Jahrtausendstadt - Terra Fox - E-Book

Jahrtausendstadt E-Book

Terra Fox

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Beschreibung

Valera ist Schülerin der Gelehrten. Als einer ihrer Kollegen, der von Anfang an gegen ihre Aufnahme gewesen ist, daran arbeitet, Valeras Ausbildung zu beenden, muss Valera um ihren Platz in der Bibliothek fürchten. Raj lebt in der Wüste und ist der Sohn des Clanführers, dessen Platz er eines Tages einnehmen soll. Jedoch verabscheut er die Gewalt, die innerhalb seines Volkes Gang und Gebe ist. Als ihm eine junge Frau geschenkt wird, entscheidet er sich entgegen aller Tradition dazu, ihr die Freiheit zu schenken. Siojh gehört dem Freien Volk an, welches sich durch seine Flügel auszeichnet. Die sogenannten Himmelsreiter leben auf den Gipfeln der Berge, abgeschottet vom Rest der Menschheit, weil dank ihrer gemeinsamen Vergangenheit die Menschen in den Augen der Himmelsreiter bloß ein Haufen gefährlicher und verabscheuungswürdiger Wesen sind. Aquiel ist Priester und dient dem Tempel zu Ehren seines Gottes in seinem Land. Eines Tages soll er der neue Hohepriester werden, aber bis dahin will er sich um die Straßenkinder seiner Heimatstadt kümmern. Was haben diese vier Personen, die alle in einem anderen Winkel der Welt leben und sich noch nie zuvor begegnet sind, gemeinsam? – Auf den ersten Blick nichts. Aber als ein uraltes und gefährliches Phänomen auftritt, müssen diese Vier ihre Heimat verlassen, um dieselbige zu retten.

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Terra Fox

Jahrtausendstadt

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Tag 1

Nacht 1

Tag 2

Nacht 2

Tag 3

Nacht 3

Tag 4

Nacht 4

Tag 5

Nacht 5

Tag 6

Nacht 6

Tag 7

Nacht 7

Tag 8

Nacht 8

Tag 9

Nacht 9

Tag 10

Nacht 10

Tag 11

Nacht 11

Tag 12

Nacht 12

Tag 13

Nacht 13

Tag 14

Nacht 14

Tag 15

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

„Es heißt, als die Erde noch zu jung war, um von Menschen bewohnt zu werden, herrschten Urgewalten und Mächte ganz anderer Art, die jenseits jedes uns bekannten Sturmes lagen. Blitz und Donner rührten die Erde auf, Feuersalven fegten wild und ungezähmt über das Land und unaufhörliche Regengüsse formten unsere Meere. Es war eine Epoche des Chaos und der Finsternis, und in ebenjene Finsternis wurden die ersten Menschen hineingeboren. Es war nur ein kleines Volk, das in solch feindlicher Umgebung kaum lebensfähig war, doch sie hatten die Gabe, Licht in die Dunkelheit zu bringen, als sie lernten, das Feuer zu bändigen. In ihrem fortan hell erleuchteten Dorf war für die Dunkelheit kein Platz mehr, und so betrachtete die Dunkelheit unsere erst so junge Spezies als Feind.“

- aus den Erzählungen des Weisen Tevidur – Hohepriester im Tempel des Aquaris

Jahrtausendstadt

Klopf-bumm. Klopf-bumm. Seit ich denken konnte, war das die Melodie meines Lebens. Klopf-bumm. Der Hammer auf dem Fels. Klopf-bumm. Die Spitzhacke spaltet den Stein. Klopf-bumm. Die Geräusche aus dem Bruch begannen noch vor Tageslicht und endeten erst, wenn die Abenddämmerung erlosch – und währenddessen waren sie gut und deutlich in der ganzen Siedlung zu hören. Klopf-bumm.

Ich war ein Kind der Goldgräberstadt: hier geboren und aufgewachsen und – so mir die Götter gewogen waren – würde ich auch hier sterben. Obwohl ich noch jung war und mein gesamtes Leben erst noch vor mir hatte, sehnte ich mich nicht nach etwas Anderem. Ich wusste zwar, dass es dort draußen noch eine ganze Welt gab, aber ich sehnte mich nicht nach der Welt, denn hier hatte ich meine eigene. Meine Welt war klein, das wusste ich. Sie reichte bloß von der einen bis zur anderen Seite der Gebirgswand und beschränkte sich auf die Grube, die die Goldstädter als ihren Wohnort ausersehen hatten. Aber damit war ich schon zufrieden, mehr als das brauchte ich gar nicht.

Gerade hatte ich das notwendige Alter erreicht, um auch im Steinbruch und in den Minen zu arbeiten, für die meine Heimat so berühmt war. Schon als kleines Kind hatte ich davon geträumt, eines Tages, wenn ich groß war, als einer der Schürfer in den Berg zu gehen. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich die kostbarsten Edelsteine, die wertvollsten Juwelen und die seltensten Erze an die Oberfläche brachte. In meiner Vorstellung hatte sich der Schmied überschlagen, einen meiner Funde zu erwerben, um daraus hochwertigen Schmuck für die Königshäuser Luwin aus Terran und Alven aus Merir herzustellen, und jeder Händler hatte mir die guten Stücke förmlich aus der Hand gerissen.

Damals war das alles bloß die Fantasie eines Kindes gewesen. Nun aber hatte ich die Chance, es Wirklichkeit werden zu lassen. Ich hatte vor, mir als Schürfer einen Namen zu machen und mir Ruhm, Ehre, Ansehen und Respekt zu verdienen. Meine Funde würde ich für gutes Geld verkaufen, wofür ich dann wiederum meiner Mutter ein Seidenhalstuch kaufen konnte, so wie sie von Edeldamen getragen wurden. Vielleicht konnte ich uns mit der Zeit sogar ein neues Haus kaufen. Ein größeres, damit wir beide getrennte Schlafzimmer hatten, und ein stabileres, bei dem der harsche Wind der Berge nicht durch irgendwelche Ritzen pfiff. Die Holzbauten waren nun mal nicht sonderlich belastbar. Die Bretter wurden allzu schnell morsch, sogen sich bei Regen mit Wasser voll und waren generell anfällig für die launenhaften Witterungsverhältnisse des Gebirges. Im Winter konnte das Holz die Kälte von draußen ebenso wenig abwehren wie es die behagliche Wärme eines kleinen Feuerchens im Inneren halten konnte. Außerdem konnte das Dach bei anhaltendem Schneefall den Schneemassen nicht standhalten. In den vergangenen Jahren war es uns immer mal wieder unter der Last eingebrochen und wir mussten Handwerker kommen lassen, die das Loch nur behelfsmäßig stopften, weil unter den harten Bedingungen des Winters hierzulande niemand ordentlich arbeiten konnte und die richtige Reparatur daher bis zum Frühling warten musste. Mit Schrecken dachte ich an die Nächte zurück, die ich als kleiner Junge fröstelnd und zähneklappernd gemeinsam mit meiner Mutter eng aneinandergepresst unter der Bettdecke zugebracht hatte. Wäre ich nicht noch zu klein gewesen, hätte ich die Ausbesserung des Daches sofort und ohne Umschweife selbst in Angriff genommen.

Heute aber war ich so gut wie ein Mann und weit entfernt von dem hilflosen Jungen von einst. Ich hatte mir fest vorgenommen, dass ab dem Moment, in dem ich den Schürfern beitrat, ich für meine Mutter und mich sorgen würde. Das Einkommen eines Schürfers war in der Regel beträchtlich, weil sich in den hiesigen Minen gut finden ließ. Es war aber auch vom Glück und dem jeweiligen Gespür abhängig. Man konnte Tage in den Schächten Untertags verbringen und nichts weiter tun als Geröll beiseite zu schaffen, ohne fündig zu werden. Und am Ende des Tages kam man dann völlig verdreckt nach Hause und hatte nichts vorzuweisen außer dem Staub in den eigenen Hosentaschen.

Ebenso gut aber war es möglich, mit nur wenigen Stunden Arbeit den Beginn einer Erzader oder eines großen Edelsteinvorkommens freizulegen, von dem die gesamte Goldgräberstadt noch Wochen zehren konnte. Dann kam man zwar ebenso verdreckt nach Hause zurück, doch anstatt des Staubes waren die Taschen gefüllt mit ungeschliffenen Diamanten und grüner Jade, mit Obsidian, Amethyst und Aquamarin, mit Topasen, Achaten und Opalen, deren Schönheit erst nach ihrer Bearbeitung vollends zur Geltung kam. Ganz zu schweigen von Rubinen, Smaragden und Saphiren, die man finden konnte, sowie Gold, Silber, Kupfer und Bronze.

Es gab so gut wie nichts, was sich nicht in diesen Minen finden ließe. Darum war die Goldgräberstadt, die direkten Zugang zu dem Reichtum unter dem Berge hatte, in der Tat die wohlhabendste, zugleich aber auch die ärmste aller Städte. Güter hierher zu bringen war äußerst schwierig. Der einzige Pfad, der in die Stadt hinein- und hinausführte, war oft nicht mal breit genug für eine Person. Die Steine und Erze während des Abstiegs in einem geschulterten Sack zu transportieren, war eine Sache, aber einen beladenen Karren den Berg hinaufzufahren, daran war gar nicht zu denken. Darum stand den Bewohnern der Goldgräberstadt meist nur das zur Verfügung, was sie hier an Ort und Stelle hatten. Dort, wo sich heute die Siedlung befand, war früher beispielsweise einmal ein Wald gewesen, der gerodet worden war, um das Holz für die Häuser bereitzustellen. Auf anderem Wege wäre es unmöglich gewesen, genug Baumaterial zusammenzutragen. Es gab Jäger, deren einzige Aufgabe es war, sich um die Verpflegung der Siedlung zu sorgen, doch war die Population mittlerweile so stark angewachsen, dass sie alle Stunden, die der Tag besaß, im Gebirge umherstreiften mussten, um genug Beute zu machen. Damit waren sie so beschäftigt, dass man sie meist nur dann zu Gesicht bekam, wenn sie ihren Fang ablieferten. Sie lebten praktisch im umliegenden Wald und auf den schroffen Felsen, und trotzdem reichten die geschossenen Gämsen, Böcke und Fasane bloß, um über die Runden zu kommen, nicht aber, damit ein jeder sich sattessen konnte.

Die Händler, die hinabstiegen, um die Funde aus dem Berg weiterzuverkaufen, brachten zwar im Gegenzug immer so viel von auswärts mit, wie sie selbst tragen konnten, doch reichte das noch lange nicht. Einzig die Königshäuser schickten regelmäßig einen Boten, um uns auf diese Weise gewisse Dinge wie Medikamente und Ähnliches zukommen zu lassen. Sie wussten um die schwere Arbeit, die wir leisteten – und natürlich lag ihnen auch an den Schätzen, die wir zutage förderten. Darum stellten sie sicher, dass es uns nicht am Notwendigsten mangelte, damit sie sich weiter mit Edelsteinen aus unserer Hand schmücken und Waffen und Rüstungen aus unseren Erzen herstellen konnten.

Klopf-bumm. Die Geräusche von Hammer und Spitzhacke begleiteten mich auf meinem Weg. Meine Werkzeuge hatte ich bei mir – ich war ausgerüstet und bereit. Vor dem Eingang zu einer der vielen Minen, ganz am Rande der Siedlung, gesellte ich mich zu den Männern, deren Kollege ich seit kurzem war. Die Schürfer arbeiteten in Schichten: eine Gruppe von der Morgendämmerung an bis zum Zenit, die andere vom Zenit bis zum Sonnenuntergang. Bergbau war körperlich äußerst anstrengend, weshalb keiner der Männer länger als einen halben Tag durchhielt oder durchhalten wollte. Und diese beiden Gruppen spalteten sich wiederum in mehrere kleine auf, so dass in mehreren Minen und im Steinbruch gleichzeitig gearbeitet werden konnte.

Ich war den Morgenschürfern zugeteilt worden. Während ich die erste Zeit noch Übertage im Steinbruch geschürft hatte, ging es heute endlich in die Minen. Der Vordermann hatte einen Kanarie in einem Käfig bei sich. Der Vogel zwitscherte schon die ganze Zeit laut vor sich hin, doch niemand schenkte ihm Beachtung, weil alle sich daran gewöhnt hatten. Er diente einzig und allein dem Zweck, unser Leben zu retten, denn es kam nicht selten vor, dass beim Schürfen ein Loch geschlagen wurde, aus dem Gas austrat. Es war unsichtbar und geruchlos, weswegen wir Menschen es nicht bemerkten, bis es zu spät war. Hatte sich erst genug davon in den Tunneln angesammelt, brauchte es nur einen Funken zur Explosion. Wir aber brauchten Licht, um uns in der Dunkelheit zurechtzufinden, weswegen wir Laternen mit uns führten, die wir im Inneren der Mine an den Stützpfeilern befestigten. Hätten wir den Vogel nicht bei uns, könnten wir uns kein Feuer und somit keine Lichtquelle erlauben, doch das überaus empfindliche Tier reagierte auf den Sauerstoffmangel, den das Gas nach und nach hervorrief, indem es plötzlich auffällig still oder bewusstlos wurde. Im schlimmsten Fall fiel es sogar tot um – was ein eindeutiges Zeichen für die Schürfer war, die Minen auf schnellstem Wege zu verlassen.

Eine Sache gab es allerdings, die selbst der Vogel nicht anzeigte. Eine heimtückische Krankheit, die unerwartet und ohne Vorwarnung im Inneren des Berges zuschlug, verbreitet durch Stoffe in der Luft. Es war kein Gas, denn es war nicht entzündlich. Aber es war ähnlich farb- und geruchlos. Ich hatte Geschichten von Männern gehört, die nach einem gelungenen Arbeitstag heimkehrten und nichts geschah. Auch am Tag darauf und sogar am Tag darauf passierte nichts. Dann aber war es, als ob sie aus heiterem Himmel den Verstand verloren hätten. Wie von Sinnen begannen sie zu schreien und um sich zu schlagen und zu ihrer eigenen Sicherheit als auch zur Sicherheit aller anderen musste man sie ans Bett fesseln, wo sie sich weiter munter die Seele aus dem Laib brüllten, bis ihre Stimmen versagten. In ihrem Wahn konnten sie weder reden noch essen noch schlafen. Und wenn ihr Körper schließlich zu erschöpft war, um sich weiter aufzubäumen, waren sie auch zu erschöpft, um weiter zu atmen.

Der Name dieser schrecklichen Krankheit lautete „Goldfieber“. Es war nicht heilbar. Sämtliche Mittel, die zum Einsatz gekommen waren, hatten versagt. Letzten Endes hatten sich die Bewohner in ihrer Verzweiflung an die Könige gewandt. König Luwin II hatte einen seiner Gelehrten geschickt – einen klugen, belesenen Mann, der bewandert war in der Kunst eines Heilers. Er hatte zumindest herausgefunden, dass das Goldfieber nicht ansteckend war, und eine Mixtur entwickelt, die eine fünfzigprozentige Überlebenschance bot – was bedeutete, dass sie mal half und mal nicht. Immer noch fielen gute Männer dem Goldfieber zum Opfer, aber dank des Gelehrten waren es nur noch halb so viele.

Natürlich machten mich die Gefahren, die in den Minen lauerten, etwas nervös, doch in erster Linie war es freudige Aufregung, die ich verspürte. Ich hatte Großes vor, und dazu gehörte ganz gewiss nicht, mich einfach dahinraffen zu lassen. Deshalb verbannte ich die letzten Zweifel und schritt entschlossen voran. Das Licht wurde schwächer, die Dunkelheit umfing mich. Nur die Flammen der Laternen warfen ihren tanzenden Schein an die Tunnelwände, wo sie lange Schatten zeichneten. Das „Klopf-bumm“ aus dem Steinbruch wurde dumpf und leise und bald darauf war das einzige Geräusch der Klang unserer eigenen Schritte und das Zwitschern des Kanaries.

Ich folgte den Männern, bis der Tunnel sich zu einem kleinen, rundlichen Raum weitete, von dem aus weitere Gänge abzweigten. Die Wände glitzerten bunt von darin verborgenen Erzen. Der Käfig mit dem Kanarie wurde abgestellt, folglich würden wir uns heute um diesen Bereich kümmern. Die Männer schwärmten aus und nach und nach ging jeder für sich seinem Tagesgeschäft nach. Jeder war höchst motiviert, denn wer etwas fand, durfte es behalten, und wenn man verkaufte, gehörte der daraus resultierende Gewinn einem selbst. Das war eine allgemeingültige Regel, die von allen respektiert wurde. Daher: Je mehr man ausgrub, desto besser für sich und seine Angehörigen.

Ich sah mich nach einer geeigneten Stelle um und entdeckte weiter hinten einen freien Flecken Gestein, der im Licht der Laternen vielversprechend schimmerte. Ich entschied, dort anzufangen. Schon beim ersten Hieb mit der Spitzhacke gab das weiche, brüchige Gestein nach und rieselte in Staubkörnern und kieselsteingroßen Bröckchen zu Boden. Ich nahm einen dieser unscheinbaren Klumpen in die Hand. Als ich ihn umdrehte, kamen auf der anderen Seite lauter kleine schwarze Splitter zum Vorschein – Onyx oder Obsidian vielleicht. Auf jeden Fall sah es so aus, als war hier noch mehr zu holen.

Mit vollem Eifer holte ich aus und schlug gleich mehrere Male auf dieselbe Stelle ein. Klopf-bumm! Klopf-bumm! Klopf-bumm! Noch mehr schwarze Splitter kamen zum Vorschein. Was ich da vor mir hatte, war offenbar ein ganzer Kristall, vielleicht sogar eine ganze Ader! Klopf-bumm! Klopf-bumm! Klopf-bumm! Ich legte immer mehr davon frei. Schnell befand sich vor mir ein handtellergroßes Loch, dahinter kam es schwarz und schwarz hervor. Zu meinen Füßen sammelte sich das Geröll. Klopf-bumm! Klopf-bumm! Klopf-bumm!

„Hey, Leute! Seht mal her! Unser Neuling hat da offenbar was gefunden!“, hörte ich den Ruf eines Kollegen hinter mir. Binnen weniger Augenblicke kamen sie alle herbeigeeilt, um mir neugierig über die Schulter zu schauen, doch zumindest ließen sie mir noch genug Platz, um meine Spitzhacke zu schwingen. „Oh“s und „Ah“s machten die Runde, und obwohl mich die ganze Aufmerksamkeit, die gerade auf mir lag, nervös machte, grinste ich breit. Noch ein Schlag! Klopf-bumm! Und noch einer! Klopf-bumm!

Auf einmal brach der Fels entzwei. Übrig blieb ein durch und durch schwarzer Kristall, der mir bis zum Knie ging. Seine Oberfläche war so glatt, dass sich unsere Gesichter matt darin spiegelten. Mit solch einem Brocken konnte ich mir ein Vermögen verdienen! Wie viel mochte der wohl wert sein? 500 Goldmünzen? Oder 1000 in Silber? Völlig egal! Auf alle Fälle reichte es aus, um das Haus aufzubessern, noch bevor der Winter kam. Damit konnte ich die Außenwände und das Dach verstärken und trotzdem würde allemal noch genug übrigbleiben, um meiner Mutter das Seidentuch zu kaufen. So schnell also konnte man seine Träume verwirklichen! Und das war erst der Anfang! Plötzlich rückte auch ein neues Haus in greifbare Nähe, denn so viele Schätze mehr warteten bloß darauf, dass ich sie in den kommenden Jahren noch barg.

Einer meiner Kollegen klopfte mir anerkennend auf die Schulter. „Alle Achtung, Junge. Du hast wirklich ein glückliches Händchen.“ An die anderen gewandt sagte er: „Na los! Helfen wir, das Ding herauszubekommen!“

Ich trat beiseite, als meine Kollegen Hand anlegten. Sie stellten sich im Halbkreis um den Kristall auf, dann schlugen sie einer nach dem anderen immer wieder auf ha-genau die Stelle ein, wo der Stein auf die dahinterliegende Wand traf, um ihn von dort zu lösen. Solch eine Treffsicherheit zeugte von jahrelanger praktischer Erfahrung, die ich selbst mir erst noch aneignen musste. Daher war ich froh über die Hilfe, die mir meine Kollegen zuteilwerden ließen. Vielleicht taten sie es nur, weil sie sich davon einen Anteil am Verkaufspreis versprachen, doch sei‘s drum. Das wichtigste war zunächst, den Stein überhaupt ans Tageslicht zu kriegen, denn dort, wo er war, saß er ganz schön fest. Schon drei der Männer hatten ihre Spitzhacken überkreuz in die geschlagene Furche gelegt und zogen nun mit vereinten Kräften, doch nichts rührte sich. Es brauchte noch einen vierten und einen fünften Mann. Der vorhandene Platz rund um den Stein war knapp bemessen, so dass sie Schulter an Schulter stehen mussten, doch schließlich kam Bewegung in die Sache. Mit einem kleinen Ruck lockerte sich der Halt, den der umliegende Fels meinem Fund gab, woraufhin der Stein begann, sich uns zuzuneigen. Als er letztendlich völlig in die Waagrechte kam, war es vollbracht. Nun mussten wir den Brocken nur noch auf eine Lore schaffen, dann konnten wir ihn ganz einfach hinausfahren.

„Hey, seht mal. Darunter ist noch was“, machte ein anderer uns aufmerksam. Er kniete sich hinunter und begutachtete, was er sah. „Da ist ein Loch“, ließ er uns alle wissen, während er mit der Hand über dessen Rand strich. „Vielleicht war dieser übergroße Klunker ja nur die Spitze des Eisbergs. Was meint ihr? Ob darunter noch eine ganze Ader auf uns wartet?“ Kurzerhand steckte er seine Hand hinein, um sich ein Bild der Lage zu ertasten. „Jared, fass da nicht einfach so rein. Du weißt nicht, ob darin nicht vielleicht eine Riesenspinne haust“, entgegnete ein anderer. Seine Sorge war berechtigt, denn die gefürchteten Riesenspinnen siedelten sich bevorzugt an kalten, dunklen und feuchten Orten an – die Minen waren also ideal. Sie konnten die Größe eines menschlichen Kopfes erreichen. Ihr Gift wirkte schnell, so dass man meistens schon das Bewusstsein verloren hatte, noch ehe man sich zurück zum Eingang retten konnte. Der Biss an sich war zwar nicht tödlich, doch bekam man nicht innerhalb einer gewissen Zeitspanne ein Gegenmittel verabreicht, hinterließ er bleibende körperliche und geistige Schäden, weil das Gift die Nerven angriff und wilde Zuckungen und Krämpfe hervorrief.

„Jared, hörst du nicht?“, schimpfte mein Kollege weiter, denn Jared lag flach auf dem Boden und war bereits bis zur Schulter im Erdloch verschwunden. „Nur die Ruhe, hier drin ist gar nichts. Ich kann nicht mal einen Boden oder Wände spüren. Ich glaube, es ist einfach ein Luftraum zwischen zwei Felsschichten“, gab Jared zur Antwort. „Dann sieh zu, dass du da wieder rauskommst!“, zischte der andere sichtlich verärgert. „Ist ja gut“, murrte Jared daraufhin. Er stemmte sich mit dem freien Arm auf die Knie, doch als er die Hand herausziehen wollte, fuhr ein Ruck durch seinen Körper und er ging erneut mit einem erschrockenen Schrei zu Boden.

„Jared, was ist?!“, wollten wir sofort wissen. Eine Sekunde verging. Auf einmal war all die Farbe aus Jareds Gesicht gewichen. Er war totenbleich geworden und auf seiner Miene spiegelte sich Entsetzen wider. Er bewegte sich keinen Millimeter, als er flüsterte: „Da hat etwas meine Hand gepackt.“ „Was? Ist es eine Riesenspinne? Nur nicht bewegen, hörst du? Bleib ganz ruhig und warte, bis sie sich wieder zurückzieht“, gab derselbe Kollege von vorhin Anweisungen, aber Jared schüttelte kaum merklich den Kopf. „Keine Riesenspinne“, war alles, was er mit ängstlicher Stimme herausbrachte. Plötzlich schrie er wieder auf. Sein Körper wölbte sich weiter dem Loch entgegen, so als ob jemand auf der anderen Seite ziehen würde. Jared strampelte und drückte mit der anderen Hand dagegen. Wir waren sofort zur Stelle und packten ihn, wo wir ihn zu fassen bekamen, doch die Kraft, die an ihm zog, war immens, so dass wir nichts ausrichten konnten.

„Fester! Haltet ihn fest!“ Doch so sehr wir es auch versuchten, es half nichts.

Das Loch war viel zu klein, als dass der ganze Jared hätte hindurchpassen können, und so hörten wir nur einen Moment später als erstes das Schulterblatt brechen. Jared schrie wieder, diesmal vor Schmerz. Als nächstes brach sein Genick und seine Schreie erstarben. Es war ein kurzes „Knack“, dann wurden seine Augen ausdruckslos. Sein Gesicht, das eben noch zu einer Grimasse der Angst und des Schmerzes verzerrt gewesen war, erschlaffte. Dann verschwand sein Kopf im Loch. Die andere Schulter brach. Der Arm stand nun in unmöglichem Winkel vom Körper ab und als Jared immer weiter hinuntergezogen wurde, brach Rippe um Rippe um Rippe. Schließlich war er ganz verschwunden.

„Jared! Jared!“, riefen wir ihm hinterher, ohne Antwort zu erhalten. Kurzerhand packten mehrere Männer gleichzeitig ihre Werkzeuge und begannen, auf das Gestein rund um das Loch einzuhämmern – keine gute Idee, wie sich herausstellte. Der Boden bekam Risse, dann brach er ein und wir alle stürzten in die Tiefe. Ich hörte meinen eigenen Schrei kaum unter denen der anderen, die von den Felswänden abprallten und wie ein schreckliches Echo zu uns zurückgeworfen wurden. Es ging alles so schnell. Schon im nächsten Moment schlug ich hart mit dem Rücken auf. Dort oben an der Decke, dort, wo wir eingebrochen waren, befand sich ein großes Loch. Und es bröckelte weiter. Ganze Gesteinsbrocken lösten sich und stürzten herab. Einer von ihnen landete genau auf meiner Brust. Ein unsagbarer Schmerz fuhr durch meinen Körper, als meine Rippen brachen und die Spitze des Felsens sich in mein Fleisch bohrte. Dann kam auch noch der Rest der Decke herunter. Es staubte, und als ich die Augen das nächste Mal aufschlug, befand ich mich in völliger Dunkelheit. Ich war vom Gestein bei lebendigem Leib begraben worden. Nicht ein Geräusch drang an meine Ohren. Es war wahrlich so still wie in einem Grab. Ich bekam kaum noch Luft. Um jeden Atemzug musste ich schmerzhaft kämpfen, denn der Fels lag nach wie vor auf mir und hielt mich fest am Boden. Ich strengte mich an, mich bemerkbar zu machen.

„Leute?“ Meine Stimme kam so leise aus mir heraus, dass ich mich selbst kaum hören konnte. Ich versuchte es noch einmal. „Kann mich jemand hören? Ist noch irgendjemand am Leben?“ Nichts. Tränen der Verzweiflung stiegen in mir hoch. Ich versuchte sie zurückzuhalten, um nicht den Verstand zu verlieren. Aber gerade, als ich dachte, ich sei verloren, hörte ich ein Geräusch. Nicht weit von mir kam Gestein in Bewegung. Ein weiterer Erdrutsch? Nein, da stemmte jemand die Felsen beiseite! Schon im nächsten Moment war mein Blickfeld frei und ich sah in das Gesicht von Jared. Er… war am Leben! Aber wie? Sein Körper war doch völlig gequetscht und all seine Knochen gebrochen worden. Nun aber stand er unversehrt vor mir und blickte auf mich herab. Um ihn herum waberte Dunkelheit wie Nebel.

„Hallo, Junge“, sagte Jared zu mir. Er wirkte verändert, aber ich konnte nicht genau sagen, inwiefern, denn dafür war es zu finster und meine Angst zu groß. „Jared… hilf mir“, flehte ich gepresst, doch er machte keinerlei Anstalten, mich aus meiner misslichen Lage zu befreien. Er sah mich weiterhin nur an, so als ob er mich nicht mehr kennen würde.

„Wiedersehen, Junge.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging. „Warte, lass mich hier nicht allein zurück!“, rief ich ihm nach, doch da war er schon fort. „Jared!“ Nichts mehr. Die Stille um mich herum war erdrückender als der Fels auf meiner Brust. Ich schluchzte und wimmerte in meiner Todesangst wie ein kleines Kind. Dann hörte ich es, dieses so vertraute Geräusch: Klopf-bumm! Klopf-bumm! Klopf-bumm! Aber diesmal waren es nicht die Hämmer und Spitzhacken auf dem Stein. Es war das Geräusch meines eigenen, pochenden Herzens, das in der herrschenden Stille plötzlich abnorm laut geworden war.

Wie Jared die Minen verließ und in die Goldgräberstadt zurückkehrte, wie er dort alle Bewohner unter seine Kontrolle zwang, wie er die Schmiede überfiel, um sich und sein neues Gefolge in Rüstungen zu kleiden, die noch kein Wappen trugen, weil noch nicht feststand, welches der beiden Königreiche sie am Ende kaufen würde – all das würde ich nicht mehr mitbekommen, denn ich sollte bereits zu tot sein, um noch davon zu erfahren. Und das letzte, was ich hörte, war das vertraute Klopf-bumm, Klopf-bumm, Klopf-…

Tag 1

Valera

Das Geräusch ihrer Schritte hallte auf dem Steinboden wider, als Valera durch die Gänge eilte. Wenn jemand ihr begegnete, lächelte sie und nickte demjenigen zu. Wenn es sich dabei um einen der Gelehrten handelte, blieb sie sogar kurz stehen und deutete eine Verbeugung an. Vor den Gelehrten hatte Valera großen Respekt, denn von ihnen wurde sie unterrichtet, um eines Tages selbst eine Gelehrte zu werden.

Ihr Vater war ein Kaufmann, ein Seidenhändler. Vor ein paar Jahren hatte er einem der Männer, welche Valera nun ausbildeten, Stoffe verkauft, und durch eine zufällige Begegnung war dieser Mann auf Valera aufmerksam geworden. Damals hatte sie ihren Vater auf den Markt begleitet, und weil ihr langweilig gewesen war, hatte sie die anderen Verkaufsstände begutachtet. Als sie wieder zurückgekommen war, hatte sie freudestrahlend ein dickes Buch mit dem Titel „Geschichten aus aller Herren Länder“ in Händen gehalten, das sie von dem Geld gekauft hatte, welches ihr Vater ihr gegeben hatte. Der Gelehrte mit Namen Ramon, der in diesem Moment gerade seine erworbenen Stoffe bezahlen wollte, war überrascht gewesen. Nicht viele Kinder konnten lesen, oftmals auch nicht die von wohlhabenden Händlern. Und nicht selten kam es vor, dass es selbst die Erwachsenen nicht konnten. Also hatte er Valera gefragt: „Kind, wer hat dir das Lesen beigebracht?“ Und Valera hatte geantwortet: „Ich habe es mir selbst beigebracht.“ Auf Nachfrage des Gelehrten hatte ihr Vater erzählt, dass Valera ihn und ihre Mutter nach allen ihnen bekannten Buchstaben gefragt hatte, und bald darauf hatte sie die ersten einfachen Bücher gelesen. Die Worte und deren Aussprache sowie die fehlenden Lettern hatte sie sich dabei selbst angeeignet. Der Gelehrte war so verblüfft gewesen, dass er Valera kurzerhand einen Platz in der großen Bibliothek, dem Zuhause der Gelehrten, angeboten hatte. Valera sei ein kluges und aufgewecktes Kind, hatte er gesagt, dessen Talente gefördert werden müssten. Selbstverständlich hatte ihr Vater dem voller Stolz zugestimmt, denn wer konnte schon behaupten, einen Gelehrten in der Familie zu haben?

Die Gelehrten waren hoch angesehen. Sie waren Forscher, Erfinder und Entdecker. Sie waren die weisesten Männer des Landes, weshalb sie des Öfteren auch vom König selbst zu Rate gezogen wurden, und bei dem Gedanken daran, dass Valera die einzige Frau unter ihnen sein würde, konnte auch sie ihren Stolz nicht ganz verbergen. Sie war bereits im heiratsfähigen Alter, und als Tochter eines Kaufmannes wäre sie schon bald mit dem Sohn einer anderen Händlerfamilie vermählt worden – was hauptsächlich der Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zwischen den beiden Familien gedient hätte. Ob sie ihren zukünftigen Gemahl liebte oder nicht, spielte hierbei keine große Rolle. Aber als Gelehrte brauchte sie sich darüber keine Gedanken mehr machen. Valera war glücklich darüber. Sie fühlte sich befreit, so als ob eine Last ihr von den Schultern genommen worden wäre. Gleichzeitig hatten sich ihr neue Möglichkeiten eröffnet, von denen sie nie zu träumen gewagt hätte. Hier in der großen Bibliothek hatte sie Zugang zu sämtlichen Büchern, die die Gelehrten besaßen. Soweit Valera wusste, war es sogar die größte Sammlung von Büchern und Schriftstücken überhaupt. Sie hatte in den vielen, vielen Reihen von Regalen all die Geschichten gefunden, die sie bereits kannte, und noch viele, viele mehr, die sie bis dahin noch nicht gekannt hatte. So hatte sie erfahren, dass das Land, in dem sie lebte, die Urebene, so hieß, weil man annahm, dass es das erste aller Länder war, das sich nach der Entstehung der Welt geformt hatte. Terran, dessen Hauptstadt und Valeras Heimat, war benannt worden nach dem König, der sie hatte erbauen lassen: König Terran I. Heute, mehrere Jahrhunderte später, herrschte König Luwin III.

Merir, die Hauptstadt der Weiherlande, war ebenfalls benannt worden nach dem ersten dort herrschenden König. Die Weiherlande, so fand Valera, war eines der schönsten Königreiche. Die ungezählten Flüsse und Seen, die ihren Quell tief im angrenzenden Minengebirge hatten, zogen sich durch die Ebenen bis hinunter zum Meer, so dass das ganze Land ausgesprochen grün und fruchtbar war. Das war auch der Grund, warum die Weiherlande sich jedes Jahr über eine reiche Ernte freuen konnten. Außerdem beherbergten die Weiherlande die Hafenstadt. Dabei handelte es sich nicht um irgendeine Hafenstadt, denn davon gab es viele. Nein, es war die Hafenstadt. Sie war der Dreh- und Angelpunkt für jedweden Handel in den gesamten Weiherlanden. Der Markt dort hatte alles zu bieten, was man sich nur vorstellen konnte. Und Schiffe, die von weither kamen, brachten oft ganz besonders exotische Waren mit sich.

Valera träumte davon, eines Tages dorthin zu reisen. Wenn sie ihre Ausbildung erstmal beendet hatte und in den Reihen der Gelehrten aufgenommen worden war, stand es ihr frei, Terran zu verlassen, um anderswo nach Wissen zu suchen, denn Wissen war es, wonach alle Gelehrten strebten. Sie glaubten nicht an Götterkulte, nicht mal an Neobris, den Gott des Wissens und der Weisheit, welcher ihnen noch am meisten zusagen müsste. Stattdessen glaubten sie nur an das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, und Valera war von ihrem Lehrer, dem Gelehrten Ramon, dazu erzogen worden, einfach alles in Frage zu stellen – selbst ihn, was nicht erst einmal zu ausgiebigen, aber sehr anregenden und fröhlichen Debatten geführt hatte. Valera hatte es sich zu Eigen gemacht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dies war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und so hatte auch sie irgendwann aufgehört, an Götter zu glauben. Allerdings, so hatte Valera festgestellt, wagte trotzdem keiner der Gelehrten zu behaupten, dass es keine Götter gäbe. Anfangs hatte Valera diese Haltung als befremdlich, später als erheiternd empfunden. Es schien beinahe so, als wollten die Gelehrten sichergehen, sich nicht den Zorn jener Götter zuzuziehen, an die sie nicht glaubten, nur für den Fall, dass sie doch existierten. Solche Paradoxen waren Valera schon häufiger untergekommen. Die Leute in den Weiherlanden beispielsweise huldigten Aquaris, dem Gott des Friedens und des Meeres. Ihm zu Ehren war sogar ein Tempel gebaut worden. Die Priester dort, die ganz ähnliche Arbeit verrichteten wie die Gelehrten, nannten sich selbst die „Weisen“, und sie widmeten ihr Leben allein Aquaris. Der Gott des Friedens und des Meeres – und doch trat das Wasser immer wieder über das Ufer und brach tosend vom Sturm begleitet über die Weiherlande herein, um alles zu überfluten und wüste Zerstörung zurückzulassen. Entweder also, der Gott des Meeres existierte nicht, oder er war nicht ganz so friedlich, wie die Menschen aus den Weiherlanden es ihm nachsagten.

Auch die Bewohner der Fünf Inseln, die eng beieinander und weit draußen im Meer lagen, huldigten ihm. Und auch sie wurden immer wieder von Fluten heimgesucht.

Valera hatte über ein Gebiet jenseits des Meeres hoch oben im Norden gelesen, das niemals grün wurde, das sogenannte Schneetal. Die Menschen dort beteten zu Flamaris, dem Gott des Feuers. Seit Anbeginn baten sie ihn um ein Ende der Schneefälle und um mildes Wetter – und trotzdem schmolz der Schnee dort nie.

Die Nomadenvölker, von vielen bloß die „Barbaren“ genannt, die jenseits des Minengebirges lebten und in Familienverbänden die Trockensteppen bewohnten, glaubten ebenfalls an einen Gott, in diesem Fall eine Göttin. Ihr Name war Amacona. Die Nomadenvölker verehrten sie als die Göttin des Krieges und der Fruchtbarkeit. Ihr wurde nachgesagt, dass sie ihrem Mann nicht einen, nicht zwei, sondern gleich drei Söhne gebar, auf einem galoppierenden Pferd, während Amacona ihren Feinden mit gespanntem Bogen entgegenritt – was Valera für mehr als nur äußerst unwahrscheinlich hielt. Aber obwohl es eine Frau war, welcher die Nomaden huldigten, war doch niemals eine ihrer eigenen Frauen in einer führenden Position. In all den Büchern, die Valera über die Clans aus den Trockensteppen gelesen hatte, waren die Stammesoberhäupter stets Männer gewesen. Sehr viel Einfluss schien die Tatsache, dass es sich bei ihrem Gott um eine Frau handelte, also nicht genommen zu haben.

Auch über die verschiedenen Naturvölker hatte Valera gelesen. So auch über die sagenumwobenen Himmelsreiter. Manche nannten sie nur „die Geflügelten“, sie selbst aber nannten sich „das Freie Volk“. Ihre Gottheit war Aeris, der Gott des Windes. In den Büchern hieß es, dass Aeris die Wolken bewohnte. Eines Tages, als großes Unheil drohte, war er zu den Menschen hinabgestiegen und hatte ihnen Flügel gegeben, damit sie sich in den Himmel erheben und vor der Gefahr fliehen konnten. Heute lebten sie zurückgezogen auf den Gipfeln des Minengebirges. Man bekam sogar so selten einen von ihnen zu Gesicht, dass manch einer sie schon zu den Märchen zählte. Es hieß, einen Himmelsreiter beim Flug zu sehen, brächte Glück. Und sollte er ausgerechnet über den eigenen Kopf hinwegfliegen, so dass sein Schatten einen streifte, so sei man fortan von Aeris gesegnet und alles im Leben würde leicht sein, als ob Schwingen einen tragen würden.

Dann waren da noch die Aquare, benannt nach dem gleichnamigen Gott Aquaris, der sie angeblich geschaffen hatte, doch über sie gab es nur wenige Aufzeichnungen. Sie waren schon seit Jahrhunderten nicht mehr gesichtet worden, und das Bisschen, das Valera in der Bibliothek über sie gefunden hatte, hatte sie kaum zufriedengestellt. Manchmal aber hörte sie Geschichten von Seefahrern, die felsenfest schworen, auf ihren Reisen einer dieser Aquare begegnet zu sein – und jede einzelne war anders. Manche behaupteten, sie hätten den Oberkörper eines Menschen und den Unterlaib eines Fisches. Andere sagten, sie wären von Kopf bis Fuß geschuppt und glitten durchs Wasser wie ein frisch gewetztes Messer durch rohes Fleisch. Einmal wurden sie als scheue Wesen dargestellt, die gleich wieder unter der Wasseroberfläche verschwanden, kaum dass sie kurz aufgetaucht waren. Man schrieb ihnen die Gewalt über die gefürchteten Tiefenwesen zu, die nur auf den Befehl der Aquare hin auszogen, Schiffe entzwei brachen und sie mitsamt der Mannschaft verschlangen. Doch es gab durchaus auch Erzählungen, die besagten, die Aquare hätten Matrosen in Not den Weg gewiesen oder Schiffbrüchige an Land gezogen und ihnen so das Leben gerettet. Allerdings wurden die Leute, die solcherlei erzählten, allgemeinhin ausgelacht und für nicht ganz voll genommen.

Valera war sich sicher, dass die meisten all dieser Geschichten bloß aus Seemannsgarn bestanden, gesponnen aus der eigenen Angst der Matrosen und ausgeschmückt durch ihre Fantasie. Und so befand Valera, dass wohl nichts von alledem zuverlässige Informationen über das Volk enthielt, das in den Meeren lebte. Sie selbst war durchaus geneigt, an die Existenz der Aquare zu glauben, schließlich existierten auch die Himmelsreiter, und das wusste Valera, denn ihre Existenz war belegt, auch wenn sie selbst noch keinen von ihnen gesehen hatte. Der Gedanke an die Aquare klang da nur geringfügig abwegiger. Valera hielt die Theorie am wahrscheinlichsten, dass die Aquare, falls sie denn nicht schon längst ausgestorben waren, sich in die Tiefen der Gewässer zurückgezogen hatten, so wie auch die Himmelsreiter es getan hatten. Doch anders als der Blick in den Himmel, der weiter hinaufreichte, als ein Mensch je klettern konnte, gab der Blick in die dunkle See nichts preis. Womöglich waren sie noch immer dort, bloß von Menschenaugen ungesehen.

Von den Haingeistern war nur wenig bekannt, und Valera hatte auch über sie kaum Aufzeichnungen gefunden. Sie wusste bloß, dass sie irgendwo in den Wäldern der Weiherlande leben mussten, dort, wo die Vegetation besonders gesund und üppig war. Doch wo genau das war, vermochte Valera nicht zu sagen. Es war nicht bekannt, welcher Gott den Haingeistern ihr Leben eingehaucht hatte. Sie verehrten auch niemanden als ihren Schöpfer, sondern beteten bloß die Natur selbst an – was den Schluss nahelegte, dass sie nicht wie die Aquare oder die Himmelsreiter von einem Gott erschaffen worden, sondern vielleicht doch nur eine Laune der Natur waren. Es hieß, sie versteckten sich vor den Blicken der Menschen. Angeblich lebten sie in Bäumen, oder vielleicht waren sie selbst Bäume? Valera wusste zu wenig über sie, um das beurteilen zu können.

Die Goldgräberstadt war ebenso Thema einiger Bücher. Sie war das Zentrum unermesslichen Reichtums. Vor langer Zeit, so war es geschrieben, war ein Himmelsstein gefallen. Er landete inmitten des Minengebirges, wo er einen großen Krater hinterließ und unzählige Erzadern freilegte. Als die Schätze hoch oben in den Bergen bekannt wurden, waren viele aufgebrochen, um sie abzutragen. Mit der Zeit hatten die Leute sich dort niedergelassen und Minen gebaut, und aus der anfangs kleinen Siedlung war heute eine Stadt geworden, die das größte Vorkommen von Metallen und Edelsteinen beherbergte und in die ganze Welt verkaufte. Da sie nicht leicht zu erreichen war, rankte sich auch um sie die eine oder andere Geschichte, wenn auch nicht so viele wie über die Naturvölker.

Auch dem Toten Land waren Bücher gewidmet. Es lag hinter den Trockensteppen und erstreckte sich über viele Meilen. Dieses Gebiet war unwirtlich und nicht bewohnbar. Die Erde war grau, fast schwarz, und es wuchs nicht ein Grashalm darauf. Kein Tier, kein Mensch verirrte sich dorthin. Und falls doch, so überlebte man meist nicht lange, denn zuerst musste man die Trockensteppen durchqueren, und das alleine war schon kräftezehrend genug. Valera hatte von Reisenden gehört, die das Tote Land besucht hatten und zurückgekommen waren, doch von ihnen hatte sie noch keinen kennengelernt. Die Bücher sagten, das Tote Land sei entstanden, weil der Berg am anderen Ende des Kontinents Feuer gespuckt hatte. Dieses Feuer hatte die Erde, die es berührte, bis in ihren Kern verbrannt, so dass nichts mehr darauf wachsen konnte und folglich kein Leben mehr dort möglich war.

Dann gab es noch Geschichten, die nirgendwo herzurühren schienen. Diese handelten nicht von irgendwelchen Göttern, fremdartigen Wesen oder wundergleichen Städten, stattdessen erzählten sie von Dingen wie dem Lichtbringer und dem Schattenfänger. Als Valera Ramon, ihren Lehrer, danach gefragt hatte, hatte er zum Zeichen, dass er dieses Buch kannte, genickt und gesagt, dass es früher, noch vor der Zeit der ersten Könige, ein uraltes Volk gegeben haben musste. Dieses Volk fürchtete die Dunkelheit der Nacht, denn sie glaubten, das sei das Ende von allem. Darum verehrten sie den Lichtbringer, der die Dunkelheit verscheuchte. Aber die Kraft des Lichtbringers war nicht unbegrenzt. Jeden Abend verschwand er unter dem fernen Horizont, um sich zu erholen, während die Dunkelheit zurückkehrte. Der Lichtbringer war einfach nicht stark genug, um sie auch des Nachts zu vertreiben. So kam es, dass er aus einem Teil seiner Selbst den Schattenfänger erschuf. Der Schattenfänger war bei weitem nicht so stark wie der Lichtbringer, doch seine Kraft reichte aus, um die Nacht genug zu erleuchten, um die Aufmerksamkeit der Dunkelheit von dem alten Volk abzuwenden und auf sich selbst zu ziehen. Die Dunkelheit strebte fortan auf den Schattenfänger zu, und der Schattenfänger hielt sie fest, bis der Lichtbringer zurückkehrte. Danach war es der Schattenfänger, der sich zurückzog, bis er den Platz in der folgenden Nacht erneut mit dem Lichtbringer tauschte. So war es bis heute, erzählte Ramon. Die Geschichte des Lichtbringers und des Schattenfängers war die Geschichte von Sonne und Mond.

Das alles und noch mehr hatte Valera gelesen, denn dies war ihr Unterricht. Ramon hatte ihr gestattet, ihn selbst zu gestalten. Solange Valera sich des Tages mit dem Wissen beschäftigte, welches ihr die Bibliothek zur Verfügung stellte, war er zufrieden und er sah keinen Grund, ihr ein bestimmtes Themengebiet vorzuschreiben. Um sich dessen zu versichern, fragte er sie jeden Tag nach den Dingen, die sie heute gelesen hatte. Valera begann dann jedes Mal zu erzählen, und hin und wieder ging Ramon genauer darauf ein, um ihr neu erlangtes Wissen zu prüfen. Wenn Valera alle seine Fragen beantworten konnte, durfte sie sich dem nächsten Thema zuwenden. Konnte sie es nicht, bestand ihre Aufgabe darin, Antworten auf die Fragen zu finden, an denen sie gescheitert war. Auf diese Weise sorgte Ramon dafür, dass Valera sich nicht nur oberflächlich mit dem dargebotenen Wissen beschäftigte, sondern sich tiefer damit auseinandersetzte. Seiner Erfahrung nach hatte diese Methode bislang immer gut funktioniert, und er war sehr zufrieden mit Valera. Sie war eine interessierte, wissbegierige Schülerin, die ihm noch nie Anlass gegeben hatte, seine Entscheidung, sie zu unterrichten, zu bedauern. Ramon hatte in dem Kind, das er damals kennengelernt hatte, großes Potenzial gesehen, und es war nicht nur seine Aufgabe als Lehrer, sondern auch ein persönliches Anliegen, Valeras Fähigkeiten voll zu entfalten. Als er Valera zu sich genommen hatte, war er anfangs jedoch auf Widersand seitens seiner Kameraden gestoßen. Jedem Gelehrten stand es frei, sich einen Schüler zu nehmen, aber warum musste es denn unbedingt eine Frau sein? Hätte Ramon sich stattdessen nicht für einen Jungen aus den Adelshäusern entscheiden können, so wie es der Brauch war? Für solch junge Damen schickte es sich nicht, in der Bibliothek herumzugeistern. Und für die Bibliothek schickte es sich nicht, solch junge Damen zu beherbergen.

Ramon hatte argumentiert, dass er natürlich auch einen Knaben mit edlerer Herkunft hätte auswählen können, doch, so hatte er gesagt, empfand er die Jungen als zu unreif für ihr Alter, und er könne auch niemanden gebrauchen, der lieber, anstatt sich zu bilden, den Soldaten des Königs nacheiferte und sich vorstellte, der Holzstock in seinen Händen sei ein Schwert. Von Valera allerdings konnte er alles das erwarten, was er sich von einem Schüler wünschte, hatte Ramon erklärt. Seine Kollegen konnte er damit natürlich nicht überzeugen. Das Argument, wie vernünftig und ehrgeizig seine zukünftige Schülerin sein würde, ließen sie nicht gelten. Doch Valera hatte ein einnehmendes Wesen, und als sie erstmal ein Zimmer in der Bibliothek bezogen hatte, hatte sie viele der Gelehrten schnell für sich gewonnen. Sie schaute ihnen beim Studieren von Büchern über die Schulter und war nicht zu schüchtern, sie dabei zu unterbrechen und in ein Gespräch über das jeweilige Thema zu verwickeln. Schon nach kurzer Zeit hatte sich herausgestellt, dass die Gelehrten sich recht schnell dazu hinreißen ließen, über die Dinge zu erzählen, mit denen sie sich befassten. Vor allem, als sie Valeras echtes Interesse daran erkannt hatten. Außerdem war Valera immer gern bereit, ihnen bei ihren Arbeiten zu assistieren. Sie sorgte für frische Kerzen, wenn es gen Abend wurde, und manchmal brachte sie kleine Mahlzeiten aus der Küche herbei. Sie beschaffte Bücher, Karten, Pergamentrollen und andere Schriften aus den Regalen, und wenn sie nicht mehr gebraucht wurden, ordnete sie sie wieder ein. In der Zwischenzeit durfte sie den Studien der Gelehrten beiwohnen. Auf diese Weise bot sich Valera nicht nur die Chance, außerordentlich viel zu lernen, sondern so hatte sie auch die meisten der Gelehrten wohlwollend ihr gegenüber gestimmt. Mittlerweile schätzten viele von ihnen sogar ihre Gesellschaft und freuten sich darüber, wenn Valera ihnen zur Hand ging. Dieser Ausgang war der beste, den Ramon sich vorstellen konnte, obwohl er lange nicht zu hoffen gewagt hatte, dass es so kommen würde. Aber Valera hatte ihn einmal mehr überrascht, indem sie einfach alle mit ihrem Charme um den Finger gewickelt hatte. Heute Abend hatte er sich vorgenommen, Valera zum ersten Mal zu einer Zusammenkunft der Gelehrten mitzunehmen.

Raj

Sand, Sand, Sand – und dazwischen ein Haufen gespannter Zeltplanen. Zwei kleine Jungs liefen Raj vor die Füße und wären beinahe mit ihm zusammengestoßen, doch die beiden waren so in ihr Spiel vertieft, dass sie einfach an ihm vorbeiliefen, ohne ihn auch nur zu bemerken. Als Raj weiter durch die provisorische Wohnstätte seines Clans ging, sah er allerlei bekannte Gesichter, die allesamt den verschiedensten Aufgaben nachgingen. Koara, die Frau von Sennan, war gerade dabei, Kleidung in einem Bottich mit Wasser zu schrubben. Sie rieb das Stück Stoff so fest am Eisen, dass Raj glaubte, sie würde jeden Moment ein Loch hineinreißen. Und wenn, dann würde das Tuch, das mittlerweile nicht viel mehr war als ein Lumpen, trotzdem noch getragen werden. Raj konnte verstehen, warum seinem Volk nachgesagt wurde, schmutzig und unrein zu sein. Hier in den Trockensteppen, wo weit und breit nichts als Staub und sengende Hitze zu finden war, zog man sich leicht Flecken zu, welche sich schon längst tiefer ins Gewebe eingenistet hatten, noch ehe man die Gelegenheit wahrnehmen konnte, sie herauszuwaschen. Hinzu kam, dass die Nomadenvölker sehr sparsam waren. Sie blieben nie lange an einem Ort, und so besaßen sie meist nur so viel, wie sie selbst tragen konnten, um unnötiges Gepäck zu vermeiden. Solange ein Kleidungsstück also die wichtigsten Körperstellen bedeckte, blieb es in Verwendung – Risse und Löcher hin oder her. Wären da nicht die kunstvoll geschwungenen, mit Edelsteinen besetzten Messer gewesen, die jeder Mann an seiner Hüfte trug, hätte man Rajs Leute genauso gut auch für schäbige Landstreicher und Wegelagerer halten können. Es war nicht so, dass er den Wohlstand und den Reichtum anstrebte, den die Menschen auf der anderen Seite des Minengebirges genossen, doch zumindest ein richtiges Dach über dem Kopf und ein Bett würde Raj sehr begrüßen. Die Felldecken, auf denen die Nomadenclans schliefen, reichten kaum aus, um die vielen kleinen Steinchen darunter nicht mehr zu spüren. Raj war nichts Anderes gewohnt, er war so aufgewachsen. Man sollte also meinen, dass er sich schon lange daran gewöhnt hatte, seine Zelte abzubrechen, nur um sie andernorts wieder aufzustellen. Aber Raj war anders als der Rest seines Clans. Das war er schon immer gewesen. Schon als Kind hatte er sich lieber aus den spielerischen Balgereien seiner Altersgenossen herausgehalten, obwohl sein Vater ihn wieder und wieder dazu gedrängt hatte, seine Stärke an anderen zu erproben.

Jeder Clan der Nomadenvölker hatte einen Anführer, und bei Rajs Clan war es sein Vater. Er war ein respektabler Mann, doch hielt er, Rajs Meinung nach, viel zu sehr an den alten Traditionen fest. Denn es gab einen Grund, warum der Rest der Welt die Nomadenvölker Barbaren schimpfte, und Raj wünschte sich, dass seine Leute sich zumindest ein bisschen zivilisierter verhalten würden. Nicht so zivilisiert wie die Menschen aus dem Königtum, aber doch zivilisierter als wilde Tiere, denn Raj konnte zu seinem Leidwesen nur allzu oft keinen Unterschied zwischen wütenden Bestien und seinem Volk feststellen. Schuld daran trug die Göttin Amacona, Göttin des Krieges und der Fruchtbarkeit. Raj fand, dass die Nomaden den Titel ihrer Gottheit viel zu wörtlich nahmen. Es musste nicht wegen allem Krieg geführt werden. Aber sogar ein einfacher Streit zwischen Freunden endete mit einer Prügelei, denn auf diese Weise wurde entschieden, wer recht hatte. Sein Vater war überzeugt, dies sei der Wille Amaconas. Raj jedoch konnte dem Spiel der Fäuste nur wenig abgewinnen. Trotzdem er stramm gebaut war – er war zwar klein von Wuchs, aber die breiten Schultern waren ihm angeboren – verstand er sich besser auf Worte, doch mit Worten kam er hier in den Trockensteppen nicht weit. Worte allein brachten ihm hier keinen Respekt ein. Schließlich war er der zukünftige Clanführer, also musste er sich auch so verhalten. Später würde ihm sonst niemand folgen, wenn er sich nicht nach Art seiner Leute zu behaupten wusste. Er würde seiner Familie Schande bereiten. So gesehen hatte Raj also gar keine andere Wahl, obwohl ihm die Gewalt zutiefst widerstrebte. Um seine Stellung zu beweisen, sollte er sich heute Abend zu Ehren von Göttin Amacona im Ring messen. Es war der Wunsch seines Vaters, und selbstredend erwartete er, dass sein Sohn alle ihm vorgeführten Rivalen besiegte. Sollte Raj dies tatsächlich gelingen, erwartete ihn auch ein Preis: Hin und wieder kam es vor, dass die Nomadenvölker in kleinen Gruppen Raubzüge in der Könige Ländereien begingen, die an die Trockensteppen angrenzten. Man hatte zwar schon vor langer Zeit den Bau einer Mauer veranlasst, doch als sie schließlich stand, hatte dies die Nomaden trotzdem nie davon abgehalten, auf die andere Seite zu gelangen. Es gab geheime Wege, die am Fuße des Minengebirges entlangliefen, und die den Leuten aus dem Königtum nicht bekannt waren. Raj vermutete, dass die Tunnel, die durch den Berg führten, einst Minen gewesen sein mussten, doch waren sie aufgegeben worden, weil so weit abseits der berühmten Goldgräberstadt entweder zu wenige Schätze gefunden worden waren oder weil man sie bereits alle abgetragen hatte. Hier und da kam es noch vor, dass man am Fuße des Gebirges inmitten von Kieseln und Geröll auf einen ungeschliffenen Edelstein traf, aber die Suche nach weiteren lohnte nicht.

Jedenfalls, als die Nomaden das letzte Mal durch die geheimen Gänge auf Raubzug gegangen waren, hatten sie nicht nur Wertgegenstände, Schmuck und Geld gleich der Piraterie mitgenommen, sondern auch ein Mädchen. Sie war jung und konnte nicht älter sein als Raj selbst. Ganz schmutzig war sie gewesen, mit zerschundenen und blutenden Füßen, weil die Nomaden sie als ihre Gefangene ans Pferd gebunden und sie hinterherlaufen lassen hatten. Für sie war sie nichts weiter als Kriegsbeute – dazu da, um vorgeführt und besessen zu werden. Heute Abend sollte sie dem Sieger aller Kämpfe geschenkt werden. Wer auch immer sie erhielt: Raj konnte sich vorstellen, was jeder einzelne seines Clans mit dem Mädchen machen würde. Deswegen hatte er sich vorgenommen, sein Bestes zu tun, um alle anderen auszustechen. Wenn er schon nicht des Kämpfens Willen kämpfte, dann doch wenigstens für diese junge Frau, die ohne Vorwarnung ihrer Welt entrissen worden war. Wenn Raj siegreich aus den Kämpfen hervorging, wollte er dafür sorgen, dass ihr kein Leid mehr geschah.

Siojh

Das orange-gold-gelb-farbene Licht überflutete den gesamten Himmel. Es war nicht mehr grell wie des Tages, doch reichte es immer noch aus, um seine Wärme auf der Haut zu spüren. Eine Wolke, die dank der untergehenden Sonne beinah purpurn war, zog so nah vorbei, dass man nach ihr hätte greifen können. Siojh hätte bloß die Hand nach ihr ausstrecken müssen, aber stattdessen ließ sie sie ziehen und schaute weiter ins Abendlicht, während sie auf einem Felshang saß und die Beine über dem Abgrund baumeln ließ. Hier oben war die Luft dünn und kühl – zu sehr, als dass Menschen es dauerhaft hier hätten aushalten wollen. Aber Siojh war genau genommen ja auch kein Mensch. Als Angehörige der Himmelsreiter war sie an die rauen Bedingungen in den Höhen des Minengebirges gewöhnt. Nicht nur die kleine Statur und der zarte Körperbau, sondern vielmehr und allem voran die Flügel zeichneten sie als eine der Ihren aus. In der Legende, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hieß es, dass es einst ein Dorf voller friedliebender Menschen gegeben hatte. Nie hatten sie jemandem etwas zuleide getan, sie hatten immer nur brav auf ihren Feldern gearbeitet. Eines Tages jedoch marschierte eine Armee in Richtung des Dorfes, angeführt von einem machthungrigen König, der seine Lande mehren wollte. Die Dorfbewohner waren keine Krieger, und so hatten sie den Soldaten nichts entgegenzusetzen. Gott Aeris, der Gott des Windes, bemerkte, dass Fremde auf das Dorf zuhielten. Er hatte schon immer von oben auf die Welt herabgesehen und das Leben der Menschen beobachtet. Es musste wohl Zufall gewesen sein, dass er besonderen Gefallen an ausgerechnet jenem Dorf gefunden hatte, denn noch nie zuvor hatten Aeris‘ Füße den Boden berührt. Aber an diesem einen Tag war er herabgestiegen und hatte den Dorfbewohnern einen Ausweg angeboten. Er hatte zu ihnen gesagt: „Kommt mit mir, und ich verspreche, dass niemals mehr ein Feind seine Hand nach euch ausstrecken soll.“ Als die fremden Soldaten das Dorf erreicht hatten, fanden sie es verlassen vor. Bloß in der Ferne waren noch die Umrisse eines Schwarmes großer Vögel zu erkennen gewesen.

Siojh konnte nicht genug davon bekommen, diese Geschichte immer und immer wieder zu hören. Sie selbst war dem warmherzigen Gott, dem ihr Volk seine Flügel und somit auch seine Freiheit zu verdanken hatte, leider noch nie selbst begegnet, trotzdem liebte sie ihn. Jedes Mal, bevor sie sich in den Himmel erhob, betete sie zu Aeris dafür, dass ihr Flug sicher sein möge. Und immer, wenn sie den Wind unter ihren Schwingen spürte und die Welt unter sich vorbeiziehen sah, sprach sie ein stilles Dankgebet. Den Himmelsreitern war es sehr wichtig, die Flügel, die ihnen von Geburt an gegeben waren, nicht als selbstverständlich zu erachten. Deswegen huldigten sie ihrem Gott demütig und voller Hingabe.

Jede Familie hatte ihr eigenes Flügel- und Farbmuster, und sie benannten sich nach den Vögeln, denen sie ähnlich sahen. Aras – so hießen diejenigen unter den Himmelsreitern, deren Flügel einen satten, intensiven Farbton hatten. Dann gab es noch die Familie der Pfauen, deren Flügelmuster einem Auge ähnelte, und die Familie der Schwäne mit ihrem strahlend weißen Gefieder. Siojh selbst gehörte den Kolibris an, welche sich durch ihre schillernden Farben auszeichneten. Ihre Flügel waren blau-violett, aber wenn Sonnenlicht auf sie traf, schimmerten sie in den Farben Türkis, Purpur und Silber. Siojh liebte ihre Flügel, weshalb sie sehr viel Zeit auf ihre Pflege verwandte. Solange sie sie nicht schmutzig werden ließ und sie regelmäßig wusch und bürstete, behielten die Federn ihren Glanz und das Gefieder stumpfte nicht ab. Auf diese Weise blieben die Flügel stark und gesund, und sie waren sogar so weich, dass Siojh sie gerne an kalten Abenden um sich schlang, sich an sie schmiegte und sich an ihnen wärmte.

Mittlerweile war die Sonne fast schon gänzlich untergegangen. Nur ein schmales Band aus Licht zog sich noch an der Stelle entlang, an der der Horizont auf die Erde traf. Es war an der Zeit, sich zur Nachtruhe zurückzuziehen.

Siojh stand auf, wandte sich von der schier endlos weiten Aussicht ab und ging die paar Schritte, die sie von ihrem Kobel trennten. Dies war ein kugelförmiges Nest, welches aus grünen Zweigen gebogen worden war. Die der Weide eigneten sich am besten dafür. An der sonnenzugewandten Seite war ein rundes Loch als Eingang freigelassen worden, gerade so groß, dass sein Besitzer hindurchschlüpfen konnte. Das Innere war mit Blättern ausgelegt und mit Federn, Daunen und weichen Gräsern gepolstert, wodurch stets ein Duft nach Wald und Bergwiese in der Luft lag. Eine niedrige Bank von der gleichen Art wie der Kobel selbst diente als Schlafstätte. Für mehr als zur Nachtruhe wurde das Nest nicht genutzt. Die Himmelsreiter besaßen nicht viel, was sich lohnte aufbewahrt zu werden, daher konnte Siojh ihre Habe an einer Hand abzählen.

Sie sank auf ihre Unterlage, rollte sich darauf zusammen und deckte sich mit ihren Flügeln zu.

Nacht 1

Raj

Als der andere endlich zu Boden ging, stand Raj breitbeinig und nach Atem ringend da. Er hielt sich bereit für den Fall, dass sein Gegner noch einmal aufstehen würde, doch als feststand, dass Raj gewonnen hatte, brach die Menge rundherum in Jubel aus, und zum ersten Mal musste Raj sich eingestehen, von einem Kampf berauscht zu sein. Als ihr zukünftiger Anführer hatten seine Leute auf ihn gesetzt, auch wenn die Vielzahl an Gegnern, die sich ihm bereits gestellt hatten, weit größer und breiter als er selbst gewesen war. Raj hatte aufgehört zu zählen, der wievielte dieser hier gewesen war. Anfangs hatten sich seine Rivalen einen einfachen Sieg versprochen, denn sie alle wussten, dass Raj sich, wenn er die Wahl hatte, lieber heraushielt, anstatt auf Gewalt zurückzugreifen. Was sie jedoch nicht wussten, war, dass Raj trotzdem stätig trainiert hatte, für den Fall, dass einmal jemand anderes die Entscheidung für ihn traf. Niemand hier hatte seine wahre Stärke gekannt, und so hatte Raj alle überrascht – auch sich selbst, denn da er nie gegen irgendjemandem angetreten war, hatte er keinen Vergleich ziehen können. Nun aber hatte sich herausgestellt, dass er wohl stärker als die meisten hier war. Und mit jedem seiner Gegner, den er zu Boden gestreckt hatte, hatte das Tosen der Menge zugenommen. Die Mitglieder des Clans feuerten ihn an und riefen seinen Namen. Vielleicht war es das, was Raj als berauschend empfand. Vielleicht lag es aber auch an der ein oder anderen Blessur, die er sich zugezogen hatte, und folglich an dem Adrenalin, das durch seinen Körper strömte. Vielleicht aber auch an dem Wein, der ihm nach jeder erfolgreichen Runde im Ring gereicht wurde, um die Schmerzen zu hemmen und sowohl die Kämpfer selbst als auch die Zuschauer bei Laune zu halten.

Sein Vater trat neben ihn. „Euer zukünftiger Anführer!“, verkündete er und riss Rajs Arm in die Höhe – eine eindeutige Geste, woraufhin die Menge in erneuten Jubel ausbrach. „Bringt sie her“, befahl sein Vater anschließend. Daraufhin eilte eine kleine Gruppe von Männern davon, nur um gleich darauf in Begleitung einer an den Händen gefesselten Frau mit fremdländischem Aussehen zurückzukehren. Sie zerrten sie an dem Seil hinter sich her, so dass sie Mühe hatte, nicht zu stolpern, und Mitleid regte sich in Rajs Innerem.

„Als Sieger des heutigen Wettkampfes gehört dieses Weib nun dir“, beschloss sein Vater und wandte sich an seine Männer. „Bringt sie in Rajs Zelt“, wies er sie an, und schon wurde die Frau aus Rajs Sichtfeld geführt. Dieser flüchtige Blick, den er auf sie hatte erhaschen können, war nicht genug gewesen, um sie sich genauer anzusehen. Aber das würde sich in einer Minute ändern, denn Raj wollte gleich zu ihr gehen. Die Menge war bereits dabei, sich aufzulösen, und sein bewusstloser, immer noch am Boden liegender Gegner wurde weggeschleift, um sich zu erholen. Als Raj jedoch den ersten Schritt tat, wurde er von der Hand seines Vaters auf seiner Schulter zurückgehalten.

„Nimm sie hart, Sohn“, sagte er und sah Raj dabei eindringlich an. Raj sagte nichts, als er dem festen Blick seines Vaters standhielt. Natürlich wusste Raj, was jetzt von ihm erwartet wurde. Wer eine Frau bekam, von dem wurde erwartet, sie noch am selben Tag zu nehmen. So wurden Hochzeiten besiegelt, denn erst, wenn Raj sie in sein Bett genommen hatte, war sie zur Gänze sein Eigentum, und infolge dessen würde kein anderer sie mehr anrühren. Tat es doch jemand, so wurde verfahren, als ob derjenige eine kostbare Vase oder ein anderes wertvolles Objekt beschädigt hätte, und das hatte, so wie alles hier, einen Kampf zur Folge. Raj jedoch hatte nicht vor, die Fremde heute Nacht zu nehmen. Er wollte damit warten, bis sie bereit dafür war, bis sie sich an ihr neues Leben als Mitglied seines Clans gewöhnt hatte. Aber selbst ohne ihre Vereinigung glaubte Raj nicht, dass es nach dem heutigen Abend noch einmal jemand wagen würde, ungefragt Hand an die Fremde zu legen, jetzt da sie wussten, was sie andernfalls zu erwarten hatten.

Auf dem Weg zu seinem Zelt kehrten die Schmerzen seiner Verletzungen langsam aber sicher zurück. Raj spürte das Brennen von aufgeplatzter Haut an der linken Seite seines Gesichts und auch die offenen Fingerknöchel, die von ausgeteilten Schlägen herrührten, wurden ihm bewusst, doch seltsamerweise fühlte es sich gut an. Er hatte einen guten Grund gehabt, um zu kämpfen. Das fremde Blut an ihm, die Abschürfungen, die Prellungen – all das erinnerte ihn daran, dass er für seine Sache siegreich gewesen war. Er lächelte, denn er war stolz. Jetzt konnte er der jungen Frau gegenübertreten und ihr sagen, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte, dass sie in Sicherheit war und dass er gut für sie sorgen würde.

Als Raj die Zeltplane zurückschlug und eintrat, fand er sie zusammengekauert auf dem Boden vor. Ihre Hände waren an den eingeschlagenen Pfahl in der Mitte gefesselt worden. Die Angst in ihren Augen, als ihr Blick den seinen traf, wirkte ernüchternd auf Raj, so dass er sich noch in derselben Sekunde auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt fühlte. Ihm wurde auf einmal klar, dass er nicht der Retter war, für den er sich gehalten hatte. Trotz seiner guten Absichten war er für diese Frau nur ein weiterer ihrer Entführer. Etwas Anderes würde sie nicht in ihm sehen.

Plötzlich unsicher, wie er vorgehen sollte, ging Raj auf die Fremde zu. Diese presste sich fest gegen den Pfahl, um so viel Abstand wie möglich zu halten. Ein paar Schritte entfernt kniete Raj sich hin.

„Wie heißt du?“, fragte er, während er sie einer knappen Musterung unterzog. Sie war jung und ein hübsches Ding, das musste er zugeben. Ihre Haut war zart und viel heller als die der Clans. Dort, wo sie zu grob angefasst worden war, waren bläuliche Verfärbungen zu erkennen, und die Fesseln hatten ihre Handgelenke bereits wund gewetzt.

Es schien, als hätte sie nicht die Absicht, Raj zu antworten. Stattdessen starrte sie ihn bloß an. Offensichtlich fühlte sie sich von ihm eingeschüchtert. Kein Wunder, schließlich ließ das Blut an ihm ihn noch wilder wirken, als die Mitglieder der Clans ohnehin schon waren.