Jakob und seine Freunde - Willi Fährmann - E-Book

Jakob und seine Freunde E-Book

Willi Fährmann

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Beschreibung

20 Jahre »Jakob und seine Freunde« – der Klassiker neu überarbeitet!

Eines Tages landet im Garten von Marie und Andreas eine Dohle. »Jakob« nennen die Kinder den Vogel und seine Streiche sorgen in der nächsten Zeit immer wieder für Wirbel. Marie freundet sich daraufhin mit dem Aussiedlerjungen Simon an, der so schöne Geschichten von der Dohle seines Großvaters erzählt. Doch ihre Freundschaft wird überschattet von einer Erkrankung Simons …

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Seitenzahl: 146

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© privat

DER AUTOR

Willi Fährmann wurde 1929 in Duisburg geboren. Nach einer Maurerlehre holte er das Abitur an Abendschulen nach und studierte anschließend an der Pädagogischen Hochschule. Er arbeitete als Lehrer und als Schulrat. Er zählt zu den bedeutendsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Der lange Weg des Lukas B«. Er lebt heute in Xanten.

Von Willi Fährmann ist bei cbj erschienen:

»Das erste Licht des neuen Tages. Das große Willi-Fährmann-Lesebuch« (13711)

»Sternenkönig. Eine Weihnachtslegende« (15376)

»Die Weihnachtsgeschichte« (15496)

»Ein Stern in dunkler Nacht« (13551)

»Folget dem Stern« (21384)

Willi Fährmann

Jakob und seine Freunde

Mit Illustrationen von Daniela Chudzinski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. cbj

ist der Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

1. Auflage

cbj Taschenbuch April 2013

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 1993, 2013 cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Erstmals erschienen1993 im Arena Verlag, Würzburg.

Umschlag- und Innenillustrationen: Daniela Chudzinski

Umschlaggestaltung: Basic-Book-Design, Karl Müller-Bussdorf

MI · Herstellung: cb

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-08694-7V002

www.cbj-verlag.de

Frau Kasunke ist eine Hexe«, behauptete Andreas. »Hexen gibt’s nicht«, sagte Marie. »Ist doch eine Hexe«, rief Andreas, »weil sie uns nie von ihren Kirschen welche abgibt!«

Das war um die Zeit, als die Kirschen sich schon röteten. Genau an diesem Tag gegen zwölf Uhr flog ein Schwarm Vögel nebenan in Kasunkes Garten. Es waren viele, viele schwarze Dohlen. Die ließen sich auf den Ästen des Kirschbaumes nieder, krächzten laut und machten sich über die Kirschen her. Das gefiel Frau Kasunke gar nicht. Sie schlug zwei Topfdeckel gegeneinander und machte einen großen Lärm. Erschrocken flatterten die Dohlen auf; sie schimpften empört und stoben davon.

Marie Goseweit war damals neun Jahre alt, ihr Bruder Andreas sechs. Die Goseweits wohnten in einem schönen Haus gleich neben Frau Kasunke in der Bergstraße. Als die Kinder das Krächzen und Deckelklappern hörten, liefen sie hinaus in den Garten. Die Dohlen waren nur noch als schwarze Punkte am Himmel zu sehen.

»Da sitzt noch ein Vogel, Marie«, sagte Andreas, »da bei unserem Rosenstrauch!«

»Das ist eine Dohle«, sagte Marie. »Aber schau mal, Andreas, sie hat an dem einen Flügel ein paar weiße Federchen.«

Andreas wollte auf den Vogel zulaufen, doch Marie hielt den Bruder zurück. »Wir wollen ihn herlocken«, sagte sie.

Sie holte ein Stückchen Käse aus der Küche. Das legte sie auf den Plattenweg vor der Terrasse. Und wirklich, die Dohle kam näher, aber bis auf den Plattenweg traute sie sich nicht. Die weißen Federchen waren jetzt ganz deutlich zu erkennen.

Marie überlegte. »Komm, Andreas«, sagte sie, »komm, wir gehen bis zur Terrassentür zurück. Vielleicht frisst der Vogel dann.«

Die Kinder hatten gerade die Terrassentür erreicht, da hüpfte die Dohle herbei und probierte den Käse. Offenbar war das ein Leckerbissen für sie. Mit den Krallen hielt sie das Bröckchen fest und hackte mit dem Schnabel so lange, bis sie es ganz aufgefressen hatte. Dann schüttelte sie ihr Gefieder und sprang die beiden Stufen hinauf bis auf die Terrasse. Sie drehte ihr Köpfchen hin und her und beäugte aufmerksam die Kinder.

»Sie will mehr haben«, vermutete Andreas. Marie ging zum Kühlschrank, holte den Käse heraus und schnitt noch ein Stückchen ab.

»Die Dohle muss einen Namen haben«, sagte Andreas. »Sie soll Jakob heißen. So heißen alle Dohlen.«

Marie war mit dem Namen einverstanden. Sie hielt den Käsewürfel zwischen Daumen und Zeigefinger und streckte ihn Jakob entgegen. Da geschah es tatsächlich, der Vogel näherte sich mit winzigen Hopsern. Schließlich reckte er seinen Hals und zupfte mit dem Schnabel den Käse aus Maries Hand.

»Ich versuche mal, Jakob zu streicheln«, sagte Marie. Aber gerade in diesem Augenblick kam die Mutter ins Zimmer. Sie zog die Tür so fest ins Schloss, dass die Dohle erschrak und davonflog.

»Schade!«, rief Andreas enttäuscht.

Aufgeregt erzählten die Kinder der Mutter, was sie erlebt hatten.

Die Mutter sagte: »Da habt ihr aber Glück gehabt. Dohlen sind nämlich scheue Vögel. Vielleicht ist diese aus dem Nest gefallen, als sie noch klein war. Wahrscheinlich ist sie sogar von Menschen aufgezogen worden.«

»Sie hat hellblaue Augen und einen weißen Fleck auf dem Flügel«, behauptete Andreas.

»Wirklich?«, fragte die Mutter und wollte es nicht so recht glauben.

»Ganz bestimmt«, bestätigte Marie. »Und einen Namen hat sie auch. Sie heißt Jakob.«

»Wie dumm, dass ich heute nicht früher von der Arbeit nach Hause gekommen bin«, sagte die Mutter, »ich hätte auch gern einmal eine Dohle aus der Nähe gesehen. Sonst fliegen sie meist nur um unsere Kirchtürme herum.«

»Ob Jakob wohl noch einmal wiederkommt?«, fragte Marie.

Die Mutter sagte: »Hoffentlich.«

Danach schauten die Kinder zwar immer wieder hinaus, aber sie konnten Jakob nicht mehr entdecken. Schließlich fragte Andreas: »Was gibt’s heute zu essen, Mama? Ich habe Hunger.«

»Nudeln mit Tomatensoße gibt es.«

»Immer Nudeln mit Tomatensoße«, maulte Andreas. Seit Frau Goseweit vormittags bei Dr. Backhaus in der Sprechstunde arbeitete, gab es oft Nudeln.

»Vollkornnudeln sind gesund«, sagte die Mutter. »Und überhaupt, wenn man Hunger hat, dann schmeckt alles, oder?«

Nach dem Essen räumte Andreas den Tisch ab und Marie packte das Geschirr in die Spülmaschine. »Fertig«, sagte sie. »Wir wollen noch auf den Spielplatz. Jakob kommt doch nicht mehr.«

»Aber zuerst macht ihr eure Hausaufgaben«, sagte die Mutter. »Ihr wisst ja, erst die Arbeit, dann…«

»…das Vergnügen.« Die Kinder stöhnten.

Auf dem Spielplatz waren nur die Krisselkinder und schossen mit einem Gummiball auf das Tor. Die Krissels wohnten weit hinten an der Bergstraße im Haus Nummer117. Das war ein düsteres dreistöckiges Gebäude; es gehörte der Stadt, und dort lebten Leute, mit denen die Menschen, die vorn in der Bergstraße wohnten, nichts zu tun haben wollten.

»Da unten wohnt nur verkommenes Pack«, hatte Frau Kasunke einmal gesagt. »Machen Lärm, saufen und arbeiten nicht. Es ist eine Schande, dass die in unserer schönen Straße wohnen. Abreißen sollte man das Haus, abreißen.«

Und genau dort wohnten die Krissels. Die Familie Krissel hatte viele Kinder. Der Älteste hieß Josef undwar vierzehn Jahre alt. Vroni, die Jüngste, war noch im Kindergarten.Simon war etwas älter als MarieGoseweit, aber er ging in der Schule in ihre Klasse.

»He, Simon, können wir mitspielen?«, fragte Marie.

»Müsst ihr den Josef fragen«, antwortete Simon.

»Von mir aus spiel mit, Marie«, sagte Josef. »Aber du musst zuerst ins Tor gehen.«

»Und ich?«, fragte Andreas.

»Du bist noch zu klein für Fußball«, sagte Josef.

Andreas protestierte: »Vroni ist noch viel kleiner als ich.«

»Vroni ist unsere Schwester. Die darf«, entschied Josef.

»Gemein!«, schrie Andreas. Er setzte sich wütend an den Rand des Spielplatzes.

Marie stellte sich ins Tor. Erst traten die kleineren Krisselkinder Vroni und Amanda gegen den Ball. Viel Kraft steckte nicht hinter ihren Schüssen. Bei Simon war das schon anders. Marie konnte zwar den Ball abklatschen, aber ihre Handflächen brannten wie Feuer. Die nächsten Bälle von Viktor und Paul erwischte sie nicht.

Jetzt hatten nur noch Josef und Susanna nicht geschossen. Susanna war an der Reihe. Ihr Ball traf Marie gegen den Magen. Das tat so weh, dass Marie nach Luft schnappte.

»Ich hab keine Lust mehr«, keuchte sie.

»Erst muss ich noch schießen«, sagte Josef; »dann soll Simon Torwart sein.«

»Nein«, rief Marie. »Ich mache Schluss. Ihr steht viel zu nahe vor dem Tor, wenn ihr schießt.«

»Lass doch das dumme Huhn«, sagte Susanna zu ihrem großen Bruder.

»Selber dummes Huhn«, keifte Marie zurück. »Und hergelaufenes Pack seid ihr auch!«

»Woher hast du das?«, fragte Simon sofort.

»Frau Kasunke hat das gesagt«, antwortete Marie trotzig.

»Das werde ich ihr heimzahlen, der alten Hexe!«, rief Simon.

Josef war ein bedächtiger Junge, schwarzhaarig und untersetzt. Er lachte gutmütig und sagte zu Simon: »Lass sie doch reden. Was weiß die Kasunke schon von uns. Kommt, lasst uns weiterspielen. Geh noch ein einziges Mal ins Tor, Marie. Dann ist Simon dran.«

Doch plötzlich war das Spiel zu Ende. Simon lief an den Rand des Spielplatzes und fiel dort zu Boden. Gleich rannten die anderen Krisselkinder hinterher, stellten sich im Kreis dicht um ihren Bruder, und Josef beugte sich zu ihm nieder.

Neugierig kamen auch Marie und Andreas näher heran.

»Los, haut ab!«, schrie Josef wild. Als Marie und Andreas zögerten, nahm Susanna einen Stein vom Boden auf und warf nach den beiden. Da gingen sie. Marie aber hatte mit einem Blick gesehen, dass Simon seltsam verkrümmt auf dem Rasen lag und mit den Armen um sich schlug.

Zu Hause sagte Andreas: »Mama, ich glaube, der Simon Krissel hat was. Er ist umgefallen.«

»Ach«, sagte Marie, »der Simon wollte sicher nur nicht ins Tor gehen.«

»Die Susanna hat Marie ganz fest gegen den Bauch geschossen«, sagte Andreas. »Und mich haben sie nicht mitspielen lassen.«

»Dass ihr aber auch immer mit den Krissels spielen müsst«, seufzte Frau Goseweit.

Andreas rief: »Frau Kasunke hat gesagt, die Krissels stehlen wie die Raben.«

»Frau Kasunke hat nur Angst, dass einer ihr an die blöden Kirschen geht«, sagte Marie.

»Und die Krissels sind hergelaufenes Pack. Das hat Frau Kasunke auch gesagt«, trumpfte Andreas auf.

»Jetzt ist aber Schluss«, sagte die Mutter. »Aber vielleicht gibt es auch noch andere Kinder, mit denen ihr spielen könnt. Übrigens, ich glaube, ich habe vorhin eure Dohle im Garten gesehen.«

»Warum hast du uns nicht gerufen?«, fragte Marie.

»Ach, sie ist bald wieder weggeflogen.«

Es war am späten Nachmittag. Andreas und Marie hatten Blätter vor sich auf den Tisch gelegt und malten. Dohlen malten sie. Die Mutter bügelte.

Andreas sagte: »Wir brauchen nur zwei Farben, Schwarz für die Federn, den Schnabel und die Füße und Blau für die Augen.«

»Grau brauchen wir auch«, meinte Marie. »Es sah aus, als ob Jakob einen grauen Kragen umgelegt hatte.«

»Ach ja, und den weißen Flecken auf dem Flügel dürfen wir nicht vergessen«, sagte Andreas.

Sie malten noch gar nicht lange, da klopfte es. Marie stand auf und öffnete die Tür. Aber es war niemand draußen. Kaum saß Marie wieder am Tisch, da klopfte es noch einmal.

»Was ist das?«, fragte Marie verwundert.

»Schaut mal«, flüsterte Frau Goseweit.

Nun sahen die Kinder es auch. Jakob hockte draußen auf der Fensterbank und schlug mit seinem kräftigen Schnabel gegen die Scheibe.

»Der Vogel hat vielleicht Hunger«, meinte Frau Goseweit. Sie holte ein Eckchen Wurst aus der Küche und schnitt daraus kleine Würfel.

»Versucht es noch einmal und füttert ihn«, schlug sie vor und gab Andreas und Marie die Wurst. Vorsichtig öffnete Marie die Tür. Als beide Kinder Jakob das Futter hinhielten, fraß er ihnen aus der Hand und langte tüchtig zu.

Die Mutter sagte: »Er hat wirklich strahlendblaue Augen.«

»Und einen weißen Flecken hat er auch«, sagte Andreas.

Am folgenden Tag pochte die Dohle schon am frühen Morgen gegen die Fensterscheibe. Marie und Andreas waren gerade erst aufgestanden und sie wollten gleich in den Garten rennen.

»Nichts da«, rief Herr Goseweit. »Zuerst wird gefrühstückt, dann könnt ihr zu eurem Raben gehen.«

»Das ist eine Dohle«, sagte Andreas. »Das ist kein Rabe.«

»Du hast recht und ich habe recht«, erklärte der Vater. »Dohlen sind auch Rabenvögel, genau wie die Krähen und Elstern. Wenn ihr’s nicht glauben wollt, dann schaut in unserem Vogelbuch nach.«

Als die Kinder endlich hinausdurften, flog der Vogel auf und zog in engen Kreisen um Maries Kopf herum. Marie hob die Hand. Drei Runden flog Jakob noch, dann setzte er sich auf ihren Arm und schaute sie neugierig an. Er blieb auch dann ruhig dort sitzen, als Andreas ihn mit einem Apfelstück fütterte.

»Ihr müsst jetzt losgehen«, mahnte die Mutter, »sonst kommt ihr noch zu spät zur Schule.«

»Hoffentlich ist Jakob nicht weggeflogen, wenn wir wieder nach Hause kommen«, sagte Marie.

Auf dem Schulhof traf Marie den Simon und fragte ihn: »Was hattest du gestern auf dem Spielplatz? Warst du krank?«

Simon zuckte die Achseln. »Ab und zu kommt das, aber es ist nicht wichtig.«

Da erzählte Marie ihm, was sie mit der Dohle erlebt hatten.

»Mein Großvater in Kasachstan, der hatte auch eine Dohle«, sagte Simon. »Die konnte sogar meinen Namen sprechen.«

»Wirklich?« Marie wusste nicht, ob sie Simon glauben sollte.

Er erzählte nämlich manchmal höchst merkwürdige Geschichten aus Kasachstan.

»Mein Großvater hat sie von jung an aufgezogen. Sie war aus dem Nest gefallen und hatte einen Flügel gebrochen. In den ersten Wochen hat mein Großvater den kleinen Vogel alle paar Stunden gefüttert.«

»Ist der Flügel wieder heil geworden?«

»So nach und nach. Erst konnte die Dohle nur flattern und schaffte ein paar kleine Hopser. Der Flügel hing ein wenig herunter. Aber später flog sie, als ob nichts gewesen wäre.«

»Und?«, fragte Marie.

»Was, und? Die Dohle ist meinem Großvater nicht mehr von der Seite gewichen. Auch als sie später selber ihr Futter holen konnte, war sie immer in seiner Nähe.«

»Und was ist aus ihr geworden?«

»Was soll aus ihr geworden sein? Kurz bevor wir aus Kasachstan fortgingen, ist mein Großvater gestorben und wenig später die Dohle auch.«

Einen Augenblick schwieg Simon, dann fuhr er fort: »Mein Großvater wusste alles über Dohlen.«

»Erzähl doch mal.«

»Zuerst will ich euren Vogel sehen«, sagte Simon. »Vielleicht ist er gar keine Dohle.«

»Jakob ist bestimmt eine Dohle«, versicherte Marie. »Er ist sogar ein ganz besonderer Vogel. Er hat nämlich einen weißen Flecken auf dem Flügel.«

»Einen weißen Flecken?«, fragte Simon misstrauisch. »Ja, an einem Flügel hat Jakob ein paar weiße Federchen.«

»Kaum zu glauben!« Simon zog ein winziges Lederetui aus der Tasche, öffnete es und nahm ein weißes Federchen heraus.

»Die Dohle von meinem Großvater hatte nämlich auch…«

Er hielt Marie die Feder hin und sagte: »Ich muss euren Vogel unbedingt sehen.«

»Ich weiß gar nicht, ob Jakob überhaupt noch einmal wiederkommt«, gestand Marie.

»Habt ihr den Vogel gefüttert?«, fragte Simon.

»Ja, Käse hat er bekommen und etwas Wurst und ein Apfelstückchen.«

»Dann wird er bestimmt wiederkommen«, sagte Simon zuversichtlich.

In der Schule war Simon nicht besonders gut. Nur in Mathematik war er der Beste in der Klasse. Wenn kein Kind mehr weiterwusste, dann fragte Frau Kück, die Lehrerin: »Na, Simon, was sagst du dazu?«

So war es auch an diesem Tag. Frau Kück hatte Aufgaben an die Tafel geschrieben. Eine begann so: »Zwei Kilo Kirschen kosten 12,80DM…«

Katrin rief: »Im Supermarkt sind die Kirschen aber viel billiger.«

»Wie viel kostet ein Kilo Kirschen in unserer Aufgabe?«, fragte die Lehrerin und klopfte gegen die Tafel. Viele Finger reckten sich in die Luft.

»6,40DM«, antwortete Selim.

Frau Kück schrieb die Antwort an die Tafel. Dann drehte sie sich um und sagte: »Aber jetzt wird es schwieriger. Wie viel müsst ihr bezahlen, wenn ihr eineinhalb Kilo Kirschen kauft?«

Marie hatte schon längst den Faden verloren und malte Dohlen auf kleine Zettel. Als sich kein Kind mehr meldete, schaute Frau Kück den Simon an und fragte: »Na, Simon, was sagst du dazu?«

Doch Simon saß da, als ob er mit offenen Augen träumte. Hatte er die Frage von Frau Kück gar nicht gehört? Die Lehrerin ging zu ihm und fasste ihn bei der Schulter, aber Simon starrte ins Leere und gab keine Antwort.

»Er war gestern krank«, sagte Marie leise. »Er ist umgefallen.«

Frau Kück schüttelte den Kopf. »Irgendetwas stimmt mit diesem Jungen nicht. Es ist, als ob er manchmal ganz weit weg ist.«

Vielleicht in Kasachstan, dachte Marie.

In der Pause war Simon genau wie sonst, und als Marie wissen wollte, was diesmal mit ihm los gewesen sei, zuckte er nur mit den Schultern. Er sagte: »Lass mich doch mit deiner ewigen Fragerei in Ruhe.«

Auf dem Heimweg aber war er wieder ganz freundlich und fragte noch einmal: »Zeigst du mir euren Vogel, Marie?«

»Wer weiß, ob er noch da ist«, antwortete Marie.

»Zeigst du ihn mir, wenn er noch da ist?«

Marie dachte: Mama wird nicht begeistert sein, wenn ich ein Krisselkind mit ins Haus bringe. Doch sie versprach: »Morgen, Simon, morgen zeige ich dir Jakob.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Wenn er nicht längst weggeflogen ist.«

Jakob war noch da, als Marie nach Hause kam. Ja, er spazierte auf der Fensterbank entlang und wagte sich sogar durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Die Dohle gewöhnte sich schnell an die Familie und wurde von Stunde zu Stunde zutraulicher. Am Nachmittag zum Beispiel setzte sich Frau Goseweit für eine Viertelstunde auf die Terrasse in den Liegestuhl und las die Zeitung; da hockte sich Jakob auf die Stuhllehne.

Marie sagte: »Mama, der Simon von Krissels kommt heute. Er will die Dohle sehen.«

»So? Fein.« Mutter ließ die Zeitung gar nicht sinken. Sie hatte wohl gar nicht richtig hingehört; denn eigentlich sah sie es nicht gern, dass ihre Kinder sich mit denen aus dem Haus Nummer117 abgaben.

»Ich gehe zum Bahnhof und hole Papa ab«, rief Andreas.

»Ja, mach das«, sagte Frau Goseweit. »Willst du nicht mitgehen, Marie?«

»Nein, Mama, ich bleibe bei Jakob.«

Wenig später klingelte es und Marie öffnete die Tür. Draußen stand Simon. »Tag«, grüßte er. »Ich wollte wegen der Dohle…«

»Ist gut«, sagte Marie. »