JACKABY - Der gnadenlose König - William Ritter - E-Book

JACKABY - Der gnadenlose König E-Book

William Ritter

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Beschreibung

Jackaby und Abigail in ihrem letzten, gefährlichsten Kampf ...

Jackaby und seine Assistentin Abigail treffen auf ihren schlimmsten Gegner. Ein dunkler König versucht, die Welt mithilfe einer Mischung aus Magie und Technik aus den Angeln zu heben. Das Duo muss an allen Fronten kämpfen: die Untoten zurück zwingen und den Riss zwischen der Erde und der Anderswelt schließen. Dabei kommen sich Abigail und der Detektiv Charlie immer näher, während Jackaby sich seine Gefühle für die Geisterdame Jenny eingesteht. Doch die Zukunft ist bedroht, wenn sie den gnadenlosen König nicht bezwingen können …

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Seitenzahl: 398

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Foto: © Katrina Santoro

Der AUTOR

William Ritter hat an der University of Oregon studiert und unter anderem Kurse in Trampolinspringen, Jonglieren und über das Italienische Langschwert aus dem 17. Jahrhundert belegt. Er ist verheiratet, stolzer Vater und unterrichtet englische Literatur. Jackaby ist sein Debütroman. Mehr zum Autor auch auf Twitter @Willothewords

Von William Ritter sind außerdem bei cbt erschienen:

Jackaby (Band 1, 31088)

Jackaby – Die verschwundenen Knochen (Band 2, 31162)

Jackaby – Der leichenbleiche Mann (Band 3, 31181)

Mehr zu cbj/cbt auf Instagram unter@hey_reader

William Ritter

JACKABY

Der gnadenlose König

Aus dem Englischenvon Dagmar Schmitz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe Dezember 2019

© 2017 by William Ritter

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Dire King. A JACKABY Novel« bei Algonquin Books, New York.

Published by arrangement with Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing Company, Inc., New York.

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Dagmar Schmitz

Lektorat: Stefanie Rahnfeld

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

Coverdesign: Jacket art and design by jdrift design

© Shutterstock (Eugenio Marongiu, file404, Israel Hervas Bengochea,

nazarovsergey, Roman Samborskyi); Pixabay (2x)

he ∙ Herstellung: LW

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22592-6V001

www.cbj-verlag.de

Für Mira und Helena und Leah und Gailian und alle anderen unfertigen Helden, die heute aufwachsen und im Laufe ihres Lebens Türen öffnen werden, von denen ich in meinem Leben nicht einmal bemerkt habe, dass sie verschlossen waren.

1

Zu sagen, in der Augur Lane 926 sei die Normalität noch nicht wieder eingekehrt, hieße, das Wesen des Hauses grob verzerrt darzustellen. Im besten Fall war der sonderbare Wohnsitz ein Domizil des Unnormalen und eine Zuflucht für Fremdartiges.

Vorausschauende Planung schien dem Architekten des Gebäudes nicht wichtig gewesen zu sein und so war aus einem Wirrwarr unterschiedlicher Materialien und Stilrichtungen ein vielschichtiges Bauwerk entstanden. Simse und Säulen, Balkone und Balustraden trafen in grotesken Winkeln aufeinander und hätten ein grässliches Chaos bilden müssen, stattdessen war es auf seine Art wunderschön. Ein Chaos zwar, gewiss, doch ein herrliches.

Innen war das Haus sogar noch erstaunlicher. Mein Arbeitgeber R. F. Jackaby war kein gewöhnlicher Privatdetektiv und Beweise dafür fanden sich an allen Ecken und Enden. Schauerliche Andenken aus zahllosen kuriosen Fällen füllten die Regale; merkwürdige Gerüche wehten aus seiner Laborküche, strömten durch den verschachtelten Flur, ergossen sich in sein vollgestopftes Arbeitszimmer und kitzelten die Buchrücken in seiner üppig ausgestatteten Bibliothek. Als ich unter der Wendeltreppe entlangging, konnte ich von oben das vertraute Platschen von Flügeln auf Wasser hören, Geräusche vom Ententeich im dritten Stock, wo Douglas, Jackabys ehemaliger Assistent und derzeitiger Wasservogel, einen Großteil seiner Zeit verbrachte.

So seltsam das alles scheinen mochte, ich hatte begonnen, diesen Ort als mein Zuhause zu betrachten. Und dann war in mein Zuhause eingebrochen worden.

Ich trat aus der Hintertür in die helle Sommersonne hinaus, an dem Scherbenhaufen zerbrochener Büsten und Reliquien vorbei, die Jackaby beim Aufräumen der Trümmer in den vergangenen Wochen aus dem Fenster seines Arbeitszimmers geworfen hatte. Wir hatten mit unseren Ermittlungen ein Hornissennest aufgestört, und die Hornissen hatten riesige Ungeheuer vorbeigeschickt, um unser Nest aufzustören. Ihr Eindringen hatte unseren Statuen und dem Wandputz irreparable Schäden zugefügt, aber mehr noch hatte es unser Gefühl von Sicherheit erschüttert. Seit dem Vorfall hatten wir getan, was wir konnten, um die Spuren der Verwüstung zu beseitigen. Den Stoß roter Holzsplitter zusammengekehrt, der einmal unsere fröhlich leuchtende Haustür gewesen war, die schlimmsten Mauerschäden zugegipst und das Meer aus Glassplittern im Labor aufgefegt. Aber der Schaden war geschehen.

Nein, in die Augur Lane 926 war die Normalität noch nicht wieder eingekehrt. Ebenso wenig wie das Unnormale. Alles lag im Argen und fühlte sich falsch an.

Ich blieb stehen und fischte einen schweren Eisenschlüssel aus meiner Tasche. Mein einziger Trost war, dass die Schuldige an dieser Zerstörung nun unsere Gefangene war, eingesperrt in Jackabys durch übernatürliche Sicherheitsvorkehrungen geschütztem Keller.

Morwen Finstern wirkte nicht besonders einschüchternd, als ich die Tür aufstieß und die Stufen in ihr behelfsmäßiges Gefängnis hinunterstieg. Ihr äußeres Erscheinungsbild war eher durchschnittlich, mit rotblond gewellten Haaren, die ihr in wirren Strähnen um das schmale Gesicht fielen. Bloß ihre grünen Augen saßen leicht versetzt und verliehen ihrem Gesicht etwas Verstörendes. Jetzt aber blickten sie groß und traurig, und ich hätte vielleicht Mitleid mit ihr gehabt, wenn ich nicht gewusst hätte, dass sie eine niederträchtige Nixe war, eine grausame Gestaltwandlerin, die für den Tod unzähliger Unschuldiger verantwortlich war.

»Shepherd’s Pie«, verkündete ich und stellte den Teller auf dem verstaubten Tisch ab. »Nicht sonderlich warm.«

»Ich rieche Zwiebeln«, sagte Morwen.

»Ich habe extra viele hineingetan.«

»Ich sagte Ihnen doch gestern, dass ich keine Zwiebeln mag.«

»Eben deshalb habe ich extra viele hineingetan.«

Morwens Finger bogen sich, als wollte sie die Faust ballen und zum Schlag gegen mich ausholen. Die feingliedrige Kette um ihr Handgelenk klirrte leise bei der Bewegung. Die Kette sei aus tibetanischem Himmelseisen, hatte Jackaby gesagt, und mit einem Zauber verstärkt. Ich verstand nicht recht, wie sie wirkte, aber dass sie wirkte, ließ sich nicht leugnen. Solange die Fessel hielt, konnte die Nixe nichts gegen den Willen desjenigen tun, in dessen Gewahrsam sie sich befand. Das trug nicht dazu bei, ihre Laune zu heben, aber es machte sie mehr oder weniger ungefährlich.

»Ich habe Durst«, nörgelte sie.

»Auf dem Teller liegen ein paar Trauben. Die können Sie lutschen.«

»Bloß ein kleines Glas Wa…«

»Nein.« Ich hatte selbst gesehen, was die Nixe mit ein wenig Wasser anrichten konnte.

»Was ist los? Haben Sie etwa Angst vor mir?«, spottete sie.

»Tödliche Angst«, erwiderte ich. »Stellen Sie sich nur vor, was die Nachbarn denken würden, wenn man Sie hier unten herumhuschen sähe. Es wäre beinahe so blamabel wie Mäuse im Gemäuer oder der Holzwurm im Dachstuhl.«

»Was Ihnen Sorgen machen sollte, wenn man mich hier unten vorfindet, sind nicht Ihre Nachbarn«, fauchte Morwen, als ich mich zum Gehen wandte. »Die Loge des Schreckens wird kommen und mich hier herausholen. Mein Vater wird kommen!«

»Nun.« Ich stieg wieder ins Tageslicht hinauf und hoffte, dass ich beherzter klang, als ich es war. »Dann sollten Sie wohl besser die Zwiebeln aufgegessen haben, bevor er eintrifft.« Als ich das schwere Vorhängeschloss zuschnappen ließ, das Jackaby außen angebracht hatte, konnte ich durch die Tür hindurch ihr gedämpftes Fluchen hören.

Natürlich hatte ich Angst. Morwens verstörendes Eindringen in unser Heim war kein Vergleich mit den Übergriffen ihres Vaters. Der selbst ernannte König der Erde und der Anderswelt war in meinem Kopf gewesen. Er hatte mein Denken und Handeln kontrolliert. Ich bekam Gänsehaut, wenn ich nur daran dachte, und es war noch lange nicht vorbei. »Die Zeit der Menschen endet«, hatte er prophezeit. Seine genauen Absichten blieben rätselhaft, aber es verging keine Woche, in der wir nicht von einem weiteren unnatürlichen Vorfall oder von einer neuen unheimlichen Kreatur erfuhren, die in den Straßen New Fiddlehams aufgetaucht war, und alle Fäden führten zur Loge des Schreckens und ihrem mysteriösen König.

Trotz aller Zeichen und Omen hätten dieser König und sein Gefolge ebenso gut ein Flüstern im Wind sein können. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken vergeblich darum kreisten, wenn ich nachts wach lag und die Risse im Putz der Zimmerdecke anstarrte, bis das Licht der Morgendämmerung durch mein Fenster kroch.

Ich atmete tief durch und strich meinen Rock glatt. Der König war in meine Gedanken eingedrungen, aber ich würde nicht zulassen, dass er sich dauerhaft dort niederließ. Es gab noch anderes zu tun. Ich schritt den Garten ab, um mich mit sinnvolleren Aufgaben zu beschäftigen.

Jackabys verwitterter Holzzaun war ringsum mit schützenden Zaubersprüchen und Symbolen versehen und im Geäst der Bäume hingen Federn und kompliziert geknotete Kordeln. Das Laub der alten Weide war von leuchtend Grün zu Goldbraun gewelkt, und ihre Blätter umtanzten mich, als ich einige der von den Zweigen herabbaumelnden Schnüre entwirrte. Ich wischte Schmutz von Steintotems und zupfte verirrte Zweige aus dem Salz, das um das Fundament verstreut war. Während ich den duftenden Rosmarin und den gelben Zaubernussstrauch goss, schaute ich am Mauerwerk hoch und betrachtete die unzähligen Symbole, die sich wie schalkhafte alte Freunde im Gemäuer versteckten. Unter der Dachtraufe war das Auge des Re eingeritzt, ein Stück weiter der Hammer des Thor und das Siegel des Salomon. Ich strich mit der Handfläche über ein verwittertes Kleeblattrelief, als ich um das Haus herum nach vorn ging.

An einer gewundenen schmiedeeisernen Stange über dem Eingang hing das Schild, das mich vor so vielen Monaten begrüßt hatte, als ich in jenem kalten Januar 1892 zum ersten Mal das vereiste Kopfsteinpflaster der Augur Lane entlanggestapft kam.

DETEKTEI

PRIVATE ERMITTLUNGEN & BERATUNGEN

UNSER SPEZIALGEBIET: UNGEKLÄRTE PHÄNOMENE

Darunter stand der Detektiv persönlich und schlug den letzten Nagel ein, um seinen Hufeisentürklopfer wieder aufzuhängen. Die neue Haustür war ein wenig massiver als ihre Vorgängerin, aber im gleichen leuchtenden Rot gestrichen. Darüber war außerdem ein neues schmales Fenster in den Rahmen eingesetzt – eine schlichte Milchglasscheibe, darin eingefräst las ich die Worte:

R. F. JACKABY

PRIVATDETEKTIV

»Guten Morgen, Mr Jackaby«, sagte ich. »Der neue Eingang sieht hübsch aus.«

»Kontextuelle Relevanz«, erwiderte Jackaby, wobei sich die Worte ihren Weg durch einen Mundvoll Nägel bahnen mussten.

»Wie bitte?«

Er spuckte die Nägel in seine Hand. »Das Oberlicht. Kommen Sie näher.«

Ich trat auf den Treppenabsatz, und die Milchglasscheibe trübte sich kurz, hellte sich aber ebenso schnell wieder auf, um den Blick auf eine andere Wortfolge freizugeben:

R. F. JACKABY

MENTOR & ARBEITGEBER

»Das ist ja unglaublich!«, sagte ich.

»Eine Spezialanfertigung. Der partiell hellseherische Effekt wird durch einen übernatürlichen Kristallüberzug im Glas erreicht. Er erspürt die Bedürfnisse und Erwartungen eines jeden Besuchers und bringt eine entsprechende Bezeichnung hervor. Kommen Sie, sehen Sie es sich von innen an.«

Ich folgte ihm hinein. Die Buchstaben hätten jetzt seitenverkehrt sein müssen, aber die Schrift im Oberlicht las sich von innen wie von außen gleich.

»Das Haus weiß jetzt, was unsere potenziellen Klienten wahrhaftig von meinen Diensten halten, noch bevor wir ihnen überhaupt die Tür geöffnet haben«, sagte er. »Ich dachte, das könnte eine praktische Vorwarnung sein, angesichts so mancher Besucher in jüngster Zeit.«

»Eine kluge Sicherheitsvorkehrung.«

»Ja, nicht wahr? Ich habe mir erlaubt, die Tür überdies mit einem Glamour Inhibitor versehen zu lassen. Ein Zauber, der den schönen Schein hemmt. Ich habe zwar keine Schwierigkeiten zu erkennen, wer was ist, aber ich dachte mir, Sie würden vielleicht auch gern wissen wollen, mit wem Sie es zu tun haben. Apropos Besucher.« Er legte den Hammer und die übrig gebliebenen Nägel im Vorbeigehen in eine Schublade mit der Aufschrift Quittungen. »Haben Sie heute Morgen schon unseren unfreiwilligen Gast verköstigt?«

»Ja, Sir. Und ich habe wieder sorgfältig hinter mir abgeschlossen.«

»Gut. Haben Sie die Sicherheitsvorkehrungen rund ums Haus überprüft?«

»Gerade eben erst, Sir.«

»Heute ist Dienstag. Denken Sie bitte daran, den Elfen einen Teller Milch mit Honig herauszustellen.«

»Es ist Mittwoch, Sir. Und ich habe bereits frische Erdbeeren für die Kobolde herausgestellt.«

Jackaby nickte zufrieden. »Ausgezeichnet. Dann machen Sie sich bereit. Wir gehen in einer Stunde.«

»Ja, Sir. Wohin gehen wir heute?«

»Zum Seeley’s Square und von dort durch den Vorhang zwischen den Welten auf die andere Seite, um einen König aufzusuchen und etwas über eine Loge zu erfahren.«

»Den König der Annwyn?« Mir stockte der Atem. Ein Paar glutroter Augen loderte in meiner Erinnerung auf. »Aber Sir, wir sind für eine solche Begegnung nicht im Entferntesten gerüstet!«

»Wie bitte?«, sagte Jackaby. »Oh. Nicht diesen König. Es gibt in der Anderswelt ebenso viele Könige wie auf der Erde. Ebenso viele böse wie gute, aber es hat noch nie einen König gegeben, der über alle herrscht, ganz gleich, was diese grässliche Nixe über ihren Vater erzählt. Nein, nein. Es hat einige Zeit gedauert, aber ich habe endlich ein Treffen mit einem König gänzlich anderer Art arrangiert. Wenn es in der Annwyn irgendjemanden gibt, der ein ureigenes Interesse daran hat, die Grenze zwischen deren und unserer Welt zu schützen, dann ist es Arawn der Gute, König der Lichtelfen und guten Feen. Seine Sendboten erwarten uns heute Mittag Punkt zwölf, um uns durch ein verborgenes Tor auf die andere Seite zu eskortieren.«

»Vermutlich sollte es mich inzwischen nicht mehr überraschen, dass Sie mit einem König über das Reich der guten Feen befreundet sind«, sagte ich. Bisweilen fragte ich mich, ob ich aus meinem abenteuerlichen Leben in New Fiddleham irgendwann aufwachen und feststellen würde, dass ich in Wahrheit nur über einem Stapel Märchenbücher und naturwissenschaftlicher Fachzeitschriften eingeschlafen war und mich nach wie vor zu Hause in England befand, wo das Leben Hand und Fuß hatte und Märchen ins Reich der Fantasie gehörten.

»Befreundet ist nicht unbedingt die Bezeichnung, die ich verwenden würde«, sagte Jackaby. »Ich stehe in Fürst Arawns Schuld. Er übergab mir die Akte des Sehers, als ich noch ein Kind war, so wie er sie schon dem Seher vor mir übergeben hatte. Ich würde nichts über die Geschichte meiner Fähigkeiten wissen, wenn er nicht …« Jackaby erstarrte und schaute zu der geöffneten Tür.

Ich folgte seinem Blick und sah einen weißhaarigen alten Mann mühsam die Stufen zur Haustür hochwanken, blass und schwer keuchend. Er streckte die Hand aus, um sich am Rahmen festzuhalten, verfehlte ihn jedoch, brach auf der Schwelle zusammen und sank auf die Knie.

Die trüb gewordene Milchglasscheibe über ihm hellte sich bereits wieder auf.

R. F. JACKABY

VERZWEIFELTER LETZTER AUSWEG

2

»Der Teufel kommt mich holen«, röchelte der alte Mann. »Schließlich hat er mich doch noch erwischt!«

Jackaby kniete neben ihm nieder und bot ihm eine stützende Hand. »Hier sind keine Teufel«, sagte er. »Kommen Sie erst einmal zu Atem. So ist gut.« Er verengte die Augen. »Moment, warten Sie. Sie kommen mir bekannt vor.«

»Wir sind uns schon begegnet, Mr Jackaby«, krächzte der Mann. »Die Kirche …« Er brach in einen trockenen Husten aus.

Begreifen stieg in Jackabys Miene auf und er neigte bestürzt den Kopf. »In der Tat! Ihr Name ist Gustaf, nicht wahr? Nein. Grossman? Grafton!«

Der alte Mann nickte schwach.

»Pfarrer Grafton. Richtig. Guter Gott, sind Sie gealtert!«

»Sir!«, sagte ich tadelnd.

»Darf ich Ihnen Pfarrer Grafton vorstellen, Miss Rook? Wir sind uns zuletzt … wie lange ist es jetzt her … drei Jahre? Als Douglas und ich in einer Reihe von recht grausigen Morden am Rand der Stadt ermittelten.«

»Mit den Morden hatte ich nichts zu tun«, brachte Grafton mühsam zustande.

»Nein«, bestätigte Jackaby. »Der Herr Pfarrer hat alles in seiner Macht Stehende getan, um weiteres Ungemach von seiner Gemeinde fernzuhalten. Und er hat ganze Arbeit geleistet. Natürlich war er damals mindestens dreißig Jahre jünger.« Er wandte sich wieder dem alten Mann zu. »Drei Jahrzehnte in nur drei Jahren? Haben Sie sich etwa in Magie versucht? Sie wissen doch, wie gefährlich das ist! Ich kann Ihnen sagen, Douglas ist nicht mehr derselbe, seit er aus Ihrer Kirche zurückgekehrt ist!«

»Hat ihn wohl das Fürchten gelehrt, was?«

»Ein wenig. Hauptsächlich hat es ihn in einen Wasservogel verwandelt.«

»D-dim hud.« Die Augen des alten Mannes schienen Schwierigkeiten zu haben, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Er schüttelte den Kopf und blinzelte. »Keine Magie. Jetzt nicht mehr.« Ein Büschel dünner weißer Haare löste sich von seinem Kopf und schwebte über die Schwelle auf die Holzdielen.

Jackaby starrte Pfarrer Grafton prüfend an. »Sie werden mit jeder Sekunde älter!«

Grafton nickte schwach.

»Ich verstehe es nicht.« Jackaby spähte in Graftons Ohr und schnupperte an seinen schütteren Haaren. »Ich nehme keinerlei Spuren eines Fluches wahr, weder übernatürliche Gifte noch sichtbare Anzeichen von Zauberei. Wer hat Ihnen das angetan?«

»Zeit«, krächzte Grafton. »Nicht mehr viel Zeit.« Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht wie Narben und seine Augen nahmen eine milchig helle Farbe an. Seine Schultern bebten. »Harfau o Hafgan«, hauchte er.

»Harfau o Hafgan? Was bedeutet das? Ist das Walisisch?«

»Mae’r coron, waywffon, a darian«, murmelte Grafton und ließ mit jedem Wort den Kopf ein bisschen tiefer sinken; dann schreckte er so jäh hoch, dass ich zusammenzuckte. Er umklammerte Jackabys Arm. »Die Krone, der Speer, der Schild. Sie dürfen nicht zulassen, dass er sie bekommt. Die Krone hat er sich schon genommen. Der Speer … er wurde zerstört, aber ich fürchte, er wurde wieder gerichtet. Der Schild … der Schild …« Er röchelte mit jedem Atemzug und zitterte am ganzen Körper. Seine Augen waren weit aufgerissen und sein Blick gehetzt. »Er hat mir vertraut. Jetzt muss ich Ihnen vertrauen. Der Schild steckt in der Bibel. In der Bibel des Zeloten.«

»Der Schild ist in einer Bibel?«, sagte Jackaby. »Welche Bibel? Wessen? Sind Sie der Zelot?«

»Nicht mehr viel Zeit. Der Schild. In der Bibel. Sie müssen verhindern … stopiwch y brenin.« Pfarrer Grafton sackte auf dem Boden zusammen und verstummte mit einem letzten rasselnden Atemzug.

Jackaby drehte ihn behutsam auf den Rücken. Graftons Haut war trocken wie Pergament. Sein Körper sah aus wie der einer Mumie. Ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund.

»Ist er …«, wisperte ich.

»Ganz recht«, sagte Jackaby.

»Wie?« Ich schluckte.

»Es ergibt keinen Sinn.« Jackaby runzelte die Stirn.

Er stand auf und begann hinter Pfarrer Graftons Kopf auf und ab zu schreiten.

»Er war weder verflucht noch verhext. Er hatte eine recht himmlische Aura, aber nur so viel, wie ich es von einem Geistlichen erwarten würde. Er hat nichts an sich, was dies hier bewirkt haben könnte! Es ist, als wäre er von einem akuten Anfall unerklärlicher Betagtheit dahingerafft worden. Wenn ich nicht selbst gesehen hätte, was geschehen ist, würde ich sagen, dies ist der Leichnam eines Mannes, der bereits vor Jahrzehnten eines natürlichen Todes starb.«

»Was war daran natürlich?«, fragte ich.

Jackaby schüttelte beunruhigt den Kopf. »Haben Sie alles gehört, was er gesagt hat?«, fragte er.

»Ja. Ich denke schon.«

»Dann notieren Sie es rasch für unsere Akten. Wie es scheint, wurden wir mit einem neuen Fall betraut, Miss Rook, und der Herr Pfarrer hat dafür bereits mit seinem Leben bezahlt.«

Es gelang uns, Grafton ins Haus hineinzubugsieren, bevor er die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich ziehen konnte. Ich würde gern sagen, dass dies der erste leblose Körper war, den Jackaby und ich auf der alten Holzbank im Foyer abgelegt hatten, oder dass es der letzte sein würde, aber beides entspräche nicht der Wahrheit.

»Was sollen wir denn jetzt mit ihm machen?«, fragte ich.

»Ich habe einen angemessenen Sarg auf dem Dachboden, der für den Gentleman geeignet sein dürfte. Ich werde nur etwas anderes finden müssen, um meine Enzyklopädien aufzubewahren.« Jackaby schritt erneut auf dem abgewetzten Teppich auf und ab. »Wir sollten unverzüglich seine Kirche aufsuchen. Es ist eine kleine Pfarrei am Stadtrand. Er sagte, der Schild sei in einer Bibel. Wenn wahrhaftig der Teufel hinter Pfarrer Grafton her ist, würde ich lieber vor ihm dort sein und den Schild finden, bevor er es tut.«

»So viel zu unserem Treffen mit dem Elfenkönig heute Mittag«, sagte ich. »Fürst Arawn wird wohl warten müssen.«

»Ach herrje«, sagte Jackaby. »Nein, ich darf diese Verabredung keinesfalls versäumen. Feenwesen nehmen derartige gesellschaftliche Ungehörigkeiten sehr übel, und ich kann es mir nicht erlauben, auf ein nächstes Treffen zu warten.«

»Nun, dann werde eben ich gehen.«

»Auf keinen Fall. Arawns Sendboten erwarten mich. Sie würden Ihnen ohne mich niemals Zugang zu ihm gewähren.«

»Ich meinte, dann werde eben ich gehen und nach der Bibel suchen.«

»Wie bitte? Kommt nicht infrage«, sagte Jackaby. »Der letzte Assistent, den ich alleine in diese Kirche geschickt habe, frisst seither Käfer und pickt Brotkrumen aus dem Gras.«

»Ich werde nicht alleine gehen, sondern Charlie mitnehmen.«

Officer Charlie Barker, ehemals Charlie Cane, war der beste Begleiter, den ich mir für eine Aufgabe wie diese wünschen konnte. Nicht nur war er ein erstklassiger und hervorragend geschulter Polizist und Detective, Charlie war außerdem – nun ja – besonders. Er entstammte dem Clan der Om-Caini, einem sehr alten und äußerst zurückgezogen lebenden Nomadenstamm von Gestaltwandlern. Charlie konnte sich in einen großen, starken, mächtigen Hund verwandeln, wann immer es ihm beliebte. Er hatte mein Leben und das unzähliger anderer gerettet, obwohl er im Verborgenen leben musste, seit seine übernatürliche Herkunft enthüllt worden war. Zwischen Charlie und mir war eine große Zuneigung gewachsen – auch wenn seine Veranlagung und die Notwendigkeit, diese geheim zu halten, sowie die Geschwindigkeit der unfassbaren Geschehnisse, die sich rings um uns abspielten, unsere Lage … kompliziert machten.

»Charlie ist wieder einmal zu einem Sondereinsatz für Marlowe unterwegs«, sagte Jackaby. »Er hat Toby in Douglas’ Obhut zurückgelassen und ist heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Weiß der Himmel, wann der Commissioner diesmal mit ihm fertig ist … er braucht jede Hilfe, die er bekommen kann. Ganz New Fiddleham ist ein brodelndes Chaos. Ich glaube, mir war es beinahe lieber, als Bürgermeister Spade noch so tat, als existiere das Übernatürliche nicht. Mit seiner haarsträubenden Hexenjagd stiftet er derzeit mehr Unruhe, als er verhindert. Marlowe kommt kaum noch hinterher.«

Ich konnte es Bürgermeister Spade nicht gänzlich verübeln. Die niederträchtige Nixe in unserem Keller hatte sich die letzten zehn Jahre als seine liebende Gattin ausgegeben und ihn während der Ehe in dieser Maskerade hinterhältig für ihre Zwecke benutzt. Die Wahrheit war dem Bürgermeister nicht unbedingt schonend beigebracht worden. Seine Welt war über Nacht aus den Angeln gehoben worden, und er hatte in den Wochen seither seinen eigenen privaten Feldzug begonnen, um sie wieder ins Lot zu bringen, ohne große Rücksicht darauf, wem er dabei Unrecht tat.

Charlie hatte Commissioner Marlowe dabei geholfen, die heikelsten Situationen zu glätten, die Spades Jagd auf Fabelwesen verursacht hatte. Es war eine undankbare Aufgabe, aber Charlie riskierte aufopferungsvoll seine Haut für eine Stadt, die auch ihn jederzeit als eines dieser Ungeheuer abstempeln würde. Seine unerschütterliche Treue und Tapferkeit machten ihn zu einem edelmütigen Freund und Helfer – zugleich jedoch abwesend, womit mir im Moment wenig geholfen war.

»Warum schickst du nicht mich?«

Jackaby und ich drehten uns um und sahen Jenny Cavanaugh, den Geist des Hauses, im Eingang schweben. Sie war durchsichtig, mit leicht flackernden Konturen und silbern schimmernden Haaren, die hinter ihr in der Luft wogten. Die verabscheuenswürdige Morwen Finstern hatte der armen Jenny vor mehr als zehn Jahren das Leben genommen, aber Jenny hatte sich ihr Leben nach dem Tod resolut zurückerobert. Um den Hals trug sie jetzt ein Zinn-Medaillon mit einer schlichten Widmung – Von Howard, in Liebe – und einer Prise Staub von einem Ziegelstein. Howard Carson war Jennys Vergangenheit gewesen. Der Ziegelstaub war ihre Zukunft. Indem sie dieses winzige Stückchen von ihrem Haus und dem Ort ihres Todes bei sich trug, stand es Jenny nun frei, die Welt noch einmal in ihrer Geistergestalt zu erforschen.

»Es ist lebensgefährlich«, sagte Jackaby.

»Dann ist es doch gut, dass ich nicht am Leben bin.«

Schließlich gab Jackaby nach. »Pfarrer Grafton meinte, der Schild befinde sich in der Bibel des Zeloten. Halte nach einer Bibel mit einem Wappen auf dem Einband Ausschau«, sagte er. »Oder vielleicht nach einer, in der etwas zwischen den Seiten steckt. Nur …«, Jackaby schaute Jenny in die Augen, »… nimm dich in acht.«

Jenny erwiderte seinen Blick sanft lächelnd. »Gleichfalls.«

3

Meine Mutter hatte mir immer gepredigt, es sei klug, stets für alles gerüstet zu sein – wobei ich mir vorstellen könnte, sie würde es vorgezogen haben, ich hätte mich mit Seidentaschentuch und Sonnenhut gerüstet und Silberdolch und Weihwasserfläschchen zu Hause gelassen. Als Jackaby in mein Zimmer fegte, war ich soeben damit fertig geworden, meine beiden Rocktaschen mit allerlei schützenden Kräutern und Gegenständen zu füllen: ein Zweig Wolfswurz, ein Amulett, eine Silbermünze. Das Gewicht des Silberdolches, den ich in der rechten Tasche in einem Futteral bei mir trug, wurde durch das lederne Notizbuch in der linken ausgeglichen.

Meine bescheidene Sammlung war kein Vergleich zu dem Werkzeug- und Waffenarsenal, das mein Arbeitgeber mit sich führte. Der Inhalt der diversen vollgestopften Taschen seines langen Mantels klimperte und klirrte und er selbst duftete angenehm nach Gewürznelken.

»Sind Sie bereit, Miss Rook?«

»Jederzeit, Sir.«

»Dann lassen Sie uns aufbrechen. Unser Wagen wartet vor der Haustür.«

»Sie haben für den Ausflug eine Kutsche gemietet?« Jackaby rief so gut wie nie einen Wagen, wenn er den Weg zu Fuß zurücklegen konnte.

»Nein«, erwiderte er. »Hatte ich es nicht erwähnt? Ich habe eine auf Dauer gemietet. Nun ja, auf halbe Dauer. Eigentlich nur vorläufig … auf Probe sozusagen. Ich behalte mir das Recht vor, sie wieder loszuwerden, sobald der Welt keine unmittelbare Gefahr mehr droht. Einstweilen erschien es mir jedoch zweckmäßig, ein verlässliches Transportmittel zur Verfügung zu haben.«

Ich folgte meinem Arbeitgeber die Wendeltreppe hinunter durch den verschachtelten Flur ins Foyer und zur Haustür hinaus. Auf der Straße wartete nicht etwa ein Hansom Cab, eine dieser schnittigen schwarzen zweisitzigen Mietkutschen, sondern ein außerordentlich ramponierter Einspänner, auf dem in blätternder Farbe die Worte Dr. Emersons Zermürbungselixier – auch gut für Katzen! prangten.

»Wer ist Dr. Emerson?«, fragte ich.

»Ein Bursche, dessen Trank sich anscheinend nicht gut genug verkaufte, um sich dieses Vehikel weiterhin leisten zu können. Er war bereit, sich für einen angemessenen Betrag davon zu trennen.«

Eine große dunkelhäutige Frau stieg vom Kutschbock herunter. Sie trug einen eleganten schwarzen Rock mit einer dazu passenden Jacke. Um den Kragen ihrer weiß gestärkten Hemdbluse hatte sie eine formelle Fliege gebunden und auf ihren dunklen Locken eine rosafarbene Kappe festgesteckt. Ihre Schultern waren breit und ihre Kinnlinie markant, doch sie bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin. Ich erkannte sie sofort. Miss Lydia Lee.

»Miss Lee!«, rief ich. »Ich bin entzückt, Sie wiederzusehen!«

»Gleichfalls, Miss Rook. Sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen.« Lydia Lee lächelte ein wenig nervös und zog ihre Jacke zurecht. Sie öffnete die Tür und nahm Haltung an wie ein richtiger Kutscher in Uniform.

»Danke, Miss Lee«, sagte Jackaby. »Steigen Sie ein, Miss Rook.«

»Haben Sie Erfahrung im Umgang mit Pferden?«, erkundigte ich mich bei Lydia Lee, während ich das knarzende Trittbrett erklomm. Im Inneren der Kutsche roch es stark nach Knoblauch und Pfirsichen. Hinter unseren Sitzen befand sich ein Laderaum, in dem einige leere Flaschen von Dr. Emersons Elixier über den Boden rollten.

Miss Lee spitzte die Lippen und blickte etwas weniger selbstbewusst drein, als sie die Tür hinter uns schloss.

»Sie schafft das schon«, versicherte mir Jackaby. »Als wir den alten Hengst gestern gekauft haben, hat ihr der Stallmeister ganz genau erklärt, wie man die Zügel hält und eine Kutsche lenkt. Miss Lee war anfangs der Meinung, dass sie gänzlich ungeeignet sei, aber wie ich ihr daraufhin erklärte, gibt es keine bessere Art, sich eine Fähigkeit anzueignen, als es einfach zu tun. Wie geht es voran, Miss Lee?«

Lydia Lee zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, der alte Klepper und ich gewöhnen uns langsam aneinander.« Sie tätschelte dem Apfelschimmel die Flanke, bevor sie wieder auf den Kutschblock kletterte und die Zügel ergriff. »Er hat heute Morgen nur zwei- oder dreimal nach mir gebissen.«

»Fantastischer Fortschritt. Zum Seeley’s Square, bitte. Wir haben einen König ins Verhör zu nehmen.«

Als wir den belebten Park im Zentrum von New Fiddleham erreichten, zeigte die Uhr oben am Stapleton-Gebäude fünf vor zwölf. Mein Magen hatte ängstlich zu flattern begonnen vor Aufregung und Anspannung, die jeder neue Fall mit Jackaby in mir hervorzurufen schien. Allerdings dürfte dieses Gefühl noch durch die Tatsache verstärkt worden sein, dass unser Zugpferd nicht gewillt war, die kurvenreichen Straßen New Fiddlehams in weniger als vollem Galopp zu nehmen, egal wie verzweifelt Miss Lee an den Zügeln zog. Bei unserer Ankunft war ich mehr als begierig, aus der Kutsche zu steigen und den Seeley’s Square zu betreten. Mr Jackaby verabschiedete sich von Miss Lee, während ich einige Male tief durchatmete, um mich zu sammeln.

Der Park vor uns war eine wunderschöne weitläufige, von Bäumen und Sträuchern bestandene Grünanlage. Schmetterlinge umflatterten die Büsche und Vögel zwitscherten in den Baumkronen. Ein paar Geschäftsmänner nahmen auf den Bänken ihr Mittagessen ein; eine Frau schob einen Kinderwagen den Weg entlang, während ihr zwei kleine Zwillingsmädchen in strahlend weißen Kleidern um die Beine liefen.

Jackaby schlenderte von alldem davon. Er verließ den Weg und steuerte durch weniger gepflegtes Gestrüpp hindurch auf einen kleinen Hain im Zentrum des Seeley’s Square zu. Ich hatte ihn erst nicht bemerkt, aber genau in der Mitte des Parks stand eine Baumgruppe, die in einem unnatürlich engen Kreis wuchs. Jackaby blieb davor stehen.

»Ist es hier, wo wir den … ähm … sie treffen?«, fragte ich.

»Ich glaube, wir müssen zuerst in den Kreis eintreten«, erwiderte er.

Ich versuchte, zwischen den Bäumen hindurch zu erspähen, was sich dort befand, aber wie sehr ich mir auch den Hals verrenkte, ich erwischte nie den richtigen Winkel. Obwohl sich die Bäume nicht berührten, schien es fast, als neigten sie sich einander zu, sodass sich das Innere des Hains meinem Blick entzog, gleichgültig, von wo ich schaute.

»Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte ich.

»Hm.« Jackaby streckte die Hand aus und berührte den am nächsten stehenden Baum. Der reagierte, indem er ein Baum blieb. Jackaby begann, seine Taschen zu durchforsten. »Die Posaune von Jericho taugt nicht bei Bäumen. Zauberbohnen würden uns zwar über die Wipfel und noch weit höher bringen, aber das scheint mir eher Verschwendung zu sein.«

Während er nachdachte, schritt ich den gesamten Baumkreis ab. Er hatte einen Umfang von ungefähr sechs Metern und war in vollkommener geometrischer Perfektion gewachsen. »Es hat keinen Zweck«, sagte ich. »Es ist überall das Gleiche rings um den …« Ich erstarrte. Jackaby war verschwunden.

»Sir?«, rief ich. Ich eilte den Weg um den Hain herum zurück, für den Fall, dass er mir gefolgt war. »Mr Jackaby?« Als ich wieder vorne ankam, schrak ich zusammen. Dort, wo ich zuletzt meinen Arbeitgeber gesehen hatte, stand jemand anderes, ganz in Grün gekleidet. Über einer zartolivgrünen Tunika trug er eine lange waldgrüne Robe, deren Saum über die Grasspitzen strich. Er stand selbstbewusst und kerzengerade, obwohl er von schmächtiger Statur war und nicht größer als ich. Seine dunkelblonden Haare waren hinter spitze Ohren zurückgestrichen und hingen lang und glatt seinen schmalen Rücken hinab.

»Du begleitest den Seher?« Seine Stimme war sanft.

»Ähm, ja«, sagte ich. »Ich bin Mr Jackabys Assistentin. Abigail Rook. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«

»Du darfst mich Virgule nennen.«

»Großartig. Virgule. Und Sie sind wahrhaftig ein …« Sogar als ich einem gegenüberstand, fiel es mir schwer zu glauben, dass dies ein waschechter Elf war.

»Ein Verbindungsmann«, beendete er den Satz. »Dein Gebieter wünscht deine Anwesenheit mit ihm im Ring.«

»Oh, gut. Wollen wir?«

»Nein.« Seine Miene blieb ausdruckslos. »Du darfst keine Gegenstände mit dir führen, die dem Elfenkönig Schaden zufügen könnten.«

»Oh«, sagte ich noch einmal. »Ja, natürlich.« Ich holte den Silberdolch aus meiner Tasche und reichte ihn Virgule.

Er nahm ihn, zog ihn aus dem Futteral, schob ihn wieder hinein und gab ihn mir zurück. »Dieses Messer kann keinen Schaden anrichten. Es ist nicht der Stein des Anstoßes.«

»Was denn dann?« Ich leerte Stück für Stück meine Taschen und fragte mich, wie um Himmels willen es Jackaby geschafft hatte, diesen Vorgang vor mir abzuschließen. Ich zeigte Virgule das Fläschchen mit Weihwasser, mein Notizbuch, den Schlüssel für das Vorhängeschloss.

»Da. Eisen. Leg den Gegenstand hierher. Du wirst ihn zu gegebener Zeit zurückerhalten.« Virgule deutete zu einem Astloch, von dem ich ziemlich sicher war, dass es vorhin noch nicht da gewesen war. Ich legte den Schlüssel hinein. »Jetzt«, sagte Virgule, »darfst du eintreten.«

Während ich ihn beobachtete, trat er zu der Mauer aus Bäumen, tat einen großen Schritt und befand sich plötzlich im Kreisinneren, einfach so. Der mir am nächsten stehende Baum wurde schlagartig der am weitesten entfernte und hinterließ unmittelbar vor mir eine unübersehbare Lücke, als wäre die undurchdringliche Barriere die ganze Zeit nur eine Sinnestäuschung gewesen.

Kopfschüttelnd folgte ich Virgule. Ich, eine Verfechterin von Logik und Wissenschaft, schlenderte in einen übersinnlichen Feenring hinein.

Die Geräusche der geschäftigen Stadt um uns verebbten. Im Inneren des Hains war es kühl und schattig und es lag ein Hauch von Vanille und Zitrone in der Luft. Jackaby empfing mich mit einem Nicken. Er stand in der Mitte der Lichtung, die Mittagssonne fiel durch das Geäst über uns und badete ihn in eine Säule aus goldenem Licht. Rings um ihn herum tanzten kleine weiße Punkte und drehten sich in den Sonnenstrahlen.

Virgule durchquerte das Gras und blieb neben einer ebenfalls gertenschlanken weiblichen Gestalt stehen. Im Unterschied zu Virgules grüner Robe trug sie eine dunkelblaue. Ihre Haare waren honigblond und ihre Gesichtszüge sogar noch feiner als die ihres Gefährten, bis auf eine perlweiße Narbe, die sich von ihrem hohen Wangenknochen bis zum Mundwinkel hinunterzog. Sie stand mit militärischer Haltung und ausdrucksloser Miene da.

»Seher«, sagte sie. »Es ist viele Jahre her.«

»Vielen Dank, dass Sie uns eine Audienz gewähren«, sagte Jackaby. »Miss Rook, darf ich Ihnen Generalin Serif und Hauptmann Virgule vorstellen, Sendboten des Fürsten Arawn.«

»Ich bin entzückt«, sagte ich.

»Nicht wahrnehmbar«, sagte Virgule. »Ist es ein passives Entzücken?«

Serif räusperte sich. »Ob wir euch irgendwohin eskortieren, ist noch nicht entschieden«, sagte sie. »Fürst Arawn vergeudet seine Zeit nicht leichthin mit den Kümmernissen der Menschen.«

»Hierfür wird er Zeit haben«, sagte Jackaby. »Es geht um die Loge des Schreckens.«

»Die Loge des Schreckens wurde schon vor langer Zeit aufgelöst«, erwiderte sie. »Du jagst Phantomen nach.«

»Eines dieser Phantome sitzt derzeit in meinem Vorratskeller hinter Schloss und Riegel«, erwiderte Jackaby. »Sie hat viele Unschuldige ermordet, bevor wir sie dort eingesperrt haben, und sie hat es nicht allein getan. Ihr Vater befindet sich noch auf freiem Fuß und hat letzthin verkündet, dass er die Herrschaft über die Erde und die Annwyn übernehmen will, und das ist etwas, das unser beider Heimat angeht.«

Die kleinen weißen Lichttupfer in den Sonnenstrahlen hatten einen Kreis zu bilden begonnen und bewegten sich in einer allmählich immer schneller werdenden Umlaufbahn um Jackaby herum.

»Der Böse König«, wisperte Virgule furchtsam.

Serif warf ihm einen frostigen Blick zu. »Gerüchte«, sagte sie. »Du hast nichts berichtet, wovon der Elfenkönig nicht schon Kenntnis hätte.«

»Eure Gerüchte haben in meiner Stadt viele Tote hinterlassen«, beharrte Jackaby. »Und es waren Geschöpfe von eurer Seite des Vorhangs, die dazu angeheuert wurden. Redcaps, Vampire, Nixen.«

Serif blieb ungerührt. »Deine Stadt kümmert uns wenig, Seher, und eine Handvoll Plagegeister aus dem Reich der Unseelie ist nichts, was der Elfenkönig nicht bezwingen könnte. Wenn du also sonst nichts hast …«

Die weißen Punkte, die Jackaby umkreisten, stießen plötzlich an einer Stelle zusammen und zerbarsten zu einem gleißend hellen Blitz. Ich hielt mir schützend die Hand vor die Augen, und als ich überrascht blinzelnd wieder aufschaute, hatte sich mitten in der Luft ein Torbogen geöffnet. Er war von strahlendem Licht umgeben, und auf der anderen Seite konnte ich einen Raum sehen, der von schweren Säulen gesäumt war. Serif schien es die Sprache verschlagen zu haben. Virgule fand seine vor ihr wieder.

»Unser Gebieter wird euch jetzt empfangen.«

4

Der Thronsaal von Arawn dem Guten, Elfenkönig und Herrscher über die Seelie, war weder in goldenes Licht getaucht noch war er kühl und luftig, und er duftete eindeutig nicht nach Vanille und Zitrone. Der Raum, in dem wir uns wiederfanden, als wir durch das Portal traten, schien zu einer mittelalterlichen Burg zu gehören. Seine Mauern waren aus grob gehauenem Stein und mit schweren Wandteppichen behangen, auf denen Mensch und Tier bei kriegerischem Treiben abgebildet waren, bei körperlicher Ertüchtigung und bei Handlungen, die meine Mutter zum Erröten gebracht hätten.

Über uns machten die Säulen einer Gewölbedecke Platz, die ebenso gut zu einer Kathedrale gehört haben könnte. Eine große Feuerstelle nahm den größten Teil einer der Wände ein und trotz des riesigen höhlenartigen Raums war die Luft heiß und stickig. An einem Ende des Saals befand sich ein stufiges Podest wie für einen Altar. Darauf stand ein großer Thron, verziert mit Edelsteinen, die im Schein der prasselnden Flammen purpurn funkelten. Der Thron war leer, doch rechts und links davon saß jeweils ein Jagdhund. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen, schneeweiß mit leuchtend roten Ohren. Sie hoben den Kopf und beobachteten uns, als wir nacheinander den Raum betraten.

Vor dem Podest stand ein breiter Eichentisch, an dem zwei Gestalten in ein Streitgespräch vertieft saßen. Beide trugen ein braunes Gewand und keiner von ihnen sah besonders königlich aus.

»Ein Handelsembargo gegen die Nordelfenländer wird nichts bewirken«, sagte der eine, ein verdrießlich dreinblickender Geselle mit runden Brillengläsern. Seine Haare waren am Hinterkopf zu einem strengen Knoten zusammengebunden. »Fürst Arawn ist sehr wohl bewusst, dass König Freyr keine Macht über die Dunkelalben hat. Wir würden lediglich eines unserer stärksten Bündnisse belasten. Das Beste wäre es, die Zwerge anzusprechen und …«

»Du willst unser Königreich bei diesen schmutzigen Beutelabschneidern noch tiefer in Schulden stürzen?«, unterbrach ihn der andere. Er hatte ein verschlagenes, hageres Gesicht. »Ich würde es fast lieber sehen, wenn uns die stinkenden Dunkelalben weiter bis aufs Hemd auszögen, als es freiwillig den verdammten Langbärten auszuliefern.«

»Verlasst uns«, ertönte eine Stimme hinter uns. Sie war tief und entschieden.

Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer gesprochen hatte, hegte ich keinen Zweifel daran, dass ich mich nun in Gegenwart eines Königlichen befand. Obwohl Jackaby größer war als er, schien Arawn jeden im Raum zu überragen. Angesichts seiner majestätischen Erscheinung konnte ich mir gut vorstellen, dass jeden Moment ein Maler hinter einer Säule hervortreten würde, um ein Ölgemälde von ihm anzufertigen. Er hatte fein geschnittene Gesichtszüge, sein Körperbau war jedoch kräftiger als der seiner Untertanen und seine Kieferpartie sehr viel markanter. Auf seinen weizenblonden Haaren thronte ein Kronreif aus glänzend polierter Bronze, und um seine Schultern trug er einen Umhang aus dunkelrotem Samt, der von einer goldenen Schließe in Form einer Sonne gehalten wurde.

»Herr.« Serif kniete nieder. »Der Seher bittet um eine Audienz.«

»Danke, Generalin«, sagte Arawn. »Das ist mir bewusst. Eskortiere Ampersand und Kern bitte in den Ratssaal. Sie können ihre Unterredung dort ohne mich weiterführen.« Die zwei am Tisch hatten zu streiten aufgehört und begannen bereits hastig ihre Unterlagen zusammenzuraffen. Serif erhob sich und machte eine tiefe Verbeugung.

»Hauptmann«, wandte sich der König Virgule zu, als Serif mit den beiden hinausging. »Du bewachst den Zugang.«

»Ja, Herr.« Virgule postierte sich feierlich neben dem Portal.

»Aus dem Inneren des Feenrings, wenn du die Güte hättest«, ergänzte Arawn mit unerschütterlichem Gleichmut.

»Ja, Herr.« Virgule nickte und trat durch das leuchtende Tor in den Hain im Seeley’s Square. Das Portal begann hinter ihm zu flimmern und verschwand dann mit einem leisen Platzen wie eine Seifenblase.

Jackaby und ich blieben mit Fürst Arawn allein zurück. Das Feuer prasselte vor sich hin.

»Nun«, sagte Jackaby. »Was Inneneinrichtung anbelangt, haben wir einen unterschiedlichen Geschmack, aber gegen den Eingang kann ich nichts einwenden. Eine Tür wie diese macht sofort Eindruck. Allerdings lässt sich nirgendwo ein Türklopfer anbringen. Oder ein Hufeisen.«

»Noch niemals«, sagte Arawn, »wurde dieses Portal für einen Menschen geöffnet. Ihr seid die ersten Sterblichen, die es durchschreiten durften.«

»Es ist uns eine große Ehre, Sir«, sagte ich. »Ähm … Eure Majestät. Es ist uns eine große Ehre, Eure Majestät, Sir.« Sofort wünschte ich, ich hätte geschwiegen.

»Und wer ist das?« Arawn betrachtete mich mit leiser Heiterkeit.

»Das ist meine Mitarbeiterin«, antwortete Jackaby. »Und gewöhnlich ist sie recht scharfsinnig. Normalerweise. Manchmal. Sie überrascht einen zuweilen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Arawn. »Ihr Menschen tut nie das, was zu erwarten wäre. Ich habe einmal ein ganzes Jahr lang einen in meiner Burg gehalten.«

»Einen Menschen?«

»Ja. Ich habe ihm meinen Titel und alles andere abgetreten. Am Ende ging er fort, um über ein kleines unbedeutendes Königreich zu herrschen. Ein Jammer. Ich mochte ihn gern.«

»Wir sind in einer recht dringenden Angelegenheit hier, fürchte ich«, sagte Jackaby.

»Ich habe es gehört.« Arawn schlenderte zu dem Podest am anderen Ende des Raumes. »Du hast Bedenken wegen der alten Loge des Schreckens.«

Jackaby nickte. »Mehr als nur Bedenken. Die Loge ist wiederauferstanden und äußert umtriebig. Meinen Mitarbeitern und mir ist es gelungen, einen Vampir kampfunfähig zu machen und eine Nixe aus ihren Reihen wegzusperren, aber der Böse König ist nach wie vor auf freiem Fuß und heckt seine mörderischen Pläne aus.«

Arawn drehte sich gemächlich um, als er seinen Thron erreicht hatte. »Ihr seid eine solch schreckhafte Spezies, ihr Menschen. So unüberlegt. Es gibt keinen Bösen König, der dort draußen lauert.«

»Doch«, sagte ich. »Ich habe ihn gesehen.«

Arawns Blick fixierte mich, als er sich in seinen Thron gleiten ließ. »Ach ja?«

Ich nahm all meinen Mut zusammen. »Ich habe seine Augen gesehen«, sagte ich. »Sie glühten rot im Dunkeln. Er sagte, dass die Zeit der Menschen ende und dass er unsere Mauern und das Warten leid sei. Er hat die Absicht, die Grenze zwischen Erde und Annwyn zu zerstören und dann als König über das zu herrschen, was von beiden Reichen übrig bleibt.«

Unbeeindruckt ließ Arawn seine Hand sinken und kraulte einen seiner schneeweißen Hunde geistesabwesend zwischen den leuchtend roten Ohren. »Vermutlich gab und gibt es zu jedem Zeitpunkt ein Dutzend niederträchtiger Aufwiegler, die beabsichtigen, meine Grenze zu zerstören, Hunderte, die beabsichtigen, sich meines Thrones zu bemächtigen, Tausende, die beabsichtigen, dem Zeitalter der Menschen ein Ende zu setzen. Soll sich dieses Gesindel doch weiterhin mit seinen abwegigen Absichten die Zeit vertreiben.«

»Es ist nur so lange eine abwegige Absicht, bis es geschieht«, sagte Jackaby.

Arawn verdrehte die Augen. »Das ist pure Fantasterei.«

Sagte der Feenkönig zu einem Reisenden mit Zauberbohnen in den Manteltaschen, dachte ich, behielt diesen Gedanken aber für mich.

»Ihr seid ein Narr.« Jackaby ging auf das Podest zu. Die beiden Hunde hoben die schneeweißen Köpfe und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Eure Grenze ist nicht undurchdringlich. Es sind bereits Geschöpfe aus dem Reich der Unseelie hindurchgeschlüpft, wie Euch sicherlich nur allzu bewusst ist. Unschuldige sterben, während Ihr Euch einredet, Herr der Lage zu sein!« Die Hunde begannen zu knurren und Jackaby hielt inne – nur wenige Schritte vom König entfernt. »Ich stehe im Zentrum des Geschehens, ob Ihr mir nun helft oder nicht. Es werden noch mehr Menschen sterben. Menschen, an denen mir liegt. Lasst Euch nicht von Eurem Stolz blenden. Wartet nicht, bis die Grenze gefallen ist und auch Wesen sterben, an denen Euch liegt, bevor Ihr dies ernst nehmt.«

»Äußerst vermessen, Seher«, sagte Arawn frostig. »Du weißt nicht, wo dein Platz ist.«

»Nein, das weiß ich nicht. Ich habe mir sagen lassen, dies sei eine meiner liebenswerteren Eigenschaften«, erwiderte Jackaby.

Arawn musste unwillkürlich grinsen. »Wohl deine einzige«, sagte er. »Ja, es gibt Risse, wie in jedem Grenzwall. Risse können geschlossen werden. Was du ausmalst, ist jedoch etwas vollkommen anderes. Es ist lachhaft.«

»Dann heitert mich bitte auf.«

Arawn betrachtete Jackaby nachdenklich. »Na schön, wenn es dich beruhigt. Stellen wir uns also das Unmögliche vor. Ich werde langsam sprechen, damit du mir folgen kannst. Pass gut auf.«

Arawn wedelte beiläufig mit der Hand und die schwere Eichentischplatte neben mir erzitterte. Vor meinen Augen wogte und wellte sich ihre Oberfläche und warf sich zu ungleichmäßigen Hügeln auf, bildete Täler und ließ kleine Holztürmchen mit papierdünnen Wimpeln sprießen.

»Jeder, der beabsichtigt, die Grenze zu zerstören, müsste zuerst mein Heer bezwingen.« Arawn sprach betont gedehnt.

Während ich fasziniert hinschaute, wuchsen aus dem Holz Eichenfiguren, die Haltung annahmen und Reihe um Reihe winziger Soldaten bildeten.

»Die Truppen der Seelie sind die schlagkräftigste Armee in diesem und jedem anderen Reich«, fuhr Arawn fort. »Und sie sind nur einer einzigen Aufgabe verpflichtet: die Grenze zu sichern. Ein gegnerischer König würde eine Legion um sich scharen müssen, die meiner gewachsen ist, und dergleichen hat es noch nie gegeben. Im Gegensatz zu meinen Truppen sind die Unseelie die unberechenbarsten und widerborstigsten Kreaturen der Anderswelt. Allein nur eine kleine armselige Schar dieser Wüstlinge davon abzuhalten, sich gegenseitig zu zerfleischen, wäre schon eine außergewöhnliche Leistung. Eine ganze Armee von ihnen für ein gemeinsames Ziel zu mobilisieren, so gut wie unmöglich.«

Späne und Splitter hatten begonnen, aus der Tischplatte hervorzulugen und die Eichenarmee einzukreisen wie Wölfe im Unterholz.

»Aber ich möchte dich ja aufheitern«, sagte Arawn trocken. »Führen wir dieses absurde Schauspiel also noch einen Schritt weiter.«

Die Wölfe griffen an. Welle um Welle kleiner schartiger Ungeheuer stürzten sich auf die Soldaten. Zahnstocherspeere flogen und Hobelspanschilde zerbrachen. Als sich die Sägemehlwolke lichtete, lag die winzige Holzarmee reglos da. Es war ein Gemetzel in Miniaturform gewesen.

»Angenommen, dein angeblicher König würde das Unmögliche zuwege bringen und meine Armee besiegen, dann hätte er längst noch nicht die Macht, den Vorhang zwischen den Welten niederzureißen. Die erforderliche Zauberkraft, um die Magie aufzuheben, die diese Barriere an ihrem Platz hält, würde mehr gebündelte Energie erfordern, als selbst die stärksten Magier in meinem Reich gemeinsam aufbringen könnten.«

Der Tisch klapperte. Die wolfsartigen Holzspäne und zerknickten Eichensoldaten begannen über die Oberfläche zu rutschen. In immer enger werdenden Kreisen wurden beide Armeen über das Holz gezogen, die struppige Meute drehte sich im Uhrzeigersinn und die gefallenen Soldaten entgegengesetzt. Aus der Mitte dieser Umlaufbahnen wuchs eine einzelne Gestalt. Auf ihrem hölzernen Kopf saß eine winzige gezackte Krone.

»Angenommen, es geschähe tatsächlich«, sagte Arawn. »Dazu müsste eine unvorstellbar große brachiale Kraft gebündelt auf ein einziges Ziel gerichtet und durch den Verstand nur eines Einzigen hindurchgeleitet werden.«

Aus dem Rumpeln der Tischplatte war ein verstörendes Brummen geworden. Es tat mir in den Zähnen weh. Die Tischplatte begann an den Rändern zu zersplittern. Die Kreise drehten sich immer schneller, bis die Figur in der Mitte schließlich mit einem Knacken zu einer Wolke aus Holzspänen zerbarst. Ich schirmte mit dem Arm meine Augen ab, und als ich schließlich erneut hinschaute, war der Tisch wieder ein gewöhnlicher Tisch, seine Oberfläche glatt und spiegelblank bis auf eine tiefe Delle in der Mitte.

Arawn lehnte sich auf seinem Thron zurück. »Es kann nicht geschehen. Der Vorhang zwischen den Welten ist sicher. Der Böse König ist tot.«

»Tot?«, sagte ich. »Dann gab es also einen Bösen König?«

Unter halb geschlossenen Lidern zuckte Arawns Blick in meine Richtung. »Es gab ihn«, räumte er ein. Mit langsamen, bedächtigen Bewegungen erhob er sich und schritt von dem Podest herunter auf mich zu. »Bis es ihn nicht mehr gab. Willst du wissen, was ihm dazwischenkam?«

Ich nickte.

»Ich.« Er stand so nah vor mir, dass ich mein ängstliches Gesicht in seinem Kronreif gespiegelt sehen konnte. »Der König des Bösen war ein eindrucksvoller Gegner, aber er wurde besiegt. Ich habe die Krone dieses Unglücklichen in meinem Trophäenraum«, sagte Arawn. »Ich nahm sie ihm ab, als seine Leiche auf dem Schlachtfeld erkaltete. Er ist tot.«

»Seine Krone?« In Jackabys Augen blitzte ein Gedanke auf. »Seid Ihr jemals einem gewissen Pfarrer Grafton begegnet?«

»Der Name sagt mir nichts«, antwortete Arawn. »Ist er ein Sterblicher?«

»Ausgesprochen sterblich. Um nicht zu sagen verstorben«, erwiderte Jackaby. »Tatsächlich hat er erst heute Morgen auf unserer Türschwelle das Zeitliche gesegnet. Kurz bevor er starb, erwähnte er eine Krone. Ebenso einen Speer und einen Schild. Er nannte sie Harfau o Hafgan. Sagt Euch das ebenfalls nichts?«

Arawns gleichmütige Gelassenheit schwand und machte einem Ausdruck aufrichtiger Überraschung Platz. »Die Insignien des Hafgan«, sagte er leise. »Ich hatte beinahe vergessen, dass es einmal eine Zeit gab, in der er Hafgan genannt wurde. Der Name war einst wie Donner in diesen Hallen. Hafgan ist der Böse König. Oder er war es. Diese Tage gehören längst der Vergangenheit an.«

»Und Ihr seid Euch vollkommen sicher, dass er tot ist?«, fragte Jackaby.

»Sowohl seine als auch meine Gefolgsleute haben beobachtet, wie ich ihn getötet habe. Ja, ich bin mir sicher. Ebenso wie viele andere Feen- und Fabelwesen im ganzen Reich. Der Zweikampf war ein großes öffentliches Spektakel, wenn man es denn überhaupt einen Zweikampf nennen kann. Es erforderte nur einen einzigen Hieb, Hafgans Schild zu zerschmettern und sein Herz zu durchbohren. Balladen wurden darüber geschrieben und Bilder gemalt. Das meiste davon war schauderhaft, um ehrlich zu sein, aber es gibt kein Feenwesen in meinem Königreich, das die Geschichte nicht kennt.«