JACKABY - William Ritter - E-Book
SONDERANGEBOT

JACKABY E-Book

William Ritter

4,6
6,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

New Fiddleham 1892: Neu in der Stadt und auf der Suche nach einem Job trifft die junge Abigail Rook auf R. F. Jackaby, einen Detektiv für Ungeklärtes mit einem scharfen Auge für das Ungewöhnliche, einschließlich der Fähigkeit, übernatürliche Wesen zu sehen. Abigails Talent, gewöhnliche, aber dafür wichtige Details aufzuspüren, macht sie zur perfekten Assistentin für Jackaby. Bereits an ihrem ersten Arbeitstag steckt Abigail mitten in einem schweren Fall: ein Serienkiller ist unterwegs. Die Polizei glaubt, es mit einem gewöhnlichen Verbrecher zu tun zu haben, aber Jackaby ist überzeugt, dass es sich um kein menschliches Wesen handelt ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 386

Bewertungen
4,6 (30 Bewertungen)
21
5
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER AUTOR

Foto: © Katrina Santoro

William Ritter hat an der University of Oregon studiert und unter anderem Kurse in Trampolinspringen, Jonglieren und zum Italienischen Langschwert aus dem 17. Jahrhundert belegt. Er ist verheiratet, stolzer Vater und unterrichtet Literatur an einer Highschool. »Jackaby« ist sein erster Roman.

William Ritter

JACKABY

Aus dem Englischenvon Dagmar Schmitz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2016

© 2014 by William Ritter

Die amerikanische Originalausgabe

erschien 2014 unter dem Titel

JACKABY bei Algonquin Books, New York.

Published by arrangement with Algonquin Books of Chapel Hill, a division of Workman Publishing Company, Inc., New York.

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Dagmar Schmitz

Lektorat: Stefanie Rahnfeld

Umschlaggestaltung: init | Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen

Coverdesign: jdrift design unter Verwendung eines Fotos von © Raven Cornelissen / BirdsistersStock

he ∙ Herstellung: TG

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-17704-1V001

www.cbt-buecher.de

Für Jack, der mich dazu bringt, unmögliche Dinge schaffen zu wollen, und für Kat, die mich beharrlich darin bestärkt, dass ich es kann und in die Tat umsetze.

1

Es war Ende Januar und New England trug einen Mantel aus frisch gefallenem Schnee, als ich über die Landungsbrücke von Bord ging. New Fiddleham lag in der einsetzenden Dämmerung vor mir, Laternenschein umspielte die vereisten Gebäude, die das Ufer des Hafenviertels säumten, und ließ ihr Mauerwerk wie in der Dunkelheit funkelnde Diamanten aussehen. Im Tiefschwarz des Atlantiks spiegelte sich das Licht der Gaslaternen und tanzte mit den Wellen auf und ab. Ich eilte über den Anlegesteg. Alles, was ich auf meiner Reise mitführte, trug ich in einem einzigen Koffer. Nach den vielen Wochen auf See fühlte sich der feste Boden unter meinen Füßen ungewohnt an und die ringsum aufragenden Gebäude zeichneten sich unheildrohend gegen den Abendhimmel ab. Ich würde diese Stadt noch gut kennenlernen, aber im kalten Winter 1892 waren jedes helle Fenster und jede dunkle Gasse fremd, voller unbeschreiblicher Gefahren und verlockender Geheimnisse.

New Fiddleham war keine alte Stadt – verglichen mit denen, die ich auf meiner Reise gesehen hatte –, aber sie präsentierte sich mit der Pracht und steinernen Unverrückbarkeit einer europäischen Hafenmetropole. Ich hatte Bergdörfer in der Ukraine bereist, Städte in Polen und Deutschland gesehen und so manche in meiner englischen Heimat, dennoch fiel es mir schwer, mich von der surrenden und pulsierenden Betriebsamkeit des amerikanischen Hafens nicht einschüchtern zu lassen. Auch als das letzte Dämmerlicht vom Himmel verschwand, wimmelte es dort noch von geschäftig umhereilenden Gestalten.

Ein Ladenbesitzer schloss sein Geschäft für die Nacht ab und verriegelte die Fensterläden. Matrosen auf Landgang schlenderten auf der Suche nach ungezügeltem Vergnügen, für das sie ihr sauer verdientes Geld ausgeben konnten, an den Docks entlang – und Frauen in tief ausgeschnittenen Kleidern schienen sich schon darauf zu freuen, ihnen dabei behilflich zu sein. Ich sah einen Mann, der mich an meinen Vater erinnerte: selbstbewusst und erfolgreich, wahrscheinlich auf dem Weg nach Hause, nachdem es wieder einmal spät geworden war und er den Abend mit seiner wichtigen Arbeit anstatt mit seiner Familie verbracht hatte.

Eine junge Frau auf der anderen Seite des Hafenbeckens zog ihren Wintermantel enger um sich und senkte den Kopf, als eine Horde Matrosen an ihr vorüberzog. Ihre Schultern bebten – nur ein ganz klein wenig –, doch sie ging weiter, ohne sich vom ausgelassenen Lachen der Männer von ihrem Kurs abbringen zu lassen. In ihr sah ich mich selbst: ein eigenwilliges Mädchen, das ohne Begleitung unterwegs war, irgendwohin, nur nicht nach Hause.

Eine plötzlich aufkommende kalte Böe fegte über die Anlegestelle und kroch unter den verschlissenen Saum meines Kleides und durch die Nähte meines dicken Mantels hindurch. Ich musste meine alte Tweed-Schirmmütze mit der Hand festhalten, damit sie mir nicht weggeweht wurde. Es war eine Kopfbedeckung für Knaben – mein Vater nannte sie Zeitungsjungenmütze –, aber ich hatte mich in den letzten Monaten an sie gewöhnt und fühlte mich wohl damit. Ich ertappte mich dabei, mir ausnahmsweise einmal zu wünschen, die vielen überflüssigen Unterröcke angezogen zu haben, von denen meine Mutter immer behauptete, sie seien unerlässlich für die angemessene Kleidung einer Dame. Der Schnitt meines schlichten grünen Kleides war zwar hervorragend dazu geeignet, zügig auszuschreiten, aber sein dünner Stoff trug nichts dazu bei, die eisige Kälte abzuhalten.

Ich stellte meinen Mantelkragen gegen den Schnee auf und eilte weiter. In meinen Taschen klimperte eine Handvoll Münzen, die mir von meiner Arbeit im Ausland noch geblieben waren. Sie würden mir nichts als Mitleid einbringen, und das auch nur, wenn ich sehr gut verhandelte, das war mir klar. Aber die fremden Gesichter auf den Geldstücken erzählten eine Geschichte, und ich war froh über ihre klingende Begleitung, während ich durch den knirschenden Pulverschnee auf ein Gasthaus zustapfte.

Ein Gentleman in einem langen braunen Mantel, den Schal fast bis zu den Augenbrauen hochgezogen, verließ das Lokal gerade und hielt mir beim Eintreten die Tür auf. Ich schüttelte mir die Schneeflocken von den Schultern, hängte Schirmmütze und Mantel neben der Tür auf und stellte meinen Koffer darunter ab. Es roch nach Eichenmöbeln, Brennholz und Bier und die Hitze eines kräftig lodernden Kaminfeuers brachte meine Wangen zum Glühen. Ein halbes Dutzend Gäste saß um drei oder vier schlichte runde Holztische verstreut.

Am anderen Ende des Raumes stand ein Klavier, die Bank davor war unbesetzt. Ich konnte ein paar Stücke auswendig, schließlich hatte ich meine gesamte Schulzeit hindurch Klavierstunden nehmen müssen – meine Mutter bestand darauf, dass eine Dame ein Instrument beherrschen solle. Sie wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie gewusst hätte, dass ich ihre kultivierte Erziehung eines Tages zu einem derart gewöhnlichen Zweck einsetzen würde – noch dazu ohne Begleitung in einem amerikanischen Wirtshaus. Rasch schob ich jeden Gedanken an die erdrückende Vorsicht meiner Mutter beiseite, ehe ich versehentlich noch einen Sinn darin erkennen konnte. Stattdessen setzte ich mein bezauberndstes Lächeln auf und ging auf den Mann hinter der Theke zu. Er zog eine buschige Augenbraue hoch, was auf seiner Stirn ein Meer von Runzeln aufbranden ließ, die sich bis über seine Glatze zogen.

»Guten Tag, Sir«, sagte ich und stellte mich vor den Tresen. »Mein Name ist Abigail Rook. Ich komme gerade von Bord eines Schiffes und bin derzeit ein wenig knapp bei Kasse. Dürfte ich vielleicht auf Ihrem Klavier meinen Hut aufstellen und ein paar Lieder …«

»Es ist kaputt. Schon seit Wochen«, fiel mir der Wirt ins Wort.

Meine Bestürzung musste mir anzusehen gewesen sein, denn er schaute mich mitfühlend an, als ich mich zum Gehen wenden wollte. »Warten Sie.« Er zapfte ein schäumendes Bier und schob es mir mit einem freundlichen Augenzwinkern und einem Nicken über den Tresen zu. »Nehmen Sie doch einen Moment Platz, Miss, und warten Sie, bis es aufgehört hat zu schneien.«

Ich verbarg meine Überraschung hinter einem dankbaren Lächeln und zog einen der Hocker von der Bar neben das defekte Klavier. Während ich den Blick über die anderen Gäste schweifen ließ, hatte ich wieder die mahnende Stimme meiner Mutter im Ohr, die mir zuflüsterte, dass ich »wie diese Sorte Mädchen« wirken musste oder schlimmer noch, und dass die verkommenen betrunkenen Subjekte, die derartige Etablissements aufsuchten, mich belauern würden wie Wölfe ein verirrtes Schaf. Die verkommenen Subjekte schienen mich jedoch überhaupt nicht zu bemerken. Die meisten wirkten freundlich, wenn auch etwas müde nach einem langen Tag, und zwei von ihnen spielten weiter hinten im Raum artig eine Partie Schach. Dennoch fühlte ich mich mit dem Glas Bier in der Hand so unbehaglich, dass ich mich am liebsten mit einem Blick über die Schulter vergewissert hätte, ob nicht der Schuldirektor hinter mir auftauchte. Es war nicht das erste Mal, dass ich Alkohol trank, aber ich war es nicht gewöhnt, wie eine Erwachsene behandelt zu werden.

Ich betrachtete mein Spiegelbild in einem der teilweise von Raureif bedeckten Fenster. Es war noch kein Jahr her, dass ich die englische Küste hinter mir gelassen hatte, aber in der robusten jungen Frau, die mir entgegenblickte, erkannte ich mich kaum wieder. Die salzige Meeresluft hatte meinen Wangen etwas von ihrer Weichheit genommen und mein Gesicht war sonnengebräunt – zumindest für englische Verhältnisse. Statt ordentlich geflochten, von Bändern geziert und hübsch hochgesteckt, wie es meiner Mutter gefallen würde, waren meine Haare zu einem hastigen schlichten Knoten geschlungen, der womöglich etwas matronenhaft gewirkt hätte, wenn nicht der Wind ein paar Locken herausgezupft hätte, die mir nun in weichen Wellen um die Wangen fielen. Das Mädchen, das aus dem Schlafsaal der Universität geflohen war, gab es nicht mehr. Es war durch diese unbekannte junge Frau ersetzt worden. Ich zwang mich, meine Aufmerksamkeit an meinem Spiegelbild vorbei auf das weiße Flockengestöber draußen im Laternenlicht zu richten. Während ich an dem bitteren Getränk nippte, bemerkte ich allmählich eine Gestalt, die hinter mir stand. Ich drehte mich langsam um und verschüttete beinahe das Bier.

Es waren die Augen, glaube ich, die mich am meisten erschreckten, weit aufgerissen und mit forschend starrendem Blick. Die Augen – und die Tatsache, dass er nicht einmal einen halben Schritt von meinem Hocker entfernt stand, leicht vorgebeugt, sodass unsere Nasen beinahe aneinanderstießen, als ich mich zu ihm umdrehte.

Seine Haare waren schwarz oder von einem sehr dunklen Braun, und seine wilde Mähne besaß gerade genug Anstand, sich als zerzauster Strubbelkopf nach hinten zu legen, bis auf ein paar vereinzelte Strähnen, die ihm über die Schläfen fielen. Er hatte stark ausgeprägte Wangenknochen, und unter seinen Augen, deren hellgraue Iris an die Farbe von Wolken erinnerte, zeichneten sich dunkle Ringe ab. Seinem Blick nach hätte er mehrere Hundert Jahre alt sein können, doch sein Gesicht wirkte jung und er strahlte eine leidenschaftliche Energie aus.

Ich lehnte mich ein wenig zurück, um ihn von Kopf bis Fuß zu betrachten. Er war groß, dünn und hager und sein dicker brauner Mantel musste ebenso schwer sein wie er selbst. Er fiel ihm bis über die Knie und wurde durch das Gewicht mehrerer sichtlich vollgestopfter Taschen noch zusätzlich nach unten gezogen. Die Kragenaufschläge waren von einem Wollschal verdeckt, der fast so lang war wie der Mantel selbst und den ich als denjenigen wiedererkannte, an dem ich beim Eintreten vorbeigegangen war. Der Mann musste kehrtgemacht haben, um mir zu folgen.

»Hallo?«, brachte ich mühsam hervor, nachdem ich auf dem Hocker das Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Sie waren vor Kurzem in der Ukraine.« Es war keine Frage. Sein Tonfall klang ruhig und gelassen, aber auch ein wenig … amüsiert? Der Blick seiner grauen Augen huschte hin und her, als würde er jeden Gedanken erst ein paar Sekunden erforschen, bevor er ihn aussprach. »Sie sind über Deutschland gereist und haben anschließend eine ziemliche Entfernung auf einem recht großen Schiff zurückgelegt … das zum größten Teil aus Eisen bestand, möchte ich wetten.«

Er legte den Kopf schräg, während er mich musterte, nur schaute er mir dabei nicht direkt in die Augen, sondern hielt den Blick leicht abgewandt, als wäre er von meinen Haaren oder meinen Schultern hingerissen. Ich hatte in der Schule gelernt, wie ich mit der unerwünschten Aufmerksamkeit von Jungen umzugehen hatte, aber das hier war etwas vollkommen anderes. Der Mann brachte es fertig, mich interessiert zu betrachten und zugleich vollkommen gleichgültig zu wirken. Es war mehr als nur ein wenig beunruhigend, aber ich ertappte mich dabei, dass ich mindestens so fasziniert war wie aus der Fassung gebracht.

Ich lächelte ihn in allmählichem, wenn auch etwas spätem Begreifen an. »Ach, dann kommen Sie wohl auch gerade von der Lady Charlotte? Verzeihen Sie, aber sind wir uns an Deck begegnet?«

Der Mann wirkte einen kurzen Moment lang aufrichtig verblüfft und erwiderte endlich meinen Blick. »Lady wer? Wovon sprechen Sie?«

»Von der Lady Charlotte«, wiederholte ich. »Dem Handelsschiff aus Bremerhaven. Waren Sie kein Passagier?«

»Ich bin der Lady nie begegnet. Grässlicher Name.«

Der sonderbare dünne Mann fuhr fort, mich zu begutachten, offensichtlich war er weit mehr von meinen Haaren und den Nähten meiner Jacke beeindruckt als von meiner Konversation.

»Nun, wenn wir nicht zusammen gereist sind, woher wissen Sie dann … Ach so, Sie haben bestimmt einen Blick auf meinen Gepäckanhänger geworfen.« Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, lehnte mich aber weiter zurück, als sich der Mann noch näher vorbeugte, um mich prüfend zu mustern. Die Eichenholztheke bohrte sich unangenehm in meinen Rücken. Er roch schwach nach Gewürznelken und Zimt.

»Ich habe nichts dergleichen getan. Das wäre eine rüde Verletzung Ihrer Privatsphäre«, erklärte er kategorisch, während er einen Fussel von meinem Ärmel zupfte, daran schnupperte und ihn dann irgendwo in den Taschen seines ausgebeulten Mantels verstaute.

»Ich hab’s«, verkündete ich. »Sie sind Detektiv, stimmt’s?« Der Blick des Mannes hörte auf, hin und her zu huschen, und begegnete erneut meinem. Ich wusste, dass ich ihm diesmal auf die Spur gekommen war. »Ja, genau! Sie sind wie dieser Dingsda, dieser Mann in den Geschichten, der immer von Scotland Yard hinzugezogen wird, habe ich recht? Also, was war es? Lassen Sie mich raten … Sie haben Salzwasser an meinem Mantel gerochen und ein wenig eigenartig gefärbten Lehm an meinem Kleid entdeckt? War es das?«

Der Mann überlegte einen Moment, bevor er antwortete. »Ja«, sagte er schließlich. »So etwas Ähnliches.«

Er lächelte unmerklich, drehte sich dann auf dem Absatz um, schleuderte seinen Schal zurück und eilte Richtung Ausgang davon. Er zog sich eine Strickmütze über die Ohren, stieß die Tür auf und stemmte sich der eisigen Kälte und den Schneeflocken entgegen, die an ihm vorbei in den Raum hereinwirbelten. Während sich die Tür langsam hinter ihm schloss, fing ich zwischen den Rändern seines Schals und seiner Wollmütze noch einen letzten Blick aus wolkengrauen Augen auf.

Und dann war der Mann verschwunden.

Nach dieser seltsamen Begegnung fragte ich den Wirt, ob er mir etwas über den Fremden sagen könne. Der Mann lachte leise und verdrehte die Augen.

»Ich habe eine Menge Geschichten über ihn gehört und eine oder zwei davon könnten sogar wahr sein. Fast jeder hier weiß etwas über ihn zu erzählen. Stimmt’s, Jungs?« Einige der Einheimischen lachten und begannen bruchstückhaft kleine Anekdoten zum Besten zu geben, denen ich aber nicht wirklich folgen konnte.

»Erinnert ihr euch noch an die Sache mit der Katze und den Rüben?«

»Oder an den merkwürdigen Brand im Haus des Bürgermeisters?«

»Mein Cousin schwört auf ihn, aber der schwört ja auch, dass es Seeungeheuer und Meerjungfrauen gibt.«

Zwischen den beiden älteren Herren am Schachbrett hatte meine Frage einen anscheinend längst in Vergessenheit geratenen Disput neu entfacht, der sich nun blitzschnell zu einem handfesten Streit über Einfältigkeit und Aberglauben entzündete. Bald hatte jeder der beiden eine Gruppe von Anhängern um sich geschart, von denen die einen beharrlich behaupteten, der Mann wäre ein Scharlatan, während die anderen ihn als Gottesgeschenk priesen. Immerhin konnte ich aus dem verwirrenden Gezänk den Namen des seltsamen Fremden aufschnappen.

Er hieß Mr R. F. Jackaby.

2

Am folgenden Morgen hatte ich jeden Gedanken an Mr Jackaby verdrängt. Das Bett in meiner kleinen Kammer war warm und gemütlich und hatte mich lediglich eine Stunde Geschirrspülen und Fußbödenwischen gekostet – wobei der Gastwirt sehr deutlich gemacht hatte, dass es sich nicht um einen Dauerzustand handele. Ich zog die Vorhänge auf und ließ die Morgensonne hereinströmen. Wenn ich mein waghalsiges Abenteuer fortsetzen wollte, ohne mich unter einer Brücke einzurichten und von weggeworfenen Lebensmitteln zu ernähren – oder schlimmer noch, meinen Eltern schreiben und sie um Hilfe bitten zu müssen –, würde ich eine ordentliche Arbeit brauchen.

Ich wuchtete meinen Koffer aufs Bett und ließ das Schloss aufschnappen. Die Kleidungsstücke darin lagen jeweils an einem Ende des Koffers zusammengedrückt, als wäre es ihnen peinlich, miteinander gesehen zu werden. Auf einer Seite begannen sich feine Stoffe mit zart bestickten Säumen und Spitzenborten zu bauschen und dem Morgenlicht entgegenzustrecken, nachdem das Gewebe wieder atmen konnte. Den zarten Pastelltönen und dem unpraktischen Firlefanz gegenüber lagen ein paar staubbraune Baumwollarbeitshosen und einige äußerst zweckmäßige Hemdblusen. Eine Handvoll Leibwäsche und Handtücher nahmen bescheiden den Raum dazwischen ein und blieben friedlich unter sich.

Ich starrte auf mein Gepäck und seufzte. Das war alles, was ich besaß. Stück für Stück hatte ich die anderen Sachen aufgetragen, bis ich mich dieser Auswahl gegenübersah, die mein ganzes bisheriges Leben widerzuspiegeln schien. Ich konnte mich entweder als derber Bursche oder als lächerlicher Cupcake verkleiden. Ich zupfte eine frische Garnitur Unterbekleidung aus der Koffermitte, stopfte die feinen Stoffe gegen ihren stummen Protest wieder zurück und schlug entnervt den Deckel zu. Das schlichte grüne Kleid, das ich bei meiner Ankunft getragen hatte, hing über dem Bettpfosten. Ich nahm es herunter und hielt es gegen das Licht. Der Saum war schmutzig und zerfranst und noch feucht vom Schnee. Ich zog es dennoch an, warf mir den Mantel über, ergriff den Koffer und verließ das Gasthaus. Zuerst würde ich mich nach einer Arbeit umsehen müssen und danach nach neuer Garderobe.

Bei Tageslicht erschien mir New Fiddleham strahlend und verheißungsvoll. Es war immer noch klirrend kalt, als ich mich auf den Marsch durch die Stadt machte, aber die Kälte war nicht mehr ganz so schneidend wie gestern Abend. Mir lief ein hoffnungsvolles, aufgeregtes Kribbeln über den Rücken, während ich meinen Koffer die kopfsteingepflasterten Straßen entlangschleppte. Diesmal würde ich mir eine ganz gewöhnliche Anstellung suchen, beschloss ich. Meine vorige und bisher einzige wirkliche Erfahrung mit der Arbeitswelt rührte daher, dass ich leichtsinnigerweise dem Aufruf einer Reklame gefolgt war. EINMALIGE UND SPANNENDE GELEGENHEIT hatte sie in dick gedruckten Großbuchstaben verkündet und DIE CHANCE IHRES LEBENS und – wahrscheinlich das probateste Mittel, meine jugendliche Aufmerksamkeit zu fesseln – DINOSAURIER!

Ja, Dinosaurier. Mein Vater war Naturwissenschaftler. Seine Arbeit als Anthropologe und Paläontologe hatte in mir einen Forscherdrang geweckt, von dem er jedoch offenbar nicht wollte, dass ich ihn stillte. Obwohl ich mir nichts sehnlicher wünschte, als ihn bei seinen Ausgrabungen zu begleiten, kam ich mit seiner Arbeit allenfalls bei unseren gemeinsamen Ausflügen ins Museum in Berührung. Ich war eine ausgezeichnete Schülerin und konnte es kaum erwarten, auf die Universität zu gehen – bis ich herausfand, dass in derselben Woche, in der meine Vorlesungen beginnen sollten, mein Vater zur wichtigsten Ausgrabung seiner Laufbahn aufbrechen würde. Ich hatte ihn angefleht, studieren zu dürfen, und war außer mir vor Freude gewesen, als er und schließlich auch meine Mutter ihre Erlaubnis dafür gaben – aber nun fand ich die Vorstellung, mich mit verstaubten Lehrbüchern herumplagen zu müssen, während er tatsächlich Geschichte freilegte, unerträglich. Ich wollte wie mein Vater mitten im Geschehen sein und bat ihn, mitkommen zu dürfen, aber er weigerte sich. Eine Ausgrabungsstätte sei nicht der geeignete Ort für eine junge Dame, sagte er. Meine Aufgabe sei es, mein Studium zu beenden und einen netten Ehemann mit gesichertem Einkommen zu finden.

Und so kam es, dass ich eine Woche vor Semesterbeginn den Zettel mit dem Aufruf EINMALIGE UND SPANNENDE GELEGENHEIT von einer Litfaßsäule rupfte und mich mit dem Geld aus dem Staub machte, das meine Eltern für mein Studium zurückgelegt hatten, um mich einer Expedition in die Karpaten anzuschließen. Ich befürchtete, dass man ein Mädchen nicht mitnehmen würde, und besorgte mir bei einem Gebrauchtwarenhändler ein paar Hosen, die mir alle viel zu groß waren, aber ich krempelte sie einfach um und kaufte noch einen Gürtel dazu. Ich übte, mit tiefer Stimme zu sprechen, und stopfte meine langen braunen Haare unter die alte Schirmmütze meines Großvaters, von der ich überzeugt war, dass sie meine Verkleidung perfekt machen würde. Das Ergebnis war wirklich verblüffend. Es war mir gelungen, mich vollkommen zu verwandeln. Unübersehbar in ein albernes Mädchen, das sich als Junge verkleidet hatte. Wie sich jedoch herausstellte, war der Leiter der Ausgrabung so sehr damit beschäftigt, die nur notdürftig finanzierte und erbärmlich organisierte Expedition auf die Beine zu stellen, dass es ihn nicht einmal kümmerte, ob ich ein Mensch war, geschweige denn eine Frau. Er freute sich schlicht über jede helfende Hand, die bereit war, für eine armselige Tagesration zu arbeiten.

Die folgenden Monate konnten nur dann als eine »spannende Gelegenheit« bezeichnet werden, wenn die Definition von spannend lautete, monatelang das gleiche fade Essen zu sich zu nehmen, in unbequemen Hütten zu schlafen und bei einer vergeblichen Suche tagein, tagaus Schmutz und Steine zu schaufeln. Ohne irgendwelche Fossilien entdeckt zu haben und ohne weitere Gelder schlug die Expedition fehl, und ich musste selbst zusehen, wie ich von der osteuropäischen Grenze wieder nach Hause zurückfand.

Hör auf zu träumen und werde sesshaft!, schien die Lektion zu lauten, die zu lernen mich mehrere Monate und das Studiengeld eines ganzen Semesters gekostet hatte. Als Folge dieses völligen Scheiterns fand ich mich schließlich in einer deutschen Hafenstadt wieder, auf der Suche nach einer Schiffspassage zurück nach England. Ich sprach ein grauenhaftes Deutsch – im Grunde gar keins. Deshalb begriff ich auch erst mitten im Feilschen um den Preis für eine Koje auf einem großen Handelsschiff namens Lady Charlotte, dass der Kapitän keineswegs vorhatte, nach England auszulaufen, sondern nach einem kurzen Abstecher zu einem französischen Hafen den Atlantik Richtung Amerika überqueren würde.

Was mich dabei am meisten erschütterte, war die Erkenntnis, dass mir die Aussicht, über den Ozean nach Amerika zu segeln, weitaus weniger Angst machte als die Vorstellung, wieder nach Hause zurückzukehren. Ich weiß nicht, wovor ich mich mehr fürchtete: meinen Eltern unter die Augen zu treten oder mir das Ende meines Abenteuers eingestehen zu müssen, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte.

An diesem Nachmittag kaufte ich drei Dinge: eine Postkarte, eine Briefmarke und eine Schiffspassage auf der Lady Charlotte. Meine Eltern erhielten die Karte höchstwahrscheinlich zur gleichen Zeit, zu der ich die europäische Küste hinter mir verschwinden und den riesigen blauen Ozean sich im Nebel vor mir ausdehnen sah. Obwohl ich längst nicht mehr so naiv und hoffnungsvoll in die Welt blickte wie zu Beginn meiner Reise, erschien sie mir dennoch von Tag zu Tag größer und verheißungsvoller. Die Nachricht auf der Postkarte lautete kurz und bündig:

Liebste Eltern,

ich hoffe, es geht Ihnen gut. Ihr Hinweis, eine Ausgrabungsstätte sei nicht der geeignete Ort für eine junge Dame, hat sich als zutreffend erwiesen. Bin derzeit auf der Suche nach einem passenderen Ort.

Herzlichst,

A. Rook

In New Fiddleham angekommen, war ich nicht bereit, die Hoffnung auf ein Leben voller Abenteuer aufzugeben, sondern würde mir eine anständige Arbeit suchen, um es zu bestreiten.

Mein erster potenzieller Arbeitsplatz war ein Gemischtwarenladen. Bei meinem Eintreten bimmelte eine Glocke, und die Besitzerin, eine zartgliedrige ältere Frau, schaute von einem Holzgestell mit hoch aufgestapelten Mehlsäcken auf.

»Guten Morgen, meine Liebe! Ich bin gleich bei Ihnen.« Sie wuchtete einen der schweren Beutel in ein Regal hinter sich, blieb aber damit am Gestell hängen und geriet aus dem Gleichgewicht. Der Sack fiel zu Boden und zerplatzte in einer wogenden weißen Wolke. »Ach herrje! So ein Ärger! Könnten Sie noch einen Moment warten?«, sagte sie entschuldigend.

»Selbstverständlich. Bitte lassen Sie mich Ihnen helfen.« Ich stellte meinen Koffer neben der Tür ab und trat näher. Die Frau nahm mein Angebot dankbar an, und ich begann, die Säcke ins Regal zu hieven, während sie einen Besen und eine Kehrschaufel holte.

»Ich habe Sie noch nie hier im Laden gesehen«, bemerkte sie, als sie das Fiasko auffegte.

»Ich bin gerade erst mit dem Schiff angekommen«, erklärte ich.

»Dem Akzent nach würde ich sagen, Sie stammen aus London?«

»Aus einem Städtchen in Hampshire, ein paar Grafschaften weiter südwestlich. Waren Sie schon einmal in England?«

Die Frau hatte Amerika nie verlassen, hörte sich aber interessiert meine Geschichte an. Während wir angeregt plauderten, kümmerte ich mich einen nach dem anderen um die schweren Mehlsäcke. Nachdem ich den letzten im Regal verstaut hatte, schob sie das leere Holzgestell in einen Nebenraum und verschwand dort hinter ein paar Regalen mit Stoffen und Nähzubehör. Sie war noch nicht wieder aufgetaucht, als die Glocke erneut bimmelte und ein Mann mit einem buschigen Vollbart und rosigen Wangen den Laden betrat.

»Eine Dose Old Bart’s, bitte.«

Ich bemerkte, dass ich noch hinter der Ladentheke stand, und blickte mich hilflos nach der Besitzerin um. »Ähm, ich bin nicht … Ich weiß nicht …«

»Das ist Pfeifentabak, Kindchen. Er steht direkt hinter Ihnen, die Büchse mit dem gelben Etikett dort.«

Ich nahm die Dose, auf deren Vorderseite ein kerniger Matrose abgebildet war, aus dem Regal und stellte sie auf den Tresen. »Die Inhaberin wird jeden Augenblick zurück sein, Sir«, sagte ich.

»Ach was, Sie machen das schon.« Der Mann lächelte und begann ein paar Münzen abzuzählen.

Die Hände an ihrer Schürze abwischend, kam die alte Dame schließlich doch wieder zum Vorschein. »Oh, guten Morgen, Mr Stapleton!«, rief sie erfreut. »Eine Dose Old Bart’s?«

Ich schlüpfte hinter der Ladentheke hervor und ließ die Frau kassieren. »Ihr neues Mädchen gefällt mir«, sagte Mr Stapleton, bevor er den Laden verließ. »Keine Sorge, Kindchen, Sie bekommen den Bogen schon noch raus. Halten Sie nur den hübschen Kopf hoch.« Mit diesen Worten ging er hinaus und die Tür schloss sich bimmelnd hinter ihm.

»Was meinte er denn damit?«, fragte die Ladenbesitzerin.

»Das war ein Missverständnis.«

»Ach so. Na dann. Ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Hilfe danken, junge Dame.« Sie schob die Kasse zu. »Was darf ich denn für Sie tun?«

»Tja also … wenn Sie vielleicht noch mehr für mich zu tun hätten – ich meine, wenn Sie mir eine Arbeit …«

Sie lächelte bedauernd. »Tut mir leid, meine Liebe. Sie sollten es vielleicht im Postamt versuchen, dort gibt es immer viel zu tun. Ich habe hier alle Hilfe, die ich brauche.«

Mit einem kurzen Blick auf die Regalböden hinter ihr, die sich unter dem Gewicht der Mehlsäcke bogen, wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch ein wenig Hilfe gebrauchen können?«

Sie schickte mich mit einer Tüte Karamell-Konfekt meiner Wege, weil ich »so ein braves Mädchen« sei, was mein Selbstvertrauen als Erwachsene nicht unbedingt stärkte. Ich ergriff meinen Koffer und bemühte mich, Mr Stapletons Rat folgend, den hübschen Kopf hochzuhalten, während ich weiter in die Stadt hineinstapfte. Auf meinem Weg durch die vereisten Straßen New Fiddlehams traf ich auf noch mehr höfliche, aber bedauernd ablehnende Ladenbesitzer und Bürovorsteher. Es war eine imposante Stadt, und es fiel mir nicht leicht, die Orientierung zu behalten. Mir kam es so vor, als würden keine zwei Straßen länger als bis zur nächsten Ecke parallel verlaufen. Sie schienen eher aus praktischen Erwägungen heraus entstanden zu sein als nach städtebaulichen Plänen. Allmählich begann ich jedoch, in groben Umrissen die einzelnen Viertel auszumachen: eine Ansammlung prächtiger Geschäftshäuser hier, ein Straßenabschnitt mit zweckmäßigen, eher unscheinbaren Bürogebäuden dort und ein Industriebezirk, in dem sich die Gebäude zu lang gezogenen Fabriken erstreckten und hohe Schornsteine in den Himmel aufragten. In den Lücken dazwischen wuchsen Wohnviertel.

Die Straßen hatten jede ihren eigenen Charakter, mit breiten Bauten zu beiden Seiten, die sich dicht an dicht um die Vorherrschaft im Viertel drängten. Die Wege waren von Straßenhändlern bevölkert, die trotz des Schnees ihre Waren anpriesen, mit Kindern, die steile Anhöhen hochjagten, um sie auf ihren Seifenkisten-Schlitten wieder hinunterzurodeln, und von kreuz und quer aneinander vorbeihastenden Menschen, deren hämmernde Schritte zusammen mit dem Klang der Kutschenräder den Pulsschlag des Stadtlebens vorgaben.

Ich war schon seit zwei Stunden auf Arbeitssuche, als ich endlich im Postamt von New Fiddleham ankam. Entgegen den Andeutungen der Ladenbesitzerin hatte ich auch hier kein Glück. Als ich mich zum Gehen wandte, sprang mir allerdings etwas ins Auge. An einer großen Wandtafel voller Zettel, auf denen nach entlaufenen Haustieren gesucht und möblierte Zimmer angepriesen wurden, hing zwischen einer Zeichnung von einem vermissten Collie und der Mitteilung, dass in der Walnut Street ein Zimmer frei sei, ein zerknittertes Blatt Papier, von dem nur die Buchstaben SSISTENT GESUCH hervorlugten.

Vorsichtig riss ich es ab. Die Annonce lautete:

ASSISTENT GESUCHT

FÜR DETEKTEI

2 $ PRO WOCHE

MUSS LESEN UND SCHREIBEN KÖNNEN, EINEN WACHEN GEIST BESITZEN UND UNVOREINGENOMMEN SEIN

ROBUSTER MAGEN BEVORZUGT

NACHFRAGEN: AUGUR LANE 926

STARREN SIE DEN FROSCH NICHT AN.

Obschon die Anzeige sonderbar war, hatte ich das Gefühl, alle Anforderungen zu erfüllen – und zwei Dollar die Woche würden mich ernähren und vor Schnee und Kälte bewahren. Ich ließ mir vom Schalterbeamten den Weg beschreiben und legte die knappe Meile zur Augur Lane 926 zu Fuß zurück.

Das kleine Gebäude lag im Geschäftsviertel, wo es zwischen sehr viel höhere und breitere Bauten geschmiegt stand. Auf beiden Straßenseiten hetzten Männer in steifen Anzügen die vereisten Gehwege entlang. Kamen sie an Nummer 926 vorbei, schienen sie es noch eiliger zu haben und auf der gegenüberliegenden Straßenseite plötzlich außerordentlich interessante Dinge zu entdecken, so wie Schuljungen, die in der Pause sorgsam ihre peinlichen jüngeren Geschwister mieden.

An einer gewundenen schmiedeeisernen Stange über der Haustür hing ein Schild. 926– DETEKTEI, verkündete es in großen Buchstaben. Und in kleineren: PRIVATE ERMITTLUNGEN & BERATUNGEN. UNSER SPEZIALGEBIET: UNGEKLÄRTE PHÄNOMENE.

Das dreistöckige Haus, das überdies allenfalls noch Platz für einen kleinen Speicher bot, war über und über mit Giebeln und Ornamenten bedeckt. Ohne erkennbare Rücksicht auf Stil, Form oder Funktion hatte der Architekt an jeder erdenklichen Stelle Säulen und Bögen und gemeißelte Verschnörkelungen angebracht, wie es ihm gerade in den Sinn gekommen war. Mit Friesen verzierte Brüstungen und Fenstersimse lugten an einer Vielzahl von Erkern hervor, von denen einige nicht so genau zu wissen schienen, zu welchem Stockwerk sie gehörten. Trotz allem vereinte sich der Wirrwarr unterschiedlicher Stilrichtungen zu etwas, das irgendwie stimmig war. Keine zwei Dinge an dem Haus passten zusammen, aber im Ganzen betrachtet, war nichts fehl am Platz.

Die Haustür erstrahlte in leuchtendem Rot und wurde von einem bescheidenen Türklopfer in Form und Größe eines Hufeisens geschmückt. Ich trat vor, klopfte drei Mal und wartete. Mit gespitzten Ohren lauschte ich auf das verräterische Geräusch sich nähernder Schritte oder eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde. Nach einer Weile versuchte ich es mit der Klinke und die Tür schwang auf.

»Hallo?«, rief ich und trat vorsichtig ein. Der Eingangsbereich mündete in eine Art Warteraum. Gegenüber einem großen Schreibtisch, der mit Bücherstapeln und losen Papieren übersät, ansonsten aber unbesetzt war, stand eine Holzbank. Ich stellte meinen Koffer daneben ab und ging weiter hinein. Rechts befand sich ein langes Bücherbord, das mehrere ledergebundene Bände beherbergte sowie verschiedene merkwürdige Gegenstände wie einen Tierschädel, die steinerne Skulptur einer dickbäuchigen nackten Männergestalt und ein nestartiges Knäuel aus Stäbchen und Schnüren. Am hinteren Ende des Regals thronte ein großer Glaskasten, der Erde, Laub und eine kleine Wasserschale beinhaltete.

Ich beugte mich vor und spähte hinein, um nach einem eventuellen Bewohner Ausschau zu halten. Es dauerte einige Sekunden, bis ich den großen graugrünen Frosch entdeckte, der mich offenbar schon die ganze Zeit über anstarrte. Er blickte ziemlich finster drein und blähte drohend die winzigen Nasenflügel. Mit einem jähen Rülpsen ließ er seine Kehle anschwellen und ein gewaltiges Doppelkinn hervortreten. Als sich sein Kinn wieder zusammenzog, schoss aus seinen Augen ein deutlich sichtbarer Gasstrahl. Ich starrte ihn ungläubig an. Aber ich hatte richtig gesehen. Aus jedem Auge der Amphibie trat in schnellen Stößen ein Gas aus, das sich in seiner Farbe kaum von der feuchten Haut des Frosches unterschied. Bald war das ganze Terrarium ein einziger Würfel aus graubraunem Rauch, und nur ein leises Pfeifen ließ darauf schließen, dass hinter dem wolkenverhangenen Glas fortwährend neues Gas ausströmte. Der Gestank folgte.

Hinter mir schlug eine Tür zu und ich wirbelte herum. Aus den Tiefen des Hauses trat, einen Arm in seinen unförmigen Mantel hineinschiebend, niemand anderer als Mr R. F. Jackaby. Bei meinem Anblick stutzte er und musterte mich verwirrt, während er sich den Mantel zuknöpfte. Ich für meinen Teil trug nichts zu der Unterhaltung bei außer einem wortgewandten »Äh …«.

Er verzog unvermittelt das Gesicht und brach das Schweigen. »Guter Gott! Sie haben den Frosch angestarrt! Stehen Sie nicht einfach so da. Öffnen Sie das Fenster, schnell. Es wird Stunden dauern, bis es abgezogen ist.« Er entriegelte auf der gegenüberliegenden Seite des Foyers hastig ein Fenster und riss es weit auf. Ich blickte hinter mich, entdeckte ein weiteres Fenster und tat es ihm gleich. Der beißende Gestank kroch aus dem Terrarium und stieg in meine Nase, wo er allmählich seine volle Kraft entfaltete, wie ein Boxer, der sich vor dem Kampf aufwärmt.

»Sind Sie …«, begann ich und setzte noch einmal neu an. »Ich bin wegen dem Aushang hier, der bei den Aushängen in der Post … äh … aushing. Sie …«

»Raus! Raus!« Jackaby riss seine Strickmütze vom Haken neben der Tür und winkte mir mit einer nachdrücklichen Geste, ihm zu folgen. »Sie können meinetwegen mitkommen. Nur nichts wie weg hier!«

Bevor meine Augen zu tränen begannen, retteten wir uns auf den Gehweg und atmeten in tiefen Zügen die frische kalte Luft ein. Ich blickte zögernd zu der roten Tür zurück und erwog, noch einmal kurz ins Haus zu laufen und meinen Koffer zu holen. Jackaby stürmte bereits die Straße hinunter und schleuderte sich schwungvoll den langen Schal über die Schulter. Nach kurzem Überlegen ließ ich den Koffer, wo er war, um dem mysteriösen Mann hinterherzueilen.

3

Ich musste laufen, um Jackaby einzuholen. Er war fast schon um die nächste Straßenecke, als ich zu ihm aufschloss. Er bewegte fortwährend die Lippen, machte sich aber nicht die Mühe, seine Gedanken laut mitzuteilen. Ungebärdige Locken drängten sich unter seiner eigenartigen Mütze hervor, und ich konnte verstehen, dass sie Ausbruchspläne schmiedeten.