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Die Kreuzzüge prägten Kultur und Erfahrungswelt des Mittelalters ganz entscheidend. Neben den Kreuzzügen in das Heilige Land berücksichtigt Nikolas Jasperts klares Einführungswerk ebenso die Kriege gegen Andersgläubige auf der Iberischen Halbinsel oder im Ostseeraum wie auch gegen ›innere Feinde‹ der Christenheit. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die geistlichen Ritterorden, die lange die Geschichte Europas geprägt haben. Durch die breite Anlage des Themas und den systematisch-chronologischen Zugriff gelingt es dem Autor, die Kreuzzüge in das allgemeine Phänomen ›europäische Expansion‹ einzubetten.
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Seitenzahl: 427
Geschichte kompakt
Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner
MittelalterHerausgeber für den Bereich Mittelalter:Martin Kintzinger
Berater für den Bereich Mittelalter:Bernd Schneidmüller
Nikolas Jaspert
7. Auflage
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.de abrufbar.
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7., bibliografisch aktualisierte Auflage 2020© 2020 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt1. Auflage 2003Die Herausgabe des Werkes wurde durch dieVereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-27223-5
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-74615-6eBook (epub): 978-3-534-74616-3
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Impressum
Geschichte kompakt
Vorwort des Autors
I. Vorbedingungen
1. Christentum, Islam und Heidentum am Ende des 11. Jahrhunderts
a) Die christliche Welt um 1095
b) Die islamische Welt um 1095
c) Kontakte und Konflikte zwischen Christen und Andersgläubigen
2. Heiliger Krieg, Rittertum und Pilgerfahrt
a) Gerechter Krieg – heiliger Krieg
b) Das Rittertum
c) Das Pilgerwesen
3. Papsttum, Frömmigkeit und Ablass
a) Das Reformpapsttum
b) Neue Orden und religiöse Bewegungen
c) Das Buß- und Ablasswesen
II. Die Kreuzzüge in den Vorderen Orient
1. Der Erste Kreuzzug
a) Aufruf, „Volkskreuzzug“ und Pogrome
b) Der Zug nach Jerusalem
c) Die Errichtung der Kreuzfahrerherrschaften
2. Die Kreuzzüge des 12. bis 15. Jahrhunderts
a) Die Kreuzzüge bis zur Schlacht von Hattin 1187
b) Die Kreuzzüge von 1187 bis zum Fall Jerusalems 1244
c) Die Kreuzzüge zwischen 1244 und dem Verlust Akkons 1291
d) Versuche zur Wiedererlangung des Heiligen Landes
3. Praxis, Theorie und Kritik des Kreuzzugsgedankens
a) Praktische Probleme eines Kreuzzugs
b) Die institutionelle Ausformung der Kreuzzüge
c) Kreuzzugskritik
4. Die Kreuzzüge aus islamischer Sicht
a) Die „Kreuzfahrerstaaten“ im islamischen Machtgefüge
b) Kreuzzug und Dschihad
c) Muslimische Bilder von den Christen
III. Die Kreuzfahrerherrschaften
1. Weltliche Herrschaft
a) Grenzsicherung und Grenzverschiebung
b) Die Dynastien Outremers
c) Die Barone und das Lehnswesen
d) Handel und Städte
2. Christen, Muslime und Juden
a) Einheimische: Muslime, Juden, orientalische Christen
b) Neuankömmlinge: Die Siedler
c) Besucher: Händler und Pilger
3. Die Kirchen Palästinas
a) Die lateinische Kirche
b) Das Ordenswesen
c) Die orientalischen Kirchen
IV. Die europäischen Kreuzzüge
1. Die Iberische Halbinsel
a) Widerstand und Reconquista
b) Die europäische Dimension der Reconquista
c) Die neuen politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen
2. Der Ostseeraum
a) Die Internationalisierung des Heidenkampfs im Ostseeraum
b) Der „Deutschordensstaat“
c) Siedlung, Kolonisation und Mission
3. Feinde im Innern
a) Die Albigenserkreuzzüge in Frankreich
b) Spätmittelalterliche Kreuzzüge gegen religiöse Bewegungen
c) Weltliche Feinde der Kirche
V. Die Ritterorden
1. Grundlagen und Anfänge der Ritterorden
a) Vorbedingungen für die Entstehung der Ritterorden
b) Karitative oder militärische Bruderschaften: die Gründungsumstände
c) Die Ausbreitung der Ritterorden
2. Die Ritterorden in Palästina, auf der Iberischen Halbinsel und an der Ostsee
a) Der Aufbau der Ritterorden
b) Militärische und wirtschaftliche Bedeutung
c) Kritik, Gleichschaltung und Aufhebung: Die Ritterorden im Spätmittelalter
VI. Die Folgen
1. Das Nachleben der Kreuzzüge
a) Interkulturelle Kontakte
b) Die Kreuzzüge als Mythos
Karte 1: Der Vordere Orient
Karte 2: Die Iberische Halbinsel
Karte 3: Der Ostseeraum
Auswahlbibliographie
Personen- und Sachregister
In der Geschichte, wie auch sonst,dürfen Ursachen nicht postuliert werden,man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Die Kreuzzüge – oder vielmehr dasjenige, was zu Recht oder zu Unrecht mit ihnen assoziiert wird – sind seit mehreren Jahren wieder verstärkt ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt. Der Begriff droht, im öffentlichen Diskurs seine Kontur zu verlieren, Dies war 2003 Grund genug, einen Abriss der Kreuzzüge vorzulegen. Nicht, dass es keine überzeugenden Darstellungen gegeben hätte. Aber schon lange war kein knapper, deutschsprachiger und mit wissenschaftlichem Anspruch verfasster Grundriss mehr in Angriff genommen worden. Die vorliegende Darstellung hat sich in den letzten Jahren bewährt, sodass eine bibliografisch aktualisierte Neuauflage geboten schien. Sie nähert sich dem Thema zugleich systematisch wie chronologisch und legt einen gewissen Schwerpunkt auf die geistesgeschichtlichen Aspekte des Phänomens. In jedem Kapitel – wenngleich selten ausführlich zitiert – steht eine Quelle im Vordergrund, die wesentliche Aspekte des Abschnitts verdeutlichen und zu vertiefender Lektüre der Texte einladen soll.
Dieses Buch ist kein originärer Beitrag zu der seit vielen Jahrzehnten geführten Diskussion darüber, was ein Kreuzzug gewesen sei. Lange standen sich hier zwei Lehrmeinungen gegenüber: Während die erste nur die Unternehmungen in den Vorderen Orient als Kreuzzüge bezeichnete, vertrat die zweite eine weitere Definition, die auch andere Gebiete einschloss. Dieser Band folgt einem Mittelweg: Es werden unter „Kreuzzügen“ zwar alle von Päpsten ausgerufene und mit der Zusage eines Ablasses ausgestattete Kriegszüge gegen Feinde des Glaubens und der Kirche verstanden – also auch die Unternehmungen gegen Ketzer, gegen die Muslime auf der Iberischen Halbinsel oder gegen die Heiden an der Ostsee. Aber es wird der Tatsache Rechnung getragen, dass die Züge in den Vorderen Orient eine herausragende Stellung für die Zeitgenossen besaßen und diese in besonderem Maße zu mobilisieren vermochten. Daher bilden sie den Schwerpunkt dieser übersicht.
Neben den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, deren Ergebnisse in diese Synthese eingeflossen sind, haben viele zum Entstehen dieses Bandes beigetragen. Prof. Dr. Nikolaus Böttcher, Prof. Dr. Marie-Luise Favreau-Lilie, Dr. Matthias Maser, Prof. Dr. Johannes Pahlitzsch, Prof. Dr. Andreas Rüther und Prof. Dr. Dieter Weiß haben den Band in Teilen oder sogar ganz gelesen. Ihre Ratschläge brachten das Unternehmen wesentlich voran, wofür Ihnen allen herzlichst gedankt sei. Nach dem Erscheinen der ersten Auflage lieferten andere Fachleute, darunter Herr Kollege Hans Eberhard Mayer, wertvolle zusätzliche Hinweise, auch hierfür mein Dank. Verpflichtet bin ich auch Rene Hurtienne für seine Hilfe bei der Erstellung der Karten sowie verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, zuletzt vor allem Daniel Zimmermann, für die sorgfältige redaktionelle Betreuung. Besonderer Dank gebührt meinen Erlanger Studierenden, die das vorliegende Buch seinerzeit auf seine Tauglichkeit für den Universitätsbetrieb hin prüften und mit ihren Kürzungsvorschlägen bei der schwierigsten Aufgabe halfen: den vorgegebenen Umfang einzuhalten. Was an Kritikpunkten bleibt, geht – wie immer – zu Lasten des Autors.
Gewidmet ist dieser Band meiner Frau Montse und unseren Söhnen David, Lucas und Theo.
Heidelberg, im Herbst 2019 Nikolas Jaspert
354–430
Augustinus von Hippo
622
Hedschra (Hiğra): Auszug Muḥammads aus Mekka nach Medina
636–638
Eroberung Jerusalems durch die Muslime
711
Beginn der muslimischen Eroberung der Iberischen Halbinsel
867–1056
Makedonische Dynastie in Byzanz: Militärische Erfolge gegen das Abbasidenkalifat von Bagdad
1053
Papst Leo IX. erklärt Christen, die auf Seiten des Papsttums im Kampf gegen die Normannen sterben, zu Märtyrern
1054
Zerwürfnis zwischen dem Patriarchen von Konstantinopel und einem Vertreter des Papstes: Gegenseitige Exkommunikation
1064
Der „Große Pilgerzug“ nach Jerusalem. Ablass Papst Alexanders II. für den Kampf gegen die Muslime in Barbastro
1071
Die Seldschuken besiegen die Byzantiner in der Schlacht von Mantzikert; Besetzung von Teilen Palästinas
1074
Gescheiterter Plan Papst Gregors VII., zur Unterstützung des Byzantinischen Reiches gegen Muslime zu ziehen
1085
Eroberung Toledos durch die Christen unter Alfons VI. von Kastilien
1092
Tod des seldschukischen Sultans Malikšāh und des Wesirs Nizām al-Mulk
1094
Tod des schiitischen Kalifen in Ägypten und des sunnitischen Kalifen in Bagdad
1095
März: Konzil von Piacenza. 27. November: Rede Papst Urbans II. in Clermont
1098
Gründung des Klosters Cîteaux
Geographische Weltbilder
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts gehörten die meisten Menschen Europas – Christen, Muslime und Juden – konfessionellen Großgruppen an, doch ihre Lebenswelt war im Wesentlichen kleinräumig. Im Christentum etwa prägte die Zugehörigkeit zu einer Familie oder zu einem Pfarrsprengel den Menschen weitaus stärker als übergeordnete Größen. Konzepte wie „Europa“ oder „das Abendland“ spielten keine bedeutende Rolle. Auch der geographische Horizont der allermeisten Zeitgenossen war beschränkt. Nur in gebildeten, klerikalen Gruppen wurden ältere Raumvorstellungen aufgegriffen und in Form von Weltkarten (mappae mundi) verzeichnet. Diese waren gemeinhin Träger eines theologisch, mythisch und historisch geprägten Weltbildes. In der Regel wurden in Anlehnung an antike Autoren und christliche Autoritäten so genannte T-O-Karten geschaffen: Auf ihnen trennte in Form eines T das Mittelmeer auf der einen Seite und Don, Nil oder das Rote Meer auf der anderen die Kontinente Europa, Asien und Afrika voneinander. Ein Ozeanring umschloss alle drei Erdteile in Form eines O. Über politische und kulturelle Realitäten sagen diese Darstellungen wenig aus. Denn im Gegensatz zu dem durch die mappae mundi vermittelten Weltbild stellten zum Ende des 11. Jahrhunderts weder die christlich noch die islamisch geprägten Gebiete eine Einheit dar.
Herrschaftliche Zersplitterung
Im Christentum bestanden zwei sprachlich, kulturell und rituell voneinander getrennte Räume, der griechische Osten und der lateinischen Westen mit ihren jeweiligen kirchlichen Zentren Konstantinopel und Rom. Im Westen war das alte Karolingerreich bloß noch eine ferne, wenngleich mehrfach beschworene Erinnerung. Dieses von den Pyrenäen bis an die Elbe reichende, von den Franken beherrschte Reich, das von Karl dem Großen und seinem Sohn Ludwig dem Frommen zur höchsten Blüte geführt worden war, hatte sich im Verlauf des 10. Jahrhunderts im Wesentlichen in zwei Herrschaften gespalten: das Westfrankenreich, aus dem das spätere Frankreich hervorgehen sollte, und das Ostfrankenreich, aus dem sich bis zum 11. Jahrhundert das Römisch-Deutsche Reich entwickelte. Die Mehrzahl der späteren Kreuzfahrer stammte aus Gebieten, die ehemals zum Karolingerreich gehörten. Doch galt dies keineswegs für alle Kontingente (z.B. für englische oder ungarische Kreuzfahrer), und außerdem wurde dieser historische Bezug von den Betroffenen selbst kaum hergestellt. In der Sicht der Muslime oder der griechischen Christen dagegen stellten die westlichen Kreuzfahrer sehr wohl eine Gemeinschaft dar, die eine eigene Bezeichnung verdiente. Die lateinischen Christen wurden daher in den islamischen und griechischen Quellen als „Franken“ (arab. Ifranğ bzw. griech. phrangoi – φρἀνγοι) bezeichnet.
Zu den Elementen, die in der Tat von allen westlichen Herrschaften gleichermaßen geteilt wurden, gehörte die Kultsprache, das Lateinische. Sie war im Zuge der so genannten karolingischen Renaissance an der Wende zum 9. Jahrhundert gefestigt worden, wurde von der Kirche gepflegt und diente als Bildungs- und Rechtssprache neben den jeweiligen Volkssprachen. Weiterhin hatte das lateinische Europa vergleichbare politische und soziale Strukturen gemein, insbesondere das so genannte Lehenswesen. Hierunter versteht man eine Rechtsbeziehung, bei der ein Begünstigter (Vasall) ein Gut (Lehen) zur Nutzung erhielt, wofür er im Gegenzug zu Dienstleistungen an den Verleiher verpflichtet war. Da bei der Vergabe der Begünstigte auch einen Treueid schwor, entstanden im Lehnswesen abgestufte Formen der Abhängigkeit. Dieses System hatte für den Kriegerstand der Ritter weitreichende Folgen und wirkte sich auf die Kreuzzüge aus. Deutlich differenzierter war Europa hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Nach einer großen demographischen und ökonomischen Depression im Frühmittelalter hatte u.a. ein allgemeiner Anstieg der Bevölkerungszahlen die Entwicklung von Städtelandschaften entlang des Rheins, in Flandern, vor allem aber in Italien begünstigt. Kaufleute der großen Hafenstädte Italiens wie Amalfi, Pisa, Genua oder Venedig suchten den Weg übers Meer zu den bedeutendsten Wirtschaftszentren des 11. Jahrhunderts, also nach Konstantinopel und in den muslimischen Osten, und der Handel brachte ihnen und ihren Heimatorten erheblichen Reichtum.
Im Ostfrankenreich hatten die Herrscher seit der Mitte des 10. Jahrhunderts die karolingische Tradition fortführen können, den Kaiser zu stellen. Dies und die Möglichkeit, die mächtigen Erzbistümer und Bistümer zu besetzen, hatte unter den Dynastien der Ottonen und der Salier zu einer Stärkung des Königtums geführt. Dennoch standen die salischen Könige auch der Macht der regionalen Gewalten, insbesondere der Herzöge von Sachsen, Niederlothringen, Bayern oder Schwaben gegenüber, die große Unabhängigkeit genossen. Noch selbstständiger agierten die Fürsten im Westfrankenreich. Dieses von Katalonien im Westen bis nach Flandern im Osten reichende Gebiet unterstand zum Ende des 11. Jahrhunderts zwar nominell der Herrschaft der Kapetingerkönige, die den Titel eines rex francorum trugen, doch herrschten diese faktisch bloß über einen verhältnismäßig kleinen Raum zwischen Orleans und dem Tal der Oise. Der Rest des Reiches unterstand Herzögen und Grafen, von denen einige, wie die Herzöge von Aquitanien, der Gascogne und der Normandie oder die Grafen von Flandern, Barcelona, Toulouse, Anjou und der Champagne, über beträchtliche Macht und Ressourcen verfügten. Neben den älteren europäischen Königreichen, zu denen auch León auf der Iberischen Halbinsel oder das seit 1066 von den Normannen beherrschte England zählten, erlangten im Verlauf des 10. und 11. Jahrhunderts die Herrscher einiger jüngerer Reiche die Königskrone, etwa diejenigen Kastiliens, Aragóns, Dänemarks, Ungarns, Polens und Böhmens. Besonders spektakulär war der Aufstieg der sizilischen Normannen. Diesen war es zur Mitte des 11. Jahrhunderts unter ihrem Anführer Robert Guiscard († 1085) gelungen, die Insel von den Muslimen und Teile Süditaliens von den Byzantinern zu erobern. Robert, der seit 1053 den Titel eines Herzogs führte, baute ein straff verwaltetes Reich auf, das aggressiv gegen die anderen Mächte des östlichen Mittelmeerraums, also gegen Byzanz und die islamischen Mächte, vorging.
Byzanz
Byzanz erlebte von der Mitte des 9. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts eine Blüteperiode. Hierzu trug nicht unwesentlich der Niedergang des muslimischen Reichs der Abbasiden sowie die Missionierung und schließlich Unterwerfung der Bulgaren (endgültig in den 1020er-Jahren) bei. Unter den Herrschern der „makedonischen Dynastie“ (867–1056) bzw. ihren befähigten Generälen wurde erfolgreich die Rückeroberung verlorener Gebiete betrieben, und zu Beginn des 11. Jahrhunderts erlebte das so genannte mittelbyzantinische Reich unter Kaiser Basileios II. (976–1025) den Höhepunkt seiner Machtausdehnung und Prachtentfaltung. Es war eine Epoche großer literarischer und künstlerischer Werke, als der byzantinische Hof bei weitem die Zentren der lateinischen Christenheit überstrahlte. Die griechische Kirche wurde nicht mehr durch theologische Auseinandersetzung entzweit, und die Bekehrung der Russen und Bulgaren brachten ihr ein zusätzlich gesteigertes Selbstbewusstsein.
E
Der Streit von 1054
Nicht nur die griechisch-orthodoxe Kirche erfuhr zur Mitte des 11. Jahrhunderts eine Konsolidierung: Im Zuge der so genannten gregorianischen Reform (vgl. Kap. I., 3. a) entwickelte das Papsttum in Rom ein neues, ausgeprägtes Selbstverständnis, das schwerlich mit den byzantinischen Interessen in Einklang zu bringen war. Dies wurde auch beim Konflikt zwischen dem Patriarchen von Konstantinopel und einem Vertreter des Papstes im Jahre 1054 deutlich, bei dem sich beide Kirchenmänner gegenseitig exkommunizierten. Beim Streit ging es um theologische, liturgische und kirchenpolitische Fragen: zum einen um das filioque – also das rechte Verständnis der Dreifaltigkeitslehre –, zum anderen um die Benutzung gesäuerten oder ungesäuerten Brots bei der Eucharistiefeier sowie schließlich auch um die Vorherrschaftsansprüche des römischen Papstes und die Machtverhältnisse in Süditalien. Die Tragweite der Geschehnisse trat erst allmählich zutage, daher ist der Begriff „Schisma“ irreführend. Eine allmähliche Entfremdung in liturgisch-kultischer Hinsicht, vor allem aber die Plünderung Konstantinopels im Jahre 1204 sollten in dieser Frage weitaus stärkere Wirkung als das Zerwürfnis von 1054 haben. Doch seit diesem Jahr sollten beide Kirchen nie wieder dauerhaft vereinigt werden.
Bedrohung des Byzantinischen Reichs
Zur Mitte des 11. Jahrhunderts traten auch Missstände im Inneren des Byzantinischen Reiches zutage: Die alte Wehrverfassung war für die großen Offensivunternehmungen der makedonischen Dynastie nicht mehr geeignet, die Kaiser griffen daher immer häufiger auf Söldner zurück. Dies ist auch als ein – letztlich erfolgloser – Versuch zu werten, ein Gegengewicht zur wachsenden Macht des regionalen Adels zu schaffen. Dass dieser zu Recht als Gefahr eingeschätzt wurde, kam nach dem Tod des Kaisers Basileios II. zum Vorschein, als das Reich von einer Vielzahl von Putschversuchen erschüttert wurde. Zudem machte sich seit der Mitte des Jahrhunderts eine neue Bedrohung an der Ostgrenze des Reichs bemerkbar: die muslimischen Seldschuken. Diese in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts aufgestiegene türkische Dynastie wurde anfangs von den Byzantinern wenig beachtet, doch im Jahre 1071 konnte ihr Heer die kaiserliche Armee bei Mantzikert nahe des Wansees in Ostanatolien vernichtend schlagen und sogar Kaiser Romanos IV. (1068–1071) gefangen nehmen. Das byzantinische Staatswesen fiel in eine schwere Krise. Usurpationen und Herrscherwechsel kennzeichnen die Jahre von 1071 bis zur Machtübernahme durch den General Alexios Komnenos (1081–1118) im Jahre 1081. Zwar konnte sich dieser in der Ägais und auf dem Balkan erfolgreich behaupten und durch geschickte Diplomatie die Gefahr einer normannischen Invasion vorerst bannen; doch war es ihm nicht möglich, die Macht der Normannen oder der Seldschuken wirklich zu brechen. Nur einige Küstenstriche Kleinasiens konnten wiedergewonnen werden, Süditalien und Inneranatolien blieben hingegen verloren.
Die islamische Expansion
Nur wenige Jahre nach dem als Hiğra (Hedschra) bezeichneten Auszug Muḥammads (Mohammeds) von Mekka nach Medina im Jahre 622, mit dem die islamische Zeitrechnung beginnt, und unmittelbar nach dem Tode des Propheten im Jahre 632 setzte die arabisch-islamische Expansion ein. In einem beispiellosen Siegeszug eroberten die Muslime zuerst die Arabische Halbinsel und in der Folge bis zum Beginn des 8. Jahrhunderts Syrien, Irak und den Iran, ganz Nordafrika sowie die Iberische Halbinsel. Die örtlichen Nachfolgeherrschaften des Römischen Reiches wie das Sassanidenreich im Osten oder die byzantinischen Herrschaften in Nordafrika und im Vorderen Orient wurden vernichtet. Mit der endgültigen Eroberung Siziliens zu Beginn des 10. Jahrhunderts kam der Mittelmeerraum fast vollständig unter islamische Kontrolle.
E
Schiiten und Sunniten (Schia und Sunna)
In Glaubensfragen war die islamische Welt keineswegs geeint: Die meisten Muslime waren Sunniten. Für sie waren und sind sowohl der Koran als auch das gute Vorbild des Propheten Richtschnur ihres Handelns. Die Sunniten sahen in Mitgliedern der Dynastie der Abbasiden den Kalifen, d.h. den Vorsteher der muslimischen Gemeinschaft. Allerdings waren die Kalifen zum Ende des 11. Jahrhunderts politisch vollständig von den mächtigen Seldschukensultanen abhängig. Unterhalb dieser Ebene gab es eine Reihe regionaler Machthaber (Sultane, Emire), die nominell von der Zentralgewalt des Kalifen abhängig waren. Die zweite große Glaubensrichtung des Islam stellen die Schiiten dar. Diese sehen in Ali, dem 661 ermordeten Cousin und Schwiegersohn Muḥammads, den ersten rechtmäßigen Kalifen und glauben, dass dessen Nachfolger (die Imame) unfehlbar und göttlich rechtgeleitet die islamische Gemeinde anführten. Die Hauptvertreter dieser Glaubensrichtung im 11. Jahrhundert waren die Fatimiden. Auch sie hatten einen Kalifen und verbanden mit ihm die Anwartschaft auf die alleinige Lenkung der universalen islamischen Gemeinde (arab. umma). Selbst innerhalb der schiitischen Ausrichtung, der Schia, gab es unterschiedliche Gruppen, die in einem jeweilig anderen imam den letzten bekannten Nachfolger des Ali und damit die höchste religiöse Autorität sahen. Die Auseinandersetzungen zwischen den sich gegenseitig ausschließenden Glaubensrichtungen der Sunniten und Schiiten waren lange innerhalb der islamischen Welt von weitaus größerer Bedeutung als die Kämpfe gegen die Christen; sie schlagen sich nicht nur in den Darstellungen der islamischen Geschichtsschreiber nieder, die teilweise gegen andersgläubige Muslime polemisierten, sondern prägten auch das Verhalten der Muslime gegenüber der christlichen Bedrohung.
Vor dem Beginn des Ersten Kreuzzugs erstreckte sich damit die islamische Welt, der dār al-islām, von der Straße von Gibraltar im Westen bis zum indischen Subkontinent im Osten. Handelsverbindungen reichten weit über diesen Raum hinaus und trugen im Verbund mit der Übernahme und Fortführung antiker geographischer Schriften dazu bei, das Weltbild der gebildeten Muslime zu erweitern. Allerdings war zu jener Zeit die alte politische Einheit unter arabischer Führung, nicht zuletzt wegen des Eindringens der Türken aus Mittelasien, einer starken Zersplitterung gewichen. Der dār al-islām zerfiel nunmehr im Wesentlichen in drei große Machtsphären. Im Osten herrschten die Seldschuken. Ihr Reich erstreckte sich vom Aralsee und dem heutigen Kasachstan bis zum Roten Meer und hatte sein Zentrum im Iran. Westlich davon grenzte das Herrschaftsgebiet der Fatimiden an. Diese arabische Dynastie führte sich auf Fatima (Fāṭima, einer Tochter Muḥammads) zurück und hatte zur Zeit der Kreuzzüge ihr Machtzentrum im ägyptischen Kairo. Ihr Reich umfasste zu Beginn des 11. Jahrhunderts noch den gesamten Maghreb, doch zum Ende des Jahrhunderts war es im Wesentlichen auf das heutige Ägypten und Tunesien zusammengeschrumpft. Weiter westlich lag das Herrschaftsgebiet der Almoraviden, einer Berberdynastie, die zum Ende des 11. Jahrhunderts den islamischen Teil der Iberischen Halbinsel sowie den westlichen Teil des Maghreb unter ihrer Führung vereint hatte.
Politische Umbrüche am Vorabend der Kreuzzüge
Die Jahre vor dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug waren eine unruhige Zeit für die islamische Welt. Im Jahre 1094 war nach fast sechzigjähriger Herrschaft der fatimidische Kalif al-Mustanṣir (1036–1094) und kurz zuvor auch der faktische Herrscher des Reichs, der Wesir Badr al-Ğamālī, gestorben. Aus den daraufhin ausbrechenden Thronwirren sollte der Sohn des Badr al-Ğamālī, al-Afdal († 1121), als Sieger und die Sekte der Assassinen als neue Glaubensrichtung des schiitischen Islam hervorgehen. Die Angehörigen dieser neuen Sekte sahen im ermordeten Sohn des al-Mustanṣir den rechtmäßigen Kalifen. Sie errichteten ihr Zentrum im nordwestlichen Iran und ließen sich auch in Nordsyrien nieder, wo sie im 12. Jahrhundert zu einem wichtigen Faktor im Machtgefüge des Vorderen Orients wurden. Die Assassinen waren streng unter einem Anführer organisiert und verübten Attentate gegen sunnitische, aber auch christliche Herrscher (vgl. die Bezeichnung assassin, assassino, asesino etc.).
Auch im Seldschukenreich kam es zu Umbrüchen: Seit der siegreichen Schlacht gegen die Byzantiner bei Mantzikert (1071) war es den Seldschuken gelungen, sukzessive Anatolien und damit die östlichen Gebiete des Byzantinischen Reiches unter ihre Herrschaft zu bringen. Doch im Jahre 1092 verstarb der Sultan Malikšāh (1072–1092). Bis zum Jahre 1105 stritten sich dessen Söhne im Iran um das Erbe ihres Vaters, ihre Aufmerksamkeit wurde dadurch von den Schauplätzen in Syrien und Palästina abgelenkt. Im Westen, also in Anatolien, gelang es dem lokalen seldschukischen Führer Qiliğ Arslān (1092–1107), ein eigenes Herrschaftsgebiet zu bilden, aus dem bald das eigenständige Sultanat von Ikonium (Konya) wurde. Doch zur Zeit des Ersten Kreuzzugs war Qiliğ Arslān zu sehr mit der Konsolidierung seiner Herrschaft und den Machtkämpfen im Iran beschäftigt, um sich ernstlich in die Geschehnisse in der Levante (dem östlichen Mittelmeerraum) einzumischen. Auch die nomadischen Turkvölker Anatoliens waren zu jener Zeit zersplittert und daher nur kurzzeitig zu gemeinsamen Aktionen in der Lage. Schließlich verschied im Jahr 1094 auch der sunnitische Kalif in Bagdad. Damit waren zwischen 1092 und 1094 alle bedeutenden geistlichen, militärischen und politischen Persönlichkeiten der islamischen Welt im Vorderen Orient gestorben. Bedenkt man zudem die Unruhe unter den Muslimen aufgrund des nahenden Jahres 500 nach der Hiğra, zu dem allerhand apokalyptische Prophezeiungen vorlagen, so kann man im Nachhinein nur feststellen, dass aus christlicher Sicht der Zeitpunkt für einen Zug nach Palästina kaum besser hätte gewählt sein können.
Die Bedeutung Jerusalems für den Islam
Wie war die Lage in Palästina am Vorabend der Kreuzzüge und welche Bedeutung hatte Jerusalem für den Islam? Für die Muslime war und ist Jerusalem, wie für Juden und Christen, eine „heilige Stadt“. Dies drückt sich schon im Namen aus, unter dem sie seit dem 10. Jahrhundert im Islam vor allem bekannt ist: al-quds (Heiligtum). Ihre besondere Bedeutung für die Muslime rührt aus verschiedenen Wurzeln: Zum einen daraus, dass in ihr Christus starb, der im Islam als bedeutender Prophet gilt. Zum anderen und vor allem aber ist al-quds der Zielpunkt der so genannten Nachtreise (arab. isrāʾ) Muḥammads. In einer Nacht sei der Prophet nach Jerusalem und zurück nach Mekka entrückt worden, ein Beleg für seine Übernatürlichkeit und für seine Gottgefälligkeit. Außerdem soll er nach einem bis heute populären Stoff der volkstümlichen Muḥammad-Vita von Jerusalem aus auf der so genannten Himmelsleiter (arab. miʿrāğ) in den Himmel und von dort mit der Auflage zum fünfmaligen täglichen Gebet zur Erde zurückgekehrt sein. Vor diesem Hintergrund entstanden in Jerusalem zwei bedeutende Bauwerke: Um den von Muḥammad bei seinem Aufstieg zurückgelassenen Fußabdruck wurde im Jahre 691/92 auf dem Tempelplatz (arab. al-Ḥaram aš-Šarīf) der Felsendom vollendet. Unmittelbar neben ihm steht die al-Aqṣā-Moschee, das Ziel der „Nachtreise“. Schließlich galt und gilt Jerusalem im Islam als der Ort, an dem sich das Jüngste Gericht ereignen werde. Es erstaunt also nicht, dass diese heilige Stadt für Muslime einen besonderen religiösen Nimbus besitzt und nach Mekka und Medina das drittwichtigste Pilgerzentrum darstellt.
Zu Beginn des 11. Jahrhunderts war es zur Verfolgung Andersgläubiger, auch von Christen, gekommen, in deren Verlauf im Jahre 1009 die Jerusalemer Grabeskirche zerstört wurde. Doch die Situation änderte sich schnell, die Kirche wurde wiederhergestellt, und bald berichten islamische Texte wie etwa die Reisebeschreibung des spanischen Gelehrten Ibn al-ʿArabī von Palästina und insbesondere Jerusalem als Zentren islamischer, jüdischer und christlicher Gelehrsamkeit. Die unterschiedlichen christlichen Minderheiten (vgl. Kap. III., 2. a) waren zwar zur Zahlung einer Kopfsteuer (arab. ğizya) verpflichtet und den Muslimen keineswegs rechtlich gleichgestellt, aber sie genossen Religionsfreiheit und empfingen Pilger aus der lateinischen und aus der griechisch-orthodoxen Welt. Allerdings liegt auch ein Beleg dafür vor, dass im Jahre 1093/94, also unmittelbar vor dem Aufruf zum Kreuzzug, Pilger daran gehindert wurden, den Weg von den levantinischen Küstenstädten nach Jerusalem zu nehmen.
Zu dieser Zeit befand sich die Heilige Stadt in der Hand der Seldschuken, die 1071 das gesamten Hinterland Palästinas einschließlich Jerusalems erobert hatten. In der Folge lag die Stadt im Grenzgebiet fatimidischer und seldschukischer Herrschaft, was sich negativ auf die Sicherheit in der Region auswirkte: Der Wegfall einer starken seldschukischen Zentralmacht bedingte nach 1092 die Entstehung kleinerer Emirate in Syrien, v.a. um Aleppo und Damaskus. An der Küste, die durch reiche Hafenstädte mit internationalen Handelsverbindungen (z.B. Tripolis, Akkon und Tyrus) gekennzeichnet war, übernahmen lokale Machtträger die Herrschaft, soweit die Städte nicht unter fatimidischer Macht verblieben waren. Syrien und Palästina wiesen hier gewisse Ähnlichkeiten zum Italien jener Zeit auf: zersplittert, wirtschaftlich hoch entwickelt, aber ebenso ablehnend gegenüber zentralisierter Herrschaft. Nur im südlichen Palästina wurde das Machtvakuum noch einmal unmittelbar vor der Ankunft der Kreuzfahrer durch die Fatimiden gefüllt: Im Jahre 1098 nahm der Wesir al-Afdal in einem Blitzunternehmen Jerusalem ein. Es ist nicht zu klären, ob er damit einer Eroberung durch die Kreuzfahrer, über deren Anrücken er informiert gewesen zu sein scheint, zuvorkommen wollte, oder gar in Absprache mit ihnen handelte, um einen christlichen „Puffer“ gegen die Seldschuken zu errichten. Doch nunmehr bildete Jerusalem im Binnenland Palästinas einen Vorposten fatimidischer Macht.
Die Beurteilung des Islam im Christentum
Die historische Brisanz des Verhältnisses zwischen Christentum und Islam rührt nicht aus ihrer Unterschiedlichkeit, sondern gerade aus ihrer Ähnlichkeit: Beide stellen konkurrierende Religionen oder Konkurrenzkulturen dar, die aus gemeinsamen Traditionen schöpfen und dabei trotz mancher Übereinstimmungen gerade ihre Gegensätzlichkeit betonen. Doch bis zum Ersten Kreuzzug fand eine eigentliche Auseinandersetzung mit den Inhalten des Islam seitens der lateinischen Christen kaum statt. Der byzantinische Autor Johannes von Damaskus (Damaskenos, † um 750) formulierte in seinem ›Liber de haeresibus‹ schon früh Vorwürfe gegen Muḥammad, die von griechischen Autoren aufgegriffen und wiederholt wurden. Diese stereotypen, über das Spätmittelalter hinaus geläufigen Vorurteile fußten auf den Grundannahmen, dass der Islam ein häretischer Ableger des Christentums und der Koran kein göttliches Werk sei. Weiterhin galt der Prophet als ein Hochstapler zweifelhafter Lebensführung und Moral, der gottgleiche Verehrung genieße. Muslime seien zudem polytheistische Götzenverehrer. Allerdings empfanden gerade die Byzantiner die Notwendigkeit, die Erfolge des Islam mit diesem negativen Bild in Einklang zu bringen. Folglich wurden die Muslime trotz ihrer vermeintlichen Irrtümer als Instrumente bzw. als Geißel Gottes gedeutet, durch die der Herr seine Gläubigen für Verfehlungen gestraft habe. Muḥammad wurde sogar als Vorläufer des Antichrist gedeutet und damit heilsgeschichtlich eingeordnet. Auf derartigen Deutungen und Zerrbildern fußten im Wesentlichen die Urteile, die sich die lateinische Christenheit vom Islam machte.
Dabei existierten sehr wohl stetige, wenn auch nicht intensive politische und wirtschaftliche Kontakte zwischen dem christlichen und dem muslimischen Kulturbereich. Schon Karl der Große (768–814) und Otto der Große (936–973) hatten diplomatische Beziehungen zum Abbasidenhof in Bagdad bzw. zum Omayyadenhof in Córdoba unterhalten, und die byzantinischen Kaiser standen in noch engerem Austausch mit den muslimischen Herrschaften des Vorderen Orients. Auch manchen Kaufleuten war der islamische Raum im ausgehenden 11. Jahrhundert keineswegs unbekannt: Händler der süditalienischen Hafenstadt Amalfi waren so regelmäßig in Jerusalem, dass sie dort ein Spital zur Pflege von Mitchristen errichteten, und auch aus anderen italienischen Städten fanden Schiffe den Weg zu den Märkten und Waren des Ostens. Christen, die sich auf eine Pilgerfahrt ins Heilige Land begaben, kamen unmittelbar mit dem Islam in Berührung und dürften sich ein Bild von dieser Religion gemacht haben. Doch waren es insgesamt nur wenige Menschen, die derartige Kontakte eingingen, und die Quellen geben kaum Auskunft über persönliche Erfahrungen.
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Bilder vom Anderen
Das christliche Bild vom Islam war zum ausgehenden 11. Jahrhundert noch weitgehend von Unkenntnis, Verzerrungen oder schlichtem Desinteresse gekennzeichnet. Genauso wenig existierte allerdings im lateinischen Westen vor den Kreuzzügen eine verbreitete, kohärente anti-islamische Ideologie, die Menschenmassen für einen militärischen Konflikt mit islamischen Herrschaften begeistert hätte. Kaum anders sah es aufseiten der Muslime aus. Aus ihrer Sicht hatte das Christentum trotz seiner unbezweifelbaren heilsgeschichtlichen Bedeutung als Vorläuferreligion des Islam wenig zu bieten. Es war durch diesen überholt und abgelöst worden, Muḥammad war der letzte und größte aller Propheten. In kultureller Hinsicht konnte die christliche Welt mit den großen Zentren des Ostens nicht mithalten. Im geographischen Weltbild des Islam lagen die christlichen Herrschaften vor den Kreuzzügen an der Grenze und damit außerhalb des unmittelbaren Blickfelds. Zwar hatten Muslime mit den griechischen und orientalischen Christen ihrer Herrschaftsgebiete regelmäßigen Kontakt, aber das Interesse an den Inhalten ihrer Religion und das Wissen darum hielt sich in sehr beschränktem Rahmen.
Die Beurteilung der Christen durch Muslime
In der islamischen Welt waren die wichtigsten Informationsquellen über die lateinische Christenheit vor der Ankunft der Kreuzfahrer Reiseberichte, geographische Werke sowie Erzählungen von Personen, die sich als Gefangene, Diplomaten, Kaufleute oder Pilger im lateinischen Westen aufgehalten hatten. Als besonders einflussreich erwies sich die Einteilung der Welt und ihrer Völker nach Ptolemäus (2. Jahrhundert): In Anlehnung an ihn sahen die Muslime die europäischen Christen in feuchtkalten Gegenden wohnen, die sich auf das Gemüt und den Charakter dahingehend auswirkten, dass die Christen unintelligent, roh und ungewaschen seien. Diese Sicht der Dinge bezog sich auf die lateinischen Christen Europas, nicht auf diejenigen des Orients oder gar die Christen unter muslimischer Herrschaft, mit denen man in permanentem Kontakt stand. Dort hatten orientalische Christen gerade im 7. und 8. Jahrhundert etwa durch die Vermittlung antiker Kenntnisse einen wichtigen Anteil am Aufbau der islamischen Kultur. Von den unterschiedlichen christlichen Kirchen im Vorderen Orient wird an anderer Stelle die Rede sein (Kap. III., 3. c), hier gilt es zu unterstreichen, dass diese als „Religionen des Buchs“ einen Sonderstatus, den des Schutzbefohlenen (arab. ḏimmī), genossen. Sie durften ihren Glauben ausüben, solange dies in Bescheidenheit und ohne Missionsversuche geschah, waren allerdings „Bürger zweiter Klasse“ und wurden rechtlich wie steuerlich diskriminiert. Diese Benachteiligungen scheinen aber nicht so unerträglich gewesen zu sein, dass es zu Auswanderungen größeren Stils kam. Nur in Ausnahmesituationen wie zur Zeit des Kalifen al-Ḥākim oder zur Zeit der Almohaden (1130–1269) in Spanien kam es zu wirklichen Verfolgungen. Gerade die Anhänger der von der griechischen Kirche als häretisch bekämpften orientalischen christlichen Bekenntnisse konnten in der muslimischen Machtübernahme durchaus eine Verbesserung ihrer Situation sehen, denn die Behandlung religiöser Minderheiten – seien es Christen, Juden oder Muslime – war im byzantinischen Herrschaftsgebiet strenger als unter dem Islam. Die neuen muslimischen Herren wurden daher weniger als Feinde denn als Glaubensgegner betrachtet. Dies machte sich auch während der byzantinisch-islamischen Auseinandersetzungen vor den Kreuzzügen bemerkbar.
Byzantinischmuslimische Konflikte vor 1095
Denn der östliche Mittelmeerraum (die Levante) war schon vor dem Aufruf zum Ersten Kreuzzug zwischen Muslimen und Christen umkämpft. Dies ist etwas in Vergessenheit geraten, weil traditionelle Protagonisten durch die Kreuzzüge abgelöst wurden: Auf der einen Seite übernahmen die türkischen Seldschuken die Stelle der arabischen Abbasiden, auf der anderen die lateinischen Christen die Rolle der griechisch-orthodoxen Christen. Doch gab es eine lange Tradition byzantinisch-muslimischer Konflikte. Nachdem Byzanz sich über zwei Jahrhunderte lang gegenüber dem Islam in der Defensive befunden hatte, wurde unter drei Kaisern aus der makedonischen Dynastie – Nikephoros II. Phokas (963–969), Johannes I. Tzimiskes (969–976) und Basileios II. – eine intensive Expansionspolitik betrieben, die zur Wiedereroberung weiter Teile Kleinasiens führte und die Byzantiner bis an die Tore Jerusalems brachte. Nur unter Nikephoros Phokas und Johannes Tzimiskes wurden diese Konflikte sogar kurzzeitig in einen religiösen Kontext gestellt. Doch die Patriarchen von Konstantinopel verweigerten den bei den Kämpfen Gefallenen die Anerkennung als Märtyrer: zu fremd war im orthodoxen Christentum noch die Vorstellung vom heiligen, gottgefälligen Kampf mit der Waffe.
Innere Probleme nach dem Tode des byzantinischen Kaisers und der Aufstieg der Seldschuken zur Mitte des 11. Jahrhunderts schoben jeder weiteren Expansion einen Riegel vor. Im Gegenteil: Anatolien und Nordsyrien gingen den Byzantinern unter den Angriffen der Seldschuken verloren, 1085 fiel diesen auch die bedeutende Stadt Antiochia in die Hand. Der weitgehend selbstständig operierende Sultan Qiliğ Arslān I. aus einer Seitenlinie der Seldschukendynastie konnte nach dem Tode des Sultans Malikšāh († 1092) seine eigene Herrschaft sichern und zum so genannten Sultanat der Rum-Seldschuken ausbauen. Wie er unterwarfen auch die Danischmendiden, eine türkische Dynastie, deren Machtzentrum in Nordanatolien lag, Gebiete mit überwiegend griechisch-orthodoxer Bevölkerung und setzten die Byzantiner damit weiter unter Druck. Auch das nomadische Turkvolk der Kumanen bedrohte die Reichsgrenzen.
Inwieweit erreichten Nachrichten von diesen Ereignisse den Westen? In Nordsyrien hatten viele – Griechen und Christen, aber auch arabische Muslime – unter den neuen Herren zu leiden, doch war der Wechsel für die bislang herrschenden Griechen besonders scharf. Sie dürften ein düsteres Bild ihrer Situation nach Konstantinopel getragen haben. Von dort nahm es seinen Weg in den Westen, wo es die Berichte lateinischer Christen aus der Heiligen Stadt, die zweifellos von den unruhigen politischen Verhältnissen in Palästina beeinflusst wurden, ergänzte.
Kaiser Alexios I. Komnenos stützte sich bei seiner Abwehr der seldschukischen Angriffe zunehmend auf Söldner aus Westeuropa (Flamen, Deutsche, Engländer), nachdem der Konflikt mit den süditalienischen Normannen und das treulose Verhalten mancher Söldner bei der Schlacht von Mantzikert den lange betriebenen Rückgriff auf normannische Kontingente wenig ratsam erscheinen ließ. Aufgrund der neuerlichen Bedrohung richtete er eine Gesandtschaft an den Westen; sie traf im März 1095 während eines kirchlichen Konzils im italienischen Piacenza ein. Unter anderem baten die Byzantiner um militärische Unterstützung gegen ihre muslimischen Feinde. Auch wenn keine unmittelbare Reaktion seitens der Versammelten bezeugt ist: Die Vorstellung, den bedrängten Mitchristen zu Hilfe kommen zu müssen, wurde ein halbes Jahr später zu einem wichtigen Argument beim päpstlichen Kreuzzugsaufruf (s. Quelle).
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Hilfe für die Byzantiner als Argument Urbans II. (nach Fulcher von Chartres) Zit. nach: Hagenmeyer, Heinrich (Hrsg.): Fulcher von Chartres, Historia Hierosolymitana (Lib. I, cap. III, 2), S. 132ff.
Es ist nämlich nötig, Euren im Osten befindlichen Mitbrüdern sofort mit der Unterstützung zu Hilfe zu eilen, die sie schon oft von euch erbeten haben. Wie den meisten von Euch bereits zugetragen worden ist, sind die Türken, ein persischer Stamm, bis zum Mittelmeer, zum so genannten Arm des hl. Georg [zum Bosporus] eingedrungen. […] Wenn Ihr sie weiter gewähren lasst, werden die Gläubigen Gottes noch weiter überrannt.
Konflikte zwischen Muslimen und lateinischen Christen vor 1095
Auch im Westen Europas konnte man zum Ende des 11. Jahrhunderts auf eine lange Erfahrung im Kampf mit muslimischen Gegnern zurückschauen. Im Verlauf des 8. und 9. Jahrhunderts waren die Iberische Halbinsel, Sizilien und Teile Unteritaliens von Muslimen erobert worden, und noch in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts bedrohten Muslime von Stützpunkten an der provenzalischen Küste aus Südfrankreich und die Alpenpässe. Zwar konnten diese Vorposten in den darauf folgenden Jahrzehnten beseitigt werden, doch verblieben mit Spanien und Sizilien zwei Bereiche christlich-islamischer Auseinandersetzungen neben der kleinasiatischen Grenzzone. Hier waren die Konflikte virulent und dauerhaft.
Im Jahre 711 hatten islamisierte Berber in der Nähe Gibraltars ein christliches Heer besiegt und in kurzer Zeit beinahe die gesamte Iberische Halbinsel unter ihre Herrschaft gebracht. Seit der Mitte des 8. Jahrhunderts unternahmen Christen aber immer wieder Züge in den muslimisch beherrschten Süden, wobei sie allmählich auch Landgewinne erzielten. Lange Friedensperioden und kriegerische Auseinandersetzungen wechselten sich ab. Nach dem Untergang des Kalifats von Córdoba (1031) gewannen die Konflikte deutlich an Intensität: Unter König Alfons VI. von Kastilien (1072–1109) dehnten die Christen ihr Herrschaftsgebiet stark nach Süden aus, und im Jahre 1085 eroberten sie die alte westgotische Hauptstadt Toledo. Schon bald jedoch sahen sie sich durch die ins Land gerufene Berberdynastie der Almoraviden, die im Jahre 1086 einem christlichen Heer bei Sagrajas eine schwere Niederlage beibrachten, aufs Neue zurückgedrängt (vgl. Kap. IV., 1. a). Das 11. Jahrhundert war also eine ausgesprochene Umbruchphase der konfessionellen Beziehungen auf der Iberischen Halbinsel. Gesicherter war die Situation der Christen im dritten christlichislamischen Grenzgebiet des 11. Jahrhunderts, Sizilien und Süditalien. Hier festigten die Normannen in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts ihre Herrschaft, auch wenn viele Muslime noch in ihrer Heimat verblieben und man sich nie ganz vor einem Angriff aus dem Süden sicher sein konnte. Nicht zuletzt gegen diese Gefahr richtete sich eine Expedition, die eine pisanische Flotte im Jahre 1087 gegen Mahdia (al-Mahdīya), eine Stadt bei Tunis, unternahm. Dabei wurden ausdrücklich die im Kampf gegen die Muslime gefallenen Christen als Märtyrer gefeiert.
Die europäische Expansion
Der Islam befand sich also 1095 keineswegs überall im Vormarsch: Im Westen Europas, auf der Iberischen Halbinsel und auf Sizilien, hatte er an Boden gegenüber den Christen verloren, während er im Osten, in Kleinasien, unter den Seldschuken in der Offensive war. Die Trennlinie bildete ungefähr das Mittelmeer, dessen nördliche Küste weitgehend christlich und dessen Südflanke größtenteils muslimisch war. Dieses Bild einer beginnenden christlichen Expansionsbewegung lässt sich auch in anderen Bereichen festmachen. Die Wikingereinfälle, die seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert immer wieder für Zerstörungen gesorgt hatten, fanden mit dem misslungenen Angriff König Haralds Hadrada auf England im Jahre 1066 einen Schlusspunkt. Und die nomadischen Ungarn (Magyaren) wurden schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in die lateinische Christenheit integriert. Als wichtiges konfessionelles Grenzgebiet des Christentums blieb der Nordosten Europas, wo heidnische Slawen lebten. Auch hier befand sich das lateinische Christentum am Ende des 11. Jahrhunderts in einer Expansionsphase. Zwar hatte der große Slawenaufstand von 983 viele ältere Eroberungen und Gründungen der Karolinger- und beginnenden Ottonenzeit zunichte gemacht, doch seit der Mitte des 11. Jahrhunderts wurden östlich der Elbe und Saale verlorene Gebiete zurückerobert und zerstörte Kirchen wieder aufgebaut. Siedler zogen in die neu gewonnenen Gebiete, die einheimische Bevölkerung wurde missioniert. Während im Osten des Römisch-Deutschen Reiches christliche Herrschaften und eigene kirchliche Strukturen entstanden (Polen, Böhmen und Ungarn), verblieben im Nordosten an der Wende zum 12. Jahrhundert noch heidnische Völker. Die westslawischen Pomoranen und Wenden bildeten zusammen mit den finno-ugrischen und baltischen Stämmen der Prußen, Liven, Esten, Litauer und Finnen von der Grenze Sachsens bis zum Polarkreis einen großen Bogen schriftloser, polytheistischer Völker. Ihre Siedlungsgebiete sollten ebenso wie die Iberische Halbinsel und der Vordere Orient zum Ziel von Kreuzfahrerheeren werden.
Die Kreuzzüge erlangen vor dem Hintergrund der drei wichtigsten hier beschriebenen Entwicklungen – der herrschaftlichen Zersplitterung des europäischen Raumes, der fortschreitenden konfessionellen Trennung der Christenheit im 11. Jahrhundert sowie schließlich der Expansionsbewegungen in Ost und West – besondere Bedeutung. Sie fügten sich über bestehende Barrieren hinweg in die große Expansionsbewegung ein und vermittelten dabei den Waffenträgern des lateinischen Europa ein klares, gemeinsames Ziel. Schon die Zeitgenossen wiesen auf die über die geläufigen Grenzen hinausreichende Qualität der Kreuzzüge hin. Diese neue Form militärischer Unternehmungen trug wesentlich dazu bei, der europäischen Expansion des Mittelalters Kohärenz zu verleihen.
Der Kreuzzugs gedanke
Der Erste Kreuzzug wurde zu Recht sowohl von Zeitgenossen als auch von den Nachlebenden als etwas Neues wahrgenommen. Gleichwohl beruhte er auf einer Reihe von Grundlagen, die oft weit zurückreichten. Sie waren häufig politischer und sozialer Natur oder gehörten in den Bereich der mittelalterlichen Vorstellungen und der Frömmigkeit. Sie gilt es in den folgenden beiden Kapiteln darzustellen. Dies ist umso nötiger, als sie den meisten modernen Menschen fremd sind. Diese Vorbedingungen brachten im Verbund das hervor, was man als „Kreuzzugsgedanken“ bezeichnen kann: die geistige bzw. ideologische Grundlage für die Expeditionen. Dieser Gedanke wirkte unterschiedlich stark auf die Kreuzzugsbewegung, ihre intellektuellen Anführer sowie auf den einzelnen Kreuzfahrer als Individuum. Eine große Anzahl von Quellen unterrichtet uns hiervon; die erhaltenen Urkunden und Briefe von Kreuzfahrern tun dies auf besonders direkte Weise.
Die Kreuzzüge werfen heute ebenso wie in früheren Zeiten die Frage nach der Berechtigung des Krieges auf. Das Christentum gründet wesentlich auf dem friedlichen Wirken Christi. Es hatte daher im Gegensatz zum Islam – dessen Prophet sowohl ein geistlicher als auch ein militärischer Führer war – einen großen Gegensatz zu lösen: Es musste die widersprüchlichen Äußerungen der Bibel über den Krieg miteinander vereinbaren. Dem fünften Gebot „Du sollst nicht töten“ oder den Friedensworten Jesu standen viele andere Stellen gerade des Alten Testaments entgegen. Die offizielle Übernahme des Christentums im Römischen Reich zu Beginn des 4. Jahrhunderts änderte nichts daran, dass dort weiterhin Krieg geführt wurde. Manche christlichen Krieger wurden „zur Ehre der Altäre erhoben“, d.h. heilig gesprochen. Bischöfe übernahmen im Frühmittelalter vielfach die Funktion von Stadtherren und mussten als solche die Sicherheit ihrer Herrschaften garantieren – auch mit Waffengewalt. Mit den daraus resultierenden theologischen Herausforderungen setzte sich auch der Klerus auseinander: Er stellte ein Gedankengebäude zur Verfügung, das als Grundlage für den Krieg im Mittelalter und darüber hinaus diente – die Theorie vom gerechten Krieg. Diese wurde in wesentlichem Maße von Augustinus geprägt.
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Augustinus (354–430) war Bischof von Hippo Regius im heutigen Algerien. In der Auseinandersetzung mit der Häresie der Manichäer, die den Krieg als solchen und deshalb auch das Alte Testament verwarfen, benannte er in seinem Werk ›Contra Faustum Manicheum‹ Voraussetzungen für einen gerechten Krieg. Vier Kriterien mussten gegeben sein: die Kriegserklärung durch eine legitime Autorität, ein gerechtfertigter Kriegsgrund, das Fehlen einer anderen Lösungsmöglichkeit und eine angemessene Form der Kriegführung. Augustinus trennte die innere Einstellung des Kämpfenden von seinen Taten, sodass nunmehr die Legitimität des Kriegsgrunds zu einem Kriterium für die Gerechtigkeit oder das Unrecht eines Kriegs wurde. Weiterhin definierte er: Rechtmäßig handele derjenige, der Land, Gesetz oder Sitten gegen Aggression verteidige, ein Gerichtsurteil erzwinge, Unrecht bestrafe oder geraubtes Gut wiedererlange. Außerdem seien Kriege gerecht, die auf Veranlassung Gottes (Deo auctoritate) durch eine von ihm eingesetzte weltliche Autorität geführt würden. Doch sollte der Krieg nicht als Mittel zur Bekehrung oder zur Vernichtung von Heiden dienen. Im Kern war die augustinische Lehre vom gerechten Krieg (bellum iustum) denn auch gegen Glaubensfeinde im Inneren gerichtet. Die Wiederherstellung des gestörten Friedens war dabei das vordringliche Ziel, deshalb verstand der Bischof Kriegführung als einen Akt der Nächstenliebe. Christliches Handeln war damit auch im Kriege gewährleistet, Augustinus hatte eine neue Kriegsethik geschaffen.
Das augustinische Gedankengebäude ging im Frühmittelalter weitgehend verloren. Nicht die innere Haltung des Menschen und das Ziel seiner Handlungen, sondern allein deren Ausgang wurde für die Beurteilung entscheidend. Daher wurden auch dann noch Bußleistungen eingefordert, wenn ein Soldat auf Befehl eines legitimen Königs einen Friedensstörer oder sogar einen Aggressor getötet hatte. Das Konzept des gerechten Krieges wurde auch dann nicht reaktiviert, als im 7. Jahrhundert mit der muslimischen Expansion in der Tat die Situation einer Verteidigung gegen äußere Aggression eintrat.
Der „geheiligte Krieg“ auf der Iberischen Halbinsel
Seit dem 9. Jahrhundert trafen neue Bedrohungen das Christentum: Die Angriffe der heidnischen Wikinger und Normannen, Ungarn und Slawen im Norden und Osten sowie der Muslime im Süden und Westen ließen nicht nur im griechischen Osten, sondern auch im lateinischen Westen den von Augustinus angenommenen Fall immer wieder eintreten. Hier nun lässt sich in Einzelfällen sehr wohl eine theologische Auseinandersetzung mit dem Krieg feststellen – so auf der Iberischen Halbinsel, die zu Beginn des 8. Jahrhunderts von Muslimen erobert worden war. Im gebirgigen Norden (Asturien, León) verteidigten die Christen ihre Unabhängigkeit und begannen bald, ihr Herrschaftsgebiet allmählich nach Süden auszudehnen. Sie konnten darauf verweisen, dass es sich hierbei um ehemals christliche Territorien handelte, in denen obendrein noch Glaubensbrüder lebten. Dies allein reichte aus, um ihren Kampf zu rechtfertigen. In Asturien und León wurde ausdrücklich der Anspruch formuliert, einen gerechten Krieg, sogar einen Krieg Deo auctoritate gegen eine aggressiv auftretende Religion zu führen. Chroniken des 9. bis 11. Jahrhunderts zeichnen die Auseinandersetzung nicht nur als gerechten, sondern sogar als geheiligten Krieg: Die christlichen Herrscher werden in Parallele zu Königen des Alten Testaments gesetzt, die spanischen Christen so zum Volk Gottes, das zur Verwirklichung des göttlichen Heilsplans beiträgt.
Eine direkte Übernahme dieses Konzepts durch die Kreuzfahrer ist nicht zu belegen, aber aus Sicht der meisten christlichen Zeitgenossen waren auch die Kreuzzüge mehr als gerechte Kriege, mehr als eine Verteidigung gegen einen ungerechten Angriff. Auch sie waren geheiligt, denn hier kämpfte man nicht nur für die Verteidigung des Christentums, sondern unmittelbar für Gott. Man erfüllte seinen Willen, war Werkzeug des Herrn. Die Teilnahme an einem solchen Krieg war daher nicht mehr eine bußwürdige, sondern eine heilbringende Handlung, man kann in diesem Zusammenhang sogar von „verdienstvoller Gewaltanwendung“ sprechen. Nicht der Krieg an sich wurde also als heilig angesehen, sondern er wirkte heilbringend auf den Menschen. Diese Interpretation, die sich auch in zeitgenössischen Urkunden und Briefen findet, wurde durch die neuerliche Rezeption der augustinischen Schriften im ausgehenden 11. und beginnenden 12. Jahrhundert gefördert und bildete eine wichtige Grundlage des Kreuzzugsgedankens. Zunehmend rückte das Vorhaben oder der innere Beweggrund, die intentio, ins Zentrum des Interesses, die Bedeutung der eigentlichen Handlung fiel dagegen zurück. Der Kreuzzug war an sich schon gerechtfertigt, aber erst die innere Einstellung machte die Teilnahme an ihm vor Gott verdienstvoll. Dies wurde ausdrücklich von Papst Urban II. (1088–1099) unterstrichen, als er ausschließlich demjenigen, der sola devotione, allein aus Gottergebenheit, ins Heilige Land aufbrach, einen Ablass (vgl. Kap. I., 3. c) in Aussicht stellte.
Krieg als Akt der Liebe oder der Rache
Schließlich wurde der Krieg gegen die Muslime dadurch in besonderem Maße gebilligt, dass er zugunsten bedrohter christlicher Mitbrüder geführt wurde. Hier kam der christliche Gedanke des Einsatzes – hier: des militärischen Einsatzes – für den Nächsten zum Tragen. Wurden die griechischen Christen nicht von den Muslimen bedroht? Mussten sie nicht um Leib und Leben fürchten? Gesandte aus dem Osten und der Papst führten den Zeitgenossen diese Bedrohung plastisch vor Augen. Manche Propagatoren des Kreuzzugs verstanden den Kampf – so ungewöhnlich diese Vorstellung heutigen Menschen erscheinen mag – als einen Akt der Liebe im Sinne des biblischen Liebesgebots, auch wenn diese Denkweise dem einfachen Kreuzfahrer eher fern stand. Eine andere, aus dem augustinischen Gedanken des gerechten Krieges abgeleitete Vorstellung fügte sich noch besser in die zeitgenössische Lebenswelt: diejenige vom Krieg zur Bestrafung des Friedensbrechers. Im 11. Jahrhundert wurde dieses Thema insbesondere für eine noch junge Gesellschaftsgruppe relevant: das Rittertum.
Das Hochmittelalter war ohne jeden Zweifel eine Zeit offener Gewalt, die im 11. Jahrhundert sogar an Schärfe zunahm. Dies überliefern nicht nur die erzählenden Texte: In der Rechtsprechung etwa ging man dazu über, bislang durch Bußleistungen gesühnte Vergehen körperlich, mit Verstümmelung oder dem Tod, zu bestrafen – zugleich Beantwortung und Ausdruck einer allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft. Diese hing nicht zuletzt mit dem Fehlen einer effektiven Zentralmacht zusammen. Die Spaltung und faktische Auflösung des Karolingerreichs insbesondere im Westen ließ nämlich ein herrschaftliches Vakuum entstehen, das zunehmend von lokalen Machtträgern ausgefüllt wurde. Diese stützten sich dazu auf berittene Kämpfer, so genannte milites (Ritter). Dies war ihre Epoche, die Zeit, in der sie zur Macht aufstiegen. Manche von ihnen waren aufgestiegene freie Bauern, viele andere stammten von Amtsträgern ab. Sie erfüllten im Namen ihrer Herren Verwaltungsaufgaben und genossen in Einzelfällen beträchtliche Unabhängigkeit. Sichtbares Zeichen hierfür waren die Ritterburgen, die seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts in immer größerer Zahl die Landschaft überzogen. Es ist in der Forschung umstritten, ob es diesen kleineren Kriegsherren überall gelang, eine quasi autonome Stellung einzunehmen, ob sich dieser Wandel schlagartig vollzog und ob dies durchweg mit einer Unterdrückung der zuvor freien Bauernschaft einher ging. Aber es ist unbestreitbar, dass der Aufstieg dieser Kriegerelite ein bedeutendes Merkmal der Zeit war und als wesentliche Grundlage für die Entstehung der Kreuzzüge anzusehen ist.
Die Ausrüstung des Ritters
Was den Ritter äußerlich von anderen Kämpfern unterschied, war sein Pferd und – davon abhängig – seine Bewaffnung. Diese bestand in erster Linie aus der Lanze, die unter den Arm geklemmt wurde und dem Ritter beim berittenen Angriff eine furchtbare Durchschlagskraft verlieh. Diese Wirkung wurde noch gesteigert, wenn die Ritter in geschlossener Formation angriffen, was zur Gruppensolidarität der Berittenen beitrug. Ihre Kriegerkultur beruhte wesentlich auf den Idealen militärischer Härte, Fertigkeit und Ehre. Was das junge Rittertum des 11. Jahrhunderts noch nicht kennzeichnete, waren die Heraldik, die Zeremonien und die höfischen Verhaltensregeln späterer Zeiten. Diese Ideale sollten erst die Kreuzzüge des ausgehenden 12. Jahrhunderts und nachfolgende Unternehmen prägen. Die Ausrüstung eines Ritters – vom Langschwert über das Kettenhemd und die Sporen bis zum wichtigsten Element, dem Pferd – war außerordentlich teuer. Sie konnte nur finanziert werden, wenn der Ritter über beträchtliche Mittel verfügte. Dabei handelte es sich in aller Regel um Grundbesitz. Man schätzt, dass ein gepanzerter Reiter über die Einnahmen aus 12 „Hufen“ (bäuerlichen Wirtschaftsbetrieben) verfügen musste, um Pferd und Bewaffnung zu finanzieren.
Der Ritter bedurfte auf dem Feld der Unterstützung – sei es in Form von Dienern und Knechten, die ebenfalls bei Bedarf zur Waffe griffen, sei es in Form von Fußsoldaten. Ein Ritter stand daher nicht allein, sondern bildete das Zentrum einer kleinen militärischen Einheit. Zwar stellten die adligen Herren und Ritter nur ca. 10–15 % der größeren Kreuzzugsheere, denn der päpstliche Aufruf zum Zug ins Heilige Land ergriff schlichtweg Männer und Frauen aller Schichten. Aber die milites empfanden sich zu Recht als das militärisch wichtigste Element und wurden auch von anderen so gesehen. Es waren diese Ritter, die Urban II. in erster Linie im Visier hatte, als er seinen Aufruf zum Kreuzzug hielt, es war ihre Gedankenwelt, die er und spätere Päpste in vielfältigen Anspielungen ansprachen. Wie gelang es der Kirche aber, diese neue, dem Krieg verpflichtete Gruppe in den Dienst Christi und der Kirche zu stellen?
Der Gottesfriede
In manchen Gegenden Europas führte die Schwäche zentraler, vor allem judikativer Gewalten und die Macht der Ritter zu großen Missständen: Bewaffnete trugen ihre Streitigkeiten, so genannte Fehden, militärisch und auf Kosten wehrloser Kleriker, Frauen oder Bauern aus. Um diesem Missstand zu begegnen, versah sich der Klerus in Aquitanien, Burgund und Nordfrankreich zum Ende des 10. Jahrhunderts darauf, den so genannten Gottesfrieden (pax Dei) für ungeschützte Bevölkerungsgruppen zu propagieren. Außerdem legte er bestimmte Perioden (treuga Dei) fest, in denen nicht gekämpft werden durfte. Wer hiergegen verstieß, wurde nicht nur mit der Exkommunikation bestraft: In einigen Bereichen wurden auch weltliche Herrschaftsträger zu Garanten der Durchsetzung bestimmt. Diese verpflichteten sich durch Schwüre auf heiligen Reliquien dazu, gegen die Friedensbrecher vorzugehen, und erhielten hierfür den Segen der Kirche. Zwar ging die Gottesfriedensbewegung in den erwähnten Gebieten um 1030 zu Ende, doch wurde der Gedanke eines allgemeinen oder zeitlich gebundenen Friedens- und Eintrachtsbündnisses (pax et concordia) anderswo, etwa in Flandern, Lothringen und im Rheinland, unmittelbar vor dem Ersten Kreuzzug wieder aufgegriffen. Auch das Papsttum und der Kaiser riefen zu dieser Zeit verschiedentlich zur Durchsetzung des Friedens auf.
Damit kamen Gottesfrieden und treuga Dei verschiedenen Interessen