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Der junge Anwalt Paul Colossa aus München erbt nach dem überraschenden Selbstmord seines Onkels dessen Kanzlei in Neustadt in der bayerischen Provinz – und damit eine Menge kurioser Fälle. Wie den der hübschen Maja, Tochter des zwielichtigen russischen Unternehmers Victor Rivinius. Maja wird von ihrem Ex-Geliebten gestalkt, und Colossa soll vor Gericht ein Kontaktverbot erwirken. Dabei erliegt Colossa prompt selbst den Reizen der jungen Frau. Blind vor Liebe verstößt er gegen alle Regeln – und übersieht, wie sehr Maja in die dubiosen Machenschaften ihres Vaters verstrickt ist. Unversehens befindet er sich mitten in einer höchstgefährlichen Jagd …
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Seitenzahl: 492
HENDRIKESCH
Jagdtrieb
Kriminalroman
Buch
Der junge Anwalt Paul Colossa aus München erbt nach dem überraschenden Selbstmord seines Onkels dessen Kanzlei in Neustadt in der bayerischen Provinz – und damit eine Menge kurioser Fälle. Wie den der hübschen Maja, Tochter des zwielichtigen russischen Unternehmers Victor Rivinius. Maja wird von ihrem Exgeliebten gestalkt, und Colossa soll vor Gericht ein Kontaktverbot erwirken. Dabei erliegt Colossa prompt selbst den Reizen der jungen Frau. Blind vor Liebe verstößt er gegen alle Regeln – und übersieht, wie sehr Maja in die dubiosen Machenschaften ihres Vaters verstrickt ist. Unversehens befindet er sich mitten in einer höchst gefährlichen Jagd …
Informationen zu Hendrik Esch finden Sie am Ende des Buches.
1.
SCHWEISS:
das Blut des Wildes und des Jagdhundes, sobald es die Blutbahn des Körpers verlassen hat
Paul wachte auf. Extrem verschwommener Blick aus stark zusammengekniffenen, geschwollenen Augen. Vor ihm das hektische, besorgte Gesicht eines Mannes mit Halbglatze, rotem Vollbart, orange-weißem Kragen. Der ihn anschrie. Langsam begann Paul, ihn als Arzt zu identifizieren … Oder war er ein Sanitäter? Und er konnte aus dem Gebrüll einzelne Worte herausfiltern: »Sie mich? … mit den Augen … Können Sie … Zeichen, wenn Sie mich verstehen? Können Sie den Mund öffnen? Können Sie blinzeln?«
Nein. Blinzeln ging gar nicht. Die Augen einen Schlitz breit öffnen war das Einzige. Scheiße, das brannte höllisch! Immer noch quollen Tränen hervor … Oder war das Blut? Den Mund öffnen, das ging vielleicht. Wobei sich, je weiter er seinen Kiefer aufsperrte, ein abartiger Schmerz im Bereich seiner rechten Schläfe bemerkbar machte.
Der Rotbart jedoch schien regelrecht euphorisch. Er schrie weiter, vermutlich informierte er irgendjemand anders, dass Paul ansprechbar war.
Was freilich noch lange nicht bedeutete, dass er auch sprechen konnte. Da kam gar nichts. Nicht einmal ein Krächzen. Überhaupt lag seine Zunge wie ein ekliger, staubtrockener Wulst in seinem Mund.
Paul scannte seinen Körper. Mit der Kraft seiner Gedanken. Was ihm die überraschende Erkenntnis offenbarte, dass er auf der Seite lag. Die legendäre »stabile Seitenlage«, von der Paul zuletzt bei der Vorbereitung auf seinen Führerschein gehört hatte. Gute Idee. So konnte er an der trockenen Zunge nicht ersticken. Sein linkes Bein war taub.
Die Sache mit der Schläfe nahm jetzt besorgniserregende Ausmaße an. Ein wirklich sehr intensives Schmerzerlebnis, das er spontan als »klopfend« beschrieben hätte. Und Paul spürte außerdem Angst. Mehr nur als ein bisschen.
Seine Gedanken wurden ruppig unterbrochen, als Rotbart und ein unsichtbarer Dritter ihn mit einem Ruck emporhoben und auf eine Trage hievten, mit der sie sodann ein paar holprige Meter durch die Gegend rollten.
Paul konnte allerlei Blaulicht sehen, rennende Polizisten und Feuerwehrleute, irrlichternde Taschenlampen. Er glaubte, einen Hubschrauber zu hören, zwischen Sirenengeheul und Wortfetzen aus Funkgeräten. Ob sie den Verrückten erwischt hatten? Aber was, wenn sie Pauls Pistole fanden? Nein, die lag ja daheim. Und wenn sie einen Bluttest bei ihm machten und die Drogen bemerkten? Paul wurde ins gelb beleuchtete Innere eines Rettungswagens geschoben. Rumms – Tür zu. Jemand fummelte an seiner Hand herum. »Paul Colossa, vierunddreißig, eventuell Schädel-Hirn-Trauma. Bei Bewusstsein und ansprechbar.« Die Stimme von Rotbart. »Er ist angeblich Rechtsanwalt«, antwortete eine Frau. Als würde das jetzt eine Rolle spielen. Dann verschwand Paul wieder dahin, woher sie ihn vorhin geholt hatten. In die farblose Unendlichkeit.
2.
RISS:
von Raubwild getötetes Tier
»Es kam für uns alle furchtbar unerwartet. Niemand außer Oscar selbst wusste, dass sein Tod bevorstand. Oscar hat sein Sterben perfektionistisch und minutiös vorbereitet, ohne jemanden einzuweihen. Es würde mich wundern, wenn ich der Einzige hier wäre, der von Oscar einen persönlich handgeschriebenen Brief als Einladung zu seiner eigenen Beerdigung erhalten hat …?« Der Mann hob ein gefaltetes Blatt Papier in die Höhe. Ein Raunen ging durch die Menge der Trauernden, die sich bei leichtem Februarnieselregen mit roten Nasen auf dem Neustädter Friedhof versammelt hatten. Hoch über der kleinen Stadt, die frühjahrsmüde aus dem Tal heraufblinzelte.
Auch Paul war in der vergangenen Woche von einem jener schwarz geränderten Trauerbriefe heimgesucht worden, die bereits vor dem Öffnen jede Hoffnung auf gute Nachrichten im Keim ersticken. Wenn man nicht gerade ein Erbschleicher ist. Der Umschlag enthielt schweres, handgesiebtes Papier mit Wasserzeichen und einige Worte aus Onkel Oscars Paul wohlbekanntem Füllfederhalter. Der Text war knapper, als man es von Oscar gewohnt war, und die Schrift geradezu schludrig. Paul schätzte, dass es um die zweihundert Menschen waren, die dem letzten Ruf des Rechtsanwalts Dr. Oscar Colossa gefolgt waren, und sollte der Redner recht damit haben, dass Oscar jeden Einzelnen persönlich eingeladen hatte, dann entschuldigte das die nachlässige Handschrift völlig. Schon der Gedanke an zweihundert handgeschriebene Briefe löste ein juckendes Kribbeln an Pauls Schreibhand aus, das ihn unangenehm an die fünfundfünfzig Stunden der schriftlichen Prüfung im zweiten juristischen Staatsexamen erinnerte.
»Ich weiß nicht, ob ich mich geehrt fühlen soll, weil Oscar mich mit dieser allerletzten persönlichen Nachricht geadelt hat? Oder ob ich wütend bin, weil er es wieder einmal nicht für nötig gehalten hat, mich in einer wichtigen persönlichen Sache nach meiner Meinung zu fragen?«
Paul hatte keinen Schimmer, wer der Redner war. Er musste Onkel Oscar recht nahegestanden haben. Aber wer hatte ihn ausgewählt? Immerhin hatte Paul seinem Onkel durchaus auch nahegestanden. Man hätte ihn wenigstens fragen können.
»Wie soll ich mich je für seine Klugheit bedanken, wenn er immer alles besser weiß? Fühle ich mich klein, weil ich erkenne, dass Oscar meinen Rat wieder einmal nicht brauchte? Oder noch kleiner, weil er bei großen Sorgen und gerade auch bei jämmerlichen Alltagsproblemen – und bei Kochrezepten – mir nun keinen Rat mehr gibt?«
Ein kollektives Schmunzeln ergriff die Menge. Der Redner holte ein schwarz glänzendes Mobiltelefon aus seiner Manteltasche und hielt es in die Höhe.
»Ich fühle mich klein heute, denn wenn ich Oscars Nummer wähle, hebt niemand mehr ab. Kein verschlafenes ›Nja?‹ als Auftakt für einen minutenlangen Monolog. Kein Oscar, der mich verärgert. Der mich zum Lachen bringt. Der mich demütigt. Mich schweigend, ja sprachlos mit einer perfekten, einer umfassenden Antwort auf alle meine Fragen zurücklässt. Niemand konnte Fragen beantworten wie Oscar!«
Jetzt wurden sie endlich herausgezogen, aus Falten, Ritzen und Ärmeln: die obligatorischen Taschentücher. Ja, weint nur. Oscar Colossa ist tot. »Oscar ist für immer verstummt. Ausgerechnet auf die letzte, die große Frage, die nur er allein beantworten kann, bleibt er uns die Auskunft schuldig: Warum, Oscar? Welche verdammte Sorge hat dich so sehr geplagt, dass dir der Tod als einziger Ausweg blieb? Jetzt ist dein Rat versiegt. Dein kluger Kopf und dein großes Herz sind kalt und stumm. Es ist verdammt still geworden ohne dich.«
Man konnte spüren, dass vielen der übereilt aus ihrem Tagesgeschäft gerissenen Anwesenden in diesem Augenblick erst bewusst wurde: Oscar Colossa hatte sich das Leben genommen. Die Menschen, die hier standen, hatten ihren Rechtsanwalt verloren. Ihren Kommilitonen, Freund, Vormund, Paten, Trauzeugen. Ein Berater war gegangen. Ein Vermittler, Tröster, Planer, Sinngeber und Mutmacher hatte aufgegeben. Und das inmitten unvollendeter Werke und offener Fälle.
Aber was tat der Redner denn jetzt?
Er trat zu Oscars offenem Grab – und warf vor aller Augen sein Mobiltelefon hinein! Mit sämtlichen Kontakten und gespeicherten E-Mails. Kalendereinträge, Privatfotos und Memos. Mit dumpfem Krachen schlug das Gerät auf dem Sargdeckel auf.
Fassungslosigkeit. Starren. Schweigen. Und dann …
Einer ging hin. Blickte in das Grab. Griff in seine Manteltasche, zog ebenfalls ein Handy heraus, ein silber glänzendes, und warf es hinein. Wieder ein Schlag auf den Sargdeckel. Dann eine Frau und noch eine und zwei Männer gleichzeitig. »Tock. Tack. Tack«, pochte es. Mehr Menschen drängten zum Grab, und das Stakkato von Klopfgeräuschen wurde immer dichter.
Brav standen sie Schlange, um Onkel Oscar ehrfurchtsvoll ihre Telefone an den Kopf zu werfen. Was für eine Symbolkraft. Das hätte Oscar sicher gefallen. Und dazu begann die im Gefolge des Bürgermeisters angetretene Feuerwehrkapelle trauernd zu trompeten.
3.
GELT:
weibliches Wild, das keine Jungen führt
Onkel Oscars Bürotür im Vorzimmer der Kanzlei war geschlossen. Paul stand davor und versuchte gar nicht erst, die Klinke zu drücken. Der doppelköpfige Adler des großen geschnitzten Türwappens schielte ihn misstrauisch an. In seinem Rücken spürte er den feindseligen Blick von Fräulein Christiane.
Die Bürochefin der Kanzlei war übrigens nicht das, was man sich klassischerweise unter einem »Fräulein« vorstellt. Oder vielleicht gerade? Fräuleins waren selten. Paul hatte keine Vergleiche. Immerhin hatte sie das diskriminierende Zeitalter der Fräuleins noch persönlich durchlitten. Geboren im Jahre Adenauer 1953, Abschluss der Ausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellte 1970. Im selben Jahr hatte sie begonnen, für Rechtsanwalt Oscar Colossa zu arbeiten.
»Na, Paul … hast du deins auch ins Grab geworfen?«
Mit dieser ironischen Frage hatte Fräulein Christiane ihren neuen Chef empfangen, als er am Tag nach dem Begräbnis Onkel Oscars Kanzlei betreten hatte. Wobei »Onkel Oscars Kanzlei« die Sache nicht wirklich traf. Seine, Paul Colossas Kanzlei, sollte man nun eigentlich dazu sagen, denn in Oscars handschriftlichen Regieanweisungen für den Fortgang der Welt nach seinem Tode stand geschrieben: »Ich will, dass mein Neffe Paul sofort nach meinem Tod Inhaber der Kanzlei wird.«
Eigentlich hätte Fräulein Christiane das wissen müssen. Sie hatte Paul die Kopie der Nachlassverfügung letzte Woche persönlich nach München geschickt. Fräulein Christiane war also jetzt seine Angestellte! Sie verhielt sich nur nicht so. Nach ihrer Grußdarbietung hatte sie Paul barsch darauf hingewiesen, dass er gefälligst seinen Regenschirm im Flur lassen und seine nassen Schuhe ordentlich abtreten möge, um eventuelle Ränder auf dem marmornen Schachbrettboden zu vermeiden. Das Kanzleivorzimmer wurde von Fräulein Christiane absolutistisch regiert. Hier herrschte Klarheit, Sauberkeit und Ordnung.
Zudem betonte sie das strikte Rauchverbot in allen Räumen. Wie unnötig, wo Paul hier doch bereits seit vierunddreißig Jahren regelmäßig verkehrte, also quasi seit seiner Geburt. Fräulein Christiane hatte ihm als Baby die Flasche gegeben und ihm die Windeln gewechselt. Sie hatte ihn bemuttert, wenn er seine Sommerferien bei Onkel Oscar verbracht hatte. Sie hatte Mathe und Latein mit ihm gebüffelt. Als er später in der Kanzlei regelmäßig gejobbt hatte, war ihm sein Lohn aus ihrer Kasse schwarz auf die Hand bezahlt worden. Sie wusste also, dass Paul hier alle Regeln in- und auswendig kannte, einschließlich des Rauchverbots. Sie wusste auch, dass Paul Nichtraucher war. Und natürlich wusste Paul, dass Fräulein Christiane heimlich in der Kanzlei rauchte.
Wobei … in den letzten fünf Jahren war Paul keinen Tag mehr hier gewesen.
»Wo waren Sie denn, Fräulein Christiane? Ich habe Sie gestern auf der Beerdigung gar nicht gesehen.«
Sie blickte Paul an, schwieg jedoch. Wie interessant. Üblicherweise besaß diese Dame die Schlagfertigkeit eines Gatling-Maschinengewehrs. Und nun schwieg sie?
In den sonst blitzenden Augen der divenhaften Christiane Wolff bildete sich ein Tränensee. Bald hielt auch der verschwenderisch aufgetragene Lidstrich der enthemmten Traurigkeit nicht mehr stand. Paul hatte Fräulein Christiane schon hasserfüllt herumbrüllen und hyänenhaft lachen hören – aber er hatte sie noch nie weinen sehen. Sie konnte doch nicht …
Wie versteinert stand Paul weiter vor Oscars Bürotür und starrte auf das Schauspiel hinter der hölzernen Empfangstheke. Schließlich riss er sich zusammen, ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Was sie widerstandslos geschehen ließ. Paul nahm es hin, dass sein hellgrauer Anzug die salzigen Tränen und den schwarzen Kajal nicht unbeschadet überstehen würde. Dabei hatte er nur zwei Anzüge im Gepäck.
Und dann … plötzlich musste auch er heulen. Es kam einfach so. Wie ein kleiner Junge. Onkel Oscar war tot?
Paul wusste nicht, wie lange die Umarmung dauerte, bevor Fräulein Christiane sich von ihm löste. Sie schnäuzte sich und kramte aus ihrer Handtasche einen kleinen Schminkspiegel hervor.
»Du bist nicht der Einzige, der seitenweise Befehle von ihm erhalten hat«, sagte sie und deutete auf einen Leitzordner. »Ich soll dich zügig einarbeiten, schreibt er.«
Rasant pinselnd und tupfend tilgte sie jedwede Spur menschlicher Schwäche aus ihrem Gesicht.
»Ganz ehrlich, mein lieber Paul: Ich bin ein bisschen besorgt, wie das alles weitergehen soll. Wir erledigen hier ziemlich anspruchsvolle Arbeit, das ist dir sicher klar? Verstehst du, was ich meine?«
Die moderne Pädagogik vertritt eigentlich den Standpunkt, dass Erfolg vor allem durch Lob zu erreichen ist. Andererseits hatten die Briten die Falklandinseln ja auch nicht durch gutes Zureden verteidigt. Und Fräulein Christiane war eben eher der Thatcher-Typ als die Lobhudeltante.
»Ich werde es schon hinkriegen!«
»Wir haben einen verdammt guten Ruf zu verteidigen. Ich werde nicht dulden, dass du sein Lebenswerk mit Mittelmäßigkeit besudelst!«
Sachte, sachte. Also das hatte nichts mehr mit Thatcherismus zu tun. Das war einfach miese Laune.
»Hat Onkel Oscar nie einen Fall verloren?«
»Grundgütiger! Es geht doch nicht darum, Fälle zu gewinnen oder zu verlieren! Es geht ausschließlich um das Wie. Außerdem haben wir ziemlich selten verloren. Dr. Colossa hat immer einen Vergleich herausgeschlagen. Und wenn wir mal verloren haben, dann dermaßen triumphal, dass die Sieger völlig verblasst sind. Das ist die Latte. Da musst du drüber. Und jedes Mal, wenn du sie reißt, werde ich dich damit versohlen. Du wirst das nicht einfach nur ›hinkriegen‹, Paul Colossa. Weniger als brillant kommt nicht unter diese Türritze durch.«
»Hmm.« Paul blickte zur Bürotür mit dem Doppelkopfadler hinüber: »Womit fangen wir an?«
Die Chefsekretärin deutete auf einen roten Plastikwäschekorb, der Paul erst jetzt auffiel. Darin waren rund zwei Dutzend Hängeregisterakten. Die meisten hellbraun. Einige farbig. Außerdem ein Laptop, ein Schreibblock und ein Diktiergerät mit einigen Kassetten.
»Gut. Dann will ich jetzt beginnen.« Paul lächelte Fräulein Christiane aufmunternd zu. Sie sah ihn an, als wartete sie nur darauf, dass er im nächsten Moment eine unverzeihliche Dummheit begehen würde. Er würde es ihr schon beweisen! Er würde ein guter Chef sein. Paul hob den Wäschekorb hoch, ging zur Adlertür und drückte furchtlos mit dem Ellbogen die Klinke herunter.
Onkel Oscars Tür jedoch, so stellte sich nun heraus, war nicht nur geschlossen. Sie war abgesperrt! Paul drehte sich zu ihr um und sah sie verdutzt an, mit seinem Wäschekorb in den Händen. Fräulein Christiane griff nach dem Leitzordner und las betont sachlich vor: »Paul darf mein Büro und meine Wohnung erst beziehen, wenn beides gründlich auf unangemessene Umstände untersucht wurde und diese in geeigneter Form korrigiert sind.«
Na, das war ja einmal eine Ansage.
»Und was meinen Sie, wo soll ich bitte arbeiten?«, versuchte er sich patzig in der Rolle des neuen Platzhirschs.
Fräulein Christianes Augenbrauen wurden zu römischen Triumphbogen: »In deinem Hotel natürlich.«
Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern.
4.
AUFBAUMEN:
das Setzen oder Sichniederlassen von Wild auf einem erhöhten Platz; auch der Jäger, der seinen Hochsitz besteigt, baumt auf
Paul hatte seinen Schirm in der Kanzlei vergessen. Sehnsuchtsvoll blickte er, mit dem Wäschekorb bei leichtem Regen frierend auf der Straße, zurück zu der Villa. Vom Keller bis zum Speicher war dieses Hexenhausfachwerk ein Ort magischer Kindheitserinnerungen für ihn. Das unwirkliche Licht, das durch die Jugendstilornamente der Fenster in jedem Stockwerk andere Farben in die Räume zauberte. Der wendige Gockel auf dem höchsten der vier Schornsteine. Die knarzende Holztreppe, bis hinauf zum Dachboden.
»Der alte Schuppen hat ein fantastisches Karma«, hatte Onkel Oscar seinen Gästen gerne eröffnet. »Im Frühling 1944 hat sich just in meinem Büro ein SS-Obersturmbannführer eine Kugel in den Mund geballert – bamm –, wenn das kein gutes Omen ist!«
Aber Paul war im Augenblick nur ein ungeliebter Gast im eigenen Haus, und so trabte er gehorsam in sein zwei Straßen weiter gelegenes Hotel.
Das Hotelzimmer, in dem er vergangene Nacht kaum ein Auge zubekommen hatte, war wie jedes Hotelzimmer in jeder anderen Kleinstadt der westlichen Welt.
Paul angelte sich die Praline, die man dekorativ auf seinem frisch bezogenen Kopfkissen drapiert hatte. Während er die Verpackung knisternd aufzwirbelte, schaute er aus dem Fenster. Er zog die Gardine zur Seite und sah einen Vogel in einem Baum, der zwischen den paar mickrigen Blättern, die Herbst und Winter getrotzt hatten, herumturnte. Was war das? Ein Spatz oder ein Fink? Jedenfalls war er sich nicht zu fein, den Schmuddelwinter daheim zu verbringen. Anstatt nach Sizilien zu fliegen. Wie einige seiner dekadenten Artgenossen. Um sich dort abknallen und mit gebratenen Thymiankartoffeln verputzen zu lassen. Nein. Dieser Piepmatz war offensichtlich einer von den Guten, den Treuen, einer von den Pflichtbewussten. So einer wie Paul.
Er war mit Prof. Dr. Sikorski aus München zu Onkel Oscars Beerdigung gefahren. Großer Mercedes mit Chauffeur. Sein Exchef war Inhaber der Rechtsanwaltskanzlei Sikorski, ein »alter Freund« von Onkel Oscar. Einer von mehreren dieser Spezies. Alles recht geheimnisumwoben. Alte Männer eben.
Vor fünf Jahren war Paul glückstrunken aus der mündlichen Prüfung seines zweiten juristischen Staatsexamens in die Säulenhallen des Münchener Justizpalastes getorkelt. Jener Sikorski und Onkel Oscar hatten bereits verschwörerisch auf ihn gewartet und ihn mit sanfter Gewalt sofort seinen feierlaunigen Kollegen entführt. Nichts war da gewesen mit Examensfeier. In Sikorskis Büro dafür Veuve Cliquot Ponsardin. Natürlich nicht dasselbe wie ein Besäufnis in einer netten Schwabinger Kneipe. Ob es juristisch wirklich sauber gewesen war, dass Paul noch am selben Abend bei Sikorski unterschrieben hatte? Mit gefühlten zweieinhalb Promille? Derlei Methoden waren doch eher typisch bei der Rekrutierung von Marinesoldaten im 18. Jahrhundert? Und bei Piraten in Schanghai. Scheinbar aber auch in Münchener Großkanzleien.
So war Paul also Anwalt geworden. Andere hatten vorher noch vier Wochen Griechenland eingeschoben oder wenigstens ein paar Tage Delirium, aber die hatten ja auch nicht Onkel Oscar im Nacken gehabt.
Den Inhalt des Wäschekorbs breitete Paul auf dem Hotelbett aus. Sich erst einmal einen Überblick verschaffen. Er setzte sich auf die Bettkante und überflog zunächst die vor ihm aufgefächerten Akten.
Einer der Fälle war einigermaßen unterhaltsam. Er begann mit einer Aktennotiz, die Onkel Oscar im vergangenen Sommer diktiert hatte, als der Mandant, ein gewisser Gridloh, ihn das erste Mal aufgesucht hatte. Ein Autobahnunfall auf der A3. Gridloh war mit einem Smart im Schneckentempo auf der Überholspur unterwegs gewesen, rechts war alles frei. Typisch Sonntagsfahrer. Paul war auf Anhieb genervt. Aber es kam noch besser. Eine zweite Nervensäge, in Gestalt eines BMW, kam von hinten herangedonnert, und anstatt abzubremsen, blendete dieser Idiot bei unvermindertem Tempo auf! Gridloh wechselte im letzten Augenblick auf die rechte Spur. Inzwischen war aber auch der BMW rechts, wo er offenkundig verkehrsordnungswidrig überholen wollte, der Spinner. Der Raser versuchte sogar noch, nach ganz rechts auf den Standstreifen auszuweichen, um Gridloh doch noch zu überholen, was zu einer Streifkollision führte. Gridloh wollte seinen Schaden einklagen.
Mit solchen Fällen hatte Onkel Oscar seinen Ruhm vermutlich nicht begründet.
Aber Rechtsanwalt sein macht eben nicht immer nur Spaß. Von seiner Leidenschaft für das Strafrecht zum Beispiel hatte man Paul damals an seinem neuen Arbeitsplatz in Sikorskis Großkanzlei weitestgehend ferngehalten. Weder Ehrgeiz noch Übermut sollten sein Urteilsvermögen trüben. Jedes halbe Jahr, wenn er sich gerade mühsam eingearbeitet hatte, war er in ein neues Referat versetzt worden. Kaum hatte er ein Gespür für die verbotenen Untiefen des Wertpapierhandels entwickelt, mutete man ihm die Tücken des einstweiligen Rechtsschutzes im Presserecht zu. Und als er das erste Mal eine Schlagzeile in einer Boulevardzeitung vereitelt hatte und nachts die Druckmaschinen anhalten ließ, da fand er sich am nächsten Morgen in Sikorskis Abteilung für private Bausachen wieder. So hatte sein Leben als Anwalt in den vergangenen Jahren ausgesehen.
Paul blätterte in der Akte vor. Die Gridloh-Geschichte wurde nun doch ein wenig außergewöhnlich. Gridloh hatte Onkel Oscar einen kleinen Film vorgespielt. Der Mandant war offensichtlich ein bisschen komisch im Kopf und hatte deshalb den gesamten Vorgang neurotischerweise auf Video mittels zweier sogenannter »Dashcams« gebannt, eine vorn, eine hinten in seinem Zwergenauto.
Onkel Oscar hatte dazu eine weitere Aktennotiz diktiert: »Das Unfallverschulden ist problematisch: Das Video belegt, dass der Mandant den herannahenden BMW frühzeitig bemerkte und ausreichend Zeit gehabt hätte auszuweichen. Der Mandant hat den Unfall bewusst provoziert. Die Videoaufzeichnung darf auf keinen Fall der Polizei überlassen werden.«
Es folgten einige Seiten Korrespondenz mit der Versicherung des BMW-Fahrers und diverse Telefonnotizen von Fräulein Christiane. Die letzte lautete: »Anruf Gridloh 14 Uhr. Vorwürfe, weil Fall so lang dauert. Er will sofort Geld sehen. Droht Mandat zu kündigen und mit Beschwerde bei Rechtsanwaltskammer. Arschloch.«
Eine knappe Woche später hatte Gridloh das Mandat tatsächlich gekündigt – eine rotzfreche E-Mail. Und er hatte trotz Mahnung Oscars Rechnung nicht bezahlt. Oscar hatte Gridloh deshalb beim Amtsgericht Neustadt auf Zahlung von knapp sechshundert Euro Rechtsanwaltshonorar verklagt. Darum ging es also in Wahrheit in dem Fall!
Jener Abend damals vor fünf Jahren, als Onkel Oscar ihn quasi an Sikorski verschachert hatte, hatte übrigens noch eine andere Überraschung für ihn parat gehabt. Der allgegenwärtige, stets hilfsbereite Schutzengel Oscar hatte ihn nämlich damals verlassen. Einfach so, ohne Grund.
Nicht erst seit Paul mit fünfzehn seinen Vater verloren hatte, war Onkel Oscar sein großes Vorbild gewesen. Sein Idol. Und plötzlich hatte er sich ohne jede Erklärung zurückgezogen. Paul konnte ihn kaum noch erreichen, und Oscar ließ auch keine Besuche mehr in der Villa in Neustadt zu. Spätestens nach ein paar Monaten war es ihm klar geworden, dass sein Mentor sich von ihm abgewandt hatte. Paul war verärgert gewesen. Er war wütend und verletzt. Aber er wollte seine Schwäche nicht zeigen.
Die seltenen Telefonate in den letzten fünf Jahren waren kurz und seltsam förmlich. Und dann … wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte ihn jetzt die Nachricht von Oscars Selbstmord getroffen.
Der Vogel draußen war inzwischen auf einen Ast nahe am Fenster geflattert. Neugierig beobachtete er Paul. Nette schwarze Augen hatte der.
Vergangenen Donnerstag hatte Fräulein Christiane Paul in der Kanzlei Sikorski angerufen. Es war ein knappes, nüchternes Gespräch gewesen. Oscar tot? Für immer? Näheres auf dem Postweg. Am Freitag bereits war ihm die Einladung zur Beerdigung zugestellt worden. Am Samstag ein dickes Kuvert, darin ein privater Brief von Oscar. Paul trug ihn zerknittert die ganze Zeit bei sich, doch wie oft er ihn auch las, er wurde nicht recht schlau daraus: »Sieben Jahre hätte meine Abwesenheit aus Deinem Leben währen sollen, mein lieber Paul. So hatte ich mir das gedacht. Sieben Jahre wie im Märchen. Sieben Jahr, trüb und klar – wie das Hänschen klein. Fünf davon haben wir beide bereits tapfer und schmerzhaft hinter uns gebracht, zwei noch, dann wäre es überstanden gewesen – doch nun können wir die magische Sieben nicht zu Ende bringen. Das Schicksal greift früher nach meinen Knochen, als ich es vorausgesehen hatte, und macht meinen Plan zunichte, Dich aus der Ferne zu mir heimzuholen. Nach genau sieben Jahren hätte ich Dich bei Sikorski ausgelöst und gebeten, ganz zu mir zu kommen. Es war immer mein sehnlichster Wunsch, mit Dir, mein lieber Paul, zusammenzuarbeiten. Sieben Jahre einsam in der Fremde. Wie ein Handwerksbursche auf der Walz. Du solltest Deinen eigenen Stil erlernen, unabhängig werden und weltgewandt, bevor Du zu mir kommst. Den letzten Schliff hätte ich Dir dann selber verpasst. Dir die ungeschriebenen Geheimnisse der Alten eingeflüstert, oder des Alten, wie Du es vielleicht gesehen hättest. Nun musst Du früher als gedacht auf den Bock steigen. Noch ein wenig unfertig und unvorbereitet übergebe ich Dir mein Werk, und das erfüllt mich mit Scham. Verzeih mir, Paul. Alles, was ich Dir noch beibringen wollte, musste ich auf schnödes Papier bannen. Christiane wird Dir die Ordner übergeben, und ich rate Dir, nicht alles zu ignorieren – auch wenn das das Vorrecht der Jugend ist, natürlich. Ich bin wirklich traurig, denn wie habe ich mich auf die Zeit gefreut, wo Du und ich, Seite an Seite, der Welt die Stirn geboten hätten. Wie gern hätte ich das Staunen in Deinem Gesicht gesehen, wenn der alte Hase Dir zeigt, wie flink er noch Haken schlagen kann. Aber ich bin auch voller Zuversicht! Ich bin grenzenlos und felsenfest überzeugt, dass Du alles bewältigen wirst. Du bist nicht allein, Paul – das wirst Du bald merken. Ich bin nicht mehr bei Dir, aber Du wirst nicht allein sein. Ein paar Geheimnisse lasse ich noch offen. Wenn Du sie nach und nach aufdecken wirst, ist das ein bisschen so, als würde ich Dich weiter in eine Zukunft begleiten, die ich selbst nicht mehr erlebe. Meine kleine Unsterblichkeit, neben der großen. Na ja, und wenn Du dann irgendwann auch das letzte große Geheimnis in Deinem Leben entschlüsselt haben wirst, dann warte ich auf der anderen Seite auf Dich. Bis dahin halt die Ohren steif, mein Junge. Mit vorzüglicher kollegialer Hochachtung! Dein Oscar.«
Kein Wort, warum er sich umgebracht hatte. Paul faltete das Papier wieder in sein Kuvert zurück und legte es behutsam aufs Bett.
Der Vogel vor dem Fenster kam Paul jetzt doch zunehmend eigenartig vor. Er war direkt auf die Fensterbank gehüpft und starrte herein. Konnten Vögel Tollwut bekommen? Rückte er ihm deshalb so auf die Pelle? Oder dachte er am Ende gar, Paul würde ihn füttern? Da könnte ja jeder kommen. Colossa hatte noch die halbe Praline in der Hand und überlegte kurz.
Es war ja nicht so, dass Paul nur darauf gewartet hätte, von Oscar aus München abberufen zu werden. Paul war ein waschechter Münchner. Er war dort geboren worden, zur Schule gegangen, hatte Jura an der LMU studiert, Zivildienst geleistet und zeit seines Lebens dort gewohnt. Und er hatte Attila dort gehabt. Vor allem den. Neben dem Job bei Sikorski, der bei allem Frust recht anständig bezahlt war, hatte er in den letzten Jahren ein ganz passables Leben geführt. Nichts schrie also danach, jetzt und sofort ins Exil nach Neustadt zu emigrieren! Er wäre gern in der Hauptstadt geblieben, statt in die Provinz zu gehen.
Nun ja, mit ein paar düsteren Erinnerungen hatte natürlich auch Paul Colossa zu kämpfen. Als sein Vater gestorben war, hatte Mutter überraschend schnell Trost gefunden. Seine wunderschöne Mutter. Ganz objektiv wahrscheinlich die schönste Frau, die Paul überhaupt je gesehen hatte. Aber eben nur schön. Weniger lieb. Sie hatte zügig ihr Zuhause in die Hände von Maklern und Möbelpackern gegeben, weshalb er mit pubertierenden fünfzehn Jahren einer Radikalkur zum Erwachsenwerden unterzogen worden war und sich von etlichen kindheitserinnerungsschweren Artefakten hatte trennen müssen. Kalter Entzug. Alles hatte Mutter aufgegeben. Verkauft, verramscht, verworfen.
Ein paar Jahre hatten sie in einer Wohnung in Haidhausen gelebt. Dann lernte seine schöne Mutter einen neuen Mann kennen. Joachim. Der bevorzugte infantilerweise den Namen »Joki« und war auch sonst ein Witz. Joki trug nur weiße Anzüge und machte »Geschäfte« in der Türkei. Er verschleppte Mutter nach Ankara und bescherte ihr dort einen Lebensstandard, der ihr offenbar angemessener erschien als alles Bisherige. Sie hatte mit ihrem alten Leben gebrochen. Paul erhielt den Auftrag, die Wohnung in Haidhausen binnen sechs Monaten zu räumen und sich »etwas Eigenes« zu suchen. Mutter hatte ihn gelegentlich angerufen. Noch lieber kommunizierte sie aber über die sogenannten sozialen Netzwerke, wo sie mit Fotos und peinlichen Kommentaren die Welt verblüffte.
Das alles aber war längst verziehen und vergessen und von einer Flut von Tränen fortgespült. Zu Oscars Begräbnis konnte Mutter nicht mehr kommen. Sie war schon seit sechs Wochen tot. Ihr Sarg wurde mit dem Flugzeug aus der Türkei gebracht. So lebendig hatte sie darin ausgesehen. Jetzt war Paul also ganz allein. Alle weg. Joki saß in der Türkei in Haft, aber das war eine Geschichte, die Paul nichts anging.
Onkel Oscar hatte Rotz und Wasser geheult, als sie in der Kapelle vor Mutters offenem Sarg gestanden hatten. Dann plötzlich hatte er Paul fest gepackt und in den Arm genommen. Nachdem er ewig kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte, jetzt plötzlich wieder so innig? Paul war sehr wütend geworden und hatte ihn weggestoßen. Wenn er eines noch mehr verabscheute, als andauernd verlassen zu werden, dann war es Mitleid. Das hätte Onkel Oscar sich jetzt auch sparen können. Paul war einfach hinausgerannt. Im Januar war das gewesen. Seitdem hatte es keinerlei Kontakt mehr gegeben.
Obwohl von der Mutter verlassen, war Paul früher in München nie allein gewesen. Und beileibe nicht mittellos. Mutters Taschengeld hatte dabei eine untergeordnete Rolle gespielt, denn Onkel Oscar hatte eine formidable neue Wohnung gleich um die Ecke vom Deutschen Museum für ihn gekauft. Oscar, der sein Konto regelmäßig großzügig geflutet hatte. Oscar, der wie ein Falke darüber gewacht hatte, dass die Abiturvorbereitungen diszipliniert und ernsthaft vonstattengegangen waren – und dass Pauls dunkelblauer Anzug zum Abiball saß wie eine geschmackvolle zweite Gentlemanhaut.
Oscar hatte ihn und seinen Kumpel Attila als Zivildienstleistende in einer Asylbewerberunterkunft in Riem untergebracht – »damit ihr Kerlchen mal lernt, dass Moral ein holpriges Pflaster ist und die Fahrt nach unten viel schneller geht als die nach oben«. Vielleicht war es die Erinnerung an die Arbeit in der Asylbewerberunterkunft, wo er und Attila sich um gestrandete Familien mit kleinen Kindern gekümmert hatten. Leute, die alles verloren hatten. Jedenfalls wurde Paul jetzt innerlich ganz weich.
Der Vogel flatterte kurz auf, als Paul das Fenster öffnete, und flog zurück auf den Ast. Paul pulte die halbe Nuss aus der Praline und legte sie einladend auf das Fensterbrett. Der Vogel legte den Kopf schief und betrachtete den Leckerbissen, rührte sich aber nicht. Also doch jemand, der Abstand zu würdigen wusste! Paul mochte den Vogel.
Dank Oscars schutzgeisthafter Obhut hatte Paul auch jede Menge Bekannte gehabt. Hübsche, nette Bekannte. Richtig nette. Paul galt als gute Partie. Wenn er auch nur mittelprächtig aussah, war er doch hinreichend unabhängig, eloquent und spendabel, um das wettzumachen. Bis Sandra aufgekreuzt war. Irgendwann im fünften Semester.
Kaum war Paul zwei Schritte ins Zimmer zurückgegangen, da holte sich der Vogel die Nuss – und flog davon …
»Undankbares Miststück!«, rief Paul ihm entrüstet hinterher und schloss das Fenster.
Seine Gutmütigkeit so schändlich auszunutzen! Eigentlich, gestand er sich ein, meinte er vielleicht gar nicht den Vogel, sondern Sandra. Die in Wirklichkeit Kassandra hieß, was auch deutlich besser zu ihr passte. Ach ja, die herzallerliebste Kassandra. Zur Verabschiedung letzten Samstag hatte sie ihn zuerst erpressen wollen: Wenn er länger in Neustadt bliebe als für die Beerdigung nötig, wäre es aus mit ihnen beiden. Oscar oder sie. Nicht, dass sie ihm also keine Wahl gelassen hätte. Aber Paul wollte nicht wählen. Es gäbe doch tausend Möglichkeiten für Kompromisse. Pendeln zwischen Neustadt und München? Woraufhin Sandra ihn aus der Wohnung geschmissen hatte. Aus seiner Wohnung beim Deutschen Museum. In der sie mietfrei logierte.
In Wahrheit ging es natürlich um etwas ganz anderes: Was Sandra nicht kriegen konnte, das durfte auch niemand sonst kriegen.
»Alter! Sei doch froh, dass du diese Kassandra-Hyäne endlich los bist«, versuchte Attila, ihn zu trösten. »Seit du die hast, bist du so ein verschissener Waschlappen geworden!«
Das hatte gesessen. Geholfen hatte es nicht. Schon wieder verlassen.
Paul wollte all diese negativen Gedanken verscheuchen.
Der Gridloh-Gerichtstermin war … Fräulein Christiane hatte ihn doch extra darauf hingewiesen … Paul suchte. Vorn auf der Akte war ein gelbes Blatt mit der Zusammenfassung aller Daten … heute! Scheiße! Amtsgericht Neustadt, vierzehn Uhr, Sitzungssaal 111 im ersten OG. Paul suchte sein Handy, um auf die Uhr zu blicken … aber … das lag im Grab. Paul klappte den Schrank mit dem Fernseher auf. Vom rot schimmernden Display des altmodischen, absurd winzigen Kastens schimmerte 11:55. Puh … alles gut. Sogar noch Zeit für einen kleinen Mittagsschlaf. Danach ein gepflegter Schlagabtausch beim Amtsgericht. Das waren leicht verdiente sechshundert Flocken.
5.
EINLAUF:
eine Öffnung in einem Gatter, durch die das Wild zwar hinein-, aber nicht mehr hinauslaufen kann
Die frische Luft tat Paul gut. Mantel zugeknöpft, Schal fest um den Hals, die Akte unter den Arm geklemmt. Der graue Anzug taugte nach Fräulein Christianes Heulattacke wie befürchtet nicht mehr, er hatte seinen braunen angezogen. Den Siegeranzug. Der erste und einzige Anzug, den er je selbst und ohne fremden Rat erworben hatte. Wohlgemut schlenderte er durch die Fußgängerzone von Neustadt. Dort entfernte man gerade, reichlich spät, die Weihnachtsdekoration von der Rathausfassade. Paul hatte mehr als genug Zeit eingeplant für den kurzen Weg.
Verblüffend viele Menschen stromerten zwischen den hochgiebligen, bunten Häusern oder standen Schlange an Bratwurst- und Leberkäshäuschen. Paul bekam im Vorübergehen etliche Wortfetzen zu hören, aus denen man allerlei Schlüsse ziehen mochte.
Kleiner dicker Mann mit schäbigem Hut zu kleinem dürren Mann mit Baseballkappe: »… hab ich ihn die Kellertreppe runtergezogen und auf einmal tut es oben einen Schlag …«; junger Kerl mit Sonnenbrille und Ziegenbärtchen: »… mir in dem Zimmer ein Studio eingerichtet und immer, wenn es mir zu krass wird, gehe ich …«; Frau Mitte fünfzig, blonde, hochtoupierte Haare, starker Parfümgeruch und Designerbrille in grell geschminktem Gesicht: »… inzwischen fast eine Viertelmillion, und das wird jedes Jahr mehr …«; uralter, faltiger Greis im Rollstuhl, sich zu einer jungen Frau mit roten Pippi-Langstrumpf-Zöpfen umdrehend: »… lichterloh gebrannt, da konnte keiner mehr rein …«; zwei Mädchen mit Pferdeschwänzen und Smartphones in den Händen, höchstens vierzehn: »… am nächsten Morgen beim Frühstück kein Wort …«; Mann, Anfang vierzig, dunkler Anzug, Typ Banker: »… mich um, wenn er das rausfindet …«
Ja, damit verdienten Paul und sein ganzer Berufsstand ihren Lebensunterhalt. Die Lebenswirklichkeit. Was dort alles geschah, konnte keiner besser erfinden.
Paul bog in eine menschenleere Seitengasse ab, eine Abkürzung zum Gericht.
6.
HOSENFLICKER:
Jägerhumor, scherzhafte Bezeichnung für einen angriffslustigen Jungkeiler
Was dieser Gridloh wohl für ein Typ war? Laut Akte hatte er sich keinen Anwalt genommen. Wollte der wirklich allein hier aufkreuzen? Das Kerlchen hatte keine Chance. Er würde es dem Richter überlassen, das Großmaul sauber zu filetieren. Er selbst wollte ganz ruhig bleiben dabei, nur ein paar leise, trockene Einwürfe. Ein ganz gelungener Auftakt am neuen Heimatgericht. Vielleicht hatte Fräulein Christiane den Fall deshalb nicht verlegen lassen, um ihm diesen kleinen Triumphzug zu ermöglichen?
Als Paul nur noch eine Häuserecke vom Gericht entfernt war, war ihm plötzlich, als hätte er etwas Wichtiges vergessen. Seine Robe! Die hing in München in seinem Büro! Und er war hier. Zwanzig Minuten vor dem Termin. Er könnte in die Villa eilen und Oscars Robe holen. Aber dann würde es zeitlich verdammt knapp werden. Außerdem: Diese Schmach vor Fräulein Christiane! Unmöglich. Und er bekam, wenn er rannte, immer rote Flecken im Gesicht. Andererseits: Bei seinem ersten Termin am Amtsgericht Neustadt gleich ohne Robe? Wenn er zugab, dass er sie vergessen hatte, machte er sich zum Clown! In anderen Bundesländern trug man vor den Amtsgerichten längst keine Robe mehr, und es kam oft vor, dass Anwälte von auswärts deshalb »ohne« auftraten. Bayerns Justiz war da gastfreundlich und liberal gegenüber »Ausländern«. Aber genau das war das Problem: Paul wollte dazugehören! Er war der neue Colossa in der Stadt und kein verdammter Zugereister, kein »elendiger Saupreiß«, wie man jene hinter ihrem Rücken nannte im ach so gastfreundlich liberalen Bayern, ganz gleich ob sie aus Leipzig, Köln oder Berlin kamen. Streng genommen war alles nördlich der Donau Preußen. Für die toleranteren Bajuwaren galt da der Main als Trennlinie. Da konnte er auch gleich »Juten Tach« statt Grüß Gott sagen!
Und wenn er einfach weltmännisch elegant über die fehlende Robe hinwegging? Nicht viel Wind darum machte? Dann fühlte sich der Richter vielleicht ans Bein gepisst. Das brauchte Paul gerade noch zu seinem Einstand. Dass der Amtsrichter vermutete, er würde sich hier in der Provinz für was Besseres halten.
Er beschloss, es mit Mitleid zu versuchen. Beerdigung, schwere Zeiten, gleich am ersten Tag tapfer den Dienst angetreten und Robe noch in München … das sprach für sich. Ehrlichkeit war manchmal charmant entwaffnend, wenn auch in Gerichtssälen selten anzutreffen.
»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Ein älterer Herr mit blauem Overall und einer Schirmmütze blickte ihn am Ende der steinernen Treppe im Eingang des Amtsgerichts angriffslustig an. Helfen wollte der wohl eher nicht. War nur so eine Floskel. Das war der private Sicherheitsdienst, der das Gericht, früher mal ein romantisches kleines Schloss, bewachte. Hinter ihm, wie am Flughafen, der seltsame Türrahmen, den man zur Metallerkennung durchschreiten musste. »Man« musste das – also die Normalsterblichen. Anwälte durften so durch.
»Verzeihen Sie«, sagte Paul betont freundlich. »Ich bin Rechtsanwalt.« Sah man das nicht?
»Können Sie sich ausweisen?«
Auch gut. Dann eben ganz förmlich. Paul musste also wohl oder übel seine Brieftasche mit dem Ausweis herausholen. Ein würdeloses Ding aus Plastik. Aber es unterschied ihn immerhin vom einfachen Plebs, hier in Justitias Hallen. Theoretisch. In der Praxis nämlich war Pauls Brieftasche in der grauen Anzugjacke im Hotelzimmer. Nicht in der braunen, die er anhatte.
Also die harte Tour. Mit ausdruckslosem Gesicht entledigte sich Paul auf Anraten des schirmbemützten Gesellen seines Mantels und der Jacke. Er legte seinen Schlüsselbund in eine Plastikschale und schlich gedemütigt durch das Metallsuchportal. Vielleicht führte es in eine andere Dimension und er verschwand einfach? Ein ohrenbetäubender Alarmton erklang. Das Portal hatte ihn des Metallbesitzes für schuldig befunden. Er musste seine Arme heben, die Beine spreizen, und die Schirmmütze tastete ihm behandschuht sein Gemächt ab. Konnte man noch tiefer sinken? Schließlich zupfte der Alte triumphierend einen Kugelschreiber aus der Brusttasche von Pauls Hemd.
»Soll ich Ihnen erklären, wo Sie hinmüssen?«
Nein, Paul kannte den Weg. Er würde die Abkürzung nehmen und direkt in den Erdboden versinken.
Das Wichtigste beim Boxen: Wenn man auf die Bretter gegangen ist, muss man sich wieder aufrappeln und weiter auf den Gegner eindreschen, als sei nichts passiert. Solange man das draufhat, verzeiht einem die blutrünstige Meute die kleine Schwäche. Also auf zu Sitzungssaal 111, Gridloh vernichten. Wie spät war es? Keine Uhr, kein Handy, keine Ahnung. Energisch öffnete Paul Colossa die Tür des Gerichtssaals. Großer Auftritt! Der umso beeindruckender wirkte, als der Raum gähnend leer war. Gut, dachte Paul sich. Zu früh dran. Die Uhr über der Tür gewährte ihm noch ein paar Minuten zum Durchatmen. Dieser angenehme Geruch der Holzbänke! Er ließ sich an einem der Tische im Schatten der erhöhten Richterbank nieder und wartete. Aus den Fenstern des Sitzungssaals konnte man hinunter in einen Park blicken. Paul blätterte in der Akte hin und her. Er nestelte in den Taschen seines Anzugs. Nichts geschah. Er legte die Hände aufeinander. Er faltete die Hände ineinander. Endlich öffnete sich die Tür, und ein Gerichtsdiener blickte herein.
»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. So hatte die Schirmmütze vorhin auch begonnen, ein gutes Omen war es nicht.
»Grüß Gott«, antwortete Paul, um jeden Saupreußenverdacht sofort zu zerstreuen. »Ich bin Rechtsanwalt. Ich warte auf die Vierzehn-Uhr-Verhandlung.« Er lächelte verbindlich.
»Um vierzehn Uhr ist keine Verhandlung«, sagte der Justizbeamte. »Heute ist überhaupt keine Verhandlung mehr.«
Das saß, aber der Boxer ging noch nicht in die Seile. »Das kann doch nicht sein«, konterte Rechtsanwalt Paul Colossa, sprang von seinem Stuhl auf, schob den Beamten beiseite und las den beleuchteten Terminaushang: um neun ein paar Urteilsverkündungstermine, dann um zehn und um elf eine Mietsache etc. Und um dreizehn Uhr Colossa gegen Gridloh wegen Forderung. Da stand es ja schwarz auf weiß! Nur dass es jetzt eine Stunde später war. Der Justizbeamte blickte ihm schadenfroh über die Schulter.
»Wir sind falsch geladen worden!« Paul hastete zurück in den Sitzungssaal und blätterte in der Akte. Da war die Ladung, vierzehn Uhr, ganz klar. Dummerweise war das die Ladung für den 15. Dezember gewesen. Beim Weiterblättern fand Paul eine Terminaufhebung und die neue Ladung für heute, um eins. Scheiße.
Als Paul die Treppe zum Ausgang hinunterschlich, rief ihm die Schirmmütze noch ein völlig unpassendes und überflüssiges »Auf Wiedersehen« hinterher. Vollidiot, dämlicher. Hatte der in letzter Zeit mal in den Spiegel geschaut?
Es zog Paul mehr in die Villa als ins Hotel. Vielleicht glaubte er, sich von der Schmach durch das zu erwartende Fegefeuer von Demütigungen reinigen zu können, die Fräulein Christiane ohne Zweifel für ihn bereithielt, wenn er von dem soeben absolvierten »Termin« berichtete. In der Sache war nicht viel verloren. Es würde ein sogenanntes »Versäumnisurteil« geben, dagegen hatte man eine zweiwöchige Einspruchsfrist, und dann ging der ganze Zirkus einfach von vorn los. Manche Anwälte provozieren so etwas regelrecht, um Zeit zu schinden. »Flucht in die Säumnis« nannte sich dieser Winkeladvokatentrick. Aber in Pauls besonderem Fall, besonders in Anbetracht der speziellen Umstände, war ein zweiter Versuch vielleicht gar nicht erstrebenswert und die Flucht in den Suizid jener in die Säumnis vorzuziehen? Nein, das war nicht lustig. Onkel Oscar hatte das getan, und es war eine schlechte Entscheidung gewesen.
7.
HORRIDO:
Begrüßung unter Jägern, aber auch Hochruf zur Ehrenbekundung
Fräulein Christianes Platz hinter dem Empfangspult war leer. Doch aus dem angeschlossenen Nebenzimmer mit dem pittoresken Turmerker strahlte es. Es war nicht das Sonnenlicht, das durch die große Buntglasscheibe in magisch farbigen Tönen in den Raum fiel. Vielmehr strahlte da ein zierlich geratener Mensch mit recht dunklem Teint und dichten, pechschwarzen, halblangen Haaren. Vielleicht aus Indien oder Afghanistan oder dieser gebirgigen Ecke auf der anderen Seite des Globus? Diese Person strahlte über das ganze Gesicht. »Hallo!« Eine extrem melodische Stimme. Bariton oder Alt? Männlein oder Weiblein? Paul war sich nicht sicher.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Wer sind Sie?«, fragte Paul zurück, mehr neugierig als höflich.
»Ich bin Micha.«
Na prächtig. Micha. Wunderbar. Konnte Michael sein. Oder Michaela. Auch der Name lüftete das Geheimnis dieses Menschen nicht.
»Mein Name ist Paul Colossa, ich bin der Inhaber der Kanzlei.«
Das jugendliche Wesen strahlte weiter und schmetterte geradezu hymnisch heraus: »Sie sind Paul Colossa! Das ist ja fantastisch! Sie sind der Neffe! Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht gleich erkannt habe! Ich arbeite hier im Nebenzimmer. Mädchen für alles und so. Ich bin total aufgeregt, Sie kennenzulernen!«
Ja, das merkte man. Paul befürchtete fast, Micha jeden Moment wiederbeleben zu müssen. So viel Herzlichkeit kann man einem Mitteleuropäer nicht ohne Vorwarnung zumuten. Mädchen für alles? War das vielleicht ein Hinweis? Das konnte auch einfach so dahingesagt und nicht »genderspezifisch« gemeint sein. Fragen konnte Paul schlecht. »Sind Sie männlich oder weiblich?«, ist keine Frage, die man jemandem ernsthaft stellen durfte. Das wäre eine tolle Einführung als neuer Chef! Aber er würde es schon noch herausfinden! Micha vielleicht einfach unauffällig in den Schritt greifen? Grundgütiger nein, was für ein Gedanke!
»Heute ist Ihr erster Arbeitstag, nicht wahr? Fräulein Christiane ist gerade oben in der Wohnung. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen?«
»Ja, natürlich, Micha! Sperren Sie mir bitte das Büro auf.«
Sogleich verschwand das Strahlen und wich einer Trauermiene. Bestes Bollywood! »Leider darf im Moment nur Fräulein Christiane in das Büro des Chefs.« Nun zögerte Micha einen Moment. Paul war doch jetzt der Chef …? »Ich kann Ihnen allerdings den Schlüssel für Ihr Auto geben! Haben Sie es schon gesehen?«
Da war das Lächeln wieder und hatte jetzt eine verschwörerische Note angenommen. Natürlich, dämmerte es Paul. Onkel Oscar musste auch in den vergangenen fünf Jahren ein Auto besessen haben, und das war jetzt vermutlich sein Auto. Was für ein Auto mochte es wohl sein? Oscar Colossa hatte nie irgendein Auto gefahren. Es waren immer ungewöhnliche Kisten gewesen. Die pakistanische oder indische oder was auch immer Mitarbeiter- oder Mitarbeiterinnengestalt zwinkerte Paul zu und holte einen Autoschlüssel aus dem Nebenzimmer. Sie gingen zusammen in den Hof. Micha drückte den Knopf einer Fernbedienung. Die Garagentür öffnete sich. Sekunden später fiel Licht auf den martialischen Kühlergrill eines dunkelgrünen Landrover Defender 110. Jetzt war es an Paul zu strahlen. Paul hatte noch nie ein eigenes Auto besessen.
»Dr. Colossa sagt, der hat einmal der Queen gehört«, triumphierte Micha. Tatsächlich, das Lenkrad war auf der falschen Seite. Für kontinentale Verhältnisse jedenfalls. »Die Queen hat ihn sogar mal selber repariert. Das sieht man in dem Film mit Helen Mirren!« Den Film kannte Paul zwar nicht, aber das waren doch – britische Nummernschilder? Paul hatte nicht die geringsten Zweifel, dass dieses grüne Ungetüm einmal der britischen Königin gehört haben musste. Und dass Onkel Oscar es sich ohne Frage unter Zuhilfenahme dubiosester Kontakte beschafft hatte. Der verschrobene alte Kauz. Was für eine prächtige, wunderbare Überraschung!
8.
AUFGANG:
Beginn der Jagdsaison nach der Schonzeit
Im Märzen der Bauer … Paul war mit seinen geerbten Rösslein eine Woche lang beinahe täglich ausgeritten. Was die Königin auf ihren schottischen Gütern getrieben hatte, das wollte Paul auch in den Hügeln um Neustadt erleben. Unter quietschblauem Himmel bei Temperaturen bis an die zwanzig Grad. Paul genoss die Sonnenseite des Lebens. Selbstbewusst hatte er den ihm gebührenden Platz in Oscars altem Büro inzwischen erobern dürfen, und er bildete sich zumindest ein, hin und wieder Zeichen des Respekts, zumindest aber der wohlgesinnten Kooperationsbereitschaft bei Fräulein Christiane zu erkennen. Obwohl noch nicht annähernd alle wichtigen Fragen geklärt waren.
Paul wollte sich nicht die Blöße geben, Fräulein Christiane nach der Personalakte von Micha zu fragen, und wusste auch nicht, wo solche Unterlagen versteckt waren. Zwischenzeitlich hatte sich ihm eine gewisse Lilian Draxler vorgestellt, eine weitere Mitarbeiterin aus dem Nebenzimmer. Sie war Mitte zwanzig und hätte als Mauerblümchen durchgehen können – wäre da nicht ihre bemerkenswerte, ja phänomenale Oberweite gewesen. Paul hatte schon wiederholt größte Mühe gehabt, sein unangemessen langes Starren charmant in den Griff zu bekommen.
Paul saß auf Oscars ledernem Drehstuhl vor dem schweren Schreibtisch. Der Kapitän auf der Brücke. Schreibtisch war nicht ganz zutreffend. Es handelte sich um eine massive Eichenholzplatte auf einer rohen Konstruktion aus Stahlträgern. Wie die meisten Artefakte aus Onkel Oscars Reich verbarg sich ohne Zweifel auch hinter diesem Tisch eine famose Anekdote, auf die Paul früher oder später noch stoßen würde.
Früher hatte er immer auf der anderen Seite des Tischs sitzen dürfen, Oscar gegenüber, auf dem viel niedrigeren Besucherstuhl. Ein Privileg, denn üblicherweise ließ Oscar seine Gäste zu dem kleinen Besprechungstisch am Fenster geleiten. Der Schreibtisch war nur besonderen Besuchern vorbehalten.
Wenn »normale« Besucher ihre Papiere auf dem kleinen Konferenztisch ausbreiteten, blieb Oscar einfach hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er redete mit ihnen über den ganzen Raum hinweg, als litten sie unter einer ansteckenden Krankheit. Er nannte sie die »Mandanten vierter Klasse«. Zu Mandanten dritter Klasse hatte er sich gelegentlich dazugesetzt. Die Dokumente, die solche Leute in der Regel neurotischerweise mit sich führten, würdigte er dabei keines Blickes. »Wenn du anfängst, dir ihren Papierkram anzuschauen, wirst du sie nie wieder los.« Mandanten zweiter Klasse hatten direkt an Oscars Schreibtisch Platz nehmen dürfen. Die erste Klasse verkehrte entweder oben in der Wohnung, gewöhnlich außerhalb der Geschäftszeiten, oder Oscar machte sogar »Hausbesuche«.
Paul selbst hatte in den vergangenen Tagen ebenfalls schon einige Mandanten persönlich empfangen, hatte allerdings noch nicht den Mut gefunden, sie zu klassifizieren. Er behandelte vorsichtshalber alle als Kategorie zwei.
Paul war bewusst, dass bisher bestenfalls Dreier und ein polternder Vierer durch die Adlertür gekommen waren. Letzterer war ein lokalprominenter Geschäftsführer einer mittelständischen Brauerei. Paul musste dessen Klassifizierung allerdings revidieren. Fräulein Christiane machte ihm klar, dass der Mann erkleckliche Umsätze bescherte und ein durchaus umgänglicher Zeitgenosse war, wenn er nicht gerade von einer Starkbierverkostung auf direktem Weg in die Kanzlei hereingewankt kam.
Aber ganz gleich ob Baron, Bauarbeiter, Bordsteinschwalbe oder Bürgermeisterin: Oscar hatte nie einen Mandanten abgewiesen. Paul würde diese humanistische Tradition nicht über den Haufen werfen.
9.
VERGRÄMEN:
Wild wird aufgestört
Pauls Telefon klingelte. Das Display zeigte die Nummer »441« an. Er wusste inzwischen, dass das die Nummer des Vorzimmers war, warum auch immer.
»Hallo Paul, Frau Rivinius ist da.« Seit dem Wetterumschwung strahlte auch Fräulein Christiane, was die Stimmung in der Kanzlei deutlich aufhellte.
»Frau Rivinius? In meinem Kalender steht gar kein Termin für heute Vormittag mit …«
»Sie braucht keinen Termin. Sie ist die Tochter von Victor Rivinius.«
»Wer ist das?«
»Ein sehr spezieller Mandant. Du wirst ihn noch kennenlernen. Schau sie dir einfach an. Sie wird dir gefallen.«
Im nächsten Augenblick öffnete sich schon die Tür, und Fräulein Christiane schob eine junge Frau herein.
»So, das ist Herr Rechtsanwalt Colossa. Wenn der Ihnen nicht helfen kann, kann es vermutlich keiner.« Sie zwinkerte Paul vergnügt zu und trat einen Schritt zurück.
Respekt! Fräulein Christiane hatte nicht zu viel versprochen. Die junge Dame gefiel Paul auf Anhieb. Und wie! Sie war um die zwanzig. Ihre dunkelblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie hatte ein ernstes, strenges Gesicht mit vollen Lippen und großen braunen Augen. Über ihren engen Jeans trug sie einen schwarzen Rollkragenpullover, eine rostrote Lederjacke, dazu weiße Stoffturnschuhe. Paul grinste sie lange an. Dann rettete er sich, viel zu spät, in ein verbindliches »Bitte nehmen Sie doch Platz« und deutete auf den Besucherstuhl.
»Ich hab Frau Rivinius schon gefragt, sie mag nichts trinken.«
Fräulein Christiane schmunzelte in sich hinein und entfernte sich diskret.
Die junge Frau saß Paul direkt gegenüber. Ihm wurde heiß an den Wangenknochen. Sie war ohne jeden Zweifel eine Kategorie-eins-Mandantin. Mit Sternchen! Er wollte sie sofort in die Wohnung mitnehmen. Und zu Hause besuchen. Er nahm sich vor, den Status dieser Mandantin schnellstmöglich upzugraden.
Der Fall Sandra war ohnehin abgeschlossen. Beim Gedanken an sie schielte Paul dennoch mit einem irrationalen Anflug von schlechtem Gewissen auf sein gerade neu erworbenes Ersatzhandy. Dummerweise hatte er Sandra als eine der Ersten damit angerufen. Warum eigentlich? Und sie hatte die neue Nummer natürlich sofort gespeichert. Er machte es aus.
»Rivinius, das ist ein sehr schöner Familienname. Darf ich fragen, woher der Name stammt?« Erst jetzt bemerkte Paul, dass die junge Frau nicht allein war. Neben ihr stand, ganz leise, sehr unauffällig, ein weißes Knäuel. Genau genommen ein Hund. Ein Tier! Hier in seinem Büro? Was für eine absonderliche Idee, ein Tier mit in eine Rechtsanwaltskanzlei zu bringen.
Sie lächelte. Sie war eine Offenbarung!
»Das ist Tolstoi.« Sie blickte liebevoll das weiße wuschelige Wesen zu ihren Füßen an. »Ist noch ein Welpe.«
»Leo Tolstoi?« Paul sah ebenfalls zu dem Hund hinunter. »Es ehrt mich sehr, Sie kennenzulernen. Ihr Roman Krieg und Frieden hat mich ungeheuer beeindruckt. Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt … irgendwie … größer!«
Die junge Frau lachte. »Nein. Einfach nur Tolstoi. Er kann noch nicht schreiben.« Das Eis war gebrochen.
»Meine Familie stammt aus Kaliningrad. Ich habe gesehen, dass auf Ihrer Zimmertür das alte Wappen der Stadt ist. Kennen Sie Kaliningrad?«
Königsberg. Paul war nie dort gewesen. Aber natürlich kannte er es. Onkel Oscar war dort 1940 geboren worden. Mit seiner Mutter war er bei nahendem Kriegsende mit einem der großen Flüchtlingstrecks Hals über Kopf, nur mit ein paar wenigen Habseligkeiten, vor der herannahenden Roten Armee geflohen. Sie hatten alles zurückgelassen und waren nach einer abenteuerlichen Odyssee in München gelandet. Eine dieser immer gleichen Geschichten der Völkerwanderung im Krieg. Oscars Vater, Robert Colossa, war hingegen in Russland geblieben, irgendwo im Permafrostboden vermutlich. Totgeschossen. Rostiges Loch im Stahlhelm. Oder vielleicht von einer Granate zerfetzt. Oscar war aus Neugier einmal dort gewesen. Umgewühlte Erde. Russen? Deutsche? Vergammelte Knochen im Lehm.
Oscar hatte keine Erinnerung an seinen Vater. Nach Erzählungen war er ihm nur bei ein paar Fronturlauben begegnet. Bald nach dem Krieg tauchte Roberts Bruder Richard in München auf und heiratete die Mutter, damals keine ungewöhnliche Wendung. Den gemeinsamen Sohn nannten sie, aus Pietät oder schlechtem Gewissen, Robert. Dieser neue Robert war dann Pauls Vater geworden. Pauls Vater und Onkel Oscar waren also nur Halbbrüder.
Wie auch immer: Oscar hatte zwar keine Erinnerung an seinen Vater gehabt, aber eine unendliche Flut an echten und eine vermutlich noch größere Zahl an eingebildeten Erinnerungen an seine Heimatstadt. Deshalb prangte auf der Zimmertür das alte Wappen von Königsberg. Ungeachtet dieser unerfüllten Heimatliebe war Oscar immer das Gegenteil eines »Vertriebenen« gewesen. Er hatte die »Landsmännchen«, wie er sie nannte, herzlich verabscheut. »Die Deutschen haben die Frauen und Kinder der Russen in ihren Kirchen zusammengetrieben und angezündet. Und dann heulen wir rum, weil deren Männer kamen und uns Königsberg weggenommen haben?«
»Ja, ich kenne die Stadt aus Erzählungen«, antwortete Paul. »Mein Onkel stammt von dort. Leider ist er kürzlich verstorben.«
»Mein Vater hat es mir erzählt.«
Das Lächeln der jungen Frau war jetzt mild geworden. Das gefiel Paul überhaupt nicht. Er wollte kein Mitleid. »Vielleicht könnten Sie mir noch einige biografische Eckdaten mitteilen. Ich bräuchte Ihren vollständigen Namen, Adresse, Telefonnummer und vielleicht E-Mail?«
»Mein Name ist Maja Rivinius. Maja wie die Biene, nicht wie das Indianervolk.« Sie schmunzelte.
Während Paul ihre weiteren Personaldaten aufnahm, hatte er einen Karel-Gott-Ohrwurm aus der Zeichentrickserie. Dieser leicht debile, allzeit zaudernde Willi fiel ihm ein. Und dieser wichtigtuerische Grashüpfer!
»Gut, Frau Rivinius«, sagte er schließlich. »Dann erzählen Sie mir doch einmal, weshalb Sie einen Rechtsanwalt brauchen.«
»Ich habe einen Stalker. Mein Exfreund. Es ist die Hölle. Er verfolgt mich Tag und Nacht. Er lauert vor meinem Haus. Er bombardiert mich mit Nachrichten. Ich glaube auch, dass er sich in meinen Computer gehackt hat, aber das kann ich nicht beweisen.«
Paul notierte ein paar Stichworte.
»Wie heißt Ihr Freund?«
»Exfreund. Pius Brendel. Wir haben uns vor zwei Monaten getrennt. Vorher waren wir ungefähr zwei Jahre zusammen. Na ja, was heißt zusammen? Pius ist verheiratet. Er ist älter als ich.« Sie blickte jetzt wieder ganz ernst drein.
»Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Zwanzig. Pius ist Mitte vierzig. Ich weiß, das klingt verrückt, aber wir haben uns auf Anhieb unheimlich gut verstanden, und es war auch echte Liebe, nicht nur Sex.«
Okay. Sie hatte mit dem Thema angefangen. Paul war immerhin zehn Jahre jünger als dieser Brendel. Andererseits war sie erst zwanzig. Und die Tochter eines Mandanten, dessen Familie keinen Termin brauchte. Trotzdem war Paul drauf und dran, sich in sie zu verknallen. Konnte er sich das leisten? Diese Frau war zum Anbeißen!
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie siebzehn und er zweiundvierzig, als Sie zusammenkamen?«
Sie wurde rot: »Ja, das stimmt. Ich weiß schon. Das ist strafbar, oder?«
Nein, war es nicht. Nur bis vierzehn – aber Paul wollte sie gern in diesem Glauben lassen.
»Aber darum geht es nicht. Ich möchte ihn loswerden! Ich hasse diesen Verrückten! Ich habe Angst, und ich ekle mich vor ihm. Helfen Sie mir. Bitte.«
In dem Moment löste sich eine Fliege von dem Buntglasfenster und summte durch den Raum.
»Sie sagten, er sei verheiratet?«
»Ja. Er lebt auch noch mit seiner Frau zusammen. Sie hat mich einmal angerufen, als wir noch zusammen waren. Sie hat gesagt, ich bin nur ein kleines Flittchen, an dem ihr Mann sich abreagiert. Er hat es dann runtergespielt, dass er Mitleid mit ihr hat und sie nicht sofort verlassen kann, weil er Angst hat, dass sie sich was antut. Und ich war so unglaublich naiv und hab ihm alles geglaubt.«
»Wie lief die Beziehung ab? Sie waren noch Schülerin und haben bei Ihren Eltern gelebt? Und er bei seiner Frau?«
»Nein. Papa hat mir zu meinem achtzehnten Geburtstag einen kleinen Bungalow geschenkt, gleich um die Ecke von seinem Haus und seiner Firma. Wir essen abends immer zusammen bei ihm, aber ich wohne allein.«
Das Ganze roch nach viel Geld und Großzügigkeit.
Die Fliege saß nun am Rand von Pauls Computerbildschirm und putzte sich mit ihren Hinterbeinchen die Flügel. Paul hatte den Verdacht, dass der Hund sie angelockt hatte, der jetzt zu Füßen seiner Herrin lag.
»Und Ihre Mutter?«
»Mama ist gestorben, als ich zehn war. Es gibt nur Papa und mich.«
»Das tut mir sehr leid.«
»Ist schon okay. Papa und ich wurden dadurch zu etwas ganz Besonderem.«
»Hat Ihr Vater gewusst von Ihnen und diesem …«
»Pius Brendel. Ja. Ich habe keine Geheimnisse vor meinem Vater. Manchmal hat er tagelang bei mir gewohnt. Papa fand das nicht so toll, aber er mischt sich in meine Privatsachen nicht ein.«
»Erzählen Sie mir von Ihrem Vater.«
»Sie kennen Papa nicht?«
»Nein – noch nicht.«
»Ach so, ich dachte … Papa war ein Mandant von Dr. Colossa! Sie waren fast ein bisschen befreundet, glaube ich. Also Papa hat eine Firma in Nürnberg. Er handelt mit großen Maschinen. Die kauft er in Europa oder in den USA und verkauft sie weiter nach Russland. Das macht er ziemlich gut.« Sie lächelte stolz. Vermutlich hatte sie damit sagen wollen, dass er eine Menge Geld verdient.
Jetzt summte die Fliege um Pauls Kopf. Das war ihm in Gegenwart der Frau peinlich. Was mochte sie von ihm denken? Bewahrte er verwestes Fleisch unter seinem Schreibtisch auf? Warum umschwirrte die Fliege ihn und nicht den Hund?
»Und dann haben Sie sich getrennt, ja? Wann?«
»Vor ein paar Wochen. Wir waren über Weihnachten noch zusammen in Ägypten, und das war auch superschön, aber … Ich habe die ganze Zeit nach dem richtigen Moment gesucht, um es ihm zu sagen.«
»Sie waren zusammen im Urlaub? Und seine Frau hat das gewusst?«
»Ich glaube, sie dachte, dass er geschäftlich unterwegs ist, um Pferde zu kaufen.«
»Seine Frau dachte, dass er … an Weihnachten … in Ägypten … Pferde kauft?«
»Ich weiß es doch nicht. Das war alles absolut krank mit den beiden.«
Ihre großen Augen blitzten, und ihre hübschen Lippen wurden schmal. Paul fiel auf, wie perfekt symmetrisch ihr Gesicht war – abgesehen von einer kleinen Narbe unter dem linken Auge.
Jetzt setzte sich die Fliege auf Pauls Nase. Paul hatte gelesen, dass Fliegen überhaupt nur deshalb auf Menschen landen, um zu überprüfen, ob sie endlich tot sind. Dann konnten sie ihre Eier auf der fahlen, modrigen Haut ablegen und sich den Bauch mit Leichenfleisch vollschlagen. Paul hatte auch etwas darüber gelesen, wie Fliegen essen: Durch ihren Saugrüssel erbrechen sie Magensäure auf den zu verspeisenden Kadaver. Die Säure zersetzt das tote Fleisch und verwandelt es in Brei. Diesen Schmodder lutscht die Fliege mit ihrem Rüssel wieder auf. Das alles schoss Paul nun unbarmherzig durch den Kopf, ein bunter Strauß widerlicher Bilder. Reflexartig schlug Paul nach der Fliege. Seine Hand klatschte mitten in sein Gesicht. Mit dem Erfolg, dass ihm die Nase schmerzte und die Fliege sich hämisch summend wieder in Richtung Fenster verzog.
Maja lachte laut auf. Wenigstens zu ihrer Erheiterung hatte es beigetragen, dass Paul sich zum Narren gemacht hatte.
Es ist das Privileg des Clowns, die Wahrheit zu sagen, aber niemand weiß, wie viele Narren aufs Rad geflochten wurden, nachdem sie ihrem Despoten reinen Wein eingeschenkt hatten. Erst lachen sie natürlich herzhaft, die Tyrannen. Später nagt die Eitelkeit Löcher in ihr Herz. War Maja eine Tyrannin? Paul ließ es drauf ankommen.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wie ich Sie jetzt hier vor mir sitzen sehe, bin ich überzeugt, dass Sie schon mit siebzehn eine reife Persönlichkeit waren. Trotzdem ist eine Beziehung mit so einem Altersunterschied eher ungewöhnlich. Es war ja nicht nur ein kurzes Abenteuer.« Jetzt machte Paul eine Pause und blickte ihr direkt in die Augen. Er wollte es wirklich wissen. »Bitte verzeihen Sie mir meine Ehrlichkeit an dieser Stelle: Warum fühlen Sie sich zu älteren Männern hingezogen?« Er hatte alles auf die Clownkarte gesetzt.
Das Mädchen blickte zum Fenster hinüber und schwieg. Eine ganze Weile hörte man nur das eintönige Summen der Fliege.
»Das hat Papa auch gesagt«, begann sie. »Pius ist ein ziemlich … geiler Typ. Er macht gute Geschäfte. Er sieht echt super aus. Er reitet wie ein Gott. Ich hatte das Gefühl, er könnte jede haben.« Sie lächelte Paul an. »Aber er wollte mich.«
Sprach sie jetzt noch über Brendel? Oder hatte sie Paul durchschaut?
»Das hat mir natürlich gefallen!«
»Ich glaube nicht, dass er jede haben könnte.« Paul machte die Vorstellung, dass dieser Stalker jede haben konnte, richtiggehend wütend.
»Nein. Natürlich nicht. Weil er total verrückt ist. Ich habe das nur nicht gemerkt. Er wollte alles von mir wissen. Am Anfang fühlte ich mich noch geschmeichelt. Aber er wurde immer neugieriger. Wo ich bin, mit wem ich weggehe, wer mit mir chattet. Manchmal ist er zufällig aufgetaucht, wenn ich mit Freunden unterwegs war, obwohl ich ihm nicht gesagt habe, wo wir hingehen.«
Paul wartete auf die Auflösung des Rätsels.
»Er hat so eine Kindersuchfunktion in meinem Handy aktiviert, dieser Arsch! Können Sie sich das vorstellen?«