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Northanger Abbey war der erste Roman den Jane Austen fertiggestellt hat. Veröffentlicht wurde er erst postum im Dezember 1817. In Austens Zeit waren "gothic novels" sehr beliebt. Northanger Abbey ist eine Parodie dieser Schauerromane, ein Entwicklungsroman und eine Liebesgeschichte. Die internationale Bestsellerautorin Val McDermid hat die Handlung liebevoll in die Neuzeit transferiert. Statt Pferdegespann fährt man nun Auto, Nachrichten kommen per SMS anstatt von Dienstboten gebracht zu werden … und statt klassischen Schauerromanen liest die Heldin Twilight. Mit ihrem unverwechselbaren Schreibstil, einer Prise Humor und viel Spannung hat Val McDermid dem Klassiker Northanger Abbey einen ganz neuen Schliff verpasst, der beweist, dass die Romane von Jane Austen zeitlos sind. "McDermids clevere und präzise Art zu schreiben, spiegelt Jane Austens Stil auf wunderschöne Art wieder." New York Times "McDermid hat einen ganz eigenen, süffigen, vorsichtig-ironischen Ton gefunden." NDR Kultur "McDermids beweist ihr großes Talent, weil sie es schafft, die Austen-Charaktere so frisch und modern darzustellen, dass man sich fühlt, als würde man es zum ersten Mal lesen. Jane Austen würde applaudieren." Sunday Express
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Seitenzahl: 450
Val McDermid
Jane Austens Northanger Abbey
Roman
Aus dem Amerikanischen von Doris Styron
HarperCollins®
HarperCollins® Bücher erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH
Titel der englischen Originalausgabe:
Northanger Abbey Copyright © 2014 by Val McDermid erschienen bei: The Borough Press, HarperCollinsPublishers, London
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: Hafen Hamburg Redaktion: Maya Gause Titelabbildung: Kjpargeter / Shutterstock ISBN 978-3-95967-997-8
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden.
Für Joanna Steven, treue Leserin und treue Freundin, die indirekt dafür verantwortlich war, dass ich die Freuden
Zuerst möchte ich Jane Austen danken, ohne die dieses Buch nie entstanden wäre. Sie hat mir unzählige vergnügliche Stunden geschenkt, und ich mag die Vorstellung, dass es irgendwo ein Quantenuniversum gibt, in dem sie sich revanchiert und ihre Fantasie sich Tony Hills und Carol Jordans bemächtigt.
Meine immerwährende Dankbarkeit gilt Julia Wisdom, die die Chuzpe besaß, mir diesen unwiderstehlichen Auftrag anzubieten, und die immer an meine Fähigkeit glaubte, das Unwahrscheinliche zu bewältigen.
Wie immer ziehe ich vor der Königin der Lektorinnen, Anne O’Brien, den Hut sowie vor meiner Agentin Jane Gregory und vor Kiri Gillespie, die sich niemals beklagt. Ebenfalls geht mein Dank an das Team bei HarperCollins, von dem das Austen-Projekt mit solch ruhiger Effizienz unterstützt wurde.
Und schließlich bin ich meiner Familie und meinen Freunden dankbar, die trotz enormer Provokationen immer zu mir halten.
Für Catherine Morland war es eine Quelle ständiger Enttäuschung, dass ihr eigenes Leben der Welt in ihren Büchern nicht ähnlicher war. Oder vielmehr, dass die Bücher, in denen sie Ähnlichkeiten fand, so wenig aufregend waren. Viele Romane spielten in kleinen Dörfern und Städtchen auf dem Land wie dem Nest in Dorset, in dem sie wohnte. Zugegebenermaßen hatten sie meist nicht so lächerliche Namen wie die Orte im Piddle Valley, wo die Gemeinden ihres Vaters lagen. Es wäre schwierig gewesen, einen Liebesroman glaubhaft zu machen, der in Farleigh Piddle, Middle Piddle, Nether Piddle und Piddle Dummer spielte. Aber in jeder anderen Hinsicht waren Bücher über das Landleben genau wie ihr Zuhause, nur noch langweiliger, wenn das überhaupt möglich war. Die Bücher, die ihr Herz höherschlagen ließen, spielten nie an Orten, die sie schon einmal besucht hatte.
Cat, wie sie lieber genannt wurde, weil schließlich niemand die Teenagerjahre unter dem Namen durchlaufen sollte, den die Eltern ausgewählt hatten, war, schon solange sie sich entsinnen konnte, von ihrem Leben enttäuscht. Ihre Familie war in ihren Augen absolut durchschnittlich und sterbenslangweilig. Ihr Vater betreute mit gutmütigem Charme und einem Talent für Predigten, die nicht unbedingt unterhaltsam, aber auch nicht wirklich einschläfernd waren, fünf Gemeinden der Anglikanischen Kirche. Ihre Mutter hatte ihren Beruf als Grundschullehrerin zugunsten des unbezahlten Jobs der Frau des Pfarrers aufgegeben und widmete sich ihren Aufgaben ohne viele Klagen und mit genug Einfallsreichtum, um die denkbare Trostlosigkeit dieser Tätigkeit aufzulockern. Hätte es für sie ein Mitarbeiterjahresgespräch gegeben, so hätte die Beurteilung gelautet: „Annie Morland ist ein freundliches und fleißiges Mitglied des Teams, das Probleme als Herausforderungen betrachtet. Ihre Legehennen sind im dritten Jahr in Folge die besten im Piddle Valley.“ Ihre Eltern zankten sich selten, hatten nie ernsthaft Streit. Die beiden hatten kein einziges dunkles Geheimnis.
Selbst ihr Haus war für Cat eine Enttäuschung. Zehn Jahre vor ihrer Geburt hatte die Anglikanische Kirche das zugige neugotische Pfarrhaus an einen Werbemanager aus London verkauft und für den Pfarrer und seine Familie ein gut ausgestattetes modernes Haus gebaut, das jedoch den ästhetischen Reiz einer Cornflakes-Packung hatte. Obwohl es erst vor relativ kurzer Zeit errichtet worden war, hatte es schon genauso viele zugige Ecken entwickelt wie sein Vorgänger, ohne aber dessen Charme zu besitzen. Es war keine Kulisse, die ihre Fantasie auch nur im Geringsten anregte.
Als Kind war Cat ein Wildfang, geprägt von dem Wunsch, die Heldin ihres eigenen Abenteuers zu sein. Die Geschichten, die sie zuerst gehört und später selbst gelesen hatte, hatten ihre Vorstellungskraft beflügelt und ihr eine Fantasiewelt geschenkt, mit der sie spielen konnte. Ihre Freude darüber, dass sie Geschwister hatte – den älteren Bruder James und ihre jüngeren Schwestern Sarah und Emily –, war vor allem den Rollen geschuldet, die sie ihnen in ihren komplizierten Geschichten zuteilen konnte. Darin wurden Ungeheuer bekämpft, Gefangene befreit und ferne Planeten erobert.
Für die meisten Kinder, denen der Segen – oder der Fluch – einer so lebhaften Fantasie zuteilwurde, ist das natürliche Ventil die Schule. Aber Annie Morland hatte Erfahrungen aus erster Hand mit den „Erziehungsfabriken“, wie sie die Schulen nannte, und war nun fest davon überzeugt, dass ihre Kinder sich am besten in ihrem eigenen Unterricht entwickeln würden. Deshalb blieb Cat und ihren Geschwistern die Teilnahme am Alltag in der Schule und auf Spielplätzen verwehrt, der sie vielleicht mit den härteren Seiten der Wirklichkeit konfrontiert hätte. Niemals wurde ihnen das Geld fürs Schulessen geklaut, niemand demütigte sie vor der gesamten Klasse. Stattdessen waren sie ständig der genauen Kontrolle durch eine Mutter und einen Vater ausgesetzt, die nur das Beste für sie wollten.
James, der von der Natur mit einem wachen Geist und Intelligenz gesegnet war, hätte in jedem Bildungssystem, in das man ihn gesteckt hätte, Erfolg gehabt. Und Cat, der Geschichten wichtiger waren als Fakten, hätte sich nirgends besser geschlagen, wo immer man sie unterrichtet hätte. Sicherlich wären sie welterfahrener geworden, hätten sie sich vom Rockzipfel ihrer Mutter lösen können, aber wäre das der Fall gewesen, dann wäre ihre Geschichte zu alltäglich, um für den passionierten Leser von Interesse zu sein.
Eigentlich hatten sie wirklichen Kontakt mit Gleichaltrigen nur in dem kleinen Park, zu dem man eine Flussaue umgestaltet hatte, die dem Dorf aus Anlass des silbernen Thronjubiläums der Queen überlassen worden war. Das Geschenk war von einem internationalen Agrarunternehmen gekommen, das sich beim Prinzen von Wales beliebt machen wollte. Und außerdem hatte die Ackerfläche keinen wesentlichen landwirtschaftlichen Wert, da sie innerhalb eines Flussbogens des Piddle lag und deshalb nicht an eine der in der industriellen Landwirtschaft so geschätzten Großflächen angegliedert werden konnte. Im Park gab es einen Fußball- und einen Tennisplatz, einen Abenteuerspielplatz und, dank eines amerikanischen Ehepaars, das in das alte Schulhaus eingezogen war, ein rudimentäres Baseballfeld. Wenn die Schule aus war, wurde der Park zum Anziehungspunkt für die Kinder. Es wurde wenig offiziell organisiert, aber es gab immer irgendwelche spontanen Spiele, an denen die kleinen Morlands nur zu gerne teilnahmen. Besonders Cat mochte alle Arten von Ballspielen, bei denen man im Dreck rollte oder herumrutschte.
Cat entwickelte sich vom kleinen Wildfang zum Teenager, ohne sich in einem Schulfach oder einer sportlichen Disziplin durch außerordentliche Leistungen auszuzeichnen. Ihre Begeisterung hielt selten lange genug an, um solide Ergebnisse hervorzubringen. Oft verzweifelte ihre Mutter fast an der Aufgabe, dem Gehirn ihrer Tochter ein unregelmäßiges französisches Verb oder eine einfache algebraische Gleichung aufzuzwingen. Nach einem Spaziergang in der Natur saß Cat lieber am Feuer und erzählte Gespenstergeschichten, als über die Pflanzen und Tiere zu sprechen, die sie in Feld und Wald gesehen hatten. Wenn ihre Mutter darauf bestand, machte sie sich Notizen, verlegte sie aber umgehend. Wann immer sich die Möglichkeit bot, schweifte sie vom Unterrichtsstoff ab. Annie bemerkte dann plötzlich, dass ihre Tochter Gründe für die vielen Ehen Heinrichs VIII. aufzählte, statt etwas über die Außenpolitik der Tudors zu lernen.
Angesichts ihres ständigen Scheiterns versuchte Annie, eine Erklärung zu finden. Vielleicht gehörte Cat zu diesen Menschen, deren rechte Gehirnhälfte dominierte, was sie kreativ, musikalisch und fantasiebegabt machte. „Heißt das auch, dass man völlig unfähig ist, sich länger als zwei Minuten auf etwas zu konzentrieren?“, fragte ihr Mann leicht verbittert, als sie ihm diese Theorie erläuterte, während sie zu Bett gingen. „Wer weiß, ob sie musikalisch oder kreativ ist? Sie sagt, sie liebt Musik, aber sie übt nie auf dem Klavier. Sie sagt, sie mag Geschichten, aber sie bringt nie eine zu Ende, die sie angefangen hat. Sie hat keine Lust, sich Taschengeld zu verdienen, weil es nichts gibt, wofür sie es ausgeben will. Alles, was sie will, sind Romane, und von denen kann sie genug in unseren Bücherregalen oder im Bücherbus finden. Ehrlich, Annie, soweit ich erkennen kann, lebt sie in einem vollkommen anderen Universum als wir. Sie ist wirklich eine Transuse.“
„Und was für eine Zukunft steht ihr da bevor?“ Annie wollte in keinen Bereich ihres Lebens Pessimismus eindringen lassen, aber was ihre älteste Tochter betraf, war es schwierig, zu verhindern, dass er doch durch die kleinen Risse in ihrer Abwehr schlüpfte.
„Eine, die keine Qualifikationen erfordert außer ein gutes Herz“, sagte Richard Morland, rollte sich auf die andere Seite und schlug auf sein Kissen, bis es sich gehorsam an ihn schmiegte. „Schau dir doch an, wie gut sie mit den Kleinen umgehen kann. Catherine wird schon zurechtkommen“, fügte er mit größerer Zuversicht hinzu, als seine Frau für berechtigt hielt. Da, dachte sie, hilft einem dann der Glaube.
Cat schlief inzwischen den Schlaf der Unbekümmerten und verlor sich in glücklichen Träumen von Abenteuern und Liebeserlebnissen. Niemals erschütterten Fragen nach ihrer Zukunft ihr Seelenleben. Sie war absolut sicher, dass aus ihr eine Heldin werden würde. Für sie war klar, dass ihr bisheriges Leben nichts weiter als die Vorbereitung auf diese Rolle war. Das hieß nicht, dass sie nicht auf Hindernisse treffen würde. Jeder, der etwas von Abenteuern verstand, wusste schließlich, dass es unzählige Stolpersteine gab auf dem Weg zur wahren Liebe und dem echten Glück. Ihre Familien würden sich bekriegen, ihr Liebster würde sich als Vampir herausstellen, oder sie würden durch ein Meer oder eine scheinbar unheilbare Krankheit getrennt sein. Aber sie würde triumphieren, alle Schranken überwinden und am Ende Glück und Zufriedenheit finden.
Das einzige Problem war, wie diese Abenteuer in Gang gesetzt werden sollten. Nachdem sie jahrelang unter dem Deckmantel kindischer Spiele und des Zeitvertreibs durch die Gärten und Wohnzimmer von Piddle Wallop gestreift war, war sie überzeugt, dass sie alles über ihre Nachbarn wusste, was es zu wissen gab. Natürlich täuschte sie sich mit dieser Vermutung gewaltig, aber es war unwahrscheinlich, dass sie ihre selige Gewissheit aufgeben würde, solange sie den Gedanken in ihrem Kopf mehr Aufmerksamkeit widmete als den Geheimnissen ihrer Mitmenschen. Soweit Cat wusste, kannte sie niemanden, dem es zuzutrauen war, dass er irgendein Abenteuer heraufbeschwören würde. Wollte sie etwas erleben, müsste sie zuerst den engen Grenzen des Piddle Valley entkommen. Und sie wusste nicht, wie sie das je schaffen sollte.
Sie war schon nahe daran, zu verzweifeln, als das Unmögliche geschah. In einem kurzen Moment veränderten sich ihre Aussichten. Es schien, dass Cat, genau wie Cinderella, schließlich doch ihre Chance bekommen sollte – wenn auch nicht auf ihren Traumprinzen, so zumindest auf die moderne Form des Balls im einundzwanzigsten Jahrhundert.
Ihre Nachbarn, Susie und Andrew Allen, waren die Kulturfanatiker des Piddle Valley. Andrew war ein sehr kluger Geschäftsmann. Sein sicheres Auge für Goldgruben im Theaterbetrieb hatte ihm durch Investitionen in kommerzielle Bühnenproduktionen im West End ein ansehnliches Vermögen eingebracht. Er war kein besonderer Bewunderer der darstellenden Künste, aber er besaß den Spürsinn für das, was beim breiten Publikum gut ankommen würde.
Schon seit Jahren verbrachte er den Sommer beim Festival in Edinburgh, wo sein Terminplan zum Bersten gefüllt war mit Fringe-Vorstellungen und Veranstaltungen des Book Festivals, die eventuell als Inspiration für ein Musical dienen konnten. Aber ein leichter Herzinfarkt hatte ihn im Frühjahr niedergestreckt, und Susie hatte darauf bestanden, dass es dieses Jahr anders laufen müsse. Dieses Jahr würde sie ihn begleiten, und er würde jeden Tag höchstens zwei Veranstaltungen besuchen dürfen. „Denn es gibt jede Menge Möglichkeiten, sich in Edinburgh zu amüsieren, ohne sich eine Eine-Frau-Show von König Lear anzutun oder einen Komiker, der Jane Austens Männer darstellt“, hatte sie zu Annie Morland gesagt. Denn wenn es um den Besuch von Theaterstücken ging, war Susie Allens Aufmerksamkeitsschwelle überraschend niedrig, obwohl sie selbst Schauspielerin gewesen war.
Aber damit Susie sich amüsieren konnte, brauchte sie eine Begleiterin für die unangenehmen Gelegenheiten, wenn Andrew darauf bestand, eine Show zu sehen, deren bloße Beschreibung sie schon schaudern ließ. Sie hatte eine sehr klare Vorstellung von der Art der Gesellschaft, die sie sich wünschte. Jemand, dessen Jugend positiv auf sie zurückwirken würde, dessen noch unausgereifte Meinungen nicht hinreichend gefestigt waren, um ihren eigenen zu widersprechen, und eine Person, die interessante Gesellschaft anzog, ohne sie jemals zu dominieren.
Aber so stellte Susie die Angelegenheit weder vor sich selbst noch den Morlands gegenüber dar. Und somit war Cat eines Morgens Anfang August dabei, ihre Reisetasche für einen einmonatigen Aufenthalt im Athen des Nordens zu packen, und war genauso aufgeregt wie glücklich.
Um Cat nach Edinburgh zu fahren, wurde keine goldene Kutsche mit weißen Pferden bereitgestellt. Stattdessen erwartete sie die Aussicht auf eine achtstündige Fahrt auf dem engen Rücksitz von Susie und Andrew Allens Volvo Estate. Aber Cat war sich sicher, dass das kein Problem sein würde, obwohl sie im alten Minivan der Morlands noch nicht weiter als bis Bristol gekommen war. Sie würde im Wagen schlafen und lesen können, was die zwei wesentlichen Bestandteile ihres Lebens waren.
Einen langen Abschied von ihren Eltern gab es nicht. Es schien, als wären deren Fähigkeiten, viel Aufhebens um die Abreise eines ihrer Kinder zu machen, aufgebraucht, seit James vier Jahre zuvor nach Oxford gegangen war. Cat musste zugeben, dass sie bei der augenscheinlichen Gleichgültigkeit ihrer Familie, was ihre bevorstehende Abwesenheit betraf, einen Anflug von Enttäuschung verspürte. Ja, es stimmte schon, ihre Mutter erdrückte sie fast mit ihrer heftigen Umarmung, aber auf dem Fuß folgte eine schroffe Ermahnung, jeden Morgen ihre Vitamine zu nehmen. „Und vergiss nicht, dass du sparen musst. Verplempere nicht alles gleich in den ersten paar Tagen. Was du hast, muss für einen Monat reichen. Du kannst dir nichts von Mum und Dad leihen, wenn du kein Geld mehr hast“, fügte sie streng hinzu. Annie zeigte keine Anzeichen von Sorge wegen der Gefahren, die auf Edinburghs Straßen lauern mochten, obwohl sie sowohl die Krimis von Ian Rankin als auch die von Kate Atkinson kannte.
In der Hoffnung auf etwas mehr Herzlichkeit oder Besorgnis wandte sich Cat ihren Schwestern zu. „Ich simse euch, wenn ich da bin“, sagte sie. „Und ich melde mich auf jeden Fall auf Facebook und Twitter.“
Sarah zuckte nur mit den Schultern, entweder aus Neid oder aus Gleichgültigkeit. „Wie du meinst“, murmelte sie.
„Ich schick auch Fotos.“
Emily wandte den Blick ab, sie war offenbar fasziniert von dem Kondensstreifen, den ein Düsenjäger hinterließ. „Wenn du willst.“
Cat warf ihrem Vater einen flehentlichen Blick zu und hoffte, zumindest ihm wäre anzumerken, dass ihm vor ihrer Abreise graute. Er legte ihr kameradschaftlich einen Arm um die Schultern und zog sie von der Einfahrt in Richtung der baufälligen Garage, wo er seinem Hobby, Holzarbeiten, frönte. „Ich habe hier etwas für dich“, meinte er.
Cat befürchtete, dass es um eines seiner aus Holz gearbeiteten Schmuckkästchen ging, ließ sich aber außer Sichtweite ihrer Mutter und der Schwestern führen. Stattdessen kramte ihr Vater aus seiner Jeanstasche zwei zerknitterte Zwanzig-Pfund-Noten hervor. „Hier ist ein bisschen Extra-Taschengeld für dich.“ Er legte ihr das Geld in die Hand und schloss ihre Finger darüber.
„Hast du den Klingelbeutel geplündert?“, scherzte sie.
„Stimmt“, antwortete er. „Es wäre mehr gewesen, aber die Gemeinde hat’s diesen Monat nicht gebracht. Hör zu, Cat. Das ist eine tolle Gelegenheit, etwas von der Welt da draußen zu sehen. Mach das Beste draus!“
Sie warf die Arme um seinen Hals und küsste ihn. „Danke, Dad. Du verstehst es. Das ist der Anfang eines wunderbaren Abenteuers. Die ganzen Jahre über habe ich von aufregenden Taten und wilden Geschichten gelesen, und jetzt werde ich wirklich meine eigene erleben.“
Richards Lächeln zeigte einen Anflug von Schwermut. „Ich weiß noch, wie ich Der Kampf um die Insel gelesen habe und die Bücher über die Fünf Freunde und dachte, so würde mein Leben sein. Aber so war es nicht, Cat. Sei nicht enttäuscht, wenn deine Reise nach Edinburgh nicht so verläuft wie ein Harry-Potter-Roman.“
Cat schnaubte. „Harry Potter? Nicht mal kleine Kinder glauben, dass es Harry Potter wirklich gibt. Man kann sich nicht nach etwas sehnen, von dem man weiß, dass es komplett erfunden ist. Es muss sich echt anfühlen, damit man glauben kann, es könnte einem selbst passieren.“
Ihr Vater wuschelte durch ihr langes lockiges Haar. „Das erzählst du dem Falschen. Ich glaube an die Bibel, verstehst du?“
„Ja, aber du bist doch nicht einer dieser Spinner, die meinen, dass das Alte Testament geschichtliche Vergangenheit ist. Was ich meine, ist: Diese ganze Zauberei und Hexenkunst, das kann niemand glauben. Aber wenn ich über Vampire lese, das könnte wahr sein. Es könnte sein, dass die Dinge unter der Oberfläche so sind. Alles passt. Es ergibt einen Sinn auf eine Art und Weise, wie Quidditch und alberne Zaubersprüche es nicht tun.“
Richard lachte. „Na, ich hoffe, du kannst in Edinburgh ein Abenteuer erleben, ohne von einem Vampir gebissen zu werden.“
Cat verdrehte die Augen. „Ach, das ist so ein Klischee, Dad. Und so sind die Untoten gerade überhaupt nicht.“
Bevor er antworten konnte, wurden sie von einem Hupen unterbrochen. „Deine Kutsche erwartet dich“, sagte Richard und schob sie sanft vor sich her aus der Garage hinaus.
Die Fahrt nach Norden war ereignislos. Aus Rücksicht auf Cats Literaturgeschmack hatte Susie eine gekürzte Hörbuchfassung von Bram Stokers Dracula heruntergeladen. Für Cat, die nur mit den aktuellen Vampirromanen vertraut war, war das eine merkwürdige, verwirrende Erfahrung. Es erinnerte sie an das erste Mal, als sie eine Olive gegessen hatte. Sie schmeckte anders als alles, das ihrem Gaumen zuvor untergekommen war; seltsam und eigentlich nicht angenehm, aber die Verheißung von Raffinesse machte sie doch wertvoll. So etwas würde sie mögen, wenn sie erst genug über die Welt wüsste, schien die Erfahrung ihr zu sagen. Und diese Garantie reichte vollkommen aus, um ihre Konzentration auf dem Konflikt zwischen dem Grafen aus Transsylvanien und Professor Van Helsing zu halten.
Das Buch war zu Ende, und Cat begann, ihre Außenwelt wieder bewusst wahrzunehmen, als sie gerade den Rand der Stadtmitte erreichten. Sie richtete sich auf dem Rücksitz aus ihrer lässigen Haltung auf, sah sich gespannt in der Umgebung um und betrachtete die beeindruckende Symmetrie der grauen Steingebäude, die die Straßen säumten, unterbrochen durch von ordentlichen Baumreihen und von spitzenbewehrten Schmiedezäunen umgebene Gärten. Obwohl das Licht noch kaum in Dämmerung überging, sah sie in ihrer Vorstellung einen dunklen, nebligen Abend vor sich, der diese Umgebung aufregend unheilschwanger erscheinen lassen würde. Sie war nach Edinburgh gekommen, um etwas Spannendes zu erleben, und schon auf den ersten Blick erfüllte die Stadt ihre Erwartungen.
Mr Allen mochte es bequem und wählte für seine Pilgerreise im August immer sehr gemütliche Unterkünfte. Dieses Jahr hatte er eine Vierzimmerwohnung nahe dem westlichen Ende der Queen Street gemietet, die mit der Entsprechung des Heiligen Grals im heutigen Edinburgh ausgestattet war, nämlich einem Parkausweis. Als sie endlich einen dazu passenden Parkplatz gefunden und dann ihr Gepäck mehrere Treppenfluchten hinaufgeschleppt hatten, hatte keiner von ihnen noch Lust oder Energie, etwas anderes zu tun, als einfach schlafen zu gehen.
Cats Zimmer war das kleinste der drei Schlafzimmer, aber das störte sie nicht. Es war in hellen Gelb- und Zitronentönen gestrichen, und es gab mehr als genug Platz für ein Einzelbett, einen Schminktisch, einen Kleiderschrank und einen ausladenden Sessel, der perfekt war, um sich darauf zusammenzukauern und zu lesen. Das Allerbeste war, dass man von dort auf die Queen Street Gardens schauen konnte. Es fiel Cat nicht schwer, den ständig fließenden Verkehr zu ignorieren und sich an dem breiten Dach der Baumkronen zu erfreuen. Jetzt, wo das Zwielicht sich herabgesenkt hatte – und zu ihrem Erstaunen war es schon fast elf, eine Zeit, zu der es in Dorset schon stockdunkel wäre –, sah sie Fledermäuse zwischen den Blättern umherschwirren. Ein freudiger Schauder überlief sie, bevor sie die Vorhänge vorzog und einschlummerte.
Das Frühstück war bei den Allens eine noch zwanglosere Angelegenheit als bei den Morlands. Als Cat aus der Dusche kam, fand sie Mr Allen im Morgenmantel am Fenster sitzend vor, den Independent lesend und mit einer Tasse Kaffee neben sich. Er hob kurz den Blick und sagte: „Der Supermarkt hat geliefert. Obst, Saft und Speck und Eier sind im Kühlschrank, Croissants im Brotkasten und Frühstücksflocken im Schrank. Nimm dir, was immer du möchtest.“
Mit der Qual der Wahl konfrontiert, goss sich Cat ein Glas Mangosaft ein, während sie überlegte. „Schläft Susie noch?“, fragte sie.
Mr Allen brummte: „Wahrscheinlich.“ Demonstrativ faltete er seine Zeitung zusammen und leerte seine Tasse. „Ich habe eine Karte für eine Vorstellung um halb elf im Pleasance. Eine Comedy-Truppe aus Birmingham zeigt eine Musical-Version von Middlemarch.“
„Das hört sich nicht so besonders passend an.“
Er stand auf und streckte sich. „Und das, meine liebe Cat, ist genau der Grund, weshalb es vielleicht funktionieren könnte.“
Cat begriff, dass sie noch viel über das moderne Theater zu lernen hatte. Mit etwas Glück würde sie nach ihren vier Wochen in Edinburgh mehr davon verstehen. „Gehen wir mit?“
Er lachte in sich hinein. „Gott bewahre, nein. Susie wird sich nicht in die Nähe eines Kulturereignisses wagen, bevor sie sich nicht mit der Garderobe der Saison ausstaffiert hat. Ihr beide werdet heute Vormittag shoppen gehen. Ich hoffe, du bist gut ausgeruht.“
Erst dachte sie, er würde übertreiben, denn sie wusste, dass Männer beim Thema Frauen und Shoppen dazu neigten. Aber beim fünften Laden, dem fünften Haufen Textilien, der fünften Umkleidekabine begann Cat, über Mr Allens Toleranzschwelle zu staunen. Zugegebenermaßen hatte sie nicht oft Gelegenheit gehabt, das Eheleben anderer aus der Nähe zu beobachten, abgesehen von dem ihrer Eltern. Aber obwohl Cat sich wegen dieses Gedankens selbst nicht gerade nett fand, merkte sie, dass sie bisher irgendwie übersehen hatte, dass Susie Allen die hirnloseste Frau war, mit der sie je Zeit zugebracht hatte. Das Verblüffende an dieser Entdeckung war, dass Mr Allen keineswegs hirnlos war noch übergroßen Wert auf sein Aussehen legte. Es war rätselhaft. Das Einzige, was sie gemeinsam zu haben schienen, war ihre Neugier. Aber während Mr Allens Neugier sich darauf konzentrierte, neue Wunder zu finden, die er einem Publikum präsentieren konnte, schien Susie Allen nur daran interessiert, prominente Gesichter in der Menge zu entdecken, die sich in den Geschäften und auf den Straßen Edinburghs drängte.
„Ist das nicht die kleine Schottin, die immer im News Quiz ist? Oh, und das da drüben, das ist doch sicher Margaret Atwood, die Hüte aufprobiert? Ach, schau mal, da ist der Rugbyspieler mit den kolossalen Oberschenkeln.“ Auf diesem Niveau bewegten sich Susies Kommentare.
Das Einzige, was mit ihr versöhnte, war, zumindest in den Augen eines Teenagers, ihre Großzügigkeit. Während Susie sich eine teure neue Garderobe gönnte, ließ sie sich nicht lumpen, Cat ähnliche Freuden zu gewähren. Cat war von Natur aus nicht unbescheiden, aber im Familienbudget der Morlands blieb nie viel übrig, um modische Eitelkeiten über praktische Überlegungen zu stellen. Obgleich Cat wusste, dass es schon großzügig genug war, sie auf diese Reise mitzunehmen, und dass ihre Eltern es nicht gern sähen, wenn sie Dinge annahm, die sie als unnötige Wohltaten betrachten würden, konnte sie doch nicht umhin, sich von den schicken Kleinigkeiten verführen zu lassen, die Susie für sie auswählte. Trotzdem war Cat der exzessiven Einkaufstour am Nachmittag überdrüssig und sehnte sich danach, ins kulturelle Leben einzutauchen.
Ihr Wunsch wurde erhört, als sie in die Wohnung zurückkamen und Mr Allen mit einer Tasse Tee und seinem iPad am Fenster vorfanden. „Ich habe Karten für euch beide für eine Comedy-Show heute Abend im Assembly Rooms“, verkündete er, ohne sich zu rühren. „Ich bin zu einer Whiskyverkostung eingeladen und werde euch nach der Show in der Bar treffen.“
Cat zog sich in ihr Zimmer zurück, wo sie ihre neuen Kleider auf dem Bett ausbreitete und jedes Stück mit ihrem Handy fotografierte. Sie postete ihr Lieblingsfoto – ein Top mit einem raffinierten Spiel von Farbschattierungen von fuchsienfarbig bis schimmernd Rosa – auf ihrer Facebook-Seite und schickte dann die anderen an ihre Schwestern. Sie simste ihren Eltern, um ihnen zu sagen, dass sie den Tag damit verbracht hatte, mit Susie spazieren zu gehen, und dass sie am Abend eine Show sehen würden. Instinktiv wusste sie genau, was sie ihren Eltern lieber nicht erzählen sollte. Sarah und Emily würden sie nicht verraten. Nicht weil sie unbedingt ihre vertraulichen Mitteilungen geheim halten wollten, sondern eher, weil sich ihr Ärger über das, was sie verpassten, gegen ihre Eltern richten würde.
Auf dem Gehweg unter dem dreibogigen Säulenvorbau der Assembly Rooms liefen jede Menge Leute umher und ließen in der Hoffnung die Blicke wandern, Bekannte zu entdecken oder Personen, mit denen sie gern bekannt wären. Alle Flächen waren mit Plakaten beklebt, auf denen in überdrehter Schrift die sensationellen Vorstellungen drinnen angepriesen wurden. Alles verlangte nach Cats Aufmerksamkeit, und sie hing nervös an Susies Arm, als sie sich durch die Menge drängten, um hineinzugelangen.
Das Gedränge schien dichter zu werden, je weiter sie in das Gebäude eindrangen. Mr Allen hatte ihr die Schönheit und Eleganz der Innenräume geschildert und erklärt, wie die Pracht des achtzehnten Jahrhunderts wiederhergestellt worden sei. „Man hat die perfekten Proportionen beibehalten und den ursprünglichen Stil der Verzierungen bewahrt bis hin zu den Kronleuchtern und dem Blattgold auf den Rosen an der Decke“, hatte er ihr bei ihrem frühen Dinner erzählt. Cat war gespannt darauf gewesen, das alles selbst zu sehen, aber es war zu voll, damit sie sich wirklich eine Vorstellung machen konnte, wie es wirkte. Zwischen den Köpfen und den Plakaten erhaschte sie hin und wieder einen Blick, aber es entstand nur ein verwirrendes Kaleidoskop von Bildern. Ihr blieb vor allem ein einziger Eindruck: Hunderte von Menschen, die auf dem Weg zu und von verschiedenen Vorstellungen sehen und gesehen werden wollten.
„Ich weiß, wo wir hinmüssen“, sagte Susie laut, um in dem Gewühl gehört zu werden. Halb führte sie Cat und halb zog sie sie durch die Menge, bis sie endlich am Ziel waren. Susie gab ihre Eintrittskarten ab, und sie wurden in den Zuschauerraum eingelassen.
Es war nicht Cats erster Besuch einer Live-Vorstellung. Sie hatte regelmäßig Aufführungen im Gemeindezentrum und sogar gelegentlich im Arts Centre in Dorchester gesehen. Sie wusste, was sie zu erwarten hatte. Stuhlreihen, leise gemurmelte Unterhaltungen, ein Bühnenportal mit Vorhang.
Aber stattdessen wurde sie in eine warme, feuchte Masse von Körpern hineingestoßen, die den Raum um ein kleines erhöhtes Podium am einen Ende des brechend vollen Saals ausfüllte. Im Halbdunkel sah sie Stühle, aber alle waren besetzt. Es gab nur noch Stehplätze, und die Zuschauer standen so eng gedrängt nebeneinander, dass Cat sicher war, niemand würde es bemerken, wenn sie ohnmächtig würde, bis alle den Zuschauerraum verließen und sie zu Boden sänke.
„Es ist ziemlich heiß“, protestierte sie.
„Du wirst es nicht mehr bemerken, wenn das Stück anfängt“, versicherte ihr Susie.
Weil Susie so lange gebraucht hatte, um sich fertig zu machen, waren sie gerade noch rechtzeitig gekommen. Ein dünner junger Mann mit federndem Schritt kam auf die Bühne gestürzt, sein Haar war ein wilder blond-blauer Schopf, der zu seinem T-Shirt passte. Er legte sofort los mit einer scharfen Attacke über seine Ankunft in Edinburgh, wobei er so schnell sprach und sein West-Midlands-Akzent so stark war, dass Cat kaum jeden dritten Satz verstehen konnte.
Die anderen Zuschauer schienen besser zurechtzukommen, denn sie konnten ihm gut genug folgen, um gleichermaßen zu klatschen, zu lachen und dazwischenzurufen. Für Cat war das eine neue Erfahrung, und trotz ihres Unbehagens ließ sie sich von der Stimmung mitreißen, klatschte und lachte, ohne Rücksicht darauf, ob sie die Pointe mitbekommen hatte oder nicht.
Schließlich war die Show zu Ende, und Zurufe und Beifall zeigten an, dass sie ein Erfolg war. Der einzige Vorteil an ihrem Platz so weit hinten war, dass sie sich relativ schnell davonmachen konnten. Nach der stickigen Luft im Saal konnte einem von der relativ frischen Luft im Foyer fast schwindelig werden. „Zur Bar“, rief Susie und zog sie sofort vom Ausgang weg und tiefer ins Innere des Gebäudes. „Ich bin am Verdursten.“
Die Bar war genauso rammelvoll. Eine große Schar Wartender drängte sich vor dem Tresen. Susie stöhnte und schaute auf ihre Uhr. „Andrew wird jeden Moment kommen; er kann die Arbeit hier für uns erledigen. Komm, wir suchen uns einen Platz, meine Füße bringen mich um.“ Das überraschte Cat nicht. Selbst ein Teenager hätte genug Vernunft besessen, abends nicht in den lächerlichen Schuhen auszugehen, die Susie erst am Morgen gekauft hatte.
Cat erschien es kaum wahrscheinlich, dass sie einen Sitzplatz ergattern könnten, aber Susie ließ sich von der Menge nicht entmutigen. Sie entdeckte einen Tisch, an dem eine Gruppe junger Leute, die offensichtlich zusammengehörten, eng gedrängt um Weinflaschen und Gläser herumsaß. Susie marschierte direkt auf den Tisch zu und ließ sich auf das Ende der Sitzbank fallen. „Rutscht mal ’n bisschen, Schätzchen“, sagte sie und wedelte mit den Händen, als wolle sie sie wegscheuchen.
Trotz ihres subversiven Aussehens war es offenbar eine Gruppe wohlerzogener Studenten. Gehorsam quetschten sie sich näher aneinander, um gerade genug Platz für Susie zu machen, und auch für Cat entstand eine kleine Lücke. Aber ihre Höflichkeit ging nicht so weit, dass sie die beiden in ihre Unterhaltung mit einbezogen. Cat kam sich unwichtig und unattraktiv vor. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie noch nie an einem Ort mit vielen Menschen gewesen war, wo sie nicht die meisten Leute kannte. Es war aufregend und zugleich nervenaufreibend. Die Möglichkeit eines Liebesabenteuers oder einer Gefahrensituation lauerte überall; es war an der Zeit, das Unbekannte anzunehmen, statt davor zurückzuschrecken.
Um diese Erkenntnis mit ihr zu teilen, wandte sie sich Susie zu, die jedoch mit schmollendem Gesichtsausdruck den Blick durch den Raum streifen ließ. „Unglaublich! Ich habe per E-Mail und über Facebook mindestens ein Dutzend meiner besten Freunde kontaktiert, um ihnen zu sagen, dass wir heute Abend hier sein würden, und kein Einziger von ihnen ist da. Ich wollte dich den Elliots vorstellen, sie haben einen Sohn ungefähr in deinem Alter. Und den Wintersons, ihre Mädels, die Zwillinge, gehen wohl jetzt am Ende des Sommers an die Uni. Aber nein. Keine Menschenseele in Sicht.“
Cat spürte, wie die prickelnde Aufregung nachließ, von Susies Missmut neutralisiert. Aber bevor sie etwas sagen konnte, erschien Mr Allen und drängte sich durch das Gewimmel. „Das ist ja unmöglich hier“, sagte er und schickte dabei eine whiskygeschwängerte Atemwolke über die beiden hinweg. „Das macht keinen Spaß. Gehen wir doch einfach zu Fuß nach Haus, und dann trinken wir dort etwas.“
„Aber dann werden wir doch alle verpassen“, beklagte sich Susie.
„In dem Haufen hier kann man niemanden treffen und sich schon gar nicht unterhalten. Wir werden mit den Leuten schon noch früh genug zusammenkommen. Das ist doch keine Einführung in das Leben in Edinburgh für die arme Cat. Schau dir das Mädchen an, sie schmilzt ja geradezu hier drin.“
Cat war sich sicher, dass das nicht Mr Allens Absicht gewesen war, aber seine Worte bewirkten, dass sie sich noch unattraktiver und unbedarfter vorkam. Mit rotem Kopf erhob sie sich und trat zur Seite, damit Susie von der Bank aufstehen konnte. Als sie sich hinter den Allens in Bewegung setzen wollte, legte einer der jungen Männer am Tisch seine Hand auf ihr Handgelenk. Sie wich aufgeschreckt vor ihm zurück, und er zwinkerte ihr zu. „Cooles Top“, sagte er.
Sie ging hinter Susie her, bevor sie deren aufwendiges Trachtenkleid aus den Augen verlor, und ihr war jetzt noch heißer und unbehaglicher zumute als zuvor. Aber als sie in die kühle Abendluft hinaustraten, begriff sie, dass der ganze Abend wegen dieses kurzen Kontakts der Mühe wert gewesen war. Edinburgh war wirklich eine Stadt unendlicher Verheißung.
Cat war überrascht, wie schnell ihr Tagesablauf in Edinburgh zur Routine wurde. Nach einem späten Frühstück nahmen sie und Susie am Vormittag die Kunst zum Vorwand, um auszugehen und die Stadt zu erkunden. Es stimmt schon, sie sahen sich viele Bilder, Skulpturen und dubiose Installationen an, aber eigentlich sahen sie mehr von der Stadt, vom durchgeplanten Straßennetz der georgianischen New Town bis zu dem auf- und abführenden verzweigten Labyrinth der Gassen und Sträßchen, aus denen die Altstadt bestand, wo Burke und Hare ihrem Gewerbe nachgegangen waren. Cat hatte sich die dunkle Seite der Edinburgher Geschichte über Google erschlossen, und es war eher sie als Susie, die ihre gemeinsamen Streifzüge durch die Stadt mit Geschichten über Grabräuber und janusköpfige Bürger belebte, die ihre dunklen Geheimnisse hinter der Maske der Ehrbarkeit verbargen. Mehr als einmal hielt sich Susie die Ohren zu und rief nervös lachend: „Hör auf, Cat, du machst mir Angst.“ Und das war noch, bevor Cat die Berichte und Erzählungen über Vampire aus dem Internet gestreift hatte. Cat war in ihrem Element und sah an jeder Ecke und Biegung der schmalen Straßen die Verheißung von Schrecken und Abenteuer.
Natürlich konnten weder die Kunst noch die Sehenswürdigkeiten Susies Aufmerksamkeit lange fesseln. Irgendwie wurden sie auf ihren Wegen durch die Stadtmitte immer wieder vor ein faszinierendes Schaufenster gespült, so wie Strandgut an den Strand von Cramond. Cat begriff, dass dies der Preis war für die Freude, eine so exotische Stadt kennenzulernen. Zudem beklagte sich Susie ständig darüber, dass sie nicht verstehe, wieso sie nie jemandem aus ihrer Londoner Zeit begegnete.
Am fünften Tag kehrten sie mit wund gelaufenen Füßen in die Wohnung zurück und trafen Mr Allen beim Tischdecken an. Er trug eine Auswahl an Käsesorten, Fleisch- und Gemüsedelikatessen auf, von denen Cat deprimierenderweise mehrere nicht identifizieren konnte. „Auf dem Rückweg von einem recht vielversprechenden Stück über Chris de Burghs Songs kam ich an Valvona und Crolla vorbei und dachte, ich könnte uns einen guten Lunch spendieren“, begrüßte er sie. Er verteilte Teller und Besteck und öffnete dann eine Flasche hellen Weißwein mit einem Korkenzieher, der aussah, als hätte er einen Designpreis bekommen. „Oh, und das wurde abgegeben, während wir weg waren.“ Er wies mit dem Kinn auf eine dicke Karte, die aus einem edlen weißen Kuvert herausragte, das darauf schließen ließ, dass der Absender eine hohe Meinung von sich selbst hatte.
Neugierig nahm Susie den Umschlag und drehte die Karte um. „Oh, Andrew, der Highland Ball! Da wollte ich immer schon mal hin. Solange ich mich erinnern kann, träume ich davon.“
Er schien leicht überrascht. „Davon hast du nie etwas gesagt. Ich bekomme jedes Jahr eine Einladung. Aber ich bin ja meistens allein hier, deshalb habe ich darauf verzichtet.“
„Aber wir gehen doch? Oder?“ Susie erinnerte Cat an ihre jüngere Schwester Emily bei der Aussicht auf den neuesten Pixar-Animationsfilm. So war sie selbst auch einmal gewesen, aber heutzutage ging sie mit ihrer Begeisterung lieber etwas erwachsener um. Selbst ihre Mutter hätte Mühe gehabt, zu merken, wie aufgeregt sie war, als zum Beispiel der letzte Twilight-Film herausgekommen war. „Oh, Andrew, bitte, sag doch, dass wir gehen.“ Sie wandte sich an Cat. „Der Highland Ball ist das gesellschaftliche Ereignis der Saison in Edinburgh. Absolute Topliga, Cat. Der perfekte Ort für dich, um einen guten Fang zu machen.“
Cat spürte, wie ihr die Röte von der Brust den Hals hoch und in die Wangen stieg. Mr Allen schüttelte den Kopf und zeigte seiner Frau ein gutmütiges Lächeln, während er sich an den Tisch setzte. „Lass Cat in Ruhe. Nicht alle gehen zum Highland Ball, um einen Mann zu finden, Susie. Aber wenn dir so viel daran liegt, dann gehen wir. Und wir können Cat mitnehmen.“ Er lachte leise vor sich hin. „Der Highland Ball. Das wird eine Erfahrung sein für dich. All diese Männer in Kilts. Du kannst doch schottische Volkstänze tanzen?“
Susie ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Sei nicht albern, Andrew, wo hätte Cat denn das lernen sollen? Wir werden sie zum Unterricht schicken müssen.“
„Robbie Alexanders Frau gibt einen Tanzkurs, der speziell für den Highland Ball gedacht ist“, sagte er. „Sie hat es mir vor zwei Jahren erzählt. Ruf sie doch mal an und frag, ob sie Cat aufnehmen kann.“
Und so saß Cat am Nachmittag in einem Bus nach Morningside, wo Fiona Alexander den letzten verfügbaren Gemeindesaal in Edinburgh in Beschlag genommen hatte, um den Neulingen die Grundzüge des Scottish Country Dancing beizubringen. „Stell es dir als Krieg mit anderen Mitteln vor“, hatte Mr Allen gesagt, als sie sich aufmachte. Das hatte Cat in Bezug auf das, was sie zu erwarten hatte, nicht unbedingt beruhigt.
Sie schlüpfte hinein und hoffte, es würden so viele Leute im Saal sein, dass sie unbemerkt bleiben würde. Aber dieses Glück hatte sie nicht. Es waren weniger als zwei Dutzend Teilnehmer, die meisten standen zu viert oder fünft in Gruppen herum, wobei die jungen Männer sich schubsten und herumblödelten, die Frauen die Augen verdrehten, simsten oder die Köpfe zusammensteckten und tratschten. Zwei oder drei ältere Paare waren ans andere Ende des Raums gegangen, wo eine Frau unbestimmten Alters in einem Schottenrock und weißer Bluse stand. Das Haar hatte sie mit einem schottengemusterten Band zurückgebunden, und sie betrachtete stirnrunzelnd einen tragbaren CD-Player. Cat nahm an, dass das Fiona Alexander war. Sie lehnte sich an die Wand und wartete darauf, dass etwas passierte.
Nach einigen Minuten klatschte Fiona in die Hände und bat um Ruhe. Das Stimmengemurmel verstummte, sie setzte zu ihrer Begrüßung an und ging dann nahtlos zu einer kurzen Erklärung des Unterrichtsablaufs über. „Und nun, Ladies und Gentlemen, wählen Sie bitte Ihre Partner. Wir werden bei den gleichen Partnern bleiben, und es ist im Allgemeinen einfacher, mit jemandem zu arbeiten, den man schon kennt.“
Zu Cats Bestürzung schienen sich schon fast alle zu Paaren zusammengefunden zu haben. Zwei andere Mädchen, die sie beide für viel hübscher hielt als sich selbst, und zwei junge Männer blieben übrig. Sie bewegten sich aufeinander zu und ließen sie hilflos in der Angst zurück, dass sie mit Fiona würde tanzen müssen.
Ihre Rettung war ein junger Mann, der plötzlich die Doppeltür des Saals aufstieß und schlitternd auf der Schwelle zum Stehen kam, noch schnaufend und zerzaust vom Laufen. Er verbeugte sich tief vor Fiona, und sein dichtes blondes Haar fiel ihm nach vorn in die Stirn. „Es tut mir sehr leid, Fiona. Ich habe den Bus verpasst und bin die ganze Strecke von Bruntsfield gerannt. Ich glaube, ein paar ältere Damen haben mich für einen Performancekünstler gehalten – sie haben geklatscht, als ich am Café vorbeikam.“ Er richtete sich halb auf, eine Hand gegen seine Rippen gepresst.
Fiona warf ihm einen Blick gespielter Missbilligung zu. „Komm rein, Henry. Zumindest bist du jetzt hier. Und das ist auch gut so, weil diese junge Dame hier …“, sie wies auf Cat, „noch keinen Partner hat.“ Sie lächelte Cat zu. „Schätzchen, ich nehme an, dass Sie Catherine Morland sind? Susie Allen hat mich angerufen. Dieser unpünktliche Schlawiner ist Henry Tilney, der bei meinen Kursen aushilft. Henry, das ist Catherine.“
Als er auf sie zuging und sein dichtes honigblondes Haar aus der Stirn strich, hatte Cat Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Henry hatte die richtige Größe, etwa eins achtzig, breitschultrig, aber schlank, ohne dünn zu sein, anmutig statt schlaksig. Seine Augenbrauen und Wimpern waren viel dunkler als das Haar, und hätte er nicht auch dunkle, nussbraune Augen gehabt, hätte sie ihn verdächtigt, sie zu färben. Seine Stirn war breit und die Wangenknochen schön definiert; die markante Nase verhinderte, dass er für einen Mann zu hübsch war. Seine Haut war hell und rein, nicht durch Sommersprossen verunstaltet. Er hatte nicht das sorgfältig gepflegte gute Aussehen eines Boygroup-Mitglieds, aber sein Gesicht war attraktiv und einprägsam. Geradezu wie das eines Helden, erlaubte sich Cat zu denken.
Er neigte grüßend den Kopf. „Schön, Sie kennenzulernen, Catherine. Ich verspreche, es ist nicht so schwer, wie es aussieht. Ich werde behutsam mit Ihnen umgehen.“
Als sie später auf diese erste Begegnung zurückblickte, fragte Cat sich, ob sie mehr auf der Hut hätte sein sollen vor einem Mann, der ihre Bekanntschaft mit einer so unverfrorenen Lüge begonnen hatte. Denn an dem, was folgte, war nichts Behutsames.
Nach einer Stunde voller Drehungen und Herumgewirbel, mit Gay Gordons und Dashing White Sergeants, Pas de basques und Dos-à-dos gab es eine Pause. Cat hatte den unangenehmen Eindruck, dass sie schwitzte wie ein untrainiertes Pony, während Henry noch absolut frisch wirkte. Sie rechnete damit, dass er sich bei der erstbesten Gelegenheit davonstehlen und direkt eine der großen Blondinen mit ihrer vornehmen Aussprache und den Haarbändern ansteuern würde, aber er bat sie, zu warten, er werde ihr etwas zu trinken holen.
Sie ließ sich dankbar auf eine Bank fallen, bis er mit Sprudel in Plastikbechern zurückkehrte. Er setzte sich neben sie, streckte die langen Beine in der beerenfarbenen Cordhose aus und schlug die Knöchel übereinander. „Puh“, seufzte er. „Fiona ist wirklich entschlossen, uns alle Schritte beizubringen.“
„Warum sind Sie hier? Sie kannten doch alle Schritte schon ganz genau.“
„Die Alexanders sind Nachbarn meines Vaters. Fiona erwähnte, dass sie in ihren Kursen nie genug fähige Männer hat, also hat mein Vater mich sozusagen zur Verfügung gestellt. Er spielt gern den guten Nachbarn. Das kommt ihm zugute, wenn er etwas Grässliches tut“, fügte er so leise hinzu, dass sie es fast nicht verstehen konnte.
Rätselhaftes Fehlverhalten war natürlich etwas, das Cat aufhorchen ließ. Jetzt war sie erst recht darauf erpicht, mehr über ihren faszinierenden Tanzpartner herauszufinden. „Na, ich bin froh, dass er das getan hat“, sagte sie. „Das hier wäre ein Albtraum für mich, wenn ich einen Partner hätte, der genauso wenig Ahnung hat wie ich.“
Henry schaute sie mit einem draufgängerischen Grinsen an, das seine kleinen scharfen Zähne sehen ließ. Im Nachmittagslicht sahen seine Augen gelblich aus wie die eines Löwen, der seine Beute belauert. „Gern geschehen! Aber ich vernachlässige meine Edinburgher Pflichten“, sagte er, richtete sich auf und zählte die Fragen an den Fingern ab. „Wie lange sind Sie schon in Edinburgh? Sind Sie zum ersten Mal hier? Gefällt Ihnen das Pleasance besser oder das Assembly Rooms? Welches ist das beste Stück, das Sie bis jetzt gesehen haben? Und sind Sie schon chic essen gegangen?“ Er hatte eine herrliche Aussprache: fast BBC, aber mit einem leisen Anklang ans Schottische in den Vokalen und dem rollenden R.
Cat kicherte. „Ist das die Checkliste?“
„Allerdings! Sind Sie also schon lange in Edinburgh?“ Dabei warf er ihr einen schelmischen Blick zu.
„Fast eine Woche“, antwortete sie und unterdrückte ein weiteres Kichern.
„Wirklich? Das ist ja erstaunlich!“
„Warum sind Sie darüber erstaunt?“
Er zuckte mit den Achseln. „Jemand muss das doch sein. Und sind Sie das erste Mal in Edinburgh? Ist das Ihr erster Besuch beim Festival?“
„Ich bin zum ersten Mal nördlich der Linie zwischen Severn und Trent“, gestand sie.
Jetzt schien er wirklich erstaunt. „Sie sind noch nie im Norden gewesen? Wie in aller Welt haben Sie das geschafft?“
Cat war beschämt, dass sie so wenig gereist war. „Ich wohne in Dorset. Wir sind nie viel gereist. Mein Vater sagt immer, wir haben alles direkt vor der Tür – Strände, Klippen, Wälder, sanfte grüne Hügel. Es ist nicht nötig, woandershin zu fahren.“
Henrys Mundwinkel zuckten, doch ob das ein Lächeln oder ein spöttisches Grinsen war, konnte sie nicht erkennen. „Dorset, hm? Na ja, ich kann die Versuchung verstehen, dazubleiben. Aber Sie müssen zugeben, Edinburgh ist schon toll. Die Reise lohnt sich, meinen Sie nicht?“
Jetzt fühlte sie sich sicherer. „Ich bin begeistert“, sagte sie. „Es ist wunderschön. Und es ist so viel los, mir wird schwindelig, wenn ich nur daran denke.“
„Und waren Sie schon im Assembly Rooms?“
„Am ersten Abend hier waren wir bei einer Comedy-Show. Aber es war so voll, mein Gott.“
Henry nickte. „Das ist immer so. Haben Sie schon ein Theaterstück gesehen?“
„Wir haben gestern Abend ein großartiges Stück über Kohlebergbau gesehen. Staub. Das sollten Sie sich anschauen, wenn Sie können, es war sehr ergreifend.“
„Ich werd’s auf meine Liste setzen. Und wie steht’s mit Musik?“
Cat schüttelte den Kopf. „Die Freunde, mit denen ich hier bin, haben nicht den gleichen Musikgeschmack wie ich. Aber ich habe eine ganze Liste von Autoren, die ich beim Book Festival sehen will. Ehrlich, Henry, das ist das Aufregendste, was ich je erlebt habe.“
„Aufregender als Dorset?“ Jetzt zog er sie auf, das war ihr klar.
Sie lachte. „Fast.“
„Da muss ich mich also noch ein bisschen mehr anstrengen. Sonst erscheine ich schließlich auf Ihrer Facebook-Seite als: Fast so aufregend wie Budleigh Salterton.“
Sie stieß ihn leicht am Arm an. „Budleigh ist in Devon, Sie Ignorant. Und wieso meinen Sie, ich werde Sie auf Facebook erwähnen?”
„Weil ihr Mädchen so was postet. ,Bin tanzen gegangen in Morningside, hatte ’n komischen Tanzpartner in roten Hosen, der nicht mal weiß, wo Budleigh Salterton ist. So was von blöd!‘“
Sie kicherte. „Nee, auf keinen Fall.“
„Das hier sollten Sie schreiben: ,Mrs Alexander hat mir den besten Tänzer und Gesellschafter im Saal zum Partner gegeben. Mädels, schaut euch den fabelhaften Henry Tilney an.‘“
Cat schüttelte gespielt bedauernd den Kopf. „Wieso meinen Sie überhaupt, dass ich alles Facebook anvertraue?“
Er warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Sie sind weiblich und, ich bin ziemlich sicher, unter einundzwanzig. Wenn Sie nicht auf Facebook sind, wie bringen Sie dann Ihre Schwestern und Cousinen und besten Freundinnen dazu, sich vor zähneknirschendem Neid zu verzehren wegen Ihrer Reise nach Edinburgh? Wie sonst sollen sie erfahren, dass Sie sich großartig amüsieren, während sie das tun, was sie eben in Dorset machen? Ihr Mädels macht das doch alle ständig – Facebook, Twitter. Ich hab da ’ne Theorie: Deshalb seid ihr alle plötzlich so gut im Romaneschreiben. Frauenliteratur und auch die ernsteren Sachen. Das liegt an der vielen Übung, die ihr im Geschichtenerzählen auf Handys und iPads bekommt.“
„Wollen Sie damit sagen, dass ihr Kerle nicht genau dasselbe macht?“
Henry nickte. „Wir machen andere Sachen. Wir reden über Sport oder Politik oder wer am Freitagabend fürchterlich besoffen war. Wir quatschen nicht über unser Leben, so wie Mädchen das machen. Wir reden über ernste Themen. Außerdem sind wir besser in Zeichensetzung und Grammatik.“
Cat lachte schallend. „Das meinen Sie jetzt aber echt nicht ernst. Eins machen Typen viel mehr als Frauen – Trolling. Ihr seid das Böse, das im Internet umgeht, mit euren lauten Großbuchstaben und den unflätigen Beleidigungen und der wirklich schrecklichen Verstümmelung der englischen Sprache.“
Jetzt lachte er auch und freute sich über die Wirkung seines Scherzes, den sie jetzt als solchen erkannte. „Ehrlich gesagt, ich glaube, dass die Geschlechter sich da in nichts nachstehen“, meinte er. „Männer sind genauso klatschsüchtig wie Frauen, und ihr Mädchen könnt genauso gut Beschimpfungen austeilen.“
Was immer Cat darauf antworten wollte, ging unter, als Fiona sie alle zurück auf die Tanzfläche führte.
„Aufstehen, Mädel“, sagte Henry. „Jetzt werden wieder Strip the Willow und Eightsome Reels bewältigt.“
Cat stürzte sich mit neuer Energie ins Tanzen und entdeckte, dass sie sich die grundlegenden Schritte endlich eingeprägt hatte. Bis zum Ende des Nachmittags konnte sie mehrere Minuten durchhalten, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen, dass sie Henry auf die Zehen trat. Als die letzten Takte des Canadian Barn Dance verklangen und sie sich wieder auf die Bank fallen ließen, stellte sie fest, dass sie mit Henry mehr Spaß gehabt hatte als jemals zuvor auf einer Tanzfläche.
„Das hat so viel Spaß gemacht“, sagte sie.
„Jetzt bist du für den Highland Ball gut gewappnet. Ich nehme an, dafür soll das doch sein?“
Cat nickte. „Wahrscheinlich bist du da schon dein ganzes Leben lang hingegangen?“
„Ein paarmal war ich dort. Aber ich weiß nicht genau, ob wir dann noch in Edinburgh sein werden.“
„Wir?“
„Meine Familie. Mein Vater bekommt einen Stadtkoller, wenn er zu lange hier ist.“
Bevor Cat fragen konnte, wieso ein erwachsener Mann sich seinen Zeitplan von den Befindlichkeiten seines Vaters diktieren ließ, rauschte Susie Allen in einer raffinierten Robe aus übereinanderliegenden Musselinstoffen durch die Doppeltür. „Cat, mein Schätzchen, hier drüben bin ich!“, rief sie, als ob ihr Auftritt nicht so schon die Aufmerksamkeit des ganzen Saales auf sich gezogen hätte. Sie kam, in eine Wolke blumigen Parfüms gehüllt, weiter auf die beiden zu. „Ich dachte, ich sollte doch besser kommen und dich abholen. Andrew hat eine Einladung für uns zu einer Vernissage der neuesten Ausstellung von Jack Vettriano heute Abend, und die ist auf der anderen Seite der Brücke in einer kleinen Stadt in Fife, kannst du das glauben? Er ist draußen im Wagen.“ Während sie sprach, musterte sie Henry vom Scheitel bis zur Sohle und stellte in Gedanken eine Liste seiner Eigenschaften zusammen. Sie warf ihm einen glutvollen Blick zu, der, so fürchtete Cat, verführerisch sein sollte. „Und das ist dein Tanzpartner, Cat? Möchtest du uns nicht vorstellen?“
Obwohl sie wusste, dass es ihr nichts ausmachen sollte, Henry mit Susie bekannt zu machen, die ja der einzige Grund war, dass Cat überhaupt da war, fühlte sie doch eine leichte Verstimmung. „Susie, das ist Henry Tilney. Henry, das ist meine Freundin und Nachbarin Susie Allen, die so nett war, mich nach Edinburgh mitzunehmen.“
Susie reichte ihm die Hand, als erwarte sie, dass er sie küsste. Stattdessen sprang Henry auf und schüttelte ihr artig die Hand. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen“, sagte er, den Kopf etwas zur Seite geneigt, als würde er sie begutachten. „Das ist ein schönes Kleid übrigens. Es gefällt mir sehr gut, wie diese Schichten schräg geschnitten sind, damit sie in Stufen fallen.“
Susie schaute ihn prüfend an. „Danke. Sind Sie in der Textilbranche? Vielleicht Designer?“
Er lachte erfreut. „Oh Gott, nein. Ich habe nur eine Schwester, das ist alles. Ellie hält mir gern Vorträge über die Feinheiten der Damenmode. Sie interessiert sich für einen Designkurs an der Kunstakademie.“
Zufrieden, dass er kein verkappter Schwuler war, hakte Susie sich bei Cat unter. „Das klingt, als wäre sie die perfekte Freundin für dich, Cat. Ich entführe dich sehr ungern, wenn ihr beiden euch gerade kennenlernt, aber wir haben einen straffen Zeitplan.“
Henry neigte höflich den Kopf. „So ist das beim Festival. Alle beeilen sich die ganze Zeit, um alles zu schaffen. Bestimmt sehe ich dich beim Book Festival. Da trinke ich morgens oft einen Kaffee.“
„Okay“, antwortete Cat. Sie folgte Susie zum Wagen und bemerkte ihre schmerzenden Füße und Knöchel nicht im Geringsten.
Verblüffend. Überwältigend. Erstaunlich. Henry Tilney hatte sie im schlimmsten Zustand gesehen, rot im Gesicht, schwitzend und fluchend. Und trotzdem schien er sie wiedersehen zu wollen. Das war ein gewisser Trost dafür, dass sie wusste, wie unvorteilhaft sie aussah. Wie immer ihre nächste Begegnung werden sollte, sie konnte dabei kaum noch schlimmer aussehen.
Cat war nicht stolz darauf, dass sie sich an absolut gar nichts von Jack Vettrianos jüngster Ausstellung erinnern konnte. Sie hatte seine Bilder immer bewundert, wenn sie sie auf Karten und Drucken gesehen hatte. Es war eine Art von Kunst, bei der sie sich vorstellen konnte, sich selbst eines Tages daran zu versuchen. In jeder anderen Situation wäre sie absolut begeistert gewesen, die Originale zu sehen, und sie hätte die Gelegenheit ergriffen, mit dem Künstler persönlich zu sprechen. Aber Henry Tilney hatte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf vertrieben. Es fiel ihr sogar schwer, sich zu erinnern, in welcher Stadt sie waren, hauptsächlich, weil sie die ganze Fahrt damit verbracht hatte, auf ihrem Smartphone etwas über Henry herauszufinden.
Ihre erste Anlaufstelle war Facebook gewesen. Enttäuschenderweise teilte Henry seine Informationen nicht mit Menschen, die nicht seine Freunde waren. Und da sie keine gemeinsamen Freunde hatten, konnte sie auch über Umwege nichts herausbekommen. Als Nächstes versuchte sie es mit Google. Dort fand sie tatsächlich einen Henry Tilney, aber da er ein hochdekorierter General war und sich im Falklandkrieg einen Namen gemacht hatte, bevor Cat das Licht der Welt erblickte, war dies offensichtlich nicht ihr Tanzpartner. Aus Neugier klickte sie das dazugehörige Bild an. Selbst wenn man das kleine Format des Fotos auf dem Display berücksichtigte, war die Ähnlichkeit zwischen General Tilney und ihrem Tanzpartner so frappierend, dass man sofort sah, dass sie verwandt waren. Vater und Sohn, keine Frage.
General Tilney hatte durch einen nächtlichen Einsatz gegen die argentinischen Bodentruppen Ansehen erworben. Er war damals Oberstleutnant, was ziemlich eindrucksvoll klang, fand Cat. Trotz seines Dienstgrads hatte er den Einsatz selbst angeführt und war allein zuständig für eine unfassbar große Anzahl von Feinden, bevor er schließlich einen seiner Männer im Alleingang rettete, der verwundet und hinter den feindlichen Linien abgeschnitten worden war. „Fast übermenschlich“ stand in einem Zeitungsartikel. Zweifellos kein Mann, den man verärgern sollte, was vielleicht Henrys Rücksicht auf die Wünsche seines Vaters erklärte.
„Was hast du über ihn herausgefunden?“, fragte Susie vom Beifahrersitz.
„Was? Über wen?“
Susie lachte in sich hinein. „Deinen Tanzpartner. Du brauchst nicht so zu tun, als hättest du nicht versucht, etwas über ihn zu erfahren, Cat. Ich weiß, was du da machst, wenn du auf deinem Handy herumtippst. Was hast du herausbekommen über Henry Tilney?“
„Nicht viel. Sein Vater ist ein General.“
„General Tilney?“, unterbrach Mr Allen. „Der Falklandheld?“
„So steht’s bei Google.“
„Ihm gehört Northanger Abbey“, fuhr er fort. „Eins von diesen mittelalterlichen Klöstern im schottisch-englischen Grenzgebiet. Irgendwann wurde es in ein befestigtes Anwesen umgebaut. Ich erinnere mich, dass eine Filmgesellschaft es für einen Horrorfilm mieten wollte, aber Tilney ließ es nicht einmal zu einem Treffen kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein guter Tänzer ist.“
„Pass doch auf“, schalt ihn seine Frau. „Wir sind an dem Sohn interessiert, nicht an dem General.“
Zu Cats Glück, der Susies Begeisterung für Henry peinlich war, so wie alle Teenager das Interesse Erwachsener an den Objekten ihrer Anziehung unangenehm fanden, waren sie am Ziel angekommen.
Auf der Rückfahrt redete Susie ununterbrochen über die Gästeliste, während Mr Allen ein paar Bemerkungen über die ausgestellten Bilder einschieben konnte. Sich selbst überlassen, hatte Cat die geniale Idee, sich über Henrys Schwester kundig zu machen. Wie hatte er sie genannt? Allie? Nein, Ellie, das war’s. Wieder auf Facebook suchte Cat nach „Ellie Tilney“, aber ohne Erfolg. Sie versuchte es mit „Ellen“, doch das brachte nichts. Sie passte eine kurze Pause im Gespräch ihrer Begleiter ab und fragte: „Susie, wofür ist Ellie die Abkürzung?“
„Ich bin nicht sicher. Eleanor?“
Und so fand sich Cat Henry Tilneys Schwester gegenüber. Eleanor hatte das gleiche dichte blonde Haar, die braunen Augen, die helle Haut und eine zartere Spielart der gleichen Gesichtszüge. Wie ihr Bruder war sie nicht unbedingt schön, aber beeindruckend. Es gab die üblichen Fotos von Partys und spärlich beleuchteten Bars, auf denen Ellie inmitten verschiedener junger Männer und Frauen Grimassen für die Kamera schnitt. Cat ging die Fotos durch, bis sie schließlich auf eines von Ellie und Henry stieß, die an einem düsteren Cafétisch vor Espressotassen saßen und sich einander zuneigten. Auf jeden Fall also die richtige Eleanor Tilney.