JACKABY - Die verschwundenen Knochen - William Ritter - E-Book

JACKABY - Die verschwundenen Knochen E-Book

William Ritter

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Beschreibung

Kein Fall zu seltsam, keine Spur zu heiß!

New Fiddleham, 1892: Abigail Rook, die junge Assistentin von R.F. Jackaby – Detektiv für unerklärliche Phänomene – langweilt sich nie in ihrem neuen Job. Von besonders garstigen Gestaltwandlern, die sich als süße Kätzchen tarnen, bis hin zu Mord ist alles in ihrem Tagesablauf dabei. Als in dem benachbarten Gad’s Valley ein nicht identifizierbares Monster Tiere und Menschen überfällt, bittet Junior Detective Charlie Cane Abigail um Hilfe. Bald sind Jackaby und Abigail in eine Jagd nach einem Dieb, einem Monster und einem Mörder verwickelt, die ihren ganzen Scharfsinn verlangt …

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Foto: © Katrina Santoro

Der Autor

William Ritter hat an der University of Oregon studiert und unter anderem Kurse in Trampolinspringen, Jonglieren und über das Italienische Langschwert aus dem 17. Jahrhundert belegt. Er ist verheiratet, stolzer Vater und unterrichtet englische Literatur. Jackaby ist sein Debütroman. Mehr zum Autor auch auf Twitter @Willothewords

Von William Ritter ist außerdem bei cbt erschienen:

Jackaby (Band 1)

Mehr zu cbj/cbt auch auf Instagram @hey_reader

William Ritter

JACKABY

Die verschwundenen Knochen

Aus dem Englischenvon Dagmar Schmitz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2015 by William Ritter Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Beastly Bones. A Jackaby Novel« bei Algonquin Books, New York. Published by Arrangement with Algonquin Books of Chapel Hill, a Division of Workman Publishing Company, Inc., New York. © 2018 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Dagmar Schmitz Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen Coverdesign: Jacket photos © Claire Sherwood (silhouette), Richard Watson (farmhouse), Shutterstock (man’s face) he · Herstellung: ang Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-20782-3 V002
www.cbj-verlag.de

Für Russ,

der mir beigebracht hat, dass Holz selbst am besten weiß, welche Gestalt es annehmen soll

und für Eleanor,

die immer ihren eigenen Weg gegangen ist und ihn mit kostbaren Worten geebnet hat

1

»Folgen Sie meinem Beispiel, Miss Rook«, sagte Jackaby und klopfte an die mit schnörkeligen Schnitzereien verzierte Tür der Campbell Street 1206. Wäre mein Arbeitgeber ein gewöhnlicher Privatdetektiv gewesen, hätte es sich dabei um eine einfache Anweisung handeln können. Aber in der Zeit als seine Assistentin hatte ich festgestellt, dass nur sehr wenig an Jackaby gewöhnlich war. Seinem Beispiel zu folgen, erforderte üblicherweise eine gewisse Geschmeidigkeit im Umgang mit der Realität.

Hochgewachsen und schlaksig versank Jackaby fast in seinem langen braunen Mantel, der einmal sehr teuer gewesen sein musste, mittlerweile aber recht abgetragen wirkte und innen wie außen unzählige nachträglich aufgenähte Taschen aufwies. Sie waren mit allerlei Plunder und Krimskrams vollgestopft, der stets leise klirrte und klimperte und von dem Jackaby beharrlich behauptete, er sei für seine Arbeit unentbehrlich. Um den Hals hatte er seinen aberwitzig langen Schal geschlungen, dessen Enden beim Gehen über die Pflastersteine streiften.

Der Hauptübeltäter allerdings saß – über dunkle ungebärdige Locken gestülpt – auf seinem Kopf. Jackabys Wollmütze war eine gestrickte Monstrosität, eine beispiellose Kombination aus ungleichmäßigen Maschen und schreienden Farben, die sich mit der seines Schals und seines Mantels bissen. Sie bissen sich sogar gegenseitig. Selbst ganz allein auf einer Hutablage hätte dieses Ding noch fehl am Platz gewirkt.

Dabei war Jackaby keineswegs ein hässlicher Mann. Stets war er ordentlich rasiert und schien schwach nach Gewürznelken und Zimt zu duften. In einem eleganten Anzug mit Krawatte hätte er auf manche Mädchen durchaus anziehend wirken können, doch in seiner bevorzugten Kluft sah er aus wie ein verschrobener Kauz. »Der äußere Schein ist nicht alles«, pflegte er mich gern zu ermahnen, aber ich wage zu behaupten, er ist auch nicht nichts. Mein Arbeitgeber kann in manchen Dingen ziemlich uneinsichtig sein. Genau genommen in den meisten.

Die Frau, die uns nun die Tür öffnete, schien jedoch viel zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt zu sein, um sich über alberne Kopfbedeckungen Gedanken zu machen. Jackaby und ich wurden hineingebeten und in einen eleganten Salon geführt. Das Haus ähnelte den majestätischen englischen Herrenhäusern, in die mich meine Mutter früher gern mitgeschleppt hatte. Mein Vater war ein recht abenteuerlustiger Forscher – vielleicht haben Sie ja schon von dem unerschrockenen Daniel Rook gelesen –, meine Mutter aber gab Konventionen und Manieren den Vorzug. Sie machte sich die Berühmtheit meines Vaters zunutze, um Zutritt zu den zahllosen Londoner Gartenfesten zu erhalten, und mich nahm sie dorthin in der Hoffnung mit, dass ein wenig gute Gesellschaft in mir den Wunsch wecken würde, ebenfalls eine richtige Dame zu werden. Tatsächlich weckte es in mir aber nur den Wunsch, mich wie mein Vater davonzumachen, um irgendwo draußen im Schmutz spielen zu können.

In gewisser Weise war an Neuengland eigentlich gar nichts neu. Unsere gegenwärtige Gastgeberin sah aus, als hätte sie hervorragend in die gesellschaftlichen Kreise meiner Mutter gepasst. Sie stellte sich als Florence Beaumont vor und erbot sich, uns Mantel und Jacke abzunehmen. Jackaby lehnte rundheraus für uns beide ab. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte es nicht getan, weil die Wärme im Raum in starkem Gegensatz zu der kühlen Brise draußen stand. Zwar hatte der Frühling 1892 bereits Einzug in New Fiddleham gehalten, aber den eisigen Winterwind hatte er noch nicht vollends vertrieben.

Mrs Beaumont führte uns zu einem schmalen Erker im rückwärtigen Teil des Salons. Hier lagen auf dem Fußboden mehrere Decken übereinandergehäuft, daneben ein kleines rosafarbenes Halsband mit einem Glöckchen daran sowie zwei silberne Schüsseln, die auf weißen Zierdeckchen thronten. Eine davon enthielt etwas, das nach Thunfischresten aussah, in der anderen befanden sich Wasser, sehr viele Katzenhaare und ein lebender Fisch. Der Fisch bewegte sich unbequem im Kreis und nahm fast die ganze Schale ein.

Jackaby ging in die Hocke und starrte, die Unterarme auf den Knien abgestützt, ins Wasser. Er schaute dem Fisch dabei zu, wie er in der Enge seine Runden drehte, und studierte seine Bewegungen. Schließlich zupfte er ein paar feuchte Katzenhaare vom Rand der Schale, schnupperte daran und ließ sie in einer der zahlreichen Taschen seines Mantels verschwinden.

Ich zückte das kleine schwarze Notizbuch, das mir Jackaby zum Abschluss unseres ersten Falles geschenkt hatte, und bemühte mich, Mrs Beaumont nicht sehen zu lassen, dass ich noch auf der allerersten Seite war.

»In Ihrer Nachricht stand etwas von einer kranken Katze?«, wandte ich mich an sie, während mein Arbeitgeber in dem pappigen Klumpen aus Thunfischresten herumstocherte. »Mr Jackaby wird das Tier sicherlich gern sehen wollen.«

»Mrs W-W-Wiggles.« Die Unterlippe der Frau zitterte.

»Ja, und wo ist Mrs Wiggles jetzt?«

Mrs Beaumont versuchte zu antworten, aber sie brachte nur eine Art Fiepsen zustande, das ich nicht entschlüsseln konnte, und gestikulierte in Richtung Erker.

Jackaby stand auf. »Mrs Wiggles befindet sich genau hier, habe ich recht?«

Mrs Beaumont nickte.

»Mrs Wiggles ist der Fisch, nicht wahr?«

Sie nickte wieder. »Aber erst seit Kurzem«, schniefte sie.

»Ich verstehe«, sagte Jackaby.

Sein sachlicher Tonfall schien bei Mrs Beaumont einen Damm zum Brechen zu bringen. »Sie müssen mich für verrückt halten! Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte, aber Ihr Name fiel hin und wieder beim Dinner. Ich führe ein großes Haus, müssen Sie wissen, und gebe häufig Einladungen. Zu meinen Abendgesellschaften kommen bedeutende Persönlichkeiten. Erst letzte Woche war Bürgermeister Spade zum Tee hier. Einige der Gäste, mit denen ich soupiere, sagen, Ihr Spezialgebiet seien Dinge, die … die … andersgeartet sind.«

»Gelinde gesagt«, warf ich ein.

»Freut mich zu hören, dass ich Ihnen von so hoher Stelle empfohlen wurde, Madam«, sagte Jackaby und wandte sein Augenmerk wieder dem großen Fisch in der kleinen Schüssel zu.

»Oh, ich würde es nicht unbedingt Empfehlung nennen«, erklärte Mrs Beaumont. »Es waren vielmehr Anekdoten, manches sogar eher Warnungen …«

»Doch, ja, sehr nett.« Jackabys Aufmerksamkeit war wieder zum Gegenstand seiner Ermittlung gewandert. Er ließ sich auf Hände und Füße nieder und warf einen Blick auf die übereinanderliegenden Decken.

»Ich habe immer sehr gut für Mrs Wiggles gesorgt«, fuhr Mrs Beaumont fort. »Ich bürste und bade sie regelmäßig und kaufe nur das beste Futter. Hin und wieder besorge ich ihr frischen Fisch auf dem Chandler’s Market. Zuerst dachte ich, sie sei bloß ein wenig unpässlich aufgrund ihrer – nun ja – ihres Zustandes. Aber dann begannen ihr Sch-Sch-Schuppen zu wachsen und jetzt … jetzt …« Mrs Beaumont brach erneut ab, ihre Stimme hatte sich zitternd in unangenehme Höhen geschraubt.

»Aufgrund ihres Zustandes?«, hakte ich nach und versuchte mich näher zum Erker vorzuschieben. »In welchem Zustand befand sich denn Mrs Wiggles?«

»Sie war trächtig«, antwortete Jackaby für Mrs Beaumont.

Sie nickte.

»Woher wussten Sie das, Sir?«, fragte ich.

Jackaby lüpfte einen Deckenzipfel und enthüllte ein Knäuel niedlicher schlafender Kätzchen. Hier und da schimmerten ein paar Schuppen durchs Fell hindurch. Das kleinste hatte flauschige Kiemen, die sich aufblähten und wieder in sich zusammenfielen, während es schnarchte, aber dennoch waren sie herzallerliebst.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass Mrs Wiggles bis vor Kurzem erheblich mehr Freiheit genoss und nachts ungehindert umherstreifen konnte?«, fragte Jackaby.

Mrs Beaumont blinzelte im Versuch, die Tränen zurückzuhalten und die Fassung zu wahren. »Ja, das ist richtig. Meist lasse ich über Nacht das Fenster geöffnet, damit sie hinaushuschen kann, und gegen Morgen kehrt sie stets zurück. Vor etwa einem Monat beschloss ich, dass es wohl das Beste sei, sie vorerst im Haus zu behalten, zumindest bis sie geworfen hat. Draußen hat ja eine eisige Kälte geherrscht. Ich wollte nicht, dass die Ärmste …«

»Ja, alles schön und gut«, unterbrach sie Jackaby. »Sie erwähnten, dass Sie bisweilen auf dem Markt frischen Fisch für sie kaufen. Gehe ich weiterhin recht in der Annahme, dass Sie Mrs Wiggles in letzter Zeit häufiger mit solchen Delikatessen verwöhnt haben?«

»Ich wollte doch nur, dass sie ein wenig glücklicher ist, hier drinnen eingepfercht wie eine …«

»Immer die gleiche Sorte Fisch?«

»Ähm … ja. Makrelen. War das falsch?«

»Im Gegenteil, Mrs Belmont …«

»Beaumont«, berichtigte sie ihn leise.

»Im Gegenteil, Mrs Beaumont, es dürfte genau das Richtige gewesen sein. Keine Sorge. Wir werden zusehen, dass den Tieren eine angemessene Pflege zuteil wird.«

»Sie wollen auch die Kätzchen mitnehmen?« Mrs Beaumont kamen die Tränen und ihre Unterlippe zitterte erneut.

Jackaby seufzte. »Lassen Sie mir kurz Zeit, mich mit meiner verehrten Kollegin zu beraten.« Er winkte mich näher zu sich, während Mrs Beaumont hilflos die Hände rang.

Jackaby beugte sich zu mir vor und nahm genau die Art von geheimnistuerisch gedämpftem Tonfall an, den man nicht umhin kann zu belauschen, wenn man in der Nähe steht. »Sagen Sie, Miss Rook, auf einer Skala von eins bis Schwarze Napfschildlaus – als wie gefährlich würden Sie die Lage einschätzen?«

»Als wie gefährlich?« Ich zögerte.

»Ja, Miss Rook«, soufflierte Jackaby. »Ihrer geschätzten Expertenmeinung nach.«

»Auf einer Skala von eins bis Schwarze Napfschildlaus?« Ich folgte seinem Beispiel und tat überaus geheimnisvoll, las noch einmal, was ich in mein Notizbuch gekritzelt hatte, und flüsterte so ernst und vernehmlich, wie es mir möglich war: »Ich würde denken … Eichel? Möglicherweise Dachs. Das wird wohl nur die Zukunft zeigen.«

Mein Arbeitgeber nickte ernst.

»Wie bitte? Was hat sie denn? Können Sie dafür sorgen, dass sich ihr Zustand … bessert?« Mrs Beaumont nestelte nervös an ihrem Spitzenkragen, während Jackaby über seine Antwort nachdachte.

»Es handelt sich um eine Seuche, Madam. Zweifellos eine Virusinfektion. Sie waren dem Virus zwar ausgesetzt, aber keine Sorge, vermutlich haben Sie sich nicht angesteckt, sondern sind nur Überträgerin. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Sie selbst irgendwelche Symptome entwickeln. Nun ist es allerdings wichtig, sicherzustellen, dass der Wurf nicht die gesamte Nachbarschaft ansteckt.«

»Steht es wirklich so schlimm?«, fragte Mrs Beaumont. »S-sollten wir es der Polizei melden oder … einer anderen Behörde?«

»Wenn Sie möchten.« Jackaby blickte nachdenklich drein. »Das Beste wäre natürlich, wenn wir Mrs Wiggles und ihren Wurf einfach mit zu uns nähmen und Stillschweigen über die ganze Angelegenheit bewahrten. Ich bin zwar kein Experte darin, ein großes Haus zu führen, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass es dem guten Ruf zuträglich wäre, wenn sich die Nachricht verbreitete, dass jemand in derart exponierter gesellschaftlicher Stellung Überträger einer fremdartigen Virusinfektion ist. Wie geht es übrigens Bürgermeister Spade?«

Mrs Beaumont schniefte und dachte eine Weile über Jackabys Worte nach. »Lassen Sie mich Ihnen eine größere Schüssel bringen«, sagte sie mit piepsiger Stimme. »Ich möchte, dass es Mrs Wiggles zumindest bequem hat.« Mit einem letzten Schniefen eilte sie aus dem Zimmer und verschwand in den Tiefen des Hauses.

Manche Mädchen stehen hinter einer Ladentheke oder verkaufen auf der Straße Blumen. Manche Mädchen suchen sich einen Ehemann und spielen Vater-Mutter-Kind. Ich assistiere einem kauzigen Privatdetektiv bei der Untersuchung ungeklärter Phänomene – wie beispielsweise der Erforschung von Fischen, die eigentlich Katzen sein sollten, aber vergessen zu haben scheinen, wie das geht. Mein Name ist Abigail Rook und das ist meine Arbeit.

2

Kurz darauf gingen mein Arbeitgeber und ich wieder die kopfsteingepflasterte Straße entlang, nun mit einer Kiste voller fischiger Katzenwesen und einer wuchtigen Bowlenschüssel aus Kristallglas, die mit frischem Wasser und einer leicht behaarten Makrele gefüllt war. Jackaby hatte sich großmütig erboten, die Kätzchen zu tragen. Die kühle New-England-Brise frischte zeitweilig zu eisigen Böen auf, die durch die engen Gassen pfiffen und mich überdeutlich den feuchten Fleck spüren ließen, der sich dort, wo die Schüssel manchmal überschwappte, auf meiner Hemdbluse ausbreitete.

»Wozu diente die Darbietung vorhin, Sir?«, fragte ich und bemühte mich nach Kräften, meine Bluse nicht gänzlich mit Fischwasser zu durchtränken.

»Darbietung?« Jackaby zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Von eins bis Schwarze Napfschildlaus? Und neuerdings bin ich eine Expertin?«

»Meines Erachtens sind Sie durchaus eine Expertin, wenn auch lediglich auf dem eher eintönigen Gebiet des Ausgrabens und Studierens alter Steine. Ich fand diese Bezeichnung zu dem Zeitpunkt angemessen.«

»Vielen Dank. Aber ich habe nach Fossilien gegraben, nicht nach alten Steinen.«

»Ach so, natürlich. Fossilien. Mit anderen Worten: Knochen, die über einen sehr langen Zeitraum hinweg zu … was geworden sind?«

»Zu Stein.«

»Stein. Sie meinen, Stein wie in … Steine?«

»Nun, ich weiß zwar nicht, ob die Lektüre einiger Fachbücher und eine fehlgeschlagene Expedition zu einer Expertin machen, gleichwohl wäre es mir lieber, wenn Sie meine dürftigen Qualifikationen nicht dazu benutzen würden, alte Damen zu belügen.«

»Ich werde daran denken, wenn ich es das nächste Mal für geboten halte.«

»Vielen Dank, Sir. Apropos, halten Sie es nicht für geboten, Mrs Beaumont unter Quarantäne zu stellen oder etwas Ähnliches?« Ich warf einen Blick zurück zu dem stattlichen alten Haus.

»Wozu denn das, um Himmels willen?« Jackaby kraulte eine weiche rötliche Fellnase, die sich zaghaft aus der Kiste herausschob. »Ach so, Sie meinen wegen dieser Seuchensache? Nein, nein, keine Angst – es gibt kein Virus. Ich hatte einfach das Gefühl, dass diese Darstellung für die arme Frau weniger verstörend wäre als die Wahrheit.«

»Und was ist die Wahrheit?«

»Eine sich rasch ausbreitende Population fleischfressender Gestaltwandler. Oh, schauen Sie nur. Dieser hier hat eine flauschige Dorsalflosse. Hallo, du kleiner Bursche.«

Ich blieb wie angewurzelt auf der Straße stehen. Das Wasser schwappte über den Rand der Bowlenschüssel, in der die Makrele unverdrossen weiter ihre Kreise zog.

»Würden Sie bitte weiterhin in meiner Nähe bleiben, Sir?«

»Jetzt seien Sie doch nicht gleich so beunruhigt«, sagte Jackaby. »Ich erkläre es Ihnen gern. Dorsal bezieht sich auf die Erhöhung am Rücken. Ich habe lediglich festgestellt, dass …«

»Doch nicht wegen der Rückenflosse! Diese Kätzchen sind fleischfressende Gestaltwandler?«

»Ja, in der Tat! Ihr Körper versucht, sich zu tarnen. Ist das nicht fabelhaft? Diese kleinen Biester betreiben eine außergewöhnlich aggressive Form von Mimikry. Sie nehmen das Aussehen einer hiesigen Nahrungsquelle an, dringen in ihre potenzielle Beute ein und lassen sich von ihr mit Unterkunft und Nährstoffen versorgen. Sobald sie das Vertrauen ihrer ahnungslosen Wirte gewonnen haben, verschlingen sie sie mit Haut und Haar. Wie es scheint, hat Mrs Wiggles gern Katzen genascht, bevor man sie im Haus eingesperrt hat.«

»Aber das ist ja schrecklich!«

»Durchaus nicht. So ist die Natur. Kuckucke als Brutparasiten betreiben ebenfalls eine aggressive Art der Mimikry und diese kleinen Schufte hat man immerhin in handgeschnitzten Uhren verewigt.«

»Nun, ich … ich nehme an, Sie haben recht.« Ich ging weiter und beäugte beim Überqueren der Straße die Makrele eingehender. »Dennoch finde ich den Gedanken ziemlich beunruhigend, dass eine Katze als Kannibale unterwegs ist und andere Katzen frisst.«

»Es handelt sich nicht um Kannibalismus, wenn es lediglich dem Zweck der Tarnung dient, Miss Rook. Sie selbst halten den Beweis dafür in Händen, dass dieses Tier niemals eine Katze war. Als es gezwungen wurde, sich an ein anderes Futter zu gewöhnen, hat sich sein Körper der neuen Nahrungsquelle angepasst.«

»Dann können sich diese … Dinger einfach magischerweise in jedes beliebige Geschöpf verwandeln, das sie fressen?«

»Das ist keine Magie, Miss Rook, sondern Wissenschaft. Die Fähigkeit gewisser Lebewesen, sich an ihre Umgebung anzupassen, ist bestens dokumentiert. Aristoteles höchstpersönlich verfasste eine Schrift über das Tarnverhalten der Oktopusse. Sie verändern instinktiv ihre Farbe.«

»Wie Chamäleons?«

»Ganz genau. Hier in diesem Fall ist der biologische Vorgang natürlich komplizierter, aber durchaus ähnlich wie bei einem Chamäleon, das seine Farbe verändert. Tatsächlich taufte Darwin die Gestaltwandler in Anspielung auf die kleinen Echsen mit ihrer farbenfrohen Tarnung Chamäleomorphe. Selbstverständlich eine Fehlbenennung, da die Bezeichnung Chamäleon nicht auf die Fähigkeit zur Anpassung anspielt, sondern von dem lateinischen Wort für ›Erdlöwe‹ abgeleitet ist. Aber solche Irrtümer geschehen nun mal, solange man an der Tradition festhält, eine Tierart nach einer anderen Tierart zu benennen.«

»Aber das kann unmöglich stimmen. Charles Darwin hat keine Tierart entdeckt, die ihre Gestalt verändert. Sonst hätte er doch darüber geschrieben.«

»Ach ja?« Wir hatten die Kuppe der steil ansteigenden Market Street erreicht, und Jackaby warf mir ein verschmitztes Lächeln zu, als wir wieder bergab gingen. »Hat er das denn nicht?«

Irgendetwas hatte Jackaby an sich, das mich dazu brachte, ihn unbedingt beeindrucken zu wollen. Vielleicht lag es an seiner Ernsthaftigkeit oder an seiner unverblümten Art und daran, dass er ohne jede aufgesetzte Nachsichtigkeit oder Herablassung mit mir sprach. Zugegeben, er konnte manchmal brüsk und regelrecht kränkend sein – aber mit Samthandschuhen angefasst zu werden empfand ich stets als die größere Beleidigung. Mir ging es einzig und allein darum, mich zu bewähren, und Jackaby gab mir Gelegenheit dazu. Ich hätte deshalb gern behauptet, dass ich das listige Grinsen meines Arbeitgebers mit einer geistreichen Replik entkräftet oder zumindest in der nachfolgenden Debatte Eindruck auf ihn gemacht hätte.

Stattdessen blieb ich in dem Moment, als ich den Mund zu einer Erwiderung öffnete, mit dem Absatz an einem brüchigen Pflasterstein hängen, fiel mit einem ganz und gar würdelosen Stolpern vornüber und durchnässte mich von Kopf bis Fuß mit Fischwasser, bevor ich die Kristallschüssel mitsamt ihrer unglücklichen Bewohnerin den Abhang der geschäftigen Market Street hinabsausen ließ.

Wie durch ein Wunder überstand das schwere Glasgefäß sowohl den klirrenden Aufprall als auch die holprige Schussfahrt und hüpfte wie ein außer Kontrolle geratener Schlitten das Kopfsteinpflaster hinunter. New Fiddlehams Straßen sind niemals menschenleer, und so blieb ein halbes Dutzend Passanten stehen und schaute ihr hinterher, bis die Straße eine Rechtsbiegung machte und die Schüssel gegen den Bordstein knallte. Die Leute sprangen hastig zur Seite, als das Behältnis zu ihren Füßen zerschellte und ein Sprühregen aus Splittern kostbarsten Kristalls über der Ladenfront eines kleinen Lederwarengeschäfts niederging. Die letzten glitzernden Scherben waren noch nicht ganz auf dem Boden gelandet, als ich schon wieder auf den Beinen war und hinterhereilte.

Die aufgeschreckte Makrele wand sich zappelnd über die glitschigen Pflastersteine. Noch aus einem halben Straßenzug Entfernung konnte ich sie am Rand des Gullys entlangbalancieren sehen. Ich fluchte leise und betete, dass der Fisch sich nicht bewegen möge. War es denn zu viel verlangt, dass mein Scheitern nur ein einziges Mal eine kleine Lappalie blieb, anstatt sich zu einem riesigen Fiasko auszuwachsen? Die Zeit schien stillzustehen, als sich das schuppige kleine Biest in einem perfekten Bogen hoch in die Luft und direkt über das Abflussgitter katapultierte.

Genau in dem Augenblick, als mein absolutes Scheitern unabwendbar schien, eilte die Rettung in Gestalt eines Bären von einem Mann herbei. Seine Pranke sauste mit bemerkenswerter Geschicklichkeit nach unten und bekam den Fisch mitten im Flug an der Hinterflosse zu fassen. Er ließ die Makrele in einer Hand verschwinden, lief zu mir und half mir so auf die Füße. Als ich wieder fest auf dem Boden stand, brach der Mann in ein tiefes Lachen aus und schlug mir auf die Schulter.

»Ha! Erwischt!« Sein breites Lächeln wurde von einem dichten, borstigen kastanienbraunen Bart umrahmt.

»Guter Fang, Hudson«, erklang die Stimme meines Arbeitgebers unmittelbar hinter mir.

»Pah! Die Makrele ist ja nicht schlecht – aber ich glaub kaum, dass die hier schon ausgewachsen ist. Werd sie wohl wieder zurückwerfen müssen. Haha!« Der Mann lachte wieder dröhnend und schlug mir so begeistert auf den Rücken, dass ich beinahe doch noch vornübergestürzt wäre. »Schön, dich zu sehen, R. F. Hätte mir denken können, dass du dahintersteckst, wenn die Fische das Fliegen anfangen! Ach, wo wir gerade von Fischen reden, ich werd dem kleinen Burschen erst mal ein bisschen Wasser besorgen. Warte einen Moment.«

Der Hüne stapfte zu dem Lederwarengeschäft zurück und stürmte, immer noch den zappelnden Fisch in der Hand, hinein. Meine Bluse triefte vor Nässe, und unter meinen Sohlen knirschten Glasscherben, als ich mich zu meinem Arbeitgeber umwandte. »Mr Jackaby, ich …«

Er musterte mich streng.

»Es tut mir sehr leid«, sagte ich.

Er sah mir unverwandt in die Augen und seine Brauen hoben sich um einen winzigen Bruchteil.

»Es tut mir sehr, sehr, sehr leid.«

Er seufzte. »Die Anzahl der sehrs in Ihrer Entschuldigung ist irrelevant. Was sehen Sie, wenn Sie diese Geschöpfe anschauen, Miss Rook?« Er hielt mir die Kiste hin, aus der ein kleines bepelztes Gesicht neugierig herausspähte.

»Ich sehe … ein Kätzchen.«

»Möchten Sie wissen, was ich sehe?«

Ich nickte. Jackaby war kein gewöhnlicher Detektiv. Die Fälle, denen er nachging, waren keine von der Art, die ein gewöhnlicher Ermittler lösen konnte, sondern vielmehr unwahrscheinliche Ereignisse, bei deren Aufklärung stets die Grenze des Übernatürlichen überschritten wurde. Was Jackaby dazu befähigte, Absonderliches und Übernatürliches aufzudecken, war – von seiner umfangreichen okkulten Bibliothek und seiner umfassenden Kenntnis des Unerklärten einmal abgesehen – die Tatsache, dass er selbst absonderlich war und übernatürliche Fähigkeiten besaß. Wo andere Menschen meist nur die Oberfläche wahrnahmen, sah Jackaby eine tiefer liegende Wahrheit. Er sagte, dies mache ihn zu einem »Seher« – wenn auch nicht zu einem von der Art, die Tarotkarten auslegen und in Kristallkugeln schauen. Jackaby erkannte die Wahrheit hinter allem und jedem.

»Was sehen Sie, Sir?«, fragte ich.

»Ich sehe ein ungezügeltes Potenzial und eine immense Kraft – sie sprudeln förmlich davon über. Es umgibt sie nicht wie eine gewöhnliche Aura – nein, sie knallt, zischt und blubbert. Im Augenblick sind sie noch bezaubernd und verhältnismäßig sanftmütig, aber sie besitzen die Fähigkeit zu unbeschreiblicher Zerstörung. Darwin sichtete die kleinen Chamäleomorphe erstmalig auf der Insel Mauritius. Sie werden darüber nichts in Ihren Schulbüchern finden, aber so war es tatsächlich. Damals lebte dort auch noch eine besondere Vogelart, bis irgendetwas Jagd auf sie zu machen begann. Holländische Seeleute nannten sie Walghvogels, was so viel heißt wie ›grässliche Vögel‹. Einigen sehr alten Berichten zufolge – darunter auch ein von Darwin selbst verfasstes geheimes Dossier – hat man diese Vögel damals dabei beobachtet, wie sie ihre eigenen Artgenossen auffraßen. Ein halbes Jahrhundert nach ihrer Entdeckung waren die Vögel ausgerottet. Sie werden sie wohl eher unter ihrem gebräuchlicheren Namen kennen: der Dodo.«

»Sie glauben, dass Katzen aussterben werden wie der Dodo, wenn ich versehentlich eins von diesen Chamäleomorph-Viechern entwischen lasse?«

»Sie erscheinen heute in der Gestalt von Katzen, aber wie Sie selbst gesehen haben, könnten sie morgen alles Mögliche sein. Ich will damit lediglich sagen, dass das Auftreten eines fremden Prädators, zumal eines mit derartig starken schlummernden Kräften, für die hiesige Fauna verheerende Folgen haben könnte.«

Der riesenhafte bärtige Mann trat aus dem kleinen Lederwarengeschäft und wir beendeten unsere Unterhaltung.

»Hey, R. F.! Du schuldest dem Burschen da drinnen einen neuen Wischeimer. Keine Sorge, den hier hab ich gut ausgespült.« Er streckte uns einen verbeulten Blecheimer entgegen und ich trat vor und nahm ihn liebenswürdigerweise entgegen. Der Fisch zog darin hektisch seine Kreise, erneut recht beengt, aber sicher und unversehrt. »Und wer sind Sie, kleine Lady?«

»Abigail Rook, Sir. Ich kann Ihnen wahrhaftig nicht genug danken.«

»Uuiihh – eine Britin! Sieh dich bloß vor, R. F. Du könntest versehentlich einen kleinen Blaustrumpf aufgegabelt haben. Ich bin Hank Hudson, Miss Rook.«

Er reichte mir die Hand und ich schüttelte sie. In seinem dicken braunen Mantel und Stiefeln, die aussahen, als könne man darin einen ganzen Kontinent durchqueren, war der Mann ein Riese in abgewetztem Leder, der nach Pferd und Feuerholz roch. Er erinnerte mich an die raubeinigen amerikanischen Männer aus den Bergen, von denen ich als kleines Mädchen gelesen hatte, nur dass der Davy Crockett in meinen Abenteuerheften nicht annähernd so groß und stark ausgesehen hatte.

»Mr Hudson ist ein erfahrener Fallensteller und Pelztierjäger und überdies ein geschätzter Kollege von mir, Miss Rook. Seit wann bist du wieder in New Fiddleham, alter Freund?« Jackaby stützte die Kiste mit den Kätzchen auf seiner Hüfte ab und reichte dem Trapper die Hand, aber Hank Hudson zog Jackaby stattdessen zu einer schnellen Umarmung an sich und verpasste ihm einen herzlichen Schlag auf den Rücken, während sich mein Arbeitgeber unbeholfen abmühte, die Kiste nicht fallen zu lassen.

»Ich bin nur auf der Durchreise. War ein Jahr lang draußen im Oklahoma-Territorium und hab mit den Cherokee Handel getrieben. Gutes Jagdgebiet da unten, aber ich hab ’ne Hütte in Gad’s Valley, um die ich mich kümmern muss. Sobald ich ein paar von meinen Waren losgeworden bin und meine Vorräte aufgestockt habe, mach ich mich wieder auf den Weg. Freut mich, dass ich dich noch erwischt habe. Ich hab dir von den Indianern ein paar Kräuter mitgebracht, die dich interessieren dürften. Ach ja, und ein Medizinrad hab ich mir auch noch zugelegt – das wird dir bestimmt gefallen. Bist du heute Abend daheim?«

»Ja, das bin ich in der Tat! Ich wohne nach wie vor in der Augur Lane. Du erinnerst dich noch an das Haus?«

»Na, und ob – so ein Haus vergisst man nicht.« Hudson zwinkerte Jackaby zu, und ich fragte mich, ob er in sämtliche Absonderlichkeiten des seltsamen Anwesens in der Augur Lane eingeweiht war. »Bis später dann. Hat mich gefreut, kleine Lady.«

Er tippte sich an seine Pelzmütze und stapfte den Gehsteig in die entgegengesetzte Richtung den Abhang hinauf davon. Jackaby und ich setzten unseren Marsch zur Augur Lane fort. Ich achtete sehr sorgsam auf meine Schritte und darauf, den Eimer nicht überschwappen zu lassen. Eigentlich hatte ich gehofft, Jackaby würde mir erzählen, wie er den Trapper kennengelernt hatte, aber mein Arbeitgeber sprach kein Wort. Seiner Miene ließ sich nicht entnehmen, ob er noch über meine Ungeschicklichkeit verstimmt war oder ob es sich bei seinem Schweigen bloß um seinen üblichen Mangel an Taktgefühl handelte.

Es gab einiges an Jackaby, das mir Rätsel aufgab. Er war stets unverblümt und direkt, was mich die Tatsache, dass ich fast nichts über ihn wusste, leicht vergessen ließ. Beispielsweise war mir aufgefallen, dass ihn Hank Hudson mit seinen Initialen angeredet hatte, während nahezu jeder andere, dem wir sonst begegneten, ihn nur »Jackaby« nannte.

»Wofür steht R. F.?«, fragte ich, als wir das Geschäftsviertel durchquerten und uns der Augur Lane näherten.

Er wandte den Kopf und betrachtete mich kurz, bevor er antwortete. »In meinem Metier, der Untersuchung unheimlicher Vorkommnisse und aller möglichen Arten von magischen Bewandtnissen, ist es angebracht, gewisse Sicherheitsvorkehrungen übernatürlicher Art zu treffen.«

»Sie meinen solche Dinge, wie das Haus mit Weihwasser, Knoblauch und Lavendel zu umkreisen?«

»Das ist kein Lavendel, sondern irisches Heidekraut – aber ja, Dinge dieser Art meine ich«, erwiderte er. »Namen besitzen große Macht. Für Praktizierende gewisser sehr alter, sehr dunkler Künste kommt ein aus freien Stücken preisgegebener Name den Fäden einer Marionette gleich. Ich ziehe es daher vor, meinen Namen sorgsam geheim zu halten.«

»Ich verspreche, Sie nicht in eine böse Marionette zu verwandeln«, sagte ich. »Ich beherrsche ohnehin keine dunklen Künste. Ich beherrsche noch nicht einmal irgendwelche Kartentricks.«

»So beruhigend das ist, gedenke ich dennoch, meinen Namen für mich zu behalten. Es sind nicht Sie, die mir Sorge bereitet, Miss Rook«, fügte er hinzu. »Aber Sie können meinen Entschluss in dieser Angelegenheit als unumstößlich betrachten. Nicht einmal Jenny habe ich meinen vollen Namen verraten, und sie ist nicht nur außergewöhnlich verlässlich, sondern überdies tot.«

Jenny Cavanaugh war eine der geheimnisvollen Absonderlichkeiten im Haus in der Augur Lane. Das Gebäude hatte früher einmal ihr gehört. Nach ihrem vorzeitigen und mysteriösen Ableben hatte sich Jenny auch weiterhin dort aufgehalten. Mein Arbeitgeber erhob keine Einwände und so wurde aus der geisterhaften Miss Cavanaugh schlicht eine weitere Bewohnerin des Hauses. Ihrer betrüblichen Geschichte zum Trotz war Jenny das angenehmste Gespenst, dem ein Mensch begegnen kann, und hatte sich als weitaus weniger kauzig entpuppt als mein rätselhafter Arbeitgeber.

»Darf ich raten?«, sagte ich.

Jackaby verdrehte die Augen. »Sie dürfen tun, was immer Sie möchten, Miss Rook. Es wird keinen Einfluss auf meine Entscheidung haben.«

»Steht R. F. für … Richard Frederic?«

»Nein, und ich beabsichtige nicht …«

»Russell Francis?«

»Nein. Allmählich werden Sie …«

»Rumpelstilzchen Finnegan?«

Jackaby seufzte. »Ja, Miss Rook. Rumpelstilzchen. Sie sind mir auf die Schliche gekommen. Ich bin das verschlagene kleine Männchen aus dem Märchen.«

»Es wäre nicht das Sonderbarste, was ich aus Ihrem Munde höre, seit ich für Sie arbeite.«

3

Nach unserer Rückkehr ins Haus in der Augur Lane verschanzte sich Jackaby allein in seinem Labor. Ich hatte mich erboten, ihm bei der Versorgung der kleinen pelzigen Chamäleomorphe zu helfen, aber er scheuchte mich mit einer Handbewegung hinaus und schlug die Tür hinter mir zu. Ich trödelte durch den verschachtelten Flur in den Eingangsbereich zurück, wo ich mich auf den Stuhl hinter meinen Schreibtisch sinken ließ und beschloss, mich wieder in meine tägliche Arbeit zu stürzen. Jackabys unzählige Stapel zerknitterter Quittungen und alter Fallakten mussten nach wie vor dringend geordnet werden. Doch je weiter der Nachmittag voranschritt, desto mehr verweigerte mein Verstand die Konzentration.

Ich hatte Jackaby erst vor Kurzem davon überzeugen können, dass ich nicht aus Porzellan war und demnach keineswegs in Watte gepackt werden musste. Allerdings war ich auch nicht gewillt, die Rolle des Elefanten im Porzellanladen zu übernehmen. Zugegeben, das Fisch-Fiasko war keine Glanzleistung gewesen, aber ich konnte im Außeneinsatz sehr gute Dienste leisten. Konnte ich. Ich stopfte eine weitere, längst in Vergessenheit geratene Quittung in den staubigen Aktenschrank hinter mir und runzelte missmutig die Stirn. Nichts machte mich so reizbar wie das Gefühl, nutzlos zu sein.

Es war nicht so, dass ich die Bedenken meines Arbeitgebers nicht verstand. Mein Posten als Assistentin des führenden und vielleicht einzigen Detektivs für Ungeklärtes und Übernatürliches war in mancherlei Hinsicht wundersam – aber es ließ sich nicht bestreiten, dass er auch gefährlich war. Jackabys verrücktes Laboratorium sah aus, als wäre es eigens dazu eingerichtet, Frankensteins Monster erstehen zu lassen, und in der Bibliothek lauerten bedrohliche Schatten, die über den Boden krochen und sich an meine Fersen hefteten, wenn ich der Abteilung mit den gefährlichen Dokumenten zu nahe kam. Ich war umgeben von Tierschädeln und finster dreinblickenden Skulpturen fremder Gottheiten. Selbst der harmlos aussehende graugrüne Frosch in dem Terrarium neben mir, den Jackaby Ogden nannte, hatte die Angewohnheit, aus seinen Augen ein übel riechendes Gas auszustoßen, wenn er sich bedroht fühlte. So war das Leben mit meinem Arbeitgeber eine Mischung aus Aberwitz und Gefahr, und all das, ohne das Haus überhaupt verlassen zu haben.

Bei meinem ersten Außeneinsatz wäre ich in einer Auseinandersetzung mit einem blutrünstigen Schurken beinahe umgekommen. Ganz wie die unbesonnene holde Maid aus einem meiner Romane hatte ich sämtliche Warnungen in den Wind geschlagen und mich geradewegs in Lebensgefahr begeben. Ich gab es nur ungern zu, aber ohne Jackabys Einschreiten wäre ich vermutlich tot, und ich wäre nicht die Einzige.

»Tut es noch weh?«, riss mich eine leise Stimme in die Gegenwart zurück.

Jenny Cavanaugh war in den Raum hereingeweht. Ihre silbrigen Füße schwebten knapp über den Holzdielen und ihr durchscheinendes Haar wogte in sanften Wellen hinter ihr her. Ohne es zu merken, hatte ich die Hand gehoben und mir über die kleine Narbe auf meinem Brustbein gestrichen – ein Andenken an jene besagte Nacht, die fast tödlich geendet hätte. Hastig ließ ich die Hand wieder fallen.

»Nein, es geht mir gut. Ich war nur in Gedanken.«

»Gute oder schlechte Gedanken?« Mit einer anmutig fließenden Bewegung hielt sie inne und beugte sich über den Schreibtisch zu mir vor. Seit meiner Ankunft in New Fiddleham war Jenny meine engste und liebste Freundin geworden. Auch wenn sie körperlos war, hatte ihr Ratschlag stets Hand und Fuß.

»Ich habe heute einen Außeneinsatz verpatzt.«

»Ist jemand zu Schaden gekommen?«

»Bloß eine Kristallschüssel – und beinahe auch ein Fisch, der kein Fisch ist.«

Sie zog eine schimmernde Augenbraue hoch.

»Es war ein typischer Jackaby-Fall«, erklärte ich und senkte den Blick.

Jenny nickte. »Dann klingt es einleuchtend. Mach dir wegen Jackaby keine Gedanken. Er wird sich schon wieder beruhigen. Er selbst hat auch schon jede Menge Aufträge verpatzt, ganz ohne deine Hilfe.«

»Ich weiß. Es geht auch eigentlich nicht um Jackaby – es ist bloß …« Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und ließ mich auf dem Stuhl zurücksinken. »Es geht um alle. Um alle, die mir ständig sagen, ich könne dies nicht und solle jenes nicht. Meine Eltern. Und vor allem ich selbst. Auf eine merkwürdige Art bin ich sogar froh, dass Jackaby von mir enttäuscht ist. Erzähl ihm das bloß nicht, aber es ist schön, jemanden zu haben, der ausnahmsweise einmal tatsächlich etwas von mir erwartet. Aber das macht es umso schwerer, das Geschehene nicht zu bereuen.«

Jennys Blick wanderte zu ihrer durchscheinenden Hand hinunter. »Das verstehe ich«, sagte sie leise. »Es tut gut, als ebenbürtig angesehen zu werden. Das war einer der Gründe, warum ich vor all den Jahren Ja gesagt habe.« Jennys Verlobungsring war ein schmaler Reif, ein gespenstischer Schemen aus Silber, der aufgrund ihrer eigenen silbrigen Beschaffenheit kaum zu sehen war. Ich hielt den Atem an, als sie das Metall zärtlich berührte. Jenny sprach nur selten über die Zeit vor ihrem Tod. »Auch wenn es schwer vorstellbar sein mag«, sie hob den Blick, »aber ich habe selbst einiges zu bereuen.«

Ich schluckte. »Jenny …«

Ihre Miene hellte sich auf und sie lächelte mir sanft zu. »Hör auf zu grübeln, Abigail. Überlass die Vergangenheit uns Geistern und überlege dir, welchen Weg du als Nächstes einschlagen willst. Abgesehen davon ist Jackaby zwar großartig darin, Außergewöhnliches wahrzunehmen, aber du weißt, dass er auf gänzlich verlorenem Posten steht, wenn es um Gewöhnliches geht. Wenn du ihn also beeindrucken willst, dann grüble nicht über deine Schwächen nach, sondern über seine. Was hat er übersehen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es war ein recht banaler Fall – oder so banal, wie seine Fälle eben sein können. Die ganze Sache dauerte nur wenige Minuten. Er hat die Kreatur sofort bemerkt – und einen ganzen Wurf ihrer Kätzchen.«

»Ich dachte, es wäre ein Fisch.«

»Es sind fischige Kätzchen. Eine längere Geschichte. Du weißt, dass Jackaby niemand ist, der ein gewöhnliches Haustier mit nach Hause bringt.« Ich schwieg. Im hintersten Winkel meines Verstandes blitzte zaghaft ein Gedanke auf. »Aber Mrs Beaumont ist zweifellos so jemand«, sagte ich. »Und sie schien zu glauben, dass sie genau das auch getan hat.«

»Wieso musst du bloß ständig in Rätseln daherreden, Abigail?«, neckte Jenny.

»Tue ich nicht. Ich wundere mich nur«, sagte ich. »Jackaby sagte, diese Geschöpfe seien sehr selten und nicht hier beheimatet. Also, woher kommt Mrs Wiggles?«

»Jetzt sieh dich nur an, wie wissbegierig und konzentriert du bist.« Jenny lächelte liebevoll. »Allmählich glaube ich, du und Jackaby, ihr seid beide aus demselben Holz geschnitzt.«

Bevor ich etwas erwidern konnte, wurde dreimal laut an die Haustür geklopft, und ich fand mich im selben Augenblick allein im Raum wieder. Ich flüsterte der Stelle, an der Jenny gerade noch geschwebt hatte, ein leises »Danke« zu und stand auf, um unseren Besuch zu empfangen.

4

Beim Durchqueren der Eingangshalle warf ich kurz einen Blick aus dem Fenster. Draußen auf der Straße stand ein robust aussehendes Gefährt, vor das zwei große, kräftige Pferde gespannt waren. Im Gegensatz zu den eleganten schwarzen Droschken und den schnittigen zweisitzigen Hansom Cabs, die man gewöhnlich in der Stadt sah, wirkte der wuchtige Holzkarren eher wie die Mischung aus einer modernen Postkutsche und der Art von Planwagen, wie sie die Siedler in meinen Wildwest-Abenteuerheften fuhren. Vor den grauen Gebäuden des Geschäftsviertels wirkte er erfreulich rustikal und deplatziert.

Es war daher keine allzu große Überraschung, als mich beim Öffnen der Tür Hank Hudsons buschiger Bart und sein breites Grinsen begrüßten.

»Mr Hudson! Wie schön, Sie wiederzusehen.«

»Ach, nennen Sie mich Hank, kleine Lady, das genügt völlig.«

»Bitte treten Sie ein. Ich werde Mr Jackaby sagen, dass Sie hier sind.«

Ich hängte Hank Hudsons Mantel an den Garderobenhaken neben der Tür und versuchte, das scharfe Beil, das von seinem Gürtel herabbaumelte, und das lange Bowiemesser, das er auf der anderen Seite umgeschnallt hatte, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er hatte sich bei dem Zeitungsjungen gegenüber die heutige Ausgabe geholt und wedelte damit vor meiner Nase herum, als ich ihn über den verschachtelten Flur begleitete.

»Elektrische Straßenlaternen, hier in New Fiddleham! Was sagt man dazu? Und noch in diesem Jahr – so steht es jedenfalls in der Zeitung. Man merkt, dass die Bürgermeisterwahl ansteht und der Mann unbedingt wiedergewählt werden will. Auf dem Seeley’s Square hat man schon welche aufgestellt. Ha! Ich weiß noch, wie sie die ersten Gasleitungen verlegt haben!«

Ich nickte. »Commissioner Marlowe sagt, inzwischen sei sogar die Rede davon, Telefonleitungen bis in die ländlicheren Ortschaften zu verlegen.«

Hank Hudson schüttelte verwundert den Kopf und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Die Welt verändert sich in einem Höllentempo. Trotzdem begnüg ich mich lieber mit den Sternen am Himmel und der Erde unter meinen Füßen. Ich bin froh, dass Gad’s Valley ein bisschen rückständig ist. Bin wohl selbst ein bisschen rückständig, nehme ich an.«

Wir hatten das Ende des Flurs erreicht und ich klopfte leise an die Labortür. »Ich muss Sie warnen«, flüsterte ich. »Mr Jackaby ist heute ein wenig übellaunig …«

Die Tür flog auf, und mein Arbeitgeber stand vor uns, einen langen Stab in der Hand haltend, an dessen Ende ein halb geschmolzener Metallknauf prangte. Eine Schutzbrille aus Messing saß zurückgeschoben auf seinem Kopf, was seine ohnehin ungebärdigen Locken in wilden Büscheln nach oben zwang. Er lächelte strahlend und warf begeistert die Hände hoch, wobei er den Türrahmen mit dem Metallstab streifte. »Hudson! Günstiger Zeitpunkt! Komm rein!«

Das übliche Chaos in diesem Raum stand in voller Blüte. In den Messinghalterungen entlang der Wände und Fensterbänke steckten mit diversen farbenfrohen Flüssigkeiten gefüllte Messbecher und Reagenzgläser, hinter der Tür stand ein brodelnder Kupferkessel, aus dem Rohrleitungen wie Spinnenbeine herausragten, und über allem schwelte ein eigenartiger Geruch nach Erdbeeren und Schwefel. Jede verfügbare Oberfläche war mit massiven Glasplatten und schmalen Metallstreben bedeckt. Jackaby hatte aus einem stattlichen Terrarium eine Glasscheibe herausgenommen und das Behältnis vergrößert, indem er ein paar neue Wände hinzugefügt hatte. In einer Ecke standen der verbeulte Blecheimer und die Kiste von heute Morgen, und ein leises Maunzen sagte mir, dass die Kätzchen noch darin waren.

Jackaby durchquerte das Labor und stellte die heiße blaue Flamme eines Bunsenbrenners ab, den Metallstab ließ er daneben fallen. »Du hast schon weitaus mehr Tiergehege gebaut als ich«, sagte er. »Denkst du, du kannst mir dabei helfen, einen etwas größeren Käfig zu errichten? Ich könnte beim Löten noch ein zweites Paar Hände gebrauchen.«

Hudson warf seine Zeitung auf den Tisch und schritt vergnügt auf das Bauvorhaben zu, um die frisch zusammengefügten Verbindungsstücke zu inspizieren.

»Sie hätten doch mich hinzuziehen können, Sir«, sagte ich. »Schließlich bin ich dazu da, Ihnen zu assistieren – und ich kann sehr viel mehr als nur Papiere sortieren. Tatsächlich habe ich gerade über einen neuen Ermittlungsansatz zu unserem jüngsten Fall nachgedacht.«

»Nehmen Sie es nicht persönlich, Miss Rook. Hudson und ich haben früher schon bei ähnlichen Unterfangen zusammengearbeitet. Wir haben jeder unser Fachgebiet, und Tiere einzupferchen gehört nun einmal zufällig zu seinen. Die Geschöpfe, denen er nachstellt, sind allerdings zumeist noch am Leben.«

Hudson schaute von dem Glaskasten auf. »Wär auch keine große Leistung, tote Tiere zu jagen, oder?«

»Ich glaube, mein Arbeitgeber spielt damit auf die Jagd nach Fossilien an, die genau genommen eine ziemliche Herausforderung ist. Die Beute der Paläontologen mag vielleicht nicht davonrennen, sie tendiert jedoch dazu, sich kreuz und quer in der Landschaft zu verteilen und sich in Form von winzigen Stückchen in hartem Felsgestein einzunisten.«

»Dinosaurier, was? Ich wette, Sie freuen sich wie ein Schneekönig über den Fund unten im Tal.«

»Welcher Fund? Hat man irgendwo Fossilien entdeckt?«, fragte ich.

Hudson zeigte mit dem Finger zur Zeitung auf dem Tisch. »Jep. In Gad’s Valley. Ein Farmer hat beim Pflügen an einem Berghang welche ausgegraben. Die Stelle liegt nur ein paar Meilen von meiner Hütte entfernt. Ich kenne Hugo Brisbee schon eine Ewigkeit. Guter Mann, aber seine Farm scheint immer nur knapp dem Ruin zu entgehen – eine schlechte Ernte, und es ist aus. Er hat die Knochen gefunden. Anscheinend sollte er sie aber etwas besser im Auge behalten. Hier, sehen Sie selbst.«

Ich blätterte durch die Zeitung, bis ich den Artikel gefunden hatte. Die Sache verhielt sich so, wie Hank Hudson sagte. Der Bericht war von einer Nellie Fuller verfasst und lautete folgendermaßen:

Phänomenaler Fund führt zu Fiasko auf Farm

Gad’s Valley dürfte wohl der Inbegriff für ein einfaches und beschauliches Leben auf dem Land sein. Für einen der dortigen Farmer allerdings verlief die vergangene Woche alles andere als beschaulich. Tod, Dinosaurierknochen und ein Raub am helllichten Tag haben die Bewohner der ländlichen Gegend in Aufruhr versetzt.

Beim Umpflügen eines bisher ungenutzten Stück Ackerbodens in den Hügeln hinter der Farm der Familie Brisbee war am vergangenen Mittwoch ein großes prähistorisches Skelett entdeckt worden. Der Fund zog schnell die Aufmerksamkeit sowohl hiesiger wie auch ausländischer Experten auf sich.

Die Ausgrabungsarbeiten werden jedoch von einigen erschütternden Ereignissen überschattet. Zuerst und vor allem von der Tatsache, dass gestern an der Grabungsstätte die 64-jährige Madeleine Brisbee tot aufgefunden wurde. Da sie seit einigen Wochen erkrankt war, ist davon auszugehen, dass ihr Herz vor Überanstrengung stehen geblieben ist. Ein Verdacht auf Fremdeinwirkung besteht nicht.

Über diesen tragischen Verlust hinaus wird das Voranschreiten der Grabungen von einem weiteren beunruhigenden Vorkommnis behindert. Hugo Brisbee, der 67-jährige Ehemann der Verstorbenen, war gerade erst von den Vorbereitungen für die Beisetzung seiner Frau zurückgekehrt, als er erfuhr, dass von der Ausgrabungsstätte ein Gegenstand von unschätzbarem Wert entwendet worden war. Die Ermittlungen hinsichtlich des Diebstahls dauern noch an.

Mr Brisbee steht seit der Entdeckung des Fossilienfundes in Briefkontakt mit dem namhaften amerikanischen Paläontologen Lewis Lamb. Lamb, Professor an der geologischen Fakultät der Universität von Glanville, wurde mit der Leitung der Grabungsarbeiten betraut. Seine Ankunft wird für diese Woche erwartet. Eines steht fest: Den tragischen Umständen zum Trotz wird der Ackerboden der Familie Brisbee dieses Jahr einiges mehr hergeben als Karotten und Kohlköpfe.

»Das müssen Sie lesen, Mr Jackaby! Wir sollten der Sache unbedingt nachgehen!«

Jackaby nahm die Zeitung stirnrunzelnd entgegen und überflog den Artikel kurz. »Hmm. Das ist in der Tat interessant.«

»Mehr als interessant, es ist fantastisch. Ich meine, für die arme Frau ist es natürlich sehr betrüblich, aber das ist doch genau unsere Art von Fall! Der dreiste Diebstahl eines wissenschaftlichen Relikts von unschätzbarem Wert. Glauben Sie, wenn wir das fehlende Fossil ausfindig machen, würde man mich auch bei der Ausgrabung helfen lassen?«

»Wie bitte?« Jackaby schaute von der Zeitung auf. »Sie haben bereits eine Aufgabe, Miss Rook – und ich sprach nicht von der Sache mit dem Dinosaurier. Hier, fällt Ihnen irgendetwas Besonderes auf?« Er hielt mir die Zeitung vor die Nase.

Auf der dem Ausgrabungsartikel gegenüberliegenden Seite reihte sich ein halbes Dutzend kürzerer Meldungen um mutwillige Sachbeschädigungen, kleinere Diebstähle und vermisste Personen aneinander. »Der seiner Arbeit ferngebliebene Professor?«, riet ich. »Höchst ungewöhnlich für den Inhaber eines Lehrstuhls, derart pflichtvergessen zu sein, nehme ich an.«

»Unsinn! Cordovan’s Schuhmacherei. Dort.« Jackaby zeigte auf eine kleine Notiz aus nur zwei Sätzen.

Der Eintrag verkündete kurz und knapp, dass in der vergangenen Woche ein unbekannter Schurke gleich drei Mal in eine Schuhmacherwerkstatt eingebrochen war.

»Sie scherzen wohl, Sir. Da steht, der Schuster konnte nicht einmal feststellen, ob irgendetwas gestohlen wurde. Das ist zwar ärgerlich, aber doch kein Fall.«

»Sie meinen Korduanschuhmacher, nicht Schuster«, berichtigte mich Jackaby. »Schuster machen nur Reparaturarbeiten. Wissen Sie, wer dafür bekannt ist, heimlich in Schuhmacherläden zu schlüpfen, ohne etwas mitzunehmen?«

»Sagen Sie jetzt bitte nicht, Hausgeister und Wichtelmännchen, Sir.«

»Hausgeister und Wichtelmännchen!«

»Da steht aber nicht, ›Sie nähten ein hübsches Paar Schuhe für ihn‹, da steht lediglich, dass dort eingebrochen wurde. Es ist wahrscheinlich bloß irgendein armer Vagabund, der einen trockenen Schlafplatz gesucht hat. Es sind keine Wichtelmännchen.«

»Es könnten aber Wichtelmännchen sein.«

»Es könnten auch Elefanten sein – was nicht der Fall ist. Ich bitte Sie, Sir, wann werden wir noch einmal Gelegenheit bekommen, echte Dinosaurierknochen aufzuspüren?«

Gegen die Arbeitsfläche gelehnt verfolgte Hank Hudson unseren Wortwechsel.

»Ich verstehe wirklich nicht, was Sie an alten Knochen so interessant finden, Miss Rook«, sagte Jackaby.

»Sagten Sie nicht, Sie seien ein Mann der Wissenschaft? Die Paläontologie ist eine Wissenschaft, noch dazu eine sehr faszinierende! Sie müssen doch auch ein wenig neugierig sein.«

»Man kann alles wissenschaftlich untersuchen. Auch die Pedologie ist eine fundierte Wissenschaft, dennoch habe ich keinerlei Interesse daran, auf Schmutz zu starren. Ich ziehe es vielmehr vor, meine Zeit der Untersuchung dringlicher, wirklichkeitsnaher Fälle zu widmen und mich auf Begegnungen vorzubereiten, die auch tatsächlich denkbar sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendwann einmal einem Dinosaurier gegenüberstehen werde? Äußerst gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass heute Nacht ein geheimniskrämerischer kleiner Wicht erneut in Cordovan’s Schuhmacherei einbricht?« Er hielt mir die Seite erneut vor die Nase. »Überaus hoch.«

Hank Hudson lachte herzlich und klopfte Jackaby auf die Schulter. »Ha! Du hast dich kein bisschen verändert, R. F. Jetzt komm schon, gönn dem Mädchen doch den Spaß. Was halten Sie davon, wenn ich Sie nach Gad’s Valley mitnehme, Miss Rook? Gleich morgen früh mach ich mich auf den Weg nach Gadston. Hab geschäftlich dort in der Stadt zu tun, aber ich könnte Sie vorher im Tal absetzen und mit Mr Brisbee bekannt machen. Na ja, das heißt … wenn Ihnen Ihr griesgrämiger Boss ein paar Tage freigibt.« Er stupste Jackaby an, der die Augen verdrehte. Ich mochte Hank Hudson sogar noch mehr als vorher.

»Kommt überhaupt nicht infrage«, sagte Jackaby. »Das letzte Mal, als ich einem Assistenten gestattet habe, eine Ermittlung alleine durchzuführen, kehrte er als Wasservogel zurück. Ich brauche jemanden, der im Haus Ordnung hält, sonst werde ich nachher wieder alles allein machen müssen.«

»Das wirst du in jedem Fall müssen, wenn du sie verscheuchst, R. F.« Hudson stieß Jackaby mit der Schulter an. »Du hast doch so scharfe Augen – schau dir die Kleine mal genau an. Und dann sag ehrlich: Sieht sie aus wie ein Mädchen, das sich ein Abenteuer entgehen lässt, wenn sie sich erst mal an einer Sache festgebissen hat? Keine schlechte Eigenschaft in deinem Metier.«

Ich spürte den bohrenden Blick meines Arbeitgebers eine Weile auf mir ruhen und widerstand nur mühsam dem Drang, mit den Füßen zu scharren. Jackaby holte tief Luft. »Mag sein. Sie hat jedoch vorerst noch an unserem jüngsten Fall zu knabbern. Sagten Sie nicht vorhin etwas von einem neuen Ermittlungsansatz, Miss Rook?«

Stumm verfluchte ich seine scharfe Wahrnehmung. »Ach so, das. Es hat sicher nichts zu bedeuten.«

»Sie verstehen sich besser aufs Papieresortieren als aufs Lügen.« Jackaby warf mir einen Blick unter hochgezogener Augenbraue zu.

»Ich habe vorhin ein wenig nachgedacht«, gab ich zu. »Und mir fiel auf, dass wir Mrs Beaumont nicht gefragt haben, wo sie ihre Katze gekauft hat. Es könnte vielleicht wichtig sein – es könnte aber ebenso gut überhaupt nichts zu bedeuten haben.«

»Oder es könnte alles zu bedeuten haben.« Jackabys Augen verengten sich. »Es verdient auf jeden Fall eine weitere Überprüfung. Wir werden Mrs Beaumont morgen früh noch einmal aufsuchen. Ich bedaure, Miss Rook, aber wir müssen New Fiddleham zuerst vor ausgewilderten perfiden Prädatoren schützen, bevor wir auf der Jagd nach einem vertrockneten Knochenstück irgendwo in der Gegend herumscharwenzeln.«

Hank Hudsons Lächeln blieb unverändert, aber in seinen Augen glomm ein interessierter Funke auf. »Gibt es da vielleicht etwas, das du vergessen hast, mir zu erzählen?«

Jackaby wandte sich mit einem verschmitzten Grinsen wieder dem Trapper zu. »Was glaubst du wohl, warum wir dieses Gehege bauen?«

Mein Arbeitgeber sprach in Gegenwart anderer Leute selten offen über die Art seiner Fälle – was möglicherweise mit der Tatsache zu tun hatte, dass andere Leute dazu neigten, ihn auszulachen, zu verhöhnen oder Gegenstände nach ihm zu werfen, wenn er allzu freimütig darüber redete. Als er nun jedoch Hank Hudson die Sache mit den Chamäleomorphen erklärte, hielt er mit nichts hinter dem Berg. Die Augen des Trappers strahlten beim Zuhören vor Begeisterung.

»Moment mal – die Makrele, die ich für dich eingefangen hab, war eins von diesen Kamel-Morphy-Dingern? Sah nach gar nichts aus – schwörst du, dass du mir nicht bloß einen Bären aufbindest, R. F.? Du weißt, dass ich ’ne Schwäche für seltene Tierarten hab.«

»Möchtest du ihre Kätzchen sehen?«, fragte Jackaby.

»Der Fisch hat Kätzchen?«

In Hank Hudsons große Handfläche passten drei von den kleinen Fellknäuel hinein und er streichelte ihre Ohren und flauschigen Rückenflossen mit bemerkenswerter Sanftheit.