Sanktionen zu vermeiden.

Aus der Summe dieser Darstellungen dürfte hervorgehen, dass die Erhebung und Auswertung von Messergebnissen einen der bedeutendsten Faktoren unserer gegenwärtigen Kultur darstellt, von dem die meisten wesentlichen Prozesse in Wissenschaft, Technik, Bildung, Wirtschaft und Politik – und damit nahezu alle Bereiche der menschlichen Lebensgestaltung – maßgeblich abhängen. Damit sind wir den entsprechenden Messverfahren und Ergebnissen natürlich auch (und zwar mehr oder weniger wehrlos) ausgeliefert. Da die Mündigkeit eines Menschen (d.h. seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung) ganz wesentlich davon abhängt, die für sein eigenes Leben und seine Lebensumstände in Betracht kommenden Phänomene realistisch beurteilen und begreifen zu können, muss an dieser Stelle eigentlich die Frage entstehen: Was bedeutet Messen? Wenn wir diese Frage etwas differenzierter stellen, dann gliedert sie sich sogleich in mehrere Unterfragen, z. B.:

Worin besteht das eigentliche Prinzip des Messens?

Von welchen notwendigen Voraussetzungen gehen alle Messverfahren aus?

Was wird eigentlich gemessen und was ist ein Messergebnis?

Welche Bedeutung haben Messergebnisse?

Was lässt sich überhaupt messen?

Wer nun auf diese Frage geneigt ist zu antworten: „Das Ergebnis einer Messung ist die Angabe einer ‚physikalischen Größe', des Produktes aus Zahl und Maßeinheit“ (Trapp 15), der muss sich dann weiter fragen lassen, was eine physikalische Größe, was eine Zahl und was eine Maßeinheit ist. Die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung des Messens ist daher nicht mit oberflächlichen Formeln zu beantworten, bei welchen die Bedeutung ihrer einzelnen Bestandteile ebenso wenig geklärt ist wie dasjenige, was durch sie erklärt werden soll. Ziel dieses Buches soll es vielmehr sein, sämtliche für das Phänomen des Messens in Betracht kommenden Begriffe so weit und so exakt zu klären, dass ein wirkliches Begreifen des Messens möglich wird.

2) Die Quantifizierung unserer Lebenswelt

Messergebnisse im engeren Sinne beinhalten immer eine Zahlenangabe: Wir messen eine Länge von drei Metern, eine Außentemperatur von 200 Celsius, einen Schalldruck von 48 Dezibel, eine Spielfilmdauer von 90 Minuten, ein Bankguthaben von 2354 € usw. Auch zur Leistungsbewertung von Schülern durch Zensuren oder zur Einteilung der Bevölkerung in Steuerklassen bedienen wir uns bestimmter Zahlenwerte, indem ein Lehrer etwa zur Bewertung eines Deutschaufsatzes eine ‚3' vergibt oder ein verheirateter, einkommensteuerpflichtiger Arbeitnehmer in die Lohnsteuerklasse III fällt. Wir nennen die Bestimmung eines Gegenstandes durch einen Zahlenwert eine Quantifizierung dieses Gegenstandes. Jeder Messvorgang stellt daher zugleich einen Quantifizierungsvorgang dar.

Hingegen ist der Umkehrschluss ungültig: Nicht jede Quantifizierung ist eine Messung. Die am weitesten verbreitete Quantifizierungsform neben dem Messen ist das Zählen von Gegenständen, Eigenschaften oder Ereignissen: Wir zählen unsere Frühstücksbrötchen und Kaffeetassen ebenso wie die Schüler einer Schulklasse, die Anzahl unserer Arbeitsstunden und monatlichen Telefongespräche, die Tore bei einem Fußballspiel, die Anzahl der gelösten Aufgaben sowie die erzielten Punkte in einer Mathematikklausur, die verkauften Exemplare eines Buches oder Tonträgers, die ‚Arbeitslosen' und Sozialleistungsempfänger, die Stickstoffteilchen in einem bestimmten Raum- oder Materiesegment, die abgegebenen Wählerstimmen bei einer Bundestagswahl usw. Angesichts dieser und unzähliger anderer Beispiele dürfte dem Zählen in unserer Kultur kaum eine geringere Bedeutung zukommen als dem Messen.

Wenn Zählen und Messen unterschiedliche Formen oder Arten der Quantifizierung darstellen, dann können wir konstatieren, dass die umfassende Tendenz zur Quantifizierung aller möglichen Lebensbereiche ein universales Kulturphänomen darstellt. Der Philosoph Edmund Husserl (1859 – 1938) hat dieses Phänomen in seinen letzten, zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Ausarbeitungen über die Krisis der europäischen Wissenschaften eingehend untersucht und dabei den Begriff der Lebenswelt geprägt. Husserl versteht darunter „die Welt, in der wir immer schon leben, und die den Boden für alle Erkenntnisleistung abgibt und für alle wissenschaftliche Bestimmung“ (HusserlEU 38), d.h. die Welt unserer unmittelbaren Erlebnisse, Erfahrungen und Handlungen, bevor diese zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und Erforschungen werden.1

Seit dem Beginn der mathematischen Naturwissenschaften um die Wende zum 17. Jahrhundert wurde die dem Erleben aller Menschen unmittelbar zugängliche Lebenswelt in immer größerem Umfang einer quantifizierenden Betrachtungsweise unterworfen, welche die Objekte unserer Beobachtung durch Zahlen charakterisiert und bestimmt und sie zugleich auf diese – durch Zählung oder Messung ermittelten – Zahlenwerte reduziert. Wir können diese umfassende Tendenz unserer Kulturentwicklung als eine immer weiter fortschreitende Quantifizierung unserer Lebenswelt kennzeichnen. Es spricht einiges dafür, in dieser Quantifizierung aller Lebensbereiche und deren durchgreifenden Folgen die umfassendste und bedeutendste Kulturerscheinung der letzten vier- bis fünfhundert Jahre zu sehen. Konsequent zu Ende gedacht, würde diese Entwicklung zur Herrschaft der Zahl in allen Lebensgebieten führen. Umso dringlicher müssten wir uns die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung der Zahl, d.h. nach dem Begriff der Zahlstellen. Und ohne eine zureichende Beantwortung dieser Frage wird sich auch die Frage nach dem Wesen des Messens nicht befriedigend erörtern lassen.

Exakt ermittelte Zahlenwerte bieten uns die Möglichkeit der Berechnung. Eine Berechnung im engeren Sinne besteht darin, unterschiedliche Zahlen aufeinander zu beziehen und das Ergebnis dieses Bezuges – welches ebenfalls in einer bestimmten Zahl oder in einem Zahlenverhältnis besteht – festzustellen. Auf die Zukunft bezogen, bedeutet die Berechenbarkeit von Ergebnissen und Ereignissen deren exakte Prognostizierbarkeit. Die Ermittlung von Zahlenwerten hat demnach keinesfalls nur den Zweck, gegebene Zähl- oder Messwerte zu konstatieren, sondern verfolgt darüber hinaus und vor allem die Absicht, auf der Grundlage solcher Quantifizierungen exakte Voraussagen in Bezug auf künftige Ereignisse zu ermöglichen. In diesem Sinne bildet die Quantifizierbarkeit und Berechenbarkeit von Ereignissen die Voraussetzung ihrer Planbarkeit. Eine ebenso präzise wie zuverlässige Planbarkeit ist wiederum die Voraussetzung für die gezielte Umgestaltung sämtlicher Bereiche unserer Lebenswelt, welche das Leben aller einzelnen Menschen gleichermaßen betrifft. Insbesondere dort, wo es darum geht, kulturelle, politische und wirtschaftliche Aktivitäten und Strukturen in großem Umfang gezielt zu steuern, ist die Berechenbarkeit der jeweils betroffenen Gegenstandsbereiche eine grundlegende Voraussetzung; und deren exakte Berechenbarkeit setzt wiederum ihre Quantifizierung voraus. Die Glieder der soeben dargestellten Gedankenkette lauten demnach:

Quantifizierung ermöglicht Berechnung.

Berechnung ermöglicht Planung.

Planung ermöglicht gezielte Umgestaltung.

Die Quantifizierung unserer Lebenswelt dient damit in letzter Konsequenz deren gezielter Umgestaltung. Aber Umgestaltung wozu? Detaillierter gefragt: Welche Art von Umgestaltung unserer Lebenswelt resultiert aus der umfassenden Quantifizierung sämtlicher Lebensgebiete? Welche neue Gestalt gewinnt unsere Lebenswelt dadurch? Was gewinnen wir bei einer solchen Umgestaltung? Und war verlieren wir? Nachdem wir diese Fragen für uns hinreichend beantwortet haben, müssten wir dann allerdings weiter fragen: Wollen wir eine solche Umgestaltung überhaupt, und falls ja, in welchem Umfang und auf welchen Gebieten? Und was können wir tun, um nicht ungewollt zu wehrlosen Opfern einer solchen Umgestaltung zu werden, wenn nicht gar zu deren unfreiwilligen Mittätern? Wie wollen und können wir uns zu dem umfassendsten Kulturphänomen unserer Zeit stellen, und wie gehen wir selber damit um?

3) Qualität und Quantität

Die durch Zählen und Messen ermittelten Zahlenwerte stellen Größenangaben dar, d.h. sie bezeichnen die Größe oder Quantität von etwas: Die Menge aller in einem Raum gezählten Menschen hat die Größe von 25 Personen; die in demselben Raum gemessene Lufttemperatur bzw. Wärme hat die Größe von 200 Celsius. Wenn wir durch Zahlen die Größe bzw. Quantität von etwas bestimmen, dann führt uns das zur Frage: Was ist Größe bzw. Was ist Quantität? Im ersten Buch seiner Wissenschaft der Logik – betitelt Die Lehre vom Sein – untersucht Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) die grundlegenden Strukturen des Seins und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich alles Sein durch drei Stadien hindurch entwickelt:

„Das Sein wird sich … in den drei Bestimmungen setzen:

als

Bestimmtheit

als solche;

Qualität;

als

aufgehobene

Bestimmtheit;

Größe, Quantität;

als

qualitativ

bestimmte

Quantität; Maß“

(L1 80).

In diesem kurzen Vorblick auf die Entwicklung des Seins charakterisiert Hegel die Qualität als Bestimmtheit, die Quantität dagegen als aufgehobene Bestimmtheit. Zur Verdeutlichung führt Hegel aus:

„Die Qualität ist zunächst die mit dem Sein identische Bestimmtheit, dergestalt, dass etwas aufhört, das zu sein, was es ist, wenn es seine Qualität verliert. Die Quantität ist dagegen die dem Sein äußerliche, für dasselbe gleichgültige Bestimmtheit. So bleibt z.B. ein Haus das, was es ist, es mag größer oder kleiner sein, und Rot bleibt Rot, es mag dasselbe heller oder dunkler sein“ (E1 § 85 Zusatz).

„Wenn …von der Größe gesagt wird, dass ihr Begriff darin bestehe, vermehrt oder vermindert werden zu können, so ist eben damit ausgesprochen, dass die Größe (oder richtiger die Quantität) – im Unterschied von der Qualität – eine solche Bestimmung ist, gegen deren Veränderung die bestimmte Sache sich als gleichgültig verhält“ (E1 § 90 Zusatz).

„Wenn wir … unter Grenze die quantitative Grenze verstehen und z.B. ein Acker diese seine Grenze verändert, so bleibt er Acker vor wie nach. Wenn hingegen seine qualitative Grenze verändert wird, so ist dies seine Bestimmtheit, wodurch er Acker ist, und er wird Wiese, Wald usf. – Ein Rot, das intensiver oder schwächer ist, ist immer Rot; wenn es aber seine Qualität änderte, so hörte es auf, Rot zu sein, es würde Blau usf. – Die Bestimmung der Größe als Quantum, … dass ein Sein als Bleibendes zugrunde liegt, das gegen die Bestimmtheit, die es hat, gleichgültig ist, ergibt sich an jedem anderen Beispiel“ (L1 210).

Falls Hegels Behauptung zutrifft, dass alles Sein zunächst qualitativ bestimmt ist, um anschließend in Quantität überzugehen, dann bräuchten wir uns über die oben erläuterte, immer weiter zunehmende Quantifizierung unserer Lebenswelt nicht zu wundern, weil unsere Kulturentwicklung dann nämlich nur dem von Hegel aufgestellten Muster des Überganges von der Qualität zur Quantität folgte: In diesem Falle wäre die kulturelle Entwicklung der Neuzeit und der Gegenwart lediglich ein Spezialfall eines von Hegel formulierten allgemeinen Entwicklungsgesetzes für alles Sein, d.h. für Alles.

Indem Hegel die Quantität als „aufgehobene Bestimmtheit“ charakterisiert, wird auch bereits ansatzweise deutlich, was wir bei der Quantifizierung unserer Lebenswelt verlieren, nämlich die spezifische Bestimmtheit all dessen, das wir einer Quantifizierung unterziehen, d.h. dessen Größe wir bestimmen: Die konkrete Individualität (Bestimmtheit) derjenigen Menschen in einem Raum, die wir zählen, verschwindet in der anonymen Anzahl 25; das konkrete Wärmeerlebnis, welches die Menschen in diesem Raum haben, verschwindet in der anonymen Gradzahl von 200 Celsius. Zurück bleibt eine reine Größenangabe, in der alle individuellen Merkmale der quantifizierten Gegenstände ausgelöscht (negiert) sind: Quantifizierung bedeutet immer zugleich Vernichtung von individueller Bestimmtheit; und wir können die allgemeine Entwicklungstendenz unserer Kultur somit auch negativ als den Prozess der Aufhebung von Bestimmtheit und damit der Vernichtung von Individualität charakterisieren.

Wenn Quantität durch die Aufhebung von Bestimmtheit bzw. Qualität entsteht, dann müssten wir zunächst exakt bestimmen und begreifen, was eigentlich im Prozess der Quantifizierung negiert bzw. aufgehoben wird. Wir müssten folglich einen hinreichend präzisen Begriff von Qualität bilden, was uns zu der neuen Frage führt: Was ist Bestimmtheit bzw. was ist Qualität? Nachdem wir diese Frage befriedigend beantwortet haben, müssten wir denjenigen Prozess genau untersuchen, durch welchen Quantität entsteht und Qualität verschwindet. Wir müssten daher versuchen, den Quantifizierungsprozess zu begreifen, indem wir die Frage beantworten: Wie geht Qualität in Quantität über? Da Hegel in seiner Wissenschaft der Logik diesen Weg einschlägt, um den allgemeinen Entwicklungsprozess des Seins zu begreifen, werden wir diesem Weg folgen und unsere weiteren Erörterungen wesentlich auf dem von Hegel entwickelten Konzept aufbauen. Es wird deswegen sinnvoll sein, Zielsetzung und Methode einer Wissenschaft der Logik in Hegels Sinne etwas näher zu betrachten.

4) Hegels Wissenschaft der Logik

In seiner erstmals 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft hatte Immanuel Kant (1724 – 1804) das menschliche Erkenntnisvermögen eingehend untersucht und dabei festgestellt, dass sich alle unsere Erkenntnisse aus zwei Komponenten zusammensetzen, nämlich aus Anschauungen und Begriffen: Anschauung ist alles dasjenige, was wir unmittelbar erleben, während wir Begriffe durch unser Denken selber produzieren, um das uns in der Anschauung Gegebene näher zu bestimmen und zu erkennen. Kant erläutert,

„dass es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden“ (KantKV 30).

„Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe“ (KantKV 33).

Die Beobachtung, dass menschliche Erkenntnisse immer zwei Elemente beinhalten, nämlich einerseits Anschauungen, die uns durch unser sinnliches Wahrnehmungsvermögen gegeben sind, sowie andererseits Begriffe, die wir durch unser Denken hervorbringen, bildet die Basis für die grundlegende Zweiteilung der Kritik der reinen Vernunft in die transzendentale Ästhetik, die sich mit den allgemeinen Formen der Sinnlichkeit beschäftigt, und die transzendentale Logik, welche die allgemeinen Strukturen des menschlichen Denkens untersucht:

„Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser … gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus … Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses der Verstand“ (KantKV 74f).

„Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden. Daher unterscheiden wir die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d. h. der Logik“ (KantKV 98).

Transzendental sind die von Kant dargestellte Ästhetik und Logik deswegen, weil sie die Strukturen der Sinnlichkeit und des Denkens untersuchen, noch bevor diese in irgendeiner Weise dadurch konkret in Erscheinung treten, dass uns die Sinnlichkeit bestimmte Anschauungen liefert, auf welche wir dann unser Denken beziehen. Die transzendentale Logik fragt vielmehr nach den notwendigen Formen des menschlichen Denkens, wie sie „im Gemüte a priori bereit liegen“ (KantKV 35; moderner ausgedrückt: in der allgemeinen menschlichen Konstitution verankert sind), um dann auf wahrgenommene Gegenstände angewendet zu werden. Ziel der transzendentalen Logik ist es daher, „die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes“ (KantKV 84) und damit den Umkreis aller Möglichkeiten des menschlichen Denkens zu untersuchen und möglichst systematisch darzustellen:

„In einer transzendentalen Logik isolieren wir den Verstand (so wie … in der transzendentalen Ästhetik die Sinnlichkeit) und heben bloß den Teil des Denkens aus unserm Erkenntnisse heraus, der lediglich seinen Ursprung in dem Verstande hat“ (KantKV 87).

Da der Verstand (das Denkvermögen) von Kant als das ‚Vermögen der Begriffe' bestimmt wird, stellt sich als grundlegende Frage, welche Begriffe bzw. welche unterschiedliche Arten von Begriffen der Verstand hervorzubringen vermag. Diese Begriffe dürfen zunächst keinen Bezug auf Sinnlichkeit (d.h. auf irgendwelche Anschauungen) haben, weil sie sonst nicht dem reinen Denken entstammen würden. Kant stellt daher die folgenden Forderungen auf:

„Dass die Begriffe reine und nicht empirische Begriffe seien.

Dass sie nicht zur Anschauung und zur Sinnlichkeit, sondern zum Denken und Verstande gehören.

Dass sie Elementarbegriffe seien und von den abgeleiteten, oder daraus zusammengesetzten, wohl unterschieden werden.

Dass ihre Tafel vollständig sei, und sie das ganze Feld des reinen Verstandes gänzlich ausfüllen“ (KantKV 89).

Kant sucht in der transzendentalen Logik demnach nach einem System aller Stammbegriffe des menschlichen Denkens:

„Wir werden also die reinen Begriffe bis zu ihren ersten Keimen und Anlagen im menschlichen Verstande verfolgen, in denen sie vorbereitet liegen, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung entwickelt und durch eben denselben Verstand, von den ihnen anhängenden empirischen Bedingungen befreiet, in ihrer Lauterkeit dargestellt werden“ (KantKV 108).

Da reine Grundbegriffe des menschlichen Denkens seit Aristoteles als Kategorien bezeichnet werden, lässt sich Kants Ziel auch als die systematische Darstellung aller Kategorien des menschlichen Denkens charakterisieren. Als Ergebnis seiner Untersuchungen gelangt Kant zu vier Grundkategorien des Denkens, von denen sich jede wiederum in drei Momente differenziert:

Quantität

  (Einheit, Vielheit und Allheit)

Qualität

(Realität, Negation und Limitation)

Relation

(Substanzialität, Kausalität und Wechselwirkung)

Modalität

  (Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit, vgl. KantKV 106f).

Kant merkt an, dass sich aus diesen Stammbegriffen des reinen Verstandes weitere Begriffe ableiten lassen,

„die in einem vollständigen System der Transzendental-Philosophie keineswegs übergangen werden können, mit deren bloßer Erwähnung aber ich in einem bloß kritischen Versuch zufrieden sein kann“ (KantKV 108).

Hegels Wissenschaft der Logik will nun nichts anderes als ein vollständiges System aller reinen Begriffe sein, dessen Möglichkeit Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft nur angedeutet, nicht jedoch selber ausgeführt hatte. Hegel kritisiert an Kants Darstellung, dass die Kategorien erstens unvollständig und zweitens nicht systematisch entwickelt, sondern lediglich aufgezählt seien, weswegen auch keine Möglichkeit besteht, sich von ihrer Vollständigkeit zu überzeugen: „Kant leitet diese Kategorien nicht ab, findet sie unvollständig, sagt aber, die anderen sind von ihnen abgleitet“ (VG 345).

Bereits Kant hatte den Unterschied zwischen empirischem Denken, welches sich auf sinnliche Anschauungen bezieht, und reinem, sinnlichkeitsfreien Denken hervorgehoben und als Gegensatz von Verstand und Vernunft fixiert: Die Vernunft ist die Fähigkeit des reinen, sinnlichkeitsfreien Denkens, während der Verstand das Vermögen der Anwendung des Denkens auf sinnliche, d. h. durch Anschauung gegebene Gegenstände darstellt. Als reine Denkformen werden die Kategorien durch die Vernunft hervorgebracht. Da sich die Vernunft bei ihrer Begriffsbildung nicht an der Sinnlichkeit orientieren kann, bleibt als Verfahren für die Bildung reiner Begriffe nur deren Ableitung aus anderen reinen Begriffen übrig. Eine wissenschaftlich verfahrende Vernunft muss daher bestrebt sein, alle ihre Begriffe systematisch auseinander abzuleiten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Hegel die Logik als „die Wissenschaft des reinen Denkens“ (L1 57) und als „das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens“ (L1 43) bestimmt.

Ebenfalls von Kant stammt die Unterscheidung, die vom Verstand gebildeten empirischen Begriffe als Begriffe im engeren Sinne, die von der Vernunft hervorgebrachten, durch das reine Denken entwickelten Begriffe hingegen als Ideen zu bezeichnen. Indem die Logik ausschließlich mit reinen Begriffen – d.h. mit Ideen – zu tun hat, handelt es sich bei ihr um „die Wissenschaft der reinen Idee, das ist der Idee im abstrakten Elemente des Denkens“ (E1 § 19):

„In der Logik haben wir es mit dem reinen Gedanken oder den reinen Denkbestimmungen zu tun. … In der Logik werden die Gedanken so gefasst, dass sie keinen anderen Inhalt haben als einen dem Denken selbst angehörigen und durch dasselbe hervorgebrachten. So sind die Gedanken reine Gedanken“ (E1 § 24 Zusatz 2).

Hegel hebt die Schwierigkeiten, die mit einer solchen „Wissenschaft des reinen Denkens“ verbunden sind, nachdrücklich hervor:

„Die Logik ist insofern die schwerste Wissenschaft, als sie es … mit reinen Abstraktionen zu tun hat und eine Kraft und Geübtheit erfordert, sich in den reinen Gedanken zurückzuziehen, ihn festzuhalten und in solchem sich zu bewegen“ (E1 § 19).

Indem die Logik die Aufgabe hat, alle Kategorien bzw. Ideen des reinen Denkens systematisch auseinander abzuleiten und als ein einheitliches, in sich zusammenhängendes Begriffssystem darzustellen, stellt sich die Frage, wie diese Aufgabe durchführbar ist, wie also das Denken bei der Entwicklung seiner eigenen Kategorien vorzugehen hat: Wie müsste die Methode einer Wissenschaft der Logik aussehen, die damit zugleich Methode des reinen Denkens wäre?

5) Die dialektische Methode

Da ein Begriff logisch nur verständlich ist, wenn er aus einem anderen Begriff abgeleitet wurde, kann der Anfang der logischen Methode nur in der Bildung eines Begriffes bestehen, der keiner Ableitung bedürftig ist, weil er keinen anderen Begriff voraussetzt: Würde er einen anderen Begriff voraussetzen, so wäre nicht er, sondern der von ihm vorausgesetzte Begriff der Anfang der Logik. Indem der erste Begriff der Logik nicht durch andere Begriffe vermittelt sein darf, muss er folglich unmittelbar sein. Die logische Begründung dieses unmittelbaren Begriffes besteht dann darin, seine Unmittelbarkeit zu beweisen, indem nachgewiesen wird, dass er zu seiner Existenz bzw. Bildung keinen anderen Begriff voraussetzt. Dieser absolut unmittelbare Begriff ist das Sein als der Inbegriff von allem, was es überhaupt gibt: Das Sein lässt sich unmittelbar von allem aussagen, was es gibt, denn würde etwas nicht sein, dann gäbe es dieses Etwas nicht:

„Das reine Sein macht den Anfang, weil es sowohl reiner Gedanke als das unbestimmte, einfache Unmittelbare ist, der erste Anfang aber nichts Vermitteltes und weiter Bestimmtes sein kann“ (E1 § 86).

Während das Sein einerseits für alles gleichermaßen gilt, indem alles dem Sein angehört, vermittelt uns der Begriff des Seins aus genau demselben Grund keine einzige Information über irgendetwas Seiendes: Der Begriff des Seins hat den größten überhaupt nur denkbaren Umfang, aber den geringstmöglichen denkbaren Inhalt bzw. Informationsgehalt, denn indem er nur aussagt, dass etwas ist, abstrahiert der Begriff des Seins vollständig davon, wie etwas ist, d.h. wodurch etwas das ist, was es ist. Dieses Sosein von Etwas – seine unmittelbare Bestimmtheit – ist dessen Qualität, womit der vollkommenen Unbestimmtheit des Seins die vollkommene, konkrete Bestimmtheit der Qualität gegenübertritt:

„Das Sein ist das unbestimmte Unmittelbare … Weil es unbestimmt ist, ist es qualitätsloses Sein; aber an sich kommt ihm der Charakter der Unbestimmtheit nur im Gegensatze gegen das Bestimmte oder Qualitative zu. Dem Sein überhaupt tritt aber das bestimmte Sein als solches gegenüber; damit aber macht seine Unbestimmtheit selbst seine Qualität aus“ (L1 82).

„Die Bestimmtheit so für sich isoliert, als seiende Bestimmtheit, ist die Qualität, – ein ganz Einfaches, Unmittelbares“ (L1 118).

Die Entwicklung des Qualitätsbegriffes aus dem Seinsbegriff macht bereits deutlich, worum es im zweiten Basisschritt der logischen Methode geht, nämlich um den Nachweis, dass der unmittelbar gesetzte Ausgangsbegriff nicht nur etwas Bestimmtes (eine bestimmte Information) enthält, sondern dass er darüber hinaus etwas bestimmtes anderes nicht enthält. Dieser Mangel bzw. diese Unvollständigkeit liegt im Inhalt des Begriffes selber und kann daher unmittelbar aus ihm abgeleitet werden: Indem das Sein vollkommen unbestimmt ist, verweist es zugleich auf den Begriff der Bestimmtheit, d.h. der Qualität. Insofern sich der unmittelbar gesetzte Begriff als Negation eines anderen, implizit in ihm enthaltenen Begriffes erweist, folgt aus einem Begriff auf logisch zwingende Weise ein weiterer Begriff, der seinerseits die Negation des ersten Begriffes darstellt. Wenn wir einen unmittelbar gesetzten Begriff als These bezeichnen, so handelt es sich bei dem zu ihm gegensätzlichen, jedoch aus ihm ableitbaren Begriff um die diesbezügliche Antithese. Den Übergang eines Begriffes in einen ihm entgegengesetzten Begriff bezeichnet Hegel als Dialektik:

„Das dialektische Moment ist das eigene Sichaufheben solcher endlicher [d.h. unvollständiger] Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten“ (E1 § 81).

„Das, wodurch sich der Begriff selbst weiterleitet, ist das … Negative, das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische aus“ (L1 51).

„Dialektik … nennen wir die höhere vernünftige Bewegung, in welche solche schlechthin getrennt Scheinende durch sich selbst, durch das, was sie sind, ineinander übergehen" (L1 111).

Während es Hegel zufolge die Aufgabe des Verstandes ist, klar bestimmte und fest umrissene Begriffe zu bilden und festzuhalten, hebt die Vernunft die Trennung der Begriffe voneinander auf, indem sie deren notwendige Übergänge ineinander aus den Begriffen selber herausarbeitet und in einer geschlossenen Denkbewegung von einem unmittelbar gesetzten Begriff zu dem ihm unmittelbar entgegengesetzten Begriff führt:

„Die Dialektik … ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt“ (E1 § 81).

Verstand und Vernunft bezeichnen insofern zwei unterschiedliche, einander wiederum entgegengesetzte Denkstile bzw. Denkmethoden: Während der Verstand zwar unbedingt erforderlich ist, um überhaupt klar bestimmte Begriffe zu bilden, lässt sich eine Wissenschaft der Logik nicht durch ein statisches Verstandesdenken, sondern lediglich durch ein dynamisches, die Begriffe auseinander entwickelndes Denken realisieren, welches Hegel als Vernunft bezeichnet:

„Der Kampf der Vernunft besteht darin, dasjenige, was der Verstand fixiert hat, zu überwinden“ (E1 § 32 Zusatz).

„Das Weitere ist dann aber, dass vor allen Dingen auch dem bloß verständigen Denken sein Recht und sein Verdienst zugestanden werden muss, welches überhaupt darin besteht, dass sowohl auf dem theoretischen als auch auf dem praktischen Gebiet es ohne Verstand zu keiner Festigkeit und Bestimmtheit kommt“ (E1 § 80 Zusatz).

Für sich betrachtet ist der aus dem unmittelbaren Anfangsbegriff dialektisch bzw. antithetisch herausentwickelte Begriff ebenfalls ein positiver Begriff, denn der gegenüber dem Ausgangsbegriff negative Inhalt ist für sich selber ein ebenso unmittelbarer, positiver Inhalt, der darüber hinaus noch den ersten Begriff, aus welchem er abgeleitet wurde, als seine unmittelbare Voraussetzung in sich enthält:

„Indem die Dialektik zu ihrem Resultat das Negative hat, so ist dieses, eben als Resultat, zugleich das Positive, denn es enthält dasjenige, woraus es resultiert, als aufgehoben in sich und ist nicht ohne dasselbe“ (E1 § 81 Zusatz 2).

Der im antithetischen Schritt der Methode entwickelte Gegensatz fordert das Denken nun dazu auf, nach einem höheren Begriff zu suchen, der die beiden ersten Begriffe miteinander verbindet und deren Einheit darstellt. Diese Vereinigung bildet die Synthese des einander antithetisch Entgegengesetzten. Höher ist der synthetisch entwickelte Begriff deswegen, weil er die beiden ersten Begriffe als seine Momente (d.h. Teilbestimmungen) in sich enthält. Ein synthetischer Begriff ist daher niemals einfach, sondern immer in sich differenziert und hat damit einen reicheren Inhalt als die beiden in ihm vereinigten Begriffe. Hegel bezeichnet die synthetische, Gegensätzlichkeiten miteinander vereinigende Denkbewegung als den spekulativen und eigentlich vernünftigen Schritt der Methode, denn während die Methode des Verstandes in der Fixierung von Entgegengesetztem besteht, ist die Methode der Vernunft – d.h. das Spekulative in Hegels Sinne – diejenige der Vereinigung von Gegensätzlichem: Für Hegel ist „das Spekulative überhaupt nichts anderes als das Vernünftige (und zwar das Positiv-Vernünftige), insofern dasselbe gedacht wird“ (E1 § 82 Zusatz):2

„Nun aber ist … das abstrakt verständige Denken so wenig ein Festes und Letztes, dass dasselbe sich vielmehr als das beständige Aufheben seiner selbst und als das Umschlagen in sein Entgegengesetztes erweist, wohingegen das Vernünftige als solches gerade darin besteht, die Entgegengesetzten als ideelle Momente in sich zu enthalten“ (E1 § 82 Zusatz).

„Das Spekulative oder Positiv-Vernünftige fasst die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das Affirmative [Bejahende], das in ihrer Auflösung und ihrem Übergehen enthalten ist“ (E1 § 82).

Für Hegel ist

„das Spekulative seiner wahren Bedeutung nach … dasjenige, welches jene Gegensätze, bei denen der Verstand stehenbleibt …, als aufgehoben in sich enthält und eben damit sich als konkret und als Totalität [Ganzheit] erweist“ (E1 § 82 Zusatz).

„Dies Vernünftige ist daher, obwohl ein Gedachtes, auch Abstraktes, zugleich ein Konkretes, weil es nicht einfache, formelle Einheit, sondern Einheit unterschiedener Bestimmungen ist. Mit bloßen Abstraktionen oder formellen Gedanken hat es darum überhaupt die Philosophie ganz und gar nicht zu tun, sondern allein mit konkreten Gedanken“ (E1 § 82).

Die logische Methode in ihrer Grundform umfasst damit prinzipiell drei Schritte:

Thetischer Schritt:

die unmittelbare Setzung eines Begriffes (von Hegel als

abstraktes

bzw.

verständiges

Moment der Methode bezeichnet),

Antithetischer Schritt:

die Entgegensetzung des im Ausgangsbegriff implizit enthaltenen Begriffes (

dialektisches

bzw.

negativ-vernünftiges

Moment bei Hegel),

Synthetischer Schritt:

die Vereinigung der beiden einander entgegengesetzten Begriffe in einem höheren Begriff (

spekulatives

bzw.

positiv-vernünftiges

Moment)

3

Wenn Hegel die hier in ihren Grundzügen dargestellte Methode der logischen Begriffsentwicklung zumeist nicht als spekulative, sondern als dialektische Methode kennzeichnet, so liegt dies daran, dass die Dialektik – d.h. das Prinzip der Entgegensetzung – das eigentlich dynamische, die Methode vorantreibende Moment darstellt:

„Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt“ (E1 § 81).4

Der weitere Fortgang der Logik muss nun darin bestehen, einen einmal synthetisch bzw. spekulativ gewonnen Begriff unmittelbar als thetischen Begriff zu setzen, um die ihm immanente Dialektik aufzuzeigen, d.h. den ihm antithetisch entgegengesetzten Begriff aus ihm heraus zu entwickeln, mit dem zusammen er dann in einer erneuten Synthese vereinigt wird, welche wiederum zum Ausgangspunkt eines dialektischen Dreischrittes wird usw.:

„Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vorhergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält ihn also, aber auch mehr als ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten. – In diesem Wege hat sich das System der Begriffe überhaupt zu bilden – und in unaufhaltsamem, reinem, von außen nichts hereinnehmendem Gange sich zu vollenden“ (L1 49).

Als Resultat einer solchen konsequenten, immer wieder neu ansetzenden Anwendung der Methode des dialektischen bzw. spekulativen Denkens prognostiziert Hegel: „Die sämtlichen Formen des endlichen Denkens werden im Verlauf der logischen Entwicklung vorkommen und zwar so, wie sie nach der Notwendigkeit auftreten“ (E1 § 24 Zusatz 3). Falls Hegels Ankündigung zutrifft, ergäbe sich als Resultat einer konsequent bis zu ihrem Ende fortgesetzten dialektischen Denkbewegung das vollständige System aller durch das Denken hervorgebrachten bzw. produzierbaren reinen Begriffe oder Kategorien.

6) Was ist ein Begriff?

Bisher war von Begriffen die Rede, ohne geklärt zu haben, was ein Begriff eigentlich ist. Wir müssen uns klar machen, dass wir damit nach dem Begriff des Begriffes fragen bzw. versuchen, den Begriff des Begriffes zu bilden. Folglich muss alles, was für Begriffe im Allgemeinen zutrifft, auch für den Begriff des Begriffes gelten. Falls wir diesen Begriff nicht einfach unmittelbar setzen bzw. voraussetzen wollen, was ein ebenso willkürliches wie unwissenschaftliches Verfahren wäre, dann müssen wir auch den Begriff des Begriffes dialektisch entwickeln, und zwar aus einem anderen, nämlich aus dem ihm antithetisch entgegengesetzten Begriff. Welcher Seinsform ist der Begriff antithetisch entgegengesetzt? Der Gegensatz des Begriffes ist – wie auf S. →f bereits dargestellt – die Anschauung bzw. die sinnliche Wahrnehmung.5

Worin besteht der zentrale Unterschied, d.h. der Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Begriff? Formal betrachtet lässt sich die Differenz dahingehend charakterisieren, dass Anschauungen bzw. sinnliche Wahrnehmungen unserem Erleben unmittelbar gegeben sind, während wir Begriffe durch unser Denken selber hervorbringen. Dadurch ist aber noch keine inhaltliche Differenz zwischen Wahrnehmung und Begriff gegeben. Diese besteht vielmehr darin, dass jede Wahrnehmung einen ganz bestimmten einzelnen Inhalt darstellt, welcher unmittelbar für sich steht und zunächst keinen wahrnehmbaren Bezug auf andere Einzelheiten hat. Wir können somit konstatieren, dass es die Eigentümlichkeit jeder Wahrnehmung ist, Einzelheit zu sein. Demgegenüber ist jeder Begriff auf mehrere unterschiedliche Einzelheiten beziehbar, so wie etwa der Begriff des Menschen mehrere einzelne Menschen umfasst. Der Begriff des Menschen hat folglich einen Inhalt bzw. eine Bestimmtheit, welche für alle Menschen gleichermaßen gilt und in diesem Sinne allgemein ist. Damit hätten wir das Wesen des Begriffes als Allgemeinheit bestimmt: Im Gegensatz zur sinnlichen Einzelheit ist jeder Begriff eine Allgemeinheit. Während sich die Sinneswahrnehmung demnach als Vermögen des Erlebens und Aufnehmens von Einzelnem charakterisieren lässt, hat das Denken die bemerkenswerte Fähigkeit, Allgemeinheiten – d.h. allgemeine Inhalte, nämlich Begriffe – zu erzeugen:

„Das Produkt … [des Denkens], die Bestimmtheit oder Form des Gedankens, ist das Allgemeine, Abstrakte überhaupt. Das Denken als die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist“ (E1 § 20).

„Der Unterschied des Sinnlichen vom Gedanken ist darein zu setzen, dass die Bestimmung von jenem die Einzelheit ist“ (E1 § 20).

„Das Sinnliche ist ein Einzelnes und Verschwindendes; das Dauernde darin lernen wir durch das Nachdenken kennen“ (E1 § 21 Zusatz).

„… das Nachdenken [sucht] immer nach dem Festen, Bleibenden, Insichbestimmten und dem das Besondere Regierenden … Dies Allgemeine ist mit den Sinnen nicht zu erfassen, und dasselbe gilt als das Wesentliche und Wahre. … Indem wir so das Allgemeine bestimmen, so finden wir, dass dasselbe den Gegensatz eines Anderen bildet, und dies Andere ist das bloß Unmittelbare, Äußerliche und Einzelne gegen das Vermittelte, Innere und Allgemeine. Dies Allgemeine existiert nicht äußerlich als Allgemeines: die Gattung als solche lässt sich nicht wahrnehmen; die Gesetze der Bewegung der Himmelskörper sind nicht an den Himmel geschrieben. Das Allgemeine also hört man nicht und sieht man nicht, sondern dasselbe ist nur für den Geist“ (E1 § 21 Zusatz).

Nun ist aber ein Begriff – wie z. B. derjenige des Menschen – nicht absolut allgemein, denn dann würde er für alles Seiende gelten.6 Indem ein Begriff anderen Begriffen gegenübersteht, verliert er seine Allgemeinheit und wird zu einem besonderen Begriff, d. h. zu einer Besonderheit:

„Zuerst ist er [der Begriff] reiner Begriff oder die Bestimmung der Allgemeinheit. Der reine oder allgemeine Begriff ist aber auch nur ein bestimmter oder besonderer Begriff, der sich auf die Seite neben die anderen stellt“ (L2 273).

Unterschiedliche besondere Begriffe sind in einem höheren Begriff zusammengefasst, welcher ihre gemeinsame Gattung bildet, als dessen unterschiedliche Arten sie bestimmt sind:

„… das Allgemeine hat hiernach eine Besonderheit, welche ihre Auflösung in einem höheren Allgemeinen hat“ (L2 278).

Dieses höhere Allgemeine „kann auch wieder als Gattung, aber als eine abstraktere aufgefasst werden“ (L2 279). Unabhängig von seiner Besonderheit oder Allgemeinheit ist schließlich jeder Begriff für sich betrachtet ein einzelner Begriff und damit – ebenso wie jede Anschauung bzw. Wahrnehmung – Einzelheit. Hegels grundlegende Bestimmung des Begriffes lautet daher, dass jeder Begriff drei Momente (Teilbestimmungen) umfasst, nämlich Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit, und nur als Ganzes dieser Momente zu begreifen ist.7 Um einen Begriff zu begreifen, müssen wir alle drei Momente dieses Begriffes methodisch entwickeln, und zwar durch die im vorigen Abschnitt erläuterten drei Schritte der dialektischen Methode:

Ein unmittelbar (thetisch) gesetzter Begriff ist unmittelbar für sich betrachtet

Einzelheit.

Wenn im antithetischen Schritt der Methode der im Ausgangsbegriff als Gegensatz bereits implizit enthaltene Gegenbegriff aus ihm heraus entwickelt und ihm antithetisch gegenübergestellt wird, wird der ursprünglich als Einzelheit gesetzte Begriff zu einer

Besonderheit

und tritt seinem Gegenbegriff als einer anderen Besonderheit gegenüber: Jeder der beiden Begriffe gewinnt seine Besonderheit – d.h. seinen besonderen Inhalt – aus seinem Gegensatz zu dem ihm polar gegenüberstehenden Begriff.

Indem das spekulative Denken die beiden einander entgegengesetzten Begriffe in einem höheren, umfassenderen Begriff aufhebt und zur Synthese bringt, stellt dieser synthetische Begriff, weil er beide einander gegenübergestellte Besonderheiten gleichermaßen umfasst, die entsprechende höhere

Allgemeinheit

beider Begriffe dar.

Die Allgemeinheit zweier Besonderheiten wird nun thetisch als Einzelheit gesetzt, antithetisch als Besonderheit der ihr entgegengesetzten Besonderheit gegenübergestellt und mit dieser wiederum synthetisch in einer höheren Allgemeinheit vereinigt usw. Auf diese Weise tritt jeder Begriff thetisch als Einzelheit, antithetisch als Besonderheit und synthetisch als Allgemeinheit auf. Dieses Konzept der drei Begriffsmomente lässt sich auch auf die Begriffsmomente selber anwenden:

Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit sind – unmittelbar aufgefasst und für sich betrachtet – zunächst drei unterschiedliche

Einzelheiten.

Indem Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit in ihrer jeweiligen Gegensätzlichkeit betrachtet und einander antithetisch gegenüber gestellt werden, tritt die Besonderheit jedes der drei Begriffsmomente hervor, welche damit zu drei unterschiedlichen

Besonderheiten

werden.

Alle drei Begriffsmomente sind in einer höheren Allgemeinheit aufgehoben, nämlich im Begriff selber, dessen besondere Momente sie bilden. Damit ist der Begriff in seiner Totalität die

Allgemeinheit

seiner drei Momente.

Insbesondere wird bei diesem Verfahren deutlich, dass durch die Gegenüberstellung von Besonderheit und Allgemeinheit als zwei einander entgegengesetzte Begriffsmomente beide Momente zu Besonderheiten werden: Die Besonderheit steht als eine Besonderheit der Allgemeinheit als anderer Besonderheit gegenüber.

„Aber eben dies Allgemeine, gegen welches das Besondere bestimmt ist, ist damit vielmehr selbst auch nur eines der Gegenüberstehenden“ (L2 281).

„Das Allgemeine, formell genommen und neben das Besondere gestellt, wird selbst auch zu etwas Besonderem. Solche Stellung würde bei Gegenständen des gemeinen Lebens von selbst als unangemessen und ungeschickt auffallen, wie wenn z. B. einer, der Obst verlangte, Kirschen, Birnen, Trauben usf. ausschlüge, weil sie Kirschen, Birnen, Trauben, nicht aber Obst seien“ (E1 § 13).

Damit ist das Begriffsmoment der Allgemeinheit jedoch keine Allgemeinheit mehr: Eine wirkliche Allgemeinheit muss vielmehr alle drei Begriffsmomente – Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit – umfassen, anstatt der Einzelheit und der Besonderheit als Besonderheit gegenüberzustehen. Hegel bezeichnet eine solche höhere Allgemeinheit als Vernunftallgemeinheit, während die der Einzelheit und der Besonderheit als Besonderheit gegenüberstehende Allgemeinheit von ihm als – in ihrem Gegensatz zu den übrigen Begriffsmomenten fixierte – Verstandesallgemeinheit charakterisiert wird:

Die Verstandesallgemeinheit ist lediglich

relative Allgemeinheit

, weil sie als Begriffsmoment den anderen beiden Begriffsmomenten der Einzelheit und der Besonderheit als eine Besonderheit gegenübersteht.

Hingegen ist die Vernunfteinheit

absolute Allgemeinheit

, indem sie die drei Begriffsmomente der Einzelheit, der Besonderheit und der relativen (Verstandes-)Allgemeinheit gleichermaßen umfasst.

Dieselbe Betrachtungsweise ist schließlich auch auf das Verhältnis zwischen dem Begriff und seinen Momenten anwendbar:

Der Begriff selber und seine drei Momente sind für sich betrachtet unmittelbar

Einzelheiten.

In der antithetischen Betrachtungsweise tritt der als einfache Einheit aufgefasste Begriff dem in seine drei Momente zerlegten bzw. gegliederten Begriff gegenüber, wodurch der einzelne Begriff zur

Besonderheit

gegenüber der Dreiheit seiner Momente wird.

Die Synthese besteht darin, den einzelnen Begriff als Dreiheit seiner Momente – d.h. als Dreieinigkeit bzw. Trinität – und damit als

Allgemeinheit zu

denken.

Eine synthetische bzw. allgemeine Betrachtung des Begriffes lässt sich weder erreichen, wenn der Begriff unmittelbar und statisch als eine Einheit bzw. als Einzelnes, noch indem er bezüglich seiner drei isolierten (besonderen) Momente betrachtet wird, sondern nur in der einheitlichen Gesamtbewegung des Denkens durch alle drei Begriffsmomente hindurch. Diese allgemeine Gesamtbewegung durch drei unterschiedliche Besonderheiten hindurch ist aber nichts anderes als die dialektische Methode, weswegen die Anwendung dieser Methode mit dem Begriff in seiner Gesamtheit bzw. Allgemeinheit identisch ist. Der mittels der dialektischen Methode gewonnene Begriff differenziert sich dann in den durch die Vernunft vollzogenen dialektischen Prozess einerseits und in das durch den Verstand fixierte Endresultat dieses Prozesses andererseits.

Indem der Verstand nur das Resultat des dialektischen Prozesses erfasst und als solches fixiert, abstrahiert er von der Entwicklung des Begriffes. Diese Abstraktion von seinem Entstehungsprozess ist nun zwar die Voraussetzung für die Anwendung eines Begriffes. Es ist jedoch unmöglich, einen Begriff gleichzeitig anzuwenden und ihn zu begreifen. Daher ist das einseitige Verstandesdenken in seiner Fixierung auf die konkrete Anwendung von Begriffen niemals in der Lage, deren Entstehungsprozess und damit die Begriffe selber begreifen zu können. Ziel einer Wissenschaft der Logik in Hegels Sinne ist demgegenüber das Begreifen der Begriffe durch die systematische Entwicklung ihrer Momente auseinander.

1.7 Die Gliederung der Logik

Hegel skizziert die fundamentale Gliederung der Logik folgendermaßen:

„Die Logik zerfällt in drei Teile:

Die Lehre von dem Sein.

Die Lehre von dem Wesen.

Die Lehre von dem Begriffe und der Idee

“ (E1 § 83).

Diese drei Teile hat Hegel getrennt in drei aufeinander folgenden Büchern zwischen 1812 und 1816 veröffentlicht. Die Lehre vom Sein gliedert sich – wie oben bereits dargestellt – in die drei Bereiche der Qualität, der Quantität und des Maßes. Die folgenden Darstellungen gehen nun allerdings von der These aus, dass die zuletzt genannte Dreigliederung des Seins in Qualität, Quantität und Maß die fundamentale ist und dass alle weiteren logischen Kategorien innerhalb dieses begrifflichen Rahmens zu entwickeln sind. Das bedeutet, dass jeder Begriff entweder dem Bereich der Qualität, der Quantität oder des Maßes angehört. Diesem Verständnis zufolge ist die gesamte Logik Seinslehre, d.h. Lehre von den allgemeinen Strukturen des Seins; sie tritt niemals aus dem Sein heraus und hält es auch für kategorisch ausgeschlossen, dass es jemals etwas (einen Begriff oder irgendetwas anderes) geben könnte, das nicht dem Sein angehört und nicht innerhalb des Seins zu begreifen sei. Die Gliederung des Seins in Qualität, Quantität und Maß ergibt sich aus der Entwicklung der drei im Seinsbegriff enthaltenen Begriffsmomente mittels der dialektischen Methode:

Das Sein ist der Inbegriff alles Seienden. Alles unmittelbar Seiende ist

Einzelheit.

Es ist nun aber unmöglich, dass etwas Einzelnes einfach nur

ist

, sondern es ist immer auch irgendetwas ganz

Bestimmtes.

Diese Bestimmtheit des Einzelnen ist seine

Qualität

, so dass die Qualitätslogik sämtliche begrifflichen Bestimmungen von

einzelnem Seiendem

entwickeln wird.

Wenn wir von der vollständigen Bestimmtheit von Einzelnem ganz oder teilweise abstrahieren, indem wir diese Bestimmtheit aufheben (negieren), dann fallen mehrere Einzelne in eine

Einheit

zusammen, innerhalb derer sie sich nun nicht mehr qualitativ voneinander unterscheiden: Mehrere Einzelne bilden gemeinsam eine

Vielheit

, die sich gegenüber den in ihr vereinigten Einzelheiten als

Allgemeinheit

darstellt. Diese Vielheit bzw. Allgemeinheit hat eine bestimmte

Größe

bzw.

Quantität

, da sie aus

mehreren

Einzelheiten besteht. Die Quantitätslogik untersucht somit

allgemeine

Strukturen des Seins, d.h. sie entwickelt den Seinsbegriff unter dem Moment bzw. Kriterium der Allgemeinheit.

Im Allgemeinen (der Quantität) ist das Einzelne (die Qualität) aufgehoben. Die Synthese beider Seinsformen besteht nun darin, das Einzelne wiederum aus dem Allgemeinen heraus zu entwickeln, ohne die Allgemeinheit dabei zu negieren. Dies ist nur möglich, indem das Einzelne die Allgemeinheit einschränkt und zu etwas modifiziert, das nicht mehr ausschließlich allgemein ist, ohne deswegen auf die Stufe der beziehungslosen Einzelheit zurückzufallen. Die Einschränkung der Allgemeinheit ist die

Besonderheit

, in welcher die zunächst in sich unterschiedslose Quantität durch die Qualität bestimmt ist, ohne dass sie deswegen ihr quantitatives Moment – d. h. ihre Allgemeinheit – vollständig verlöre. Diese qualitativ bestimmte Quantität ist laut Hegel das

Maß:

„Das Maß als die Einheit der Qualität und der Quantität ist hiermit zugleich das vollendete Sein“ (E1 § 107 Zusatz). Die Maßlogik entwickelt daher die Strukturen der

Besonderheit

im Sinne einer Modifikation bzw. Individualisierung des Allgemeinen durch das Einzelne.

Es sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese zunächst sehr abstrakt anmutenden Erläuterungen das prinzipielle Problem der menschlichen Gesellschafts- und Gemeinschaftsbildung auf fundamentale und logisch exakte Weise formulieren: Die Menschen sind zunächst qualitativ bestimmte Einzelne, die sich in der menschlichen Gesellschaft als einer Allgemeinheit – d.h. zu einer quantitativ bestimmten Vielheit – zusammenschließen. In dieser Vielheit ist ihre persönliche Individualität zunächst aufgehoben und negiert: Der Einzelne ist nur noch ein Repräsentant der Allgemeinheit. Für die Entwicklung einer menschengemäßen, d.h. der Individualität der einzelnen Menschen gerecht werdenden Gesellschaftsgestaltung stellt sich daher die fundamentale Frage, wie sich die zunächst allgemeinen und damit individualitätslosen Strukturen der Gesellschaft so individualisieren lassen, dass die jeweiligen Besonderheiten der Einzelnen angemessen berücksichtigt werden, ohne damit den allgemeinen, Zusammenhang stiftenden Charakter von Gesellschaft überhaupt aufzugeben bzw. aufzuheben.8 Wem die Lektüre der vorigen Absätze zu abstrakt erschien, der mag sich den Text noch einmal unter Berücksichtigung der soeben erörterten sozialen Problematik ansehen. Die soziale und sozialwissenschaftliche Dimension der Logik soll in den folgenden Ausführungen an den hierfür in Betracht kommenden Stellen ausdrücklich erörtert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit die Logik ein wesentliches strategisches Hilfsmittel für die Gesellschafts- und Gemeinschaftsgestaltung sowie zur Lösung sozialer Probleme sein kann.

Der zunächst als einzelnes Begriffsmoment des Seins abgeleitete Qualitätsbegriff differenziert sich notwendigerweise wiederum in die drei Begriffsmomente der Einzelheit, der Besonderheit und der Allgemeinheit. Die Reihenfolge dieser Momente ist dadurch vorgegeben, dass die Einzelheit, unmittelbar betrachtet, nichts weiter als Einzelheit ist, die sich im Verlauf der Qualitätslogik jedoch zur Allgemeinheit der Quantität hin entwickelt. Hierbei zeigt sich, dass die Einteilung der Qualitätslogik im wesentlichen Hegels Fundamentalgliederung in Sein, Wesen und Begriff entspricht: Das Sein ist das Einzelne im Modus der Einzelheit, das Wesen ist das Einzelne im Modus der Besonderheit; der Begriff schließlich stellt das Einzelne im Modus der Allgemeinheit dar. Allerdings ergeben sich einige terminologische Modifikationen:

Alles Einzelne ist zunächst

unmittelbare

Einzelheit. Hegel bezeichnet ein unmittelbares Einzelnes als

Etwas;

wir können hierfür auch den Ausdruck

Phänomen

verwenden. Das einzelne Phänomen hat nun allerdings nicht den spezifischen Modus des

Seins

, denn das Sein ist (wie oben bereits erläutert) überhaupt kein spezifischer, sondern vielmehr der schlechthin allgemeine Modus alles Seienden. Jedes einzelne Seiende bzw. Etwas ist vielmehr unmittelbar qualitativ bestimmt; und die Seinsweise von unmittelbar Bestimmtem ist das

Dasein:

Etwas ist (als unmittelbares Einzelnes)

einfach da.

Die Logik vom unmittelbaren Einzelnen ist deswegen die

Daseinslogik

oder

Logik des Daseins:

„Dasein ist

bestimmtes

Sein; seine Bestimmtheit ist

seiende

Bestimmtheit,

Qualität“

(L1 115).

Das Einzelne entwickelt sich in seiner

Besonderheit

, indem es sich von anderem (Andersseiendem) abgrenzt und sich diesem gegenüber in seiner Eigenart (d.h. in seinem Wesen) erhält. Das Besondere ist, indem es als Einzelheit auftritt, Einzelwesen bzw.

Individuum.

Durch seine Abgrenzung gegenüber Anderem hat das Individuum zunächst zwei Seiten – nämlich dasjenige, was es

für sich selber

, und dasjenige, was es

für andere

Individuen ist. Sein Fürsichsein ist sein

Wesen

, sein Sein für Anderes dagegen seine

Erscheinung.

Indem das Individuum in seiner Erscheinung sein Wesen zum Ausdruck bringt,

verwirklicht

es sich. Die Dreigliederung in

Wesen, Erscheinung

und

Wirklichkeit

ist deswegen Hegels fundamentaler dialektischer Dreischritt in der Wesenslogik. Wir bezeichnen die Entwicklung des Einzelnen in seiner Besonderheit als

Logik des Individuums

oder als

Individuenlogik.

Indem sich unterschiedliche Einzelne in ihrer Besonderheit in einer Allgemeinheit vereinigen, werden sie zu Exemplaren ein und desselben

Begriffes.

Der Begriff ist demnach die

Allgemeinheit

von Einzelnem (z. B. das ‚Menschsein' aller einzelnen Menschenindividuen), welche selber in der Form der Einzelheit – nämlich als

ein

bestimmter Begriff – auftritt. Die Entwicklung der Allgemeinheit des Einzelnen vollzieht sich in der

Logik des Begriffes

oder der

Begriffslogik

als dem dritten Teil der Qualitätslogik, welche auch den im letzten Abschnitt skizzierten

Begriff des Begriffes

ausführlich entwickelt.

Unseren Ausführungen zufolge gliedert sich die Qualitätslogik somit in die drei Bereiche der Daseinslogik, der Individuenlogik und der Begriffslogik und enthält damit bereits weite Teile von Hegels gesamter Ausarbeitung der Wissenschaft der Logik. Zugleich ist damit eine präzise begriffliche Bestimmung dessen gegeben, was ein Phänomen (Etwas), ein Individuum und ein Begriff ihrem Wesen nach sind:

Ein

Phänomen

(etwas Daseiendes) ist ein

einzelnes Einzelnes

, d.h. ein Einzelnes in seiner Unmittelbarkeit.

Ein

Individuum

(ein Fürsichseiendes) ist ein

besonderes Einzelnes

, d.h. ein Einzelnes im Gegensatz zu anderen Einzelnen.

Ein

Begriff ist

ein

allgemeines Einzelnes

, d.h. ein Einzelnes, welches in mehreren Einzelnen gleichermaßen enthalten ist und deren Einheit bzw. Gemeinsamkeit darstellt.

8) Zählen, Wiegen und Messen

Dieselbe Differenzierung in drei durch die Begriffsmomente bestimmte Unterkategorien ergibt sich nun auch innerhalb der Quantität. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Quantität prinzipiell Allgemeinheit ist. Sie tritt daher zunächst auch in der Form der Allgemeinheit auf und entwickelt erst nachfolgend die beiden Momente der Besonderheit und der Einzelheit:

Unterschiedliche durch denselben Begriff zusammengefasste Individuen bilden eine

Menge

mit einer bestimmten Größe bzw. Quantität, deren Elemente

zählbar sind.

Die Quantität tritt daher zunächst als

Zahl

auf, wobei die Zahl hier die Bedeutung einer bestimmten

Anzahl

von Mengenelementen hat. Als Anzahl vereinigt die Zahl mehrere Einzelheiten in einer Allgemeinheit und stellt deswegen den allgemeinen Modus der Allgemeinheit bzw. Quantität dar. Die Quantitätslogik ist daher in ihrem ersten Teil zunächst

Zahlenlogik

bzw.

Logik der Zahl.

Unterschiedliche Mengen können unterschiedlich groß sein, in welchem Fall die größere der beiden Mengen gegenüber der kleineren ein

Übergewicht

, die kleinere gegenüber der größeren hingegen ein

Untergewicht

aufweist. Indem Mengengrößen zueinander in ein Verhältnis treten, werden sie von absoluten zu

relativen Größen

und bilden quantitative Verhältnisse, was zum Begriff des

Gewichtes

führt: Ein Gewicht im logischen Sinne ist eine relative Größe.

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In ihrem Gewicht zeigt sich die

Besonderheit

einer Größe bzw. die Besonderheit zweier in ein quantitatives Verhältnis zueinander gesetzter Größen, weswegen der zweite Teil der Quantitätslogik in der

Logik des Gewichtes

bzw.

Gewichtslogik

besteht. Hegel kennzeichnet diese Struktur der relativen Größe als

quantitatives Verhältnis.

Nicht nur unterschiedliche Mengen, sondern auch einzelne Qualitäten lassen sich bezüglich ihrer Größe miteinander vergleichen und bilden damit Gewichtsverhältnisse. Soll hingegen die Größe bzw. Intensität einer Qualität für sich bestimmt werden, so muss ihre Größe in Relation zu einer vorher festgelegten Maßeinheit bestimmt, d.h.

gemessen

werden. Das Messergebnis ist dann ein durch einen Zahlenwert und eine Maßeinheit bestimmter

Grad.

Indem der Grad die Größe einer einzelnen Qualität misst, stellt er die Quantität im Modus der

Einzelheit

dar. Der dritte Teil der Quantitätslogik ist daher die

Gradlogik

bzw. die

Logik des Grades.

Die Quantitätslogik gliedert sich somit in die drei Bereiche der Zahlenlogik, der Gewichtslogik und der Gradlogik. Wir werden das Verhältnis unserer Einteilung zu Hegels Gliederung der Quantität in Abschnitt 7.3 (S. →ff) der folgenden Darstellung erörtern (wobei Hegel in der dritten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften von 1830 und in der zweiten Auflage der Lehre vom Sein von 1831 zwei unterschiedliche Gliederungen der Quantitätslogik präsentiert). Die begriffliche Bestimmung der drei Quantitätskategorien lautet:

Eine

Zahl

(als Anzahl) ist ein

allgemeines Allgemeines

, nämlich die Größe einer Menge, d. h. eine Vielheit bzw. Summe.

Ein

Gewicht ist

ein

besonderes Allgemeines

, d.h. eine relative Größe in ihrem Verhältnis zu einer anderen Größe.

Ein

Grad

ist ein

einzelnes Allgemeines

, d.h. die Größe von etwas Einzelnem bzw. eine Einzelgröße.

Damit sind die drei auch umgangssprachlich bekannten quantifizierenden Tätigkeiten des Zählens, des Wiegens und des Messens begrifflich exakt bestimmt; und die Logik hat nun in einer geschlossenen Gedankenfolge zu entwickeln, wie diese drei Formen der Quantität auseinander hervorgehen, indem die Zahl zunächst in das Gewicht und das Gewicht dann in den Grad übergeht. Da sich die Quantitätskategorien ebenfalls dialektisch entwickeln, kann die Frage entstehen, inwiefern der Grad als dritte Quantitätskategorie eine Synthese der beiden Quantitätsformen der Zahl und des Gewichtes darstellt:

Die

Zahl ist

eine absolute, unmittelbare, in sich einheitliche und damit eine

thetische Größe.

Das

Gewicht

ist eine relative, mittelbare und in sich vielfache (duale) Größe, in welcher eine Größe in ein Verhältnis zu einer anderen, ihr entgegengesetzten Größe tritt. In diesem Sinne ist das Gewicht

antithetische Größe.

Der

Grad

ist als

ein